Pädagogische Schriften

Joannes Murmellius

bron Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften (ed.) Joseph Freundgen. Ferdinand Schöningh, Paderborn 1894

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Einleitung.

I.

Im Jahre 1384 gründete Geert Groote in seiner Vaterstadt in Holland das erste ‘Fraterhaus’. Geert Groote hatte eine durch die Lehrweise und die Lehrziele der Zeit beherrschte wissenschaftliche Bildung genossen. Der Abschlusz seiner Berufsbildung hatte ihn auf die Hochschulen zu Paris und zu Köln geführt. Nach kürtzer Lehrthätigkeit in Köln hatte er ein einträgliches Kanonikat zu erhalten und damit die Sicherung eines sorgenfreien behäbigen Lebens. Er hatte die Freuden, wie sie die Welt dem Genusz der Menschen darbot, ohne die Schranken weiser Mäszigung gekostet; statt erheiternder Befriedigung fand er Überdrusz und Ekel. Andere hatte er durch sein belehrendes Wort im Rahmen der gelehrten Bildung seiner Zeit zum Wissen und zur Erkenntnis führen wollen. Auch diese Thätigkeit, welche ihm den Beifall der Welt einbrachte, fesselte ihn nicht. Das Leben in der Welt erfüllte ihn mit Überdrusz an der Welt. Diese Stimmung führte ihn zur Einkehr in sich selbst. Er gab seine Stellung in der Welt auf und zog sich in das Karthäuser-kloster Monikhusen - Mönchhausen - bei Arnheim zurück, um daselbst, ohne der Ordensgemeinschaft als Mitglied beizutreten, in der stillen Beschaulichkeit der Weltabgeschiedenheit das ernste Werk der Selbstprüfung und der Selbstzucht an sich vorzunehmen. Während der drei Jahre seines Ausenthaltes hierselbst vertiefte er sich unter Leitung des Kathäuserpriors Heinrich von Kalkar in die Durchforschung der heiligen Schrift, um seinen nach Erkenntnis ringenden Geist zum Finden der Wahrheit zu führen. Man legte es ihm nahe, er möge sich

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 4 zum Priester weihen lassen; in seinem demutsvollen Sinne indes hielt er sich des Empfanges der Priesterweihe für unwürdig. Von Monikhusen begab sich Geert Groote zu dem hochbetagten Johannes Ruysbroek, 1 der als das Augustinerkloster Groenendael - Grünthal - unweit Waterloo leitete, um sich von ihm in die Lehren der Mystik 2 einweihen zu lassen. Johannes Ruysbroek galt zur Zeit als der bedeutendste Vertreter der Mystik; er hatte den überlieferten Lehren der Mystik eine auf eigene Gedankenarbeit gegründete selbständige Fortbildung gegeben. Ruysbroek lehrte seine Schüler durch freigewählte Abtötung sich den Neigungen zu entfremden, welche den Menschen zur Welt hinziehen und an die Welt fesseln; er hielt sie an, all ihr Denken, Fühlen und Wollen dem innern Leben zuzuwenden und dieses innere Leben in all seinen Bethätigungen Gott hinzugeben; durch Wort und Beispiel leitete er sie zu dem ernstlichen Streben hin, sich auch der Lust an den selbstgeschaffenen Früchten des inneren Lebens zu begeben, um in der Vollkommenheit der Herzensreinheit und des Geistesfriedens der Vereinigung mit Gott entgegenzureifen. In der Entsagung, die bis zur Bedürfnislosigkeit führte; in der friedvollen Einmütigkeit des Zusammenlebens, das sich nach den Grundsätzen der christlichen Liebe regelte; in der Freudigkeit des Opfermutes, der sich in der Werken der Nächstenliebe bekundete, erinnerte die Klostergenossenschaft zu Groenendael an die ersten Zeiten des Christentums. Unter Ruysbroeks Zuspruch reiften hier für Geert Groote die Pläne, deren Verwirklichung er sein weiteres Leben widmete. Seitdem zog er als Volksprediger umher im Umkreise des Bistums . Er predigte zum Volke in der Sprache des

1 Johannes Ruysbroek (1293-1381), ehedem Geistlicher an der Kirche S. Gudula zu Brüssel, wird nach seinem Geburtsort Ruysbroek bei Brüssel genannt; sein Familienname ist nicht bekannt. Einen Teil seiner philosophischen Werke schrieb er in vlämischer Sprache; einige derselben hat Geert Groote ins Lateinische übersetzt. Johannes Ruysbroek erhielt von den Zeitgenossen den Beinamen: ‘doctor extaticus.’ 2 Mit ‘Mystik’ wird eine in der zweiten Hälfte des Mittelalters wirksam hervortretende philosophische Richtung benannt, deren wesentlichste Merkmale in den im weiteren (s. oben) erwähnten Lehrmeinungen des Johannes Ruysbroek ihre Kennzeichnung finden.

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Volkes. Er redete ‘gewaltig in der Kraft Johannes des Täufers,’ 1 mild und gewinnend, wenn es galt, die beseligende Macht der Lehre Christi zu erweisen; streng und unerbittlich, wenn es galt, sittliche Verwilderung jeglicher Art zu bekämpfen; überzeugend und erschütternd in jedwedem seiner Worte. Der Zulauf zu seinen Predigten ward so gewaltig, dasz die Kirchen nicht ausreichten, die Hörer zu fassen; so predigte er denn auf öffentlichen Plätzen. Der Freimut, mit welchem er sich gegen das vielfach würdelose Gebaren der Bettelmönche aussprach, wandte ihm die Feindschaft der Bettelorden zu. Diese wuszten von dem Bischofe von Utrecht das Verbot seiner Predigten zu erwirken. Geert Groote beschränkte hinfort seine Wirksamkeit auf einen kleineren Kreis. In seiner Vaterstadt sammelte er jüngere Leute, vornehmlich Schüler der Lehranstalt daselbst, um sich. Durch Lesen guter Schriften suchte er ihre Kenntnisse zu erweitern und ihre Sitten zu veredeln. Das eigene reiche Wissen des Meisters ward ihnen zur Fundgrube neuer Kenntnisse, nicht minder aber die stattliche Bücherei desselben, deren Schätze er von überallher sorglich zusammengetragen hatte. Da seine Anhänger meist unbemittelt waren, hielt Geert Groote sie an, durch eigene Arbeit, vornehmlich durch Abschreiben, sich selbst den Unterhalt zu erwerben. Das herkömmliche Betteln untersagte er ihnen; Bettelei sollte ihnen als eine verächtliche Selbsterniedrigung gelten, solange noch Kraft zur Arbeit vorhanden. Die durch die Arbeit seiner Schüler erzielte Vervielfältigung guter Schriften sollte zugleich dem lehrbedürftigen Volke zur Wohlthat werden. Seitdem Geert Groote mit dem gleichgesinnten Florentius Radewijn 2 zu gemeinsamen Wirken in Verbindung getreten, gewann die Genossenschaft, die sich um ihn sammelte, gröszeren Umfang, aber auch festeres Gefüge. Damit entstand das erste ‘Fraterhaus’. Seine Mitglieder, ‘die Brüder vom gemeinsamen Leben’, 3 führten, ohne durch ein Gelübde gebunden zu

1 So lautet das Urteil des Thomas von Kempen. 2 geb. zu Leerdam 1350; gest. 1400. 3 Sie nannte sich auch ‘Brüder vom guten Willen’, eben weil sie in ihrer Gemeinschaft durch kein Gelübte gebunden waren. Es gab noch andere Namen für sie: ‘Hieronymianer’ nach ihrem Schutzheiligen, dem Kirchenvater Hieronymus; ‘Gregorianer’ nach Papst Gregor dem Groszen (590-604), welcher während des Mittelalters vielfach als Schutzheiliger des Schulwesens verehrt wurde; ‘Kollatienbrüder’ nach ihren religiösen Zusammenkünften (Kollatien).

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 6 sein, ein beschauliches und doch auch werkthätiges Leben, das in all seinen Äuszerungen von einer ebenso ernsthaften wie prunklosen Frömigkeit durchdrungen war. Und wie sie für sich selbst der Vervollkommnung des Herzens und des Geistes sich dauernd beflissen zeigten, so trugen sie auch für das Volk in unablässigem Bemühen Sorge um die Zucht des Geistes und der Sitte. Geert Groote erlebte nur die Anfänge seines groszen Werkes, das in der Folge für viele Jahrzehnte Unzähligen die Quelle sittlicher und geistiger Erhebung werden sollte. Im Jahre der Gründung des ersten Fraterhauses wurde Geert Groote als das Opfer einer Seuche dahingerafft, am 20. August 1384, vierundvierzig Jahre alt. Seitdem fand Florentius Radewyn einen wackeren Mitarbeider an dem trotz seiner Jugend umsichtigen und thatkräftigen Geert Zeebold 1 (1367-1398),dem es vornehmlich nachgerühmt wird, dasz er die in vielen Zweigniederlassungen verbreitete Genossenschaft einheitlich zu gestalten und einheitlich zu erhalten wuszte. Die Verbreitung der ‘Brüderhäuser’ war eine überraschend schnelle. Fast jede namhafte Stadt Hollands erhielt ihr Bruderhaus.2 Die Brüderhäuser verbreiteten sich über

1 Nach seiner Vaterstadt ‘Geert (Gerhard) von Zütphen’ genannt. 2 Ein Fraterhaus vereinigte in der Regel 20 Genossen, Geistliche und Laien, welche teils als Mitglieder der Genossenschaft angehörten, teils durch längere Prüfungszeit sich die Mitgliedschaft erwerben wollten. Wohnung, Nahrung, Kleidung wurde aus gemeinsamen Mitteln bestritten. Die Andachtsübungen und die der Erwerbung des Unterhaltes dienenden Arbeiten waren allen gemeinsam. Der Vorsteher des Fraterhauses war der ‘Prior’, auch wohl ‘Rector’, oder ‘Praepositus’ genannt. Andere, dem Prior unterstellte Würdenträger innerhalb einer Genossenschaft waren der ‘Procurator’, der Hausverwalter; der ‘Infirmarius’, Leiter der Krankenpflege; der ‘Hospitarius’, der Herbergsmeister, dem die Aufnahme des Gastbesuches unterstellt war; der ‘Librarius’, der Verwalter der Bücherei; der ‘Scriptuarius’, der Schriftmeister, der die Anfertigung von Bücherabschriften anordnete und überwachte. Jährliche Zusammenkünfte der Vorsteher der einzelnen Niederlassungen sicherten der weitverzweigten Genossenschaft die Einheitlichkeit. Dem Vorsteher des Fraterhauses zu Deventer wurden von allen anderen Ehrenvorzüge zuerkannt, ohne dasz den Anordnungen desselben verpflichtende Kraft für alle Fraterhäuser beigemessen worden wäre.

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Belgien; sie drangen bis nach Frankreich vor; über ganz Norddeutschland, von der Mosel bis zur Weichsel dehnten sich diese Gründungen aus. An vielen Orten entstanden auch Schwesterhäuser, die ähnliche Ziele verfolgten. Überall blieben die Brüder des gemeinsamen Lebens ihrer selbst gewählten Aufgabe getreu. Neben der eignen Vervollkommnung suchten sie ‘rein im Wandel und fest im Glauben’ in unablässigem Bemühen durch das belehrende und ermahnende Wort der Predigt wie durch Verbreitung zweckmäsziger Schriften in der Sprache des Landes, dem Volke für sein Leben einen höheren Inhalt und für seine Sitte uns Zucht einen festeren Halt zu geben. Namentlich lieszen sie es sich angelegen sein, Teile der h. Schrift in der Sprache des Volkes, anfänglich durch Abschriften, später durch Druckwerke, zum Besten des Volkes im Volke zu verbreiten. Sehr früh stellten sie so die Buchdruckerkunst in den Dienst der von ihnen erstrebten Volkswohlfahrt. Aber durch die Erfahrung wurden sie immermehr zu der Erkenntnis hingedrängt, dasz die Jugend der Träger der Geschicke eines Volkes ist, dasz alles Gute, das dem Volke zukommen soll, ihm durch die Schule zuflieszen musz. Ohne jenes unmittelbare Einwirken auf das religiöse und sittliche Leben des Volkes zu vernachlässigen, oder gar auszer acht zu lassen, widmeten sie sich in der Folge immer zielbewuszter und mit stets wachsendem Eifer der Bildung der Jugend. Dieses ihr Bestreben fand Anregung und Förderung bei dem Bürgertum der Zeit nach Weise und Art desselben. Das Bürgertum sah sich dank seiner Schaffenskraft und seiner Schaffenslust allenthalben von behaglichem Wohlstand umgeben. In den staatlichen Bildungen, denen es angehörte, reifte es zur Selbständigkeit heran. Konnte es in den vielfach wildbewegten Kämpfen des Tages auch nicht überall den Sieg erringen, so hatte es doch durch sein Eingreifen in diese Kämpfe seine nachhaltige Kraft bekundet; es hatte seinen Gegnern Achtung abgenötigt und sich selbst freiere Beweglichkeit gesichert. Mit dem wirtschaftlichen Erblühen und dem politischen Erstarken ging Hand in Hand, gefördert und selbst fördernd, das Streben

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 8 nach geistiger Bildung. So finden die Brüder des gemeinsamen Lebens an den Orten ihrer Wirksamkeit vielfach schon Schulen vor, in deren Verband sie dann als willkommene Lehrer eintreten. Anderswo wird es ihnen leicht, mit Hilfe des bildungsbedürftigen und bildungsfrohen Bürgertums neue Schulen zu gründen. All diese Schulen beleben sie mit dem ihnen eigenen Geiste. Das Sondergepräge dieser Schulen kennzeichnet sich in der Gesamtheit der inneren und äuszeren Einrichtungen, in der Auswahl und Behandlung der Lehrstoffe, in den Zielen und der Weise des Unterrichts, in dem Inhalt und den Mitteln der Zucht. In all den Schulen der Brüder des gemeinsamen Lebens herrscht der Grundsatz Geert Grootes, dasz Erziehung und Unterricht Bildung des Herzens und des Lebens zunächst und zumeist durch das Wort Gottes anzustreben haben; geltend bleibt allen seine Vorschrift, dasz von dem Unterricht der Jugend wie von der Unterweisung des Volkes alles fern zu halten ist, was nicht zum Guten hinführt oder was nicht vom Bösen ablenkt. Allmählich unterschieden sich die Schulen der Hieronymianer in solche, die der niederen Bildung, und in solche, die der höheren Bildung dienten. Gerade die letzteren kennzeichnen in ihren Besonderheiten die Bestrebungen der Hieronymianer. Wenn sich die Brüder des gemeinsamen Lebens in ihren Schuldbestrebungen auch von der richtigen Erkenntnis leiten lieszen, dasz der Unterricht auf neue Bahnen geleitet werden müszte, so brachen sie doch nicht mit dem Überlieferten; sonderd und sichtend knüpften sie an das Bestehende an, um Gegebenes in ihrem eigenen Sinne auszubauen. Ihre Schulen berühren sich demgemäsz in mancherlei Hinsicht mit den älteren Schulen des Mittelalters: in der Bevorzugung der religiösen Bildung vor der wissenschaftlichen; in der überwiegenden Bedeutung, die dem lateinischen Unterricht gegeben ist; in der Vorliebe für Übungen in Versemachen, durch welche die Zöglinge zur Gewandtheit und Sicherheit in der Handhabung der lateinischen Sprache geführt werden sollen. Nach der bisherigen Weise des grammatischen Unterrichtes an den höheren Schulen wurde die Grammatik um der Grammatik selbst willen betrieben. An der Hand der den Unterricht

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 9 beherrschenden Lehrbücher sollten die Schüler hingeführt werden zur Erkenntnis von dem Wesen der grammatischen Begriffe und der vielgestaltigen Möglichkeit ihrer Beziehungen zu einander. Das ganze Rüstzeug der Scholastik ward hierzu aufgeboten; selbst ausgeklügelte Spitzfindigkeiten aller Art blieben nicht ausgeschlossen. Nach einer Reihe von Jahren des grammatischen Studiums wuszte der Schüler freilich das, was er, zumeist wohl ohne eigenes Verständnis, an philosophischen Darlegungen über die grammatischen Formen und ihre Wechselbeziehungen erlernt hatte, herzusagen; die grammatischen Formen selbst indes wuszte er in Wort und Schrift weder mit Geläufigkeit noch mit Anmut zu handhaben. Die Hieronymianer stellten die Grammatik wieder in den Dienst der Spracherlernung. Sie bekämpften die überlieferten Lehrbücher der Grammatik. Die Lehrbücher, welche sie an deren Stelle setzten, sollten Sprachformen darbieten, um die Gesetze der Sprache erkennen zu lassen; sie sollten Sprachstoffe darbieten, um durch dieselben zur Beherrschung der Sprache zu führen; knapp in der Auswahl des Lernstoffes, sollten sie sich in ihrer Darstellungsweise der Fassungskraft der Schüler anpassen. Das grammatische Studium sollte vereinfacht und die Zeit des grammatischen Studiums sollte verkürzt werden, um die Schüler möglichst bald zum Lesen lateinischer Schriftwerke zu befähigen. Den sachlichen Wert der Schriftwerke des Altertums pflegten die Brüder des gemeinsamen Lebens nach den Anschauungen des Christentums zu prüfen und azumessen. Gleichwohl lieszen sie die Schriftwerke der Alten nicht blosz der sprachlichen Übungen wegen lesen, sondern auch ihres sachlichen Inhaltes wegen. Sie erschlossen ihren Schülern den Bildungsschatz, den jene Werke des Altertums für alle Zeiten in sich tragen, in weiser Beschränkung, um jede Gefahr für die Sittlichkeit fern zu halten. Auch war es ihnen bei der Auswahl der Schriftsteller nicht lediglich um die lateinische Sprache schlechtweg zu thun; sie pflegten an Beispielen der mustergültigen Sprache die Schüler zur Feinheit und Anmut in der Handhabung der lateinischen Sprache zu führen. Auch die Werke christlicher Schriftsteller fanden bei den Hieronymianern Beachtung und Verwendung in der Schule. Und nirgendwo nordwärts der Alpen hat dann

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 10 die griechische Sprache so früh ihren Einzug in die Schule gehalten als bei den Hieronymianern. Neben dem Sprachunterrichte räumten sie auch dem Sachunterricht eine wenngleich bescheidene Stelle ein. Die Schüler wurden über die Dinge nicht an den Dingen selbst unterwiesen, sondern an der Hand von sprachlichen Darstellungen über die Dinge. Die Schulen der Brüder des gemeinsamen Lebens waren in Klassen eingeteilt. Schon die grosze Menge der Zöglinge, die sich bei einzelnen dieser Schulen einfanden, liesz dies notwendig erscheinen. 1 In den untern Klassen war der Unterricht in sämtlichen zur Behandlung kommenden Unterrichtsgegenständen Klassenlehrern anvertraut. Dieselben wählten sich Zöglinge der oberen Klassen als Helfer beim Unterricht. In den oberen Klassen lagen die verschiedenen Unterrichtsgegenstände in der Hand von Fachlehrern. Der Unterrichtsstoff war in seiner Gesamtheit in Stufen gegliedert unter weiser Berücksichtigung der sich allmählich steigernden Fassungskraft der Zöglinge und unter umsichtiger Wahrung des inneren Zusammenhanges der einzelnen Unterrichtsgegenstände. Die Zucht in den Schulen der Hieronymianer war streng und hart; sie stand unter der Herrschaft der Rute. Die Hieronymianer lieszen sich von dem Bestreben leiten, die Eigenartung ihrer Zöglinge genau zu erforschen, um die erziehliche und unterrichtliche Einwirkung auf dieselben der Besonderheit ihres Wesens anzupassen. Das Mittel, welches sie zur Beobachtung und Überwachung ihrer Zöglinge anwandten, würde von unserer Zeit nicht gebilligt werden. Durch geheime Aufpasser, welche sie der Mitte der Zöglinge selbst entnahmen, übten sie diese Beobachtung und Überwachung aus. Damit säeten sie Misztrauen und Miszgunst unter die Zöglinge; damit zogen sie Angeberei und Heuchelei grosz. Den Lerneifer aller suchten sie anzupornen durch öffentliche Auszeichnungen, die sie den Strebsamen zu teil werden lieszen. Am Jahresschlusse und bei anderen paszlichen Gelegenheiten wurden Bücher als Geschenke unter die Fleiszigen verteilt.

1 So zählte im Anfang des XV. Jahrhunderts die Schule zu an 1000 Schüler.

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Damit regten sie den Ehrtrieb der Zöglinge an, ohne der Gefahr zu gedenken, dasz damit der Ehrgeiz derselben allzuleicht in Ehrsucht ausarten könne. Aus den Schulen der Hieronymianer sind begeisterte Anhänger und hervorragende Träger des Humanismus hervorgegangen. Die Brüder des gemeinsamen Lebens sind für Deutschland nicht die Schöpfer und Erwecker des Humanismus gewesen; wohl aber haben sie als Vorläufer demselben die Wege bereitet. Sie haben nicht die erste Saat des Humanismus ausgestreut, wohl aber haben sie den Boden bereitet für diese erste Aussaat. Ihre Bestrebungen waren verwandt mit denen des Humanismus, ohne die Wurzel zu denselben zu sein. Aus ihrem Wirken ist der Humanismus freilich nicht hervorgegangen; aber ohne ihr Wirken vor den Tagen wie in den Tagen des Humanismus würde derselbe in Deutschland nicht so rasch Verständnis und Pflege gefunden haben. Unter den vielen rühmlichen Schulen der Brüder des gemeinsamen Lebens hatte lange Zeit hindurch die Schule zu Deventer den gröszten Ruf. Die Schule zu Deventer ward hochbedeutend durch die Lehrer, welche an ihr wirkten; sie ward hochbedeutend durch die stattliche Anzahl wissenschaftlich geschulter Männer, die dort ihren Ausgang nahmen; dieselben trugen in ihrem eignen Wirken die Weise dieser Schule hinaus in die Welt, und die Anregungen dieser Schule führten sie in selbständigem Schaffen zur Entwicklung zum Gedeihen der deutschen Schule und zur Ehre der deutschen Wissenschaft. Die Schule zu Deventer erhob sich zu ihrer höchsten Blüte unter Alexander Hegius, 1 welcher dieselbe von 1474 bis 1498 leitete. In den Darstellungen der Zeitgenossen wird derselbe als ein ‘gelehrter, heiliger und beredter Mann’, als ein Mann von ‘wunderbar anregender Kraft’ geschildert, der des Lateinischen wie des Griechischen in gleicher Weise mächtig war, ‘der aber aus Verachtung des Ruhmes nichts Groszes ausführte.’ ‘Schrieb er etwas, so that er's, als wär's ein Spiel,

1 Alexander Heek (van Heck), genannt nach seinem Geburtsorte, dem Schulzenhofe Heck im Kreise Ahaus in Westfalen; als Geburtsjahr wird 1433 (von anderen 1420) angegeben; er starb zu Deventer im Jahre 1498.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 12 kein Ernst, obgleich seine Schriften der Art sind, dasz sie nach dem Urteil der Gelehrten die Unsterblichkeit verdienen.’ Sein Streben, sich und andere zu bilden, war von dem Grundsatze beherrscht: ‘Alle Gelehrsamkeit ist verderblich, die mit Verlust an Frömmigkeit erworben wird.’ Nach dem Tode des Alexander Hegius sank die Schule zu Deventer von ihrer Höhe herab. Der Ruhm, die bedeutendste Schule, im Sinne, der Brüder des gemeinsamen Lebens zu sein, ging seitdem über auf die Domschule zu Münster, an welcher hervorragende Schüler des Alexander Hegius als Lehrer wirkten. Ein Zögling der Schule zu Deventer und ein Lehrer an der Domschule zu Münster ist Johannes Murmellius.

II.

Zu Roermond, der schmucken, behäbigen Stadt im Gelderlande, ward Johannes Murmellius im Jahre 1480 als das einzige Kind seiner Eltern geboren. Sein Vater, Dietrich Murmellius, wird als ernst und gottesfürchtig, als ein Mann klaren Verstandes und ruhiger Denkart geschildert. Es konnte sich derselbe wissenschaftlicher Bildung nicht rühmen. Dasz er indes Sinn und Verständnis für wissenschaftliche Bestrebungen, für ihre Bedeutung bei der Geistesbildung des einzelnen wie für ihren Wert im Leben der Menschen hatte, erhellt zur Genüge deraus, dasz er seinem Sohne wissenschaftliche Ausbildung angedeihen liesz. Wie richtig er hierbei die Eigenart des Sohnes erkannt hatte, wie sehr er von der Überzeugung durchdrungen war, dasz sein Sohn Johannes in der Pflege der Wissenschaften das Glück seines Lebens finden werde, dürfte aus der Thatsache erschlossen werden, dasz er auf dem Sterbebette noch sich von seinem Sohne das Versprechen geben liesz, der Wissenschaft dauernd treu zu bleiben. Die Zusage des Sohnes musz um so löblicher erscheinen, als schwerlich die Lehrer, welche ihn bis dahin zu Roermond unterrichtet hatten, es gewesen sein können, die durch ihre Kenntnisse oder durch ihre Unterrichtsweise in ihm die Liebe zur Wissenschaft entzündeten oder ihn in seinem Lerneifer ermunterten und förderten. Als später Johannes Murmellius als Lehrer der

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Jugend eigene Erfahrungen gesammelt hatte, hat er über diese seine ersten Lehrer das herbe Urteil gefällt, dasz sie des Lateinischen unkundig und im Unterrichten unerfahren gewesen seien, dasz er unter ihrer Leitung lange Zeit nutzlos verbracht habe. Ein günstiges Geschick führte den Johannes Murmellius vielleicht schon im Jahre 1492 nach Deventer. Es ist nicht bestimmbar, ob er lediglich nach eigenem Ermessen in die Schule zu Deventer eintrat, oder ob seine Verwandten ihn zu diesem Schritte vermocht haben. Die Schule zu Deventer stand damals dank den Verdiensten des Alexander Hegius auf der Höhe ihres Ruhmes. Um so gröszer der Abstand zwischen dem zum verknöcherten Formelkram entarteten Unterricht, wie ihn Johannes Murmellius zu Roermond an sich erfahren hatte, und der geisterfüllten und geistbildenden Weise zu Deventer: um so gedeihlicher die Rückwirkung auf den Geistesbildung ersehnenden Murmellius. Hatte die Schule zu Roermond ihm nur schwerfällige Formen des Wissens geboten, welche selbst nie geistiges Leben erwecken konnten, so bot sich ihm zu Deventer in anmutig anregender Form reicher Wissensinhalt, welcher nicht in unerbittlicher Einseitigkeit nach dem Maszstab einer engbegrenzten Berufsbildung ausgewählt und abgemessen war, welcher vielmehr - wenn auch nicht gerade ausgesprochener Maszen - der Menschenbildung diente. Dazu kam nun die besonderartige Anregung, welche in dem Unterrichtsverkehr mit einem so vorzüglichen Lehrer wie Alexander Hegius lag. Alexander Hegius war eben ‘eine jener geborenen Lehrernaturen, welche unwillkürlich durch Wesen, Erscheinung, Behaben und Leben belehren, bilden und erziehen, welche in den verschiedensten Schülern die geistige und sittliche Kraft wecken und stärken, auf jeden seiner Art gemäsz einwirken und in dieser Thätigkeit ihre volle Befriedigung finden.’ In der Schule zu Deventer wurden die Keime gelegt, bei deren Entfaltung Johannes Murmellius zu einem begeisterten Anhänger der humanistischen Bewegung heranreifte, welcher mitunter auch als streitbarer Vorkämpfer für den Humanismus auf den Plan trat. Hier schlosz er als Jüngling Freundschaften, die, gegründet auf Gleichheit der wissenschaftlichen Schulung und gekittet durch Übereinstimmung der wissen-

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 14 schaftlichen Überzeugung, dem Manne einen stattlichen Kreis werkthätiger Gesinnungsgenossen sicherten. Im Jahre 1496 zog Johannes Murmellius zur Hochschule nach Köln. Am 14. April ward er daselbst immatrikuliert. Die Aufnahmegebühren im Gesamtbetrage von sieben Weiszgroschen wurden ihm rücksichtlich seiner Dürftigkeit erlassen. In der Folge trat er in die Burse der Laurentianer ein, welche der Obhut des Arnold von Tongern unterstellt war. An manchen Hochschulen Deutschlands hatte um die damalige Zeit der Humanismus schon seinen siegreichen Einzug gehalten. Die groszen Lehrer der Scholastik, , Thomas van Aquin und , welche ehedem zu Köln lehrten, hatten dieser Hochschule sowohl für den Lehrinhalt wie für die Lehrweise gewissermaszen ein zu festes Gepräge gegeben, als dasz der Humanismus mit seinen neuen Lehrgegenständen und seiner in Form und Ziel veränderten Lehrweise daselbst leicht und zeitig hätte Eingang finden können. Aus der Reihe der Kölner Gelehrten erwuchsen dem Humanismus und seinen Vertretern ebenso hartnäckige wie kampfesfreudige Gegner. Allein der das wissenschaftliche Leben jener Tage beherrschende Zug erwies sich stärker als die ehrfurchtsvoll gepflegten Überlieferungen aus alter Zeit. So fand denn auch an der Kölner Hochschule der Humanismus Eingang, wenngleich er auch dann noch seine Daseinsberechtigung daselbst zu erweisen und selbst zu erkämpfen hatte. Zu damaliger Zeit hatten sich an der Hochschule zu Köln etwa 2000 Studenten zusammengefunden; aus allen Gauen Deutschlands, selbst aus Schweden und Dänemark, aus Livland uns Schottland hatten sie sich eingestellt. Dieser Zulauf schon rechtfertigt die Annahme, dasz die Kölner Hochschule, wenn freilich nicht aus eignem Antriebe, sich angeschickt hatte, den Forderungen der wissenschaftlichen Bewegung jener Tage Rechnung zu tragen. Denn dem Drängen der wissensbegierigen Jugend, welche auch damals stets dem Neuen sich zuwandte und welche sich angelockt und gefesselt sah durch die Schönheiten des klassischen Altertums, das ihr der Humanismus erschlosz, wäre nicht zu widerstehen gewesen. Selbst ein Gelehrter wie Arnold von Tongern, welcher späterhin wegen seiner Stellungnahme zu den wissenschaftlichen

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Streitfragen jener Tage von den Anhängern des Neuen unversöhnlich befeindet und schonungslos verschrieen wurde, wird nicht eben grundsätzlich alles und jedes, was der Humanismus an Neuerungen forderte oder anempfahl, zurückgewiesen haben. Es wäre sonst nicht zu verstehen, dasz der ‘Humanist’ Murmellius in seinen späteren Jahren seine Lehrer an der Hochschule zu Köln und insonderheit gerade diesen Arnold von Tongern ihrer Gelehrsamkeit und Weisheit wegen in gebundener und in ungebundener Rede rühmt und verherrlicht. Es wäre weiterhin unbegreiflich, warum Johannes Murmellius späterhin eine seiner Schriften, in welcher er mit der Begeisterung und Zuversicht der Überzeugung für die Pflege der Humanitätsstudien eintritt, gerade jenem Arnold von Tongern gewidmet haben sollte. 1 Schwerlich werden mithin die Kölner Studienjahre für die humanistische Weiterbildung des Johannes Murmellius ohne Bedeutung gewesen sein. In seinen philosophischen und theologischen Studien machte er erfreuliche Fortschritte: er ward Baccalaureus und später, im Jahre 1500, Licentiat. 2 Unmittelbar nachdem er in herkommlich feierlicher Weise mit der Würde eines Licentiaten bekleidet worden, verliesz er die Hochschule zu Köln, um sich als Lehrer eine Lebensstellung zu sichern. Die Unzulänglichkeit seiner Geldmittel wird aller Wahrscheinlichkeit nach für ihn zur Nötigung zu diesem Entschlusse geworden sein. Er selbst berichtet uns, dasz er unter dem Drucke eines ungünstigen Geschickes sich dahin entschieden

1 Diese Schrift: ‘Didascalici libri duo’ ist 1510 erschienen. 2 Das Baccalaureat war die niedrigste Stufe der akademischen Würden: Baccalaureus, Licentiat, Magister (Doktor). An manchen Universitäten Deutschlands war die Erlangung des Baccalaureats abhängig gemacht von einem zweijährigen Studium, von dem Besuche bestimmter Vorlesungen, von einer besonderen Prüfung und von der Abhaltung von zehn öffentlichen Disputationen. Wann Johannes Murmellius das Baccalaureat erworben, ist nicht festzustellen; indes geschah es wohl nicht vor dem Jahre 1498. Zum Licentiaten wurde er gemäsz der heute noch vorliegenden Promotionsakten am 14. März 1500 befördert. - Die Magisterwürde erlangte Murmellius ebenfalls von der Hochschule zu Köln. Er war mit Rücksicht auf seine persönlichen Verhältnisse von der sonst gebotenen Verpflichtung, zwei Jahre hindurch an der Hochschule Vorlesungen zu halten, entbunden worden. Von Münster aus kam er nach Köln und erlangte dort am 26. März 1504 die Magisterwürde.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 16 habe, andere zu lehren, wo er es doch vorgezogen hätte, von andern zu lernen, und Sprachstudien zu betreiben, wo er sich doch zu theologischen Studien hingezogen gefühlt hätte. Von Köln aus begab sich Johannes Murmellius nach Münster. Ob er schon vorher mit Münster Verbindung angeknüpft hatte, ob er dem Rate wohlmeinender Freunde in Köln folgte, ob er lediglich der eigenen Wahl nachging, läszt sich heute nicht bestimmen. In Münster traf Murmellius ein in weiten Kreisen verbreitetes Streben zur Hebung der Jugendbildung an. Schon im Jahre 1400 war von Deventer aus ein Fraterhaus in Münster gegründet worden. Bei ihrem in gleicher Weise umsichtigen und unermüdlichen Eifer für Jugenderziehung und Volksbildung werden die Fraterherrn in ihrem hundertjährigen Wirken daselbst erfreuende Ergebnisse gewonnen haben. Die dem Humanismus verwandten Bestrebungen der Hieronymianer haben dann auch frühzeitig den humanistischen Studien in Münster eine Stätte gesichtert. Um die Wende des Jahrhunderts war in Münster der bedeutsamste Förderer des wissenschaftlichen Lebens im Sinne der Hieronymianer der Domherr Rudolf von Langen (1439-1519). Derselbe liebte es trotz seines hohen Alters durch seine eigene jugendliche Frische jüngere Leute an sich zu ziehen, um ihnen in ihren Studien ein Berater und Förderer zu sein. Sein eigenes reiches Wissen und Können, wie es ihm eine langjährige Erfahrung an die Hand gab, verwandte er stets wohlwollend und bereitwillig zum Nutzen der lernbedürftigen Jugend. Seine stattliche Büchersammlung, die bedeutsame Schätze des Wissens umschlosz, ward seinen Freunden jung und alt eine schier unerschöpfliche Quelle der Belehrung. Seine freigebige Hand ermöglichte manchem, dem Dürftigkeit hemmend entgegentrat, die Fortsetzung der liebgewonnenen Studien. Doch nicht in der Förderung des einzelnen in den Wissenschaften erkannte er seines Lebens höchste Aufgabe. Thatkräftig und zielbewuszt erstrebte er für Münster eine verbessernde Umgestaltung des höheren Schulwesens im Sinne der neuen Richtung, welcher er für die Zukunft die Herrschaft beimasz. Und als nach langjährigem Bemühen alle Schwierigkeiten und Hemmnisse beseitigt waren, als die seinerseits in Vorschlag gebrachte

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Umgestaltung der Domschule zu Münster verwirklicht werden sollte, da wandte er sich an den zur Zeit berühmtesten Schulmann der Hieronymianer, an Alexander Hegius, um ihn zur Übernahme des Rektorats an der Domschule zu Münster zu bewegen. Doch dieser versagte sich seinen Bitten; er empfahl ihm indes einen seiner fähigsten Schüler, Timann Kemner, für dieses Amt. Im Jahre 1500 wurde dann auch Timann Kemner Rektor an der Domschule zu Münster. An Rudolf von Langen wandte sich Johannes Murmellius bei seiner Ankunft in Münster. In dem Jünglinge, welcher sich bei seiner Bewerbung um eine Lehrerstelle von dem zuversichtlichen Vertrauen zu der eigenen, freilich kaum erprobten Kraft leiten liesz, erkannte Rudolfs Scharfblick den wissenseifrigen und wissenstüchtigen Gelehrten und den seines Berufes sicheren und in seinem Berufe treuen Bildner der Jugend. Seiner Fürsprache hatte Murmellius die Berufung zum Lehrer an die Domschule zu verdanken. Auch für die Folge blieb Rudolf von Langen dem Johannes Murmellius ein allezeit wohlwollender Helfer und Berater, selbst als späterhin nicht ohne des Murmellius eigenes Verschulden trübe Tage über denselben hereinbrachen. Die Bücherei des Rudolf von Langen stand dem Murmellius stets offen; vornehmlich ihren Schätzen verdankte er, wie er selbst gesteht, seine vielseitigen, gründlichen Kenntnisse. Und nicht nur der im freundschaftlichen Verkehr mit einem Manne wie Langen gebotenen Anregung, sondern auch der unmittelbaren Belehrung durch Langen muszte sich Murmellius für seine eigene wissenschaftliche Ausbildung wie für seine wissenschaftlichen Arbeiten zu Dank verpflichtet fühlen. ‘Fast alles, was er las und schrieb, geschah nach Langens Rat; nie unterliesz er, über neu zu beginnende Werke seine Vorschläge, über schon ausgeführte sein Urteil zu vernehmen und zu benutzen. Langen liesz es sich nicht verdrieszen, auch über einzelne Gegenstände des Versbaues oder der Kritik des Textes alter Autoren mit ihm die genauesten Untersuchungen einzugehen und mit ihm über solche Gegenstände Briefe zu wechseln.’ Auch nach ihrer Umgestaltung behielt die münstersche Domschule in ihrer Verfassung das Gepräge, welche sie als eine kirchliche Gründung kennzeichnete. Die oberste Leitung der Domschule lag in der Hand des Domkapitels. Dieses betraute

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 18 eines seiner Mitglieder, den Scholastikus, zur Zeit den Domherrn Wennemar von der Horst, mit der Ausübung dieser Aufsicht und Leitung. Auch die Berufung des Rekors war dem Domkapitel anheimgegeben. Dem Rektor blieb, natürlich unter Voraussetzung der Zustimmung des Domkapitels, die Anstellung der anderen Lehrer überlassen. Durch den Rektor Timann Kemner ward Johannes Murmellius als Konrektor an die Domschule zu Münster berufen. Als solcher übernahm er den Unterricht in der zweiten Klasse derselben. Die Domschule zählte zur Zeit vier Klassen, aufsteigend von Quarta bis Prima; im Jahre 1510 traten zwei neue Klassen hinzu: Sexta und Quinta. Der Unterricht erstreckte sich über Religion, Latein, Philosophie, Poetik, Rhetorik, Dialektik; später, seit dem Jahre 1512, wurde auch das Griechische in den Unterrichtsplan aufgenommen. Auszer Kemner und Murmellius wirkten damals noch zwei andere Lehrer, Johannes Pering und Ludolf Bavink, an der Domschule zu Münster. Der Unterricht war Klassenunterricht. Für den einzelnen Schultag waren sechs Unterrichtsstunden, welche für den Lehrer auszerdem eine entsprechende häusliche Arbeit voraussetzten oder nach sich zogen, aus der Mannigfaltigkeit der dem einzelnen Lehrer anvertrauten Unterrichtsgegenstände erwuchs für Johannes Murmellius gleichwie für seine Genossen im Amte eine mächtige Fülle von Berufsarbeit. Vornehmlich musz die Schaffenskraft des Murmellius als eine schier unerschöpfliche und feine Schaffenslust als eine unermüdliche erscheinen. Neben der Ableistung der Pflichten, die ihm sein Lehramt an der Domschule auferlegte, fand er noch Musze zu schriftstellerischen Arbeiten, in denen er sich als Gelehrter, als Schulmann, als Dichter bewährte. So besorgte er Ausgaben älterer und jüngerer Schriftsteller und begleitete dieselben mit sprachwissenschaftlichen und sachlichen Erläuterungen; er verfaszte Schulbücher, welche teils dem Unterrichte unmittelbar zu Grunde gelegt werden sollten und teils dem Lehrer sachliche und methodische Belehrung über Unterricht und Erziehung darbieten sollten; er veröffentlichte mancherlei gröszere und kleinere Dichtungen, bald weltlichen bald geistlichen Inhaltes.

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Aber trotz der hohen Anforderungen, welche in dieser Weise an die Arbeitskraft und die Arbeitsfreude der Lehrer der Domschule gestellt wurden, erlahmte weder ihre Kraft noch minderte sich die Wirksamkeit derselben. Die Domschule zu Münster zeitigte erfreuende Ergebnisse für Schüler wie Lehrer. Der Ruf der Schule nahm zu und verbreitete sich in die Lande; die Zahl der Schüler mehrte sich; auch aus entlegeneren Gegenden, vom Oberrhein und von dem Gestade der Ostsee fanden sich Schüler ein. In Auswahl und Behandlung der Lehrstoffe stellte sich die Domschule zu Münster auch nach ihrer Neuordnung nicht etwa sofort in einen unvermittelten Gegensatz zu der bisherigen Weise. So wurde der Unterricht in der lateinischen Sprache noch nach der die mittelalterlichen Schulen beherrschenden Grammatik des Alexander Gallus 1 erteilt. Timann Kemner, der Rektor der Schule, hatte selbst eine neue Ausgabe dieses Lehrbuches veranstaltet, nich ohne neben dem herkömmlichen Lobpreis des Werkes selbst auch mit der den Gelehrten jener Zeit geläufigen Selbstgefälligkeit ruhmrednerisch der Vorzüge der von ihm besorgten Ausgabe zu gedenken. Allmählich indes bahnte sich ein Umschwung an. Lehrbücher, welche eine von der bisherigen Weise abweichende Handhabung des lateinischen Unterrichtes voraussetzten und welche die Verwendung des lateinischen Unterrichtes für die Gesamtbildung der Zöglinge in andere Bahnen lenkten, wurden eingeführt, darunter wohl vornehmlich die von Murmellius selbst verfaszten Schulbücher. Wie viel von dieser inneren Umgestaltung der Domschule auf die Anregung des Johannes Murmellius zurückzuführen ist, läszt sich nach dem heutigen Stande des Wissens um jene Vorgänge nicht ermessen. Dasz indes Johannes Murmellius für diese Umgestaltung ein Anreger und Förderer, vielleicht gar der Anbahner und Leiter gewesen, läszt sich aus den in seinen Schriften niedergelegten Ansichten erschlieszen. Im Jahre 1512 gab der Kölner Gelehrte Cäsarius von Heisterbach die Anregung, an der Domschule zu Münster, das

1 Über die Grammatik des Alexander Gallus vergleiche: Handbuch, Kap. 16.

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Griechische als Unterrichtsgegenstand einzuführen. Als die Verwirklichung dieses Planes sich verzögerte, da wandte sich Cäsarius gerade an Johannes Murmellius, bei welchem er neben einem vollen Verständnis für die Berechtigung und die Tragweite dieses Vorhabens auch die thatkräftigste Förderung desselben voraussetzen durfte. Im Jahre 1508 legte Murmellius seine Lehrerstelle an der Domschule nieder. Vorgänge wenig erfreulicher Art waren die Veranlassung geworden. Diese Veranlassung war aus dem persönlichen Verhältnisse zwischen Johannes Murmellius und seinem Rektor Timann Kemner erwachsen. Kemner fand als Leiter der Domschule die Anerkennung seiner Zeitgenossen; es wird ihm im besonderen nachgerühmt, dasz er eine strenge und heilsame Zucht an seiner Anstalt handhabte. Er war in seinem Wandel ein durchaus ehrenwerter Mann; vollauf tadelfrei stand er da. Timann Kemner war indes nicht demütig und bescheiden genug, um sich zur Selbsterkenntnis durchgerungen zu haben. Als Gelehrter und Schulmann überschätzte er sich bei weitem; seinen schriftstellerischen Arbeiten legte er einen Wert bei, welcher denselben nicht gebührte. Und er war dabei dünkelhaft genug, die gleiche Wertschätzung auch von allen andern zu erwarten und selbst zu verlangen. Johannes Murmellius war ihm als Gelehrter und Schulmann überlegen. Die wissenschaftlichen Arbeiten des Murmellius wie die Schulschriften desselben fanden, wie dies die Zahl der Auflagen darthut, einen sich stets erweiternden Freundeskreis. Auch die Dichtungen des Murmellius wurden gerühmt. Als Kenner der lateinischen Sprache und ihrer Schriftwercke aus alter und neuer Zeit stand Murmellius höher da, desgleichen in der Erkenntnis der Bildungsziele und der Bildungsmittel für die Jugend jener Tage. Bei dem Stolze und der Überhebung, die nun einmal Kemners Wesen kennzeichneten, muszte sich dieser mit Groll und Bitterkeit erfüllen gegen seinen Untergebenen, der sich ihm mannigfach überlegen erwies und dessen Überlegenheit von solchen, die auszerhalb der Schule standen, auch offenkundige Anerkennung gefunden haben mag; trotz des gemeinsamen Arbeitsfeldes, das sie zur Verständigung hätte führen müssen, trat Entfremdung ein, in welcher sich Kemner in seinen Gedancken in eine gewisse Gegensätzlichkeit zu Murmellius hineingelebt haben wird.

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Diese Gegensätzlichkeit wird sich dann der Lage der Verhältnisse nach in mancherlei persönlichen Reibereien kundgethan haben. Murmellius nun hat in den ersten Jahren des Zusammenwirkens nichts gethan, was diesen Gegensatz hätte verschärfen müssen. Im Gegenteil! Er hat Kemners Ausgabe des Alexander empfehlende Verse vorangeschickt; er hat eine seiner Hauptschriften: ‘Das Handbuch’ Timann Kemner gewidmet und in der Widmung seiner mit lobenden Worten gedacht. Eine solche zarte Rücksichtnahme war wohl imstande, den vorhandenen Gegensatz zu verdecken; sie war aber nicht imstande, denselben auszugleichen. Die Schuld an dem Aufkommen dieses Gegensatzes musz dem Rektor Timann Kemner beigemessen werden. Von der Schuld, diesen Gegensatz zum Bruche getrieben zu haben, kann Murmellius nicht freigesprochen werden. Im Jahre 1506 verliesz Murmellius infolge einer Seuche, welche in Münster ausgebrochen war, auf einige Zeit die Stadt. Die drei Monate seiner Abwesenheit verbrachte er zu Hamm, woselbst er anfänglich in der Herberge, später bei Hermann Gockelen, dem Pfarrherrn der Hauptkirche daselbst, Wohnung nahm. Durch diesen ward er in einen Kreis von Männern eingeführt - Geistliche, Gelehrte, Schulmänner waren es -, deren wissenschaftliche Regsamkeit ihn anzog. Desgleichen fesselte ihn die zwanglose Heiterkeit ihrer geselligen Zusammenkünfte, bei welchen dem Becher selbst ein häufiger Rundgang nicht verwehrt ward. In dem Verkehr mit diesen Männern, die ihn das Leben auch von seiner heiteren Seite erfahren lieszen, erfrischte sich Murmellius; in dem Umgange mit ihnen, die seinen Wert rückhaltlos anerkannten, wuchs er bei dem gesteigerten Bewusztsein der eigenen Bedeutung zu gröszerer Selbständigkeit heran. Es ist nicht zu ermessen, in wie weit es der ausdrücklichen Anregung dieser seiner neuen Freunde bedurfte, um den Murmellius den Gelehrtenstolz seines Rektors Kemner in seiner ganzen Dünkelhaftigkeit erkennen zu lassen und um ihn mit nachhaltigem Unwillen zu erfüllen gegen die Zurücksetzungen und Kränkungen, die ihm aus dieser Überhebung Kemners bisher erwachsen waren. In diesen Tagen des Aufenthaltes zu Hamm hat Murmellius Gedichte verfaszt, die er im Jahre 1507 im Druck

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 22 erscheinen liesz. Eines von diesen Gedichten nun wendet sich mehr scharf als fein, mehr boshaft als witzig gegen einen Schriftsteller, welcher ohne höheren Beruf lediglich dem Ruhme und dem Gewinn nachjagt; welcher selbst kaum Latein versteht, gleichwohl aber andere im Lateinischen zu unterweisen sich erkühnt; welcher vorgiebt, durch seine Schriften das Lernen zu erleichtern, in der That aber es durch dieselben erschwert; welcher dem Fabeldichter Äsop Veranlassung gegeben haben würde zur Abfassung der Fabel von der Krähe, die sich mit fremden Jedern schmückt. Jedweder, dem die Verhältnisse an der Domschule bekannt waren, erkannte auch das Urbild dieses von Murmellius entworfenen Bildes eines Schriftstellers; jedweder bezog diese Schilderung auf keinen andern als auf Timann Kemner. Dasz Murmellius selbst diesem Gedichte nicht die Bedeutung gegeben hat, die es thatsächlich erlangt hat; dasz er nicht etwa absichtlich gerade durch dieses Gedicht es zum offenkundigen Bruche mit Timann Kemner treiben wollte, erhellt daraus, dasz er in eine unmittelbar darauf erscheinende Gedichtsammlung ein Lobgedicht auf Kemner aufnahm. Gleichwohl kam es zum Bruche. Die Einzelheiten dieses Vorganges sind uns unauffindbar. Murmellius trat aus dem Verbande der Domschule zu Anfang des Jahres 1508 aus. In wie weit er hierin eigner Entschlieszung folgte, in wie weit er einer Nötigung, die von andern ausging, nachgab, läszt sich nicht erkennen. Dasz man ihm nicht Unrecht gab, dasz er darüber insonderheit das öffentliche Vertrauen nicht einbüszte, läszt sich daraus erschlieszen, dasz er unmittelbar darauf als Rektor die Leitung der St. Ludgeri-Schule zu Münster übernahm. Über die Wirksamkeit des Johannes Murmellius an der Ludgeri-Schule können genauere Nachrichten nicht erbracht werden. Es läszt sich nicht einmal mit Sicherheit ermessen, ob er bis zu seinem Abzuge aus Münster diese Stellung innegehabt hat. Es liegen nämlich Andeutungen vor, welche der Annahme Raum geben, dasz er um das Jahr 1512 noch einmal als Lehrer in den Verband der Domschule eingetreten sei. Es wäre dies immerhin nur dann möglich gewesen, wenn zuvor eine Annäherung zwischen ihm und Kemner stattgefunden hätte. Nachdem Johannes Murmellius aus dem Lehrkörper

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 23 der Domschule geschieden, hat er freilich noch das eine und andere Mal in Streitgedichten seines Widersachers mit Bitterkeit gedacht. Der Urheber einer solchen Annäherung würde dann wohl Rudolf van Langen gewesen sein, dem das Gedeihen der Domschule und das Geschick beider Männer, die ihm nahe standen, in gleicher Weise am Herzen lag. Die Annahme einer solchen Annäherung gewinnt an Wahrscheinlichkeit durch den Umstand, dasz Timann Kemner auf die Vermittlung des Murmellius hin den Cäsarius von Heisterbach im Jahre 1512 behufs Abhaltung von Vorlesungen über die griechische Sprache nach Münster berief. Murmellius hatte selbst eine Reise nach Köln nicht gescheut, um entgegenstehende Hemmnisse zu beseitigen. Murmellius war nicht unversöhnlich; er war selbst bereit, seinen Anteil an der Schuld des Zwistes mit Kemner einzugestehen und für sein Unrecht Genugthuung zu leisten. Als er sich im Jahre 1513 anschickte Münster zu verlassen, richtete er an Timann Kemner unter dem 27. März 1513 ein Schreiben, in welchem er denselben um Verzeihung bittet für das Gehässige und Verletzende, was er in den letzten Jahren gegen ihn geschrieben; er hebt hervor, er werde seiner stets ehrenvoll gedenken, wie er auch in einem gerade erscheinenden Schriftwerke 1 seiner rühmende Erwähnung gethan habe. Dieses Entschuldigungsschreiben ist späterhin nach dem Tode des Murmellius als Beilage zu einer seiner Schriften in Abdruck gekommen unter einleitenden Begleitworten, welche das Andenken des Gestorbenen schmälerten, gleichwie sie der Verherrlichung Timann Kemners dienten. Man darf wohl annehmen, dasz der in seinem gekränkten Ehrgeize unversöhnliche Timann Kemner der Urheber dieser Veröffentlichung gewesen ist. In der Fastenzeit des Jahres 1513 verliesz Johannes Murmellius die Stadt Münster für immer und begab sich, einem an ihn ergangenen Rufe Folge gebend, nach der holländischen Stadt Alkmaar, um daselbst die Leitung der Lateinschule zu übernehmen. An derselben hatte der Humanismus schon seinen Einzug gehalten mit einem seiner frühesten Vorkämpfer: Antonius Frei (Frye) aus Soest. Auch der unmittelbare

1 Vergl. unten: Pappa, Kap. 2.

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Vorgänger des Murmellius in der Leitung der Anstalt, Bartholomäus aus Köln, war der neuen Richtung zugethan. Unter der Leitung des Bartholomäus aus Köln und des Johannes Murmellius hob sich die Schule zu Alkmaar auf ihren Höhepunkt. Die Zahl der Schüler stieg zuletzt auf 900. Dieser Erfolg ist der Lehrtüchtigkeit des Murmellius zuzuschreiben und dann auch wohl in demselben Grade seiner Erziehungsweise, deren Grundzüge sich in der von ihm für die Schule zu Alkmaar entworfenen Schulordnung aussprechen. Hier in Alkmaar gründete sich Johannes Murmellius einen eigenen Hausstand. Woher die Gattin, welche er daselbst heimführte, stammte, wissen wir nicht. Vier Jahre lang hatte er zum Segen der Jugend und zur eigenen hohen Genugthuung daselbst gewirkt, da brach im Sommer des Jahres 1517 - am Donnerstage nach Johanni war es - das Unheil über die Stadt und ihre Schule herein. Kriegsscharen aus Gelderland nahmen die Stadt mit stürmender Hand. Plünderung und Verheerung war das Los der Stadt; Gewaltthat und Verjagung war das Geschick ihrer Bürger; auch die Zöglinge der Lateinschule wurden vertrieben. ‘In dreiszig bis vierzig Jahren - so klagten später die Ratsherren der Stadt vor Kaiser Karl V. - werden wir den unermeszlichen Schaden kaum verwinden können, den unsere Stadt durch die Verjagung der “Klerken” (Lehrer und Schüler) und durch Plünderung und Brandstiftung hat erleiden müssen.’ Auch Murmellius verlor fast seine ganze Habe. Flüchtend wandte er sich mit Weib und Kind nach Zwolle. Er ist der letzte Rektor der Schule zu Alkmaar gewesen. In Zwolle hoffte er durch Vermittlung des Rektors Gerhard Listrius eine Lehrerstelle zu erhalten; seine Hoffnung erwies sich eitel. Er knüpfte von hieraus Verhandlungen mit dem Rate der Stadt Wesel an in betreff Übernahme der Rektorstelle an der Stadtschule zu Wesen; die Verhandlungen blieben erfolglos. Schlieszlich wurde ihm das seltene Glück zu teil, an diejenige Schule, welcher er die Grundlage seiner gelehrten Bildung verdankte, als Leiter berufen zu werden. So kam er nach Deventer. Nachweisbar ist Johannes Murmellius im September des Jahres 1517 Rektor der Schule zu Deventer gewesen.

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Schon am 2. Oktober desselben Jahres setzte der Tod seinem Leben ein Ziel. Die Lehrer seiner Anstalt trugen ihn zu Grabe. Das junge Weib des Johannes Murmellius und das unmündige Söhnlein desselben blieben in Dürftigkeit zurück. Unmittelbar nach seinem Tode fand das Gerücht Verbreitung und Glauben, dasz zwei unbekannte Männer, die als Jünger des Humanismus bei Johannes Murmellius Aufnahme gefunden, ihm vergifteten Wein eingeschenkt und dasz er bald darauf verblichen sei. Der Verdacht, dieses Verbrechen angestiftet zu haben, wandte sich auf Gerhard Listrius, den Rektor der Schule zu Zwolle. Dieser soll - so viel scheint fest zu stehen - aus unlauteren Gründen die Anstellung des Murmellius zu Zwolle hintertrieben haben. Murmellius hatte ihn daraufhin in einem Gedichte, ohne freilich seinen Namen zu nennen, mit scharfen Worten angegriffen und ihn schonungslos in seinen Schwächen an der Pranger gestellt. In Gerichtsakten aus dem Jahre 1559 wird ein Johannes Murmellius aufgeführt, welcher in Lüttich zum Priester geweiht geworden und später als Priester zur neuen Lehre übergetreten war. Derselbe gab sich als ehelichen Sohn des älteren Murmellius aus, ‘welcher ein frommer, weitbekannter Gelehrter gewesen’. Dieser jüngere Murmellius ist späterhin General-Superintendent zu Öhringen in der Grafschaft Hohenlohe geworden. Weitere Kunde über das Geschlecht des Humanisten Johannes Murmellius ist nicht auf uns gekommen.

III.

Von den ersten Jahren seiner Lehrthätigkeit an bis zu den letzten Tagen seines Lebens hat Johannes Murmellius eine ebenso vielseitige wie ergiebige schriftstellerische Thätigkeit entfaltet. 1 Dieses regsame Schaffen war vornehmlich dem

1 Die erste in Vollständigkeit und Genauigkeit dem heutigen Stande der Forschung entsprechende Zusammenstellung der Schriftwerke des Murmellius hat D. Reichling in seinem Buche: ‘Johannes Murmellius. Sein Leben und seine Werke’ von Seite 132-165 gegeben. Es werden daselbst 47 verschiedene Schriftwerke des Murmellius aufgeführt unter Angabe aller nachweisbaren Ausgaben derselben und unter Hervorhebung der Büchersammlungen, denen diese Werke heute einverleibt sind. - Dem Zwecke des vorliegenden Werkes entsprechend werden im weiteren Verlauf der Darstellung vernehmlich die pädagogischen Schriften des Murmellius einer eingehenderen Würdigung unterzogen werden.

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Berufe und der Wissenschaft gewidmet. Doch huldigte er auch der Muse der Dichtkunst zeitlebens in unvermindertem Schaffensdrange. Neben einer stattlichen Reihe gröszerer und kleinerer Einzeldichtungen hat er in den Jahren 1507 bis 1517 neun Sammlungen von Gedichten veröffentlicht.1 In seinen Dichtungen besingt Johannes Murmellius Städte, die für sein Leben besondere Bedeutung haben: Roermond, die Vaterstadt; 2 Münster und Alkmaar, die vornehmlichsten Orte seiner Lehrerwirksamkeit. Männer der eignen Zeit, die ihm als Freunde nahestanden, die ihm als Berater und Helfer teuer geworden, die ihm durch Wissen und Können Bewunderung abnötigten, verherrlicht er rühmend im Liede. Gegen diejenigen indes, die er als Gegner seines Werkes und als Widersacher seiner Person erkennt, wendet er sich streitfroh im Kampflied. Er richtet seine Dichtungen an den jugendlichen Erzherzog Karl - den spätern Kaiser Karl V., - von dem Wunsche beseelt, des jungen Fürsten Tugenden zu mehren und seinen Ruhm zu künden. Auch hervorragenden Gestalten vergangener Jahrhunderte, die da die Träger und Leiter des Geisteslebens ihrer Zeit gewesen, weiht er seinen Gesang. In das Gewand der Dichtung kleidet er Betrachtungen ein über das Elend des menschlichen Lebens, über die Würde der menschlichen Natur, über die Waffen im Kampfe des Geistes, über die Tugend und über den Zweck der Güter auf Erden. Hier schildert er den Krieg mit seinen grausigen Plagen, das Grab der Wohlfahrt des Landes und der Gesittung seiner Bewohner; hier preist er die Armut, die den Menschen zur Genügsamkeit führt und ihn unwandelbares Glück in der Selbstzufriedenheit finden lehrt; er besingt die Weisheit, die getreue Führerin zu

1 Die Aufschriften dieser Sammlungen sind: ‘Liber eclogarum’ (1507); ‘In Florea B. Virginis serta paean triplex cum nonnullis aliis carminibus’ (1507); ‘Elegiarum moralium libri quattor’ (1507); ‘Epigrammatum liber’ (1508); ‘De magistri et discipulorum officiis epigrammatum liber’ (1510); ‘De hymnis ecclesiasticis libellus’ (1511); ‘Epistolarum molarium liber’ (1513); ‘Carolleia’ (1515); ‘Epigrammata paraenetica’ (1517). 2 s. unten Anhang I.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 27 unvergänglichem Besitz; er mahnt mit ernstem Wort an den Tod, der dem Sterblichen stündlich sich nahen kann. Mit ermunterndem Wort wendet er sich an die Jugend, 1 auf dasz sie durch Arbeit zum Wissen, durch Zucht zur Sitte sich führen lasse. Volltönender und weihevolle erkingt seine Weise, wenn er, zumeist in odenartigem Lied, den Preis des Erlösers und der h. Jungfrau 2 ehrfurchtdurchdrungen singt oder heilige Männer und Frauen der Vorzeit in ihrem Werke und Wandel verherrlicht. Die Dichtungen des Murmellius bewegen sich zumeist in Hexametern oder in Distichen; doch auch kunstreichere Formen, Strophen nach der Weise des Horaz, sind ihm geläufig. Mit diesem lateinischen Dichtungen des Murmellius hat es gleichwie mit den dichterischen Erzeugnissen der Humanisten fast durchweg eine eigentümliche Bewandtnis. Die Humanisten sind durch das Studium des klassischen Altertums zur Erkenntnis, Durchdringung und Anempfindung der Schönheit der Dichtwerke jener Zeit geführt worden. Die Vorliebe, mit der sie sich in diese Schönheiten versenken, lehrt sie an diesen Kunstwerken auch die Mittel der künstlerischen Darstellung durch die Sprache erfassen. So machen sie sich allgemach die Weise der Darstellung bei den klassischen Dichtern zu eigen, ihre sprachlichen Wendungen, ihre dichterischen Bilder. Es wird ihnen geläufig, die eignen Gedanken und Anschauungen in das dichterische Wort und das dichterische Bild des Altertums einzukleiden. So erscheint dann ihre Dichtung im Gewande des klassischen Altertums. Allein der Inhalt solcher Dichtungen entspricht nicht der glänzenden Auszenseite derselben. Überlieferten, entlehnten, fremden Formen hat der Dichter seine Gedanken und Empfindungen anpassen müssen. Eine innerliche Entfremdung zwischen Form und Inhalt liegt vor, wie überall da, wo der Künstler Form und Inhalt seines Kunstwerkes nicht als etwas untrennbar Zusammengehöriges aus seinem eigenen Innern geschöpft hat. Gegenüber der wissenschaftlich geschulten Abmessung der schönen Form hat der Schwung der Gedanken und die Wärme der Empfindung nicht zur Geltung

1 s. Anhang II. und III. 2 s. Anhang IV.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 28 kommen können. Es ist nicht der Künstler, sondern der Gelehrte gewesen, der diese Dichtungen verfaszt hat. Ähnlich verhält es sich mit den Dichtungen des Murmellius. Mit Recht wird ihnen Klarheit des Entwurfes, Anmut des Versbaues, Feinheit des Ausdruckes, mit einem Wort: Vollendung der Form nachgerühmt. Als gelehriger Schüler seiner klassischen Lehrer verdient er hohes Lob. Allein es fehlt seinen Dichtungen das eigenartige Gepräge, welches der Künstler seinen Werken auszudrücken versteht und durch welches er seine Werke als Schöpfungen gerade seiner eignen Kunst zu kennzeichnen weisz. Die menschlichen Dinge und die Menschen seiner Zeit betrachtet und beurteilt Murmellius nach der Weise, die er den alten Dichtern abgelauscht hat. So preist er zum Lobe seiner Vaterstand Roermond die Tapferkeit der Bürger derselben; 1 ‘mächtig durch die Ehren des Mars und gefürchtet in schimmernden Waffen’ haben dieselben stolze Könige, Herzöge, Grafen niedergeworfen; oft in winziger Schar schlugen sie nieder unzählige Krieger; die Parther, welche die Scharen des Crassus vernichtet, die Griechen, welche die Völkerflut des Xerxes abgewehrt, sind nicht tapferer gewesen als Roermonds streitbare Bürger. Die Üppigkeit Tarents, der Reichtum Milets können Roermond in seiner Genügsamkeit nicht in Schatten stellen. Da läszt sich der Eindruck kaum abwehren, dasz Murmellius lediglich durch die Nachahmung klassischer Vorbilder zu einer Überschwenglichkeit hingedrängt worden ist, die, wie sie in der gegebenen Wirklichkeit nicht zu kennzeichnen imstande ist. Solchen Dichtungen des Murmellius fehlt die lebensvolle Frische, wie sie einer unmittelbaren Anschauung, die nicht durch Vorbilder geleitet worden ist, entspringt; es fehlt ihnen die packende Gewalt innerer Wahrheit. In seinen Dichtungen hat Murmellius der Echtheit seiner Freundschaft und der Treue seiner Dankbarkeit ein ehrendes Denkmal gesetzt. Die Lebensauffassung, die sich in denselben ausspricht, wird den höchsten sittlichen Anschauungen für das Leben in all seinen Verhältnissen gerecht. In seinen geistlichen

1 s. unten Anhang I.

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Dichtungen spiegelt sich eine vertrauensvolle Hingabe an alles Göttliche und Heilige, wie sie nur einem frommgläubigen, kindlich reinen Herzen eigen ist. Allein seine Dichtungen wenden sich mehr an den Verstand als an das Gemüt; sie belehren statt zu erheben; sie überzeugen statt zu begeistern. Neben seinen Streitgedichten, welche wegen der Unmittelbarkeit der Rückwirkung der veranlassenden Verhältnisse selbständigeren und echteren Gedankenausdruck zeigen, find dem Murmellius die geistlichen Dichtungen am besten gelungen. Wenn er aber in einer derselben 1 die Jungfrau Maria ‘des heiligen Olymp gewaltige Königin’ (regina sacri potens Olympi) und ‘Mutter des Donnerers’ (parens Tonantis) nennt, wenn er für die alles Irdische überstrahlende Schönheit der Gottesmutter das veranschaulichende Dichterwort hat: ‘alle Nymphen übertrifft sie an Schönheit’ (omnes exsuperans decore nymphas), so erhellt daraus zur Genüge, dasz Murmellius auch in seinen geistlichen Dichtungen als echter Humanist der humanistischen Weise den Zoll zahlt. Eine Reihe philologischer Werke des Johannes Murmellius ist auf uns gekommen. Hierzu gehören seine Ausgaben und Erklärungen zu Persius, zu Juvenal, zu den Briefen Ciceros, zu Ciceros Cator major, seine Auslese aus den römischen Dichtern Tibull, Properz, Ovid. 2 Er hat sich nach seiner eigenen Angabe bei diesen philologischen Arbeiten von dem Streben leiten lassen, ‘die zahlreichen Irrtümer der gewöhnlichen Erklärer aufzudecken und dem Leser zu einem richtigen Verständnis der Schriftsteller zu verhelfen.’ Vor allem hat seine Ausgabe des Persius besondere Anerkennung gefunden und sie verdient dieselbe bis auf den heutigen Tag. Seine lichtvollen, feinsinnigen Bemerkungen gründen sich auf die Beherrschung der lateinischen Sprache und auf das Verständnis des Dichters und seines Werkes. Die Auslese aus Tibull, Properz, Ovid ist weit über die Zeit des Murmellius hinaus ein vielverbreitetes Schulbuch geworden. Die bis zum

1 s. unten Anhang IV. 2 Über die hier und im Folgenden zur Erwähnung kommenden alt- und neulateinischen Dichter und Schriftsteller geben die Anmerkungen zu den in Übersetzung vorgelegten Schriften des Murmellius ausreichenden Aufschlusz.

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Jahre 1789 veranstalteten Ausgaben, 77 an der Zahl, bezeugen seine Trefflichkeit. Auch christliche Dichter aus den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeit, , Prudentius, Avitus, haben an ihm einen hingebenden und verständnisvollen Erklärer gefunden. Ferner sind lateinische Schriftwerke, welche jüngerer Zeit angehören, Dichtungen der italienischen Humanisten Antonius Mancinellus, Baptist von Mantua, Angelus Politanus von Murmellius, der die Anregung hierzu seiner eigenen Lehrthätigkeit entnahm, für die Hand der Schüler mit gleicher Beherrschung des sprachlichen und sachlichen Stoffes und mit gleichem Erfolge für die Sicherung und Vertiefung des Verständnisses erläutert worden. Selbst Werke der Kirchenlehrer hat er in den Bereich seiner philologischen Arbeiten hineingezogen. So hat er einzelne Briefe des hl. Hieronymus herausgegeben und erklärt. 1 Von philosophischen Werken hat Murmellius die Tröstungen der Philosophie von unter Benutzung von handschriftlichen Aufzeichnungen des Rudolf Agricola herausgegeben. 2 Noch heute wird ihm nachgerühmt, dasz er sich wenn irgendwo so in diesen Erklärungen zu Boethius als ‘scharfsinnigen Kritiker, als gründlichen Kenner des Altertums, als vollendeten Philologen’ zeige. Zudem hat er zwei philosophische Lehrbücher verfaszt, welche beide in der Weise eines Handbuches die Grundzüge der Philosophie zum Gebrauch für Studierende zur Darstellung bringen, das eine 3 in knapperer, übersichtlicherer Form, das andere 4 unter eingehenderer Darlegung des Stoffes. In besonderen Schulschriften hat Murmellius die Formenlehre der lateinischen Sprache, insonderheit die Deklinationen und Konjugationen behandelt. In diesen Werken fand der Schüler die nach sprachlichen Gesichtspunkten geordnete Zusammenstellung der Formen in dem ganzen Reichtum der der lateinischen Sprache

1 ‘In epistolam divi Hieronymi ad Niciam commentarioli duo. - Ex epistolis ejusdem selectae orationes.’ (1505) und ‘St. Hieronymi epistola de clericorum officiis cum commentariis’ (1505) 2 ‘Severini Boethii de consolatione philosophiae’ (1511) und ‘Boethii de consolatione philosophiae libri V cum commentariis’ (1514). 3 ‘Aurea bonarum artium praeludia’ (1504). 4 ‘De philosophiae diffinitionibus ac divisionibus tabulae’ (1515)

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 31 eignen Bildungen. Durch die den mustergültigen Schriftstellern des römischen Altertums entnommenen Beispiele, deren zutreffende Auswahl sich der umfassenden Belesenheit des Murmellius gewissermaszen von selbst dargeboten, ward dem Schüler der Beweis erbracht, dasz jene Formen und Bildungen der lebendigen Sprache der Römer angehörten. Andere Schulschriften hatten die Verslehre der Alten zum Gegenstande, sei es um den Schüler die Erscheinungen und Gesetze der Verskunst erkennen zu lassen, so weit dies zur Lesung lateinischer Dichtungen erforderlich war, sei es um den Schüler an der Hand dieser Erkenntnis zur Nachbildung lateinischer Verse zu befähigen. Die erste grosze pädagogische Schrift des Johannes Murmellius ist das ‘Handbuch für Schüler’ aus dem Jahre 1505. Dasselbe ist eine Art Pflichtenlehre für Schüler, insonderheit für solche, welche der Erziehung seitens der Eltern entwachsen oder entlassen sind. Die Schüler sollen an der Hand desselben in den Stand gesetzt werden, die Pflichten, welche ihnen in Sachen ihrer eigenen Ausbildung obliegen, zu erkennen und zu erfüllen, auf dasz nicht das Erziehungsgebäude, welches die Eltern bis dahin für sie aufgeführt und ausgestattet haben, nunmehr durch die Sorglosigkeit der sich selbst überlassenen Jünglinge in Verfall gerate, verwittere und zusammenstürze, auf dasz nicht die Tugenden, welche kaum ihren Einzug in diese ihnen bereitete Wohnstätte gehalten, nunmehr entweichen und ihren Platz dauernd dem Laster einräumen. Es richtet sich das Handbuch indes nicht ausschlieszlich an die Schüler. Es wendet sich namentlich in seinen einleitenden Abschnitten an diejenigen, welche vornehmlich dazu berufen sind, die Erziehung der Jünglinge anzubahnen und zu leiten: an die Eltern. Aus dem Verhältnisse, in welchem die Eltern von Natur aus zu ihren Kindern stehen; aus den Obliegenheiten, die ihnen als Mitgliedern der bürgerlichen Gemeinschaft erwachsen; aus den hochheiligen Aufgaben, welche Gott gerade den Eltern zugewiesen hat: wird für die Eltern die unabweisbare Notwendigkeit hergeleitet, für die Erziehung ihrer Kinder Sorge zu tragen. Diese allgemeine Erziehungspflicht schlieszt für die Träger derselben auch noch besondere Verpflichtungen in sich gegenüber den Künsten und Wissenschaften, diesen vornehmlichsten

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Mitteln der Bildung, und gegenüber den Lehrern, welche die Handhabung dieser Bildungsmittel beherrschen. Erziehung und Unterricht sollen aus innern und äuszern Gründen so früh wie möglich beginnen. Der Hauserziehung ist die Schulerziehung vorzuziehen überall da, wo die Schule eine gute genannt werden darf. Die Bildung des einzelnen ist zu einem gewissen Grade abhängig von Umständen, über welche der einzelne nicht Herr ist: von den geistigen und körperlichen Anlagen, von der Gesamtgeartung der Verhältnisse, in die Gottes Ratschlusz ihn gesetzt hat. Wenn nun das Ergebnis der Bildungsarbeit bei den einzelnen auch ein ungleiches sein wird, so ist doch für alle die Bildungspflicht dieselbe. Weder Adel noch Schönheit, weder Reichtum noch Armut, weder Fülle der Begabung noch Beschränktheit der Geisteskraft dürfen den Menschen bestimmen, aus Überhebung oder Verzagtheit sich seiner Bildung ganz und gar zu begeben. Die Schönheit des Körpers soll nicht durch Gebrechen des Geistes in Schatten gestellt werden. Häszlichkeit und Miszgestalt dagegen werden durch Bildung des Geistes aufgewogen und in Vergessenheit gebracht. Der Arme soll reich werden an Tugenden und Kenntnissen. Auch der schwach Begabte wird beit gutem Willen und mit Gottes und der Heiligen Beistand, der sich seinem vertrauungsvollen Flehen zuwendet, Gräszeres leisten, als er selbst erhofft hat. Die Pflicht des Lernens ist allen gemeinsam. Der fruchtbare Acker, welcher unbebaut bleibt, wird unfruchtbar; der Geist, welcher keine Belehrung findet, bleibt fruchtlos. Der angeborene Wissenstrieb soll von früh auf genährt und gemehrt werden. Der natürliche Lerneifer wird sich mindern und erkalten, wenn die Einbildungskraft aus Abwege gerät und verderbt wird. Geistiger Trägheit wird dann der Mensch anheimfallen. Der Bildungstrieb soll beherrscht werden von der Überzeugung, dasz des Menschen Glück sich gründet auf Tugenden und Kenntnisse, deren Krone die Weisheit ist. Die Lehren der Wissenschaften entgegennehmen, ohne sie zu behalten, ist fruchtloses Bemühen. Das Gedächtnis bedarf deshalb besonderer Pflege, namentlich bei denen, die leicht und schnell auffassen, aber gerade wegen der Mühelosigkeit ihres Auffassens die Vorstellungen weniger verarbeiten und nicht so

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 33 dauerhaft aufnehmen als diejenigen, in deren Geist die Vorstellung mit derselben Mühe, aber auch mit derselben Dauerhaftigkeit Eingang findet, wie das Zeichen, welches dem Felsblock eingegraben wird. Auch Zustände des Gemütes und des Körpers sind von Bedeutung für das Gedächtnis und für die Weise und den Erfolg seiner Arbeit. Hierüber hat der Schüler zweckmäszige Vorschriften zu beherzigen. Die Arbeit des Geistes ist abhängig von der Gesundheit des Körpers. Die Erhaltung der Gesundheit ist nur in einem gewissen Grade dem fürsorgenden Ermessen des Menschen anheimgegeben. Eine zweckmäszige Lebensweise, vor allem indes Enthaltsamkeit, ist die unerläszliche Grundlage und der beste Schutz der Gesundheit. Enthaltsamkeit wehrt markverzehrenden Sinnengenusz ab und mehrt dem Körper die Kraft. Wenn auch besonders edle Naturen sich trotz aller Dürftigkeit und Not des Lebens zum höchsten Gipfel der Weisheit durchgerungen haben, so sind doch gemeiniglich denjenigen, die sich den Studien widmen, äuszere Mittel in bescheidenem Masze unentbehrlich. Derjenige Zögling, welchem sich bei dem Reichtum der Eltern des Lebens äuszere Güter in Fülle darbieten, hat indes zu bedenken, dasz die Wissenschaften die Genossinnen des Hungrigen und nicht des Gesättigten, des Mäszigen und nicht des Verschwenders sind. Ein anderer, dem der Eltern mühsame Tagesarbeit den Weg zu den Studien bahnt, darf von den durch den Schweisz der Eltern erworbenen Mitteln nur soweit es not thut und nur im Sinne der Eltern Gebrauch machen. Und es ist nicht unmöglich, dasz selbst der völlig Mittellose durch eigne körperliche Arbeit sich die Mittel erwirbt, den Studien obzuliegen. Bei der Wahl eines Schulhauses soll man sich nicht bestechen lassen durch die Groszartigkeit des Bauwerkes oder durch den künstlerischen Schmuck desselben. Für die Lage des Schulhauses soll auch nicht die durch landschaftlichen Reiz fesselnde Umgebung bestimmend sein. Ein einsamer Ort, fern vom Verkehr der Menschen, begünstigt die Sammlung des Geistes und erschwert den sinnlichen Verlockungen den Zugang. Ist der Schüler darauf angewiesen, in einer fremden Stadt bei fremden Leuten Wohnung zu nehmen, so wähle er ein ruhiges Haus, dessen Infassen in der Furcht des Herrn leben und

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 34 auch bei ihrem Schützling wie auf Gesundheit des Lebens so auf Gesundheit der Sitten bedacht sind. Die Kürze des menschlichen Lebens, welche - so klagen die Menschen - das Masz der Ausbildung beeinträchtigt, findet in etwa einen Ausgleich in der weisen Ausnutzung der dem Menschen kärglich zubemessenen Lebenszeit. Jede Musze, die der Unlust an Arbeit entspringt, ist abzuweisen. Das Tagewerk darf der Zögling nur unterbrechen, um sich der genuszreichen Musze stiller Gedankenarbeit zu überlassen. Der Zögling, welcher dem Laster keine Gewalt über sich einräumt, wahrt sich mit der Ruhe des Gewissens auch die Heiterkeit des Gemütes. Diese Heiterkeit des Gemütes läszt ihn leichter die Lehren der Weisheit beherzigen und mehr, denn andere, sich mit Ehrsurcht erfüllen vor allem, was Ehrfurcht erheischt. Eingehende Erwägung finden sodann die mancherlei Eigenschaften, welche den Lehrer zieren sollen, und die Pflichten, wie Unterricht und Erziehung sie ihm auferlegen. Nichts darf dem Schüler zu schwer erscheinen, wenn es gilt, der Unterweisungen eines guten Lehrers teilhaftig zu werden. Gleichwohl ist davon abzuraten, die Kinder der Ausbildung wegen in eine fremde Stadt zu schicken, wenn die Vaterstadt den Wissenschaften eine Pflegestätte bereitet hat. Willkürlicher Wechsel des Lehrers und des Lehrortes fördert nicht. Die erste Gegenleistung, zu welcher der Schüler dem Lehrer gegenüber sich verpflichtet fühlen soll, ist die Liebe. In dieser Liebe liegen für den Schüler wie für den Lehrer die Wurzeln gedeihlicher Arbeit. Bei der Auswahl der den Studien dienenden Bücher und für die Verwendung derselben soll der Schüler sich an die Weisungen des Lehrers halten, auf dasz die Bücher für ihn in Wahrheit eine Quelle der Erkenntnis werden. Den freundschaftlichen Verkehr mit Alters- und Studiengenossen regele die Überzeugung, dasz der Mensch vol solchen, die sich eifrig um das Beste bemühen, auch immer das Beste lernen wird. Das Studium der Sitten, welches den Menschen mit Tugenden ausstattet, wird durch das belehrende Wort des Erziehers, aber auch durch besondere Schriften gefördert, welche einen Schatz von Lebenserfahrung und Lebensweisheit in Formen

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 35 darbieten, die in ihrer ungekünstelten Anmut gerade dem Sinne der Jugend zusagen. Unter den Wissenschaften soll an erster Stelle die Grammatik, ‘die Quelle und der Ursprung der freien Künste’, gepflegt werden. Die Handbücher, welche als Hilfsmittel in Vorschlag gebracht werden, entstammen der Zeit des Humanismus und treten mehr oder minder absichtlich und schroff für eine von den Lehrbüchern des Mittelalters abweichende Weise des Sprachunterrichtes ein. Die Gestaltungen der Formenlehre wie die Gebilde des Satzbaues sollen an Beispielen, welche mustergültigen Schriften entnommen sind, vorgeführt werden. An diesen Beispielen erkenne der Schüler die Regel; nach diesen Beispielen übe er sich in Nachbildungen. So bald wie möglich führe der Lehrer den Schüler zum Lesen der Dichtwerke aus alter Zeit. Er wähle dabei solche Dichter aus, ‘welche schamhaften Sitten keinen Eintrag thun, welche vielmehr ebenso sehr dem Sinn des Jünglings durch Lehren edler Menschlichkeit Nahrung geben als seinen Geist durch die Dialektik; die übrigen Künste des Triviums und Quadriviums schlieszen sich an; so wird der Schüler in den Stand gesetzt, auf der Hochschule sich dem Studium der Rechtswissenschaft oder der Arzneikunde, der Philosophie oder der Theologie unter der Gewährleistung erfreuenden Erfolges zu widmen. Ein ungeregelter Wechsel in den Lehrstoffen führt zur Zerstreuung des Geistes und zur Zersplitterung der Kraft. Alles Neue und Unbekannte soll solange Gegenstand des Unterrichtes sein, bis ein volles Verständnis desselben erreicht worden; sonst wird dasselbe eben etwas Unbekanntes bleiben. Nicht versuche der Lehrer die Kraft seiner Schüler an Schwierigkeiten, die dem Geiste des Jünglings zunächst noch unüberwindbar sind. Angemessene Spiele dürfen mitunder den Ernst des Studiums unterbrechen, auf dasz dann der Jüngling mit erfrischter Kraft die wissenschaftliche Arbeit wieder aufnehme. Wie der Jüngling sich bei den einzelnen wissenschaftlichen Fragen mit Beharrlichkeit zur Lösung derselben durchdringen soll, so soll er auch für die ganze Dauer seines Lebens mit gleicher Beharrlichkeit an seiner stetigen Weiterbildung arbeiten in der Überzeugung, dasz der Mensch zum Lernen bestimmt ist, so lange er lebt.

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Wie der gekennzeichnete Gedankengang darthut, bietet das Handbuch des Murmellius kein vollständiges Lehrgebäude der Erziehung und des Unterrichtes. Einzelne Fragen aus dem Gebiete der Erziehungs- und Unterrichtskunst werden erwogen, erläutert und zu Schluszfolgerungen geführt, welche sich verpflichtend bald an die Erzieher bald an die Zöglinge wenden. Es ist das Handbuch nicht für solche berechnet, die, ausgehend von dem Wesen und der Bestimmung des Menschen, die Gesetze der Erziehungs- und Unterrichtslehre kennen lernen wollen, um dann ihr Wissen um diese Lehre an der Bildung anderer im Können zu bethätigen. Es richtet sich diese Schrift vielmehr an diejenigen, welche die Erziehung anderer veranlassen und überwachen, ohne selbst Ausüber dieser Erziehung zu sein. Vornehmlich indes wendet sich dieselbe an diejenigen, an denen andere die Kunst der Geistesbildung und der Sittenzucht bestätigen, auf dasz die Zöglinge den Lehren ihrer Erzieher einen empfänglichen Sinn entgegenbringen und mit zielbewusztem Willen an dem Werke ihrer Bildung mitarbeiten. Diesem besonderen Zwecke hat sich der Inhalt des Buches angepaszt. Solche Fragen sind ausgewählt, die auch dem Laien in der Erziehungskunst sich aufdrängen. Daher wird denn auch besonderes Gewicht auf die äuszeren Verhältnisse in der Jugendbildung: Zeit, Ort, Schulhaus, Lehrer, Bücher gelegt. Die solchen Fragen gewidmeten einzelnen Abschnitte gliedern sich zum Teil nicht in strenger Gedankenfolge an einander. Der Zusammenhang zwischen solchen Abschnitten wird mitunter nur gewahrt durch die Beziehung derselben auf den allen gemeinsamen Hauptgedanken. Seine Darlegungen stützt Johannes Murmellius durch innere Gründe mancherlei Art. Er entnimmt dieselben der Weise des wissenschaftlichen Erkennens und der Besonderheit der Schulstudien in ihren Mitteln und Zielen. Bei seiner Begründung greift er zurück auf das Wesen des Menschengeistes und auf die durch innere und äuszere Verhältnisse bestimmte Eigenart des Zöglings. Die Beweiskraft seiner Gründe erhöht er durch Beispiele, welche er der Geschichte des klassischen Altertums entnimmt. Die Geschichte der Griechen und Römer liegt wie ein offenes Buch vor seinen Augen; er ist vertraut mit dem Leben der Dichter und Denker, der Künstler, Staats-

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 37 männer und Feldherren jener Zeiten; daher dann die Fülle von kennzeichnenden Einzelheiten aus dem Leben jener Tage, die er, fern von aller Wissensprahlerei, lediglich im Dienste der Menheit in seine Darstellung verwoben hat. Seine Aufstellungen belegt er mit Aussprüchen hervorragender Männer jener Zeit. Die Lehrmeinungen der Philosophen, die in die Weise des Sinnspruches eingekleideten Kernworte der Redner, die schwungvolle Bildersprache der Dichter: alles bietet sich ihm in gleicher Weise dar. Auch die Worte der kirchlichen Schriftsteller und der christlichen Dichter bis zu der eignen Zeit hin stehen ihm zur Erhärtung der eignen Ansichten zur Hand. Diese Weise der Darstellung des Murmellius erbringt den Beweis seiner umfassenden Belesenheit; es liegt darin das Zeugnis, dasz er den Werken des Altertums für sich selbst nicht nur Sprachkenntnisse entnommen hat; er ist in den Geist dieser Werke eingedrungen; er hat die Menschen jener Zeit zu erkennen getrachtet, um als echter Humanist aus dieser Erkenntnis sich für sein eigenes Bildungsstreben ein möglichst edles Vorbild menschlicher Würde und menschlicher Tüchtigkeit zu gestalten. Es ist dies zugleich der Nachweis, dasz er auch seinen Schülern diese Schriftwerke nicht nur als Quelle und Tummelplatz sprachlicher Studien verlegte; er liesz sie vielmehr daselbst die durch die Geistesarbeit vieler Jahrhunderte geförderten Bildungsschätze erkennen; er suchte trotz der sittlichen Bedenken, wie sie einzelnen dieser Schriftwerke anhaften, seinen Schülern diese Schätze zu den Zwecken der eignen Bildung zugänglich zu machen. In seinem Handbuch bekundet sich Johannes Murmellius als Mann der Wissenschaft, der an sich die Arbeit wissenschaftlicher Bildung und die Bildungskraft wissenschaftlicher Erkenntnisse erprobt hat. Es bekundet sich darin Murmellius als hochstrebenden Schulmann, welcher der eignen Unterrichtsthätigkeit die höchste Aufgabe für Geistes- und Sittenzucht der Zöglinge setzt. Es bekundet sich darin Murmellius als einen durch Selbstbeobachtung und Lebenserfahrung geschulten Menschenkenner, welcher die Eigengeartung seiner Zöglinge zu ergründen trachtet, um Unterricht und Erziehung auf psychologischer Grundlage aufzubauen. Aus dieser Schrift spricht zu uns der edle Menschenfreund, welcher durch die seinem Wirken

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 38 entsprieszende Förderung des Erziehungswerkes das Heil des einzelnen und die Wohlfahrt der Gesamtheit mehren und festigen möchte. Es spricht daraus zu uns der überzeugungstreue Christ, welcher bei aller Vorliebe für das klassische Altertum in all seinen Bildungsbemühungen den christlichen Anschauungen über den Menschen und seine Bestimmung gerecht wird. Die Ansichten des Handbuches sind im Vergleich zu den Lehrmeinungen anderer Schulmänner jener Zeit nicht als neue zu bezeichnen. Inwieweit dieselben gleichwohl für Murmellius als ursprünglich anzusehen sind, ist schwer zu ermessen. Insonderheit wird es schwierig zu unterscheiden sein, ob Murmellius seine Ansichten über Erziehung und Unterricht den Anschauungen anderer, wie dieselben in der Überlieferung aus alter und neuer Zeit vorlagen, angepaszt oder gar entlehnt hat; oder ob er jene Aussprüche und Beispiele hervorhob, weil dieselben ihrem Lehrinhalte nach mit seinen durch Nachdenken und Erfahrung selbständig gewonnenen Meinungen übereinstimmten. Mitunter wird man sich versucht fühlen, sich für das erstere zu entscheiden. So hat Murmellius den Abschnitt über Eigenschaften und Pflichten des Lehrers bis auf das Wort getreu der berühmten Schrift des Quintilian - ohne Angabe der Quelle - entnommen. 1 Die Ansichten, welche Murmellius im ‘Handbuch für Schüler’ niedergelegt hat, entsprechen den Forderungen einer vernünftigen Erziehung, welche im Sinne des Christentums Geistesbildung und Sittenzucht der Jugend anstrebt. Es werden diese Ansichten zudem der unter der Herrschaft des Humanismus stehenden neuen Richtung im Geistesleben der Zeit gerecht. Mit leiser Hand ändert Murmellius an der überlieferten Weise des Unterrichtes. Fehlerhaftes wird beseitigt; Hergebrachtes, das sich als hemmend oder zweckwidrig erwiesen, wird durch Neues ersetzt: jede Umwälzung wird fern gehalten. Die Verbesserungsvorschläge des Murmellius bewegen sich alle in den Grenzen der Möglichkeit; sie tragen für ihn, den erfahrenen Schulmann, die Sicherheit des Gelingens und des Gedeihens in sich.

1 Vergl. Handbuch, Kp. 16. - Über Quintilian s. Handbuch Kp. 2, Anmerkung.

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Die Darstellung des Johannes Murmellius ist schlicht und fesselnd: der Ausdruck ist prunklos und zutreffend; der Gedankenbau ist durchsichtig und wohlgefügt; die Beweisführung ist gründlich und vielgestaltig. Die anmutende Klarheit seiner Darlegung wirkt überzeugend; die ruhige Bestimmtheit seiner Ansichten stimmt vertrauungsvoll; die belebende Wärme der eignen Überzeugung, die aus den Worten des Murmellius auf den Leser eindringt, wirkt begeisternd. Damit sichert Murmellius seinem an heilsamen Lehren reichen Handbuch volle Wirksamkeit. Dieses Verdienst wird dem Verfasser des Handbuches unbestreitbar bleiben. Im Jahre 1517 liesz Murmellius den ‘Scoparius’ - Auskehrer - im Druck erscheinen. Der Scoparius, welcher weit unfangreicher ist als das ‘Handbuch für Schüler’ giebt gleich diesem ein Bild von den pädagogischen Ansichten und Bestrebungen des Murmellius. Seiner Bestimmung nach unterscheidet sich der Scoparius gar wesentlich von dem ‘Handbuche’. Er ist nach den Worten des Murmellius selbst als eine Art von Streitschrift ‘gegen die Vorkämpfer der Unbildung und die Verächter der humanistischen Studien’ gerichtet. Nach seiner Entstehung und nach dem Gewande, in welchem er sich darstellt, ist der Scoparius eine Schrift absonderlicher Art. Es ist im wesentlichen eine reichhaltige Sammlung von kleineren und gröszeren Abschnitten aus Schriftwerken verschiedener Zeiten. Schriftsteller aus alten und jungen Tagen, Heiden und Christen, Weltliche und Geistliche, Philosophen und Dichter, Schulmänner und Gottesgelehrte, Lehrer der lateinischen Sprache und Kenner des bürgerlichen und kirchlichen Rechts, gotterleuchtete Männer des Alten und des Neuen Bundes: alle haben sich gewissermaszen in dieser Schrift als Gewährsmänner des Murmellius ein Stelldichein gegeben; sie erheben ihre Stimmen zu Gunsten der Lehrmeinungen des Murmellius; durch die Wucht ihrer Lehrhoheit drücken sie alle Gegenmeinungen nieder. Bald sind es Darstellungen in ungebundener Rede, bald Dichtungen in vielgestaltiger Form, die hervorgehoben werden; bald einzelne kurze, kerhafte Aussprüche, bald gröszere Abschnitte, die in Gedankenaufbau und Beweisführung sich als wissenschaftliche Abhandlungen darthun. Zwischen diesen Auslassungen anderer Dichter und Denker erscheinen in verhältnismäszig geringer

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Anzahl auch solche, die aus der Feder des Murmellius selbst geflossen sind: Darstellungen in ungebundener Rede und Dichtungen, sei es dasz er die letzteren seinen Gedichtsammlungen, die bereits erschienen waren, entnommen, sei es dasz er sie für die besonderen Zwecke dieses Sammelwerkes eigens verfaszt hatte. Die Entstehungsweise der Schrift schlieszt es aus, dasz der Gedankengang derselben sich streng geordnet nach einem in all seinen Teilen von ein und demselben Gesichtspunkte beherrschten Plane gestaltet. Der Gedankenaufbau entbehrt weder der Lücken und Sprünge, noch ist er frei von Wiederholungen. Die Darstellungsweise ist gemäsz der vielgestaltigen Eigenart der Schriftsteller, die zu Worte kommen, eine ungleichartige. Dem einen ist es um Ergründung und Sicherstellung der Wahrheit zu thun; dem andern gilt es mehr, seinen wirklichen oder vermeintlichen Gegner des Irrtums zu überführen oder in seiner Unwissenheit blosz zu stellen. Hier bewegt sich die Darstellung gemessen, leidenschaftslos; mit Ernst und Nachdruck tritt sie auf; sie sucht zu beweisen und zu überzeugen. Dort ist die Darstellung lebendiger und packender; die sachllichen Gründe weichen den persönlichen; auch Hohn und Spott werden zum Beweismittel; selbst verletzende und beschimpfende Worte, die nur in der Derbheit des Umgangstones der damaligen Zeit eine swache Entschuldigung finden könnten, werden nicht verschmäht. Einige Abschnitte begnügen sich damit, Forderungen aufzustellen für den Betrieb wissenschaftlicher Studien und für die Handhabung des Unterrichtes, gleichsam als Ausflusz der Erfahrung oder als Ergebnis prüfender und sichtenden Gedankenarbeit; andere führen in die Gedankenarbeit, welche jene Ergebnisse erzielt hat, selbst ein; sie sichern damit bei dem Leser mit dem Verständnis auch die Überzeugung von der Richtigkeit dieser Forderungen. Das eine Stück läszt die nackten Thatsachen der Geschichte, denen unwiderstehliche Überzeugungskraft innewohnt, sprechen; das andere führt den Erfahrungsinhalt und die Lebensweisheit eines Zeitalters in dem gestaltenreichen Bilderschmuck einer Dichtung aus dieser Ziet vor. Wenn auch durch diese Vielgestaltigkeit die Darstellung insgesamt einen unruhigen Zug annimmt, so liegt doch in diesem Wechsel auch wieder ein eigenartiger Reiz. Der Scoparius enthält einen groszen Reichtum der Gedanken,

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 41 welche eine Fülle fruchtbarer Anregungen in sich tragen. Eine erschöpfende Darlegung der Ansichten und Bestrebungen, wie sie dem Humanismus eigen sind, dürfen wir von dieser Schrift des Murmellius nicht erwarten; auch nicht eine Kennzeichnung aller der Forderungen, welche der Humanismus an Studien und Unterricht stellte; beides verbietet schon die Entstehungsweise der Schrift. In derselben werden vielmehr einzelne Fragen berücksichtigt, wie sie in dem Streite der Meinungen zwischen den Anhängern des Alten und den Vorkämpfern der neuen Richtung im Vordergrunde standen. Vornehmlich lebhaft war der Streit über die Frage des grammatischen Studiums und des Unterrichtes in der Grammatik entbrannt. Zu dieser Frage nimmt der Scoparius Stellung. Manche der zur Zeit vorliegenden Lehrbücher der Grammatik, darunter solche, die während der letzten Jahrhunderte des Mittelalters die Schule beherrschten, werden verworfen. Mit scharfen Strichen wird das Unzulängliche und Schädliche gekennzeichnet, das die bisherige Weise des lateinischen Unterrichts in Auswahl und Behandlung des Sprachstoffes an sich trägt. Er verlegt den Schwerpunkt in die Deutung und Abgrenzung grammatischer Begriffe. Das vielgestaltige Rüstzeug der mittelalterlichen Philosophie wird bei solchen Begriffsbestimmungen aufgeboten, wenngleich diese Beweisführung in ihren Mitteln wie in ihren Zielen zu hoch ist für die schwache Geisteskraft der im Knabenalter stehender Zöglinge. Jahre vergehen über dem grammatischen Studium dieser Art; gleichwohl kommt der Schüler trotz andauernder Antstrengung nicht dazu, lateinisch zu sprechen. Wohl ist er imstande, auf Grund des genossenen Unterrichts über grammatische Erscheinungen in ihrem Wesen und in ihrem Verhältnis zu einander weitläufige Darlegungen vorzubringen; selbst auf philosophische Spitzfindigkeiten und scharfsinnige Wortklaubereien nimmt er dabei Bedacht. Aber er sagt eben auf, was er mühsam unter des Lehrers strenger Hand lediglich gedächtnismäszig sich eingeprägt hat. Es sind Kenntnisse, die er dem Gedächtnisse entnimmt, nicht ist es Wissen, das in seinem Verständnis Wurzel und Halt gewonnen hat. Die lateinische Sprache beherrscht er trotz dieser prunkenden Kenntnisse, die den Unerfahrenen bestechen

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 42 können, weder im mündlichen und schriftlichen Gebrauch, noch genugsam zum Lesen und Verstehen lateinischer Schriftwerke. Die Grammatik soll nicht um der Grammatik willen betrieben werden. Der grammatische Unterricht soll zur Beherrschung der lateinischen Sprache, zum Lesen, Sprechen, Schreiben in der lateinischen Sprache führen. Dunkle, umständliche Vorschriften dienen nicht dieser Ausgabe. An Beispielen aus den besten Schriftwerken soll der Schüler klare, kurze, wirksame Regeln kennen lernen. Er darf nichts lernen, was er späterhin mit gröszerer Mühe vielleicht wieder verlernen müszte. Beispiele und Belegstellen, welche auswendig gelernt werden sollen, müssen in Form und Inhalt zum Besten gehören, was die lateinische Sprache bietet. Nur solches, was notwendig und nutzbringend ist für die Geistesbildung des Zöglings, darf zum Auswendiglernen vorgelegt werden. Sonst wird das Auswendiglernen eine unnütze Arbeit; der Zögling verlernt das Auswendiggelernte, ohne davon Gebrauch gemacht zu haben. Es wird sonst das Auswendiglernen eine abschreckende Arbeit; es verleidet dem Zögling Schule und Unterricht. So soll sich der grammatische Unterricht kurz und knapp in seinem Lehrstoff, leicht und faszlich in seiner Weise gestalten. Auch das Griechische soll in den Bereich der Schulstudien gezogen werden. Wo aber griechische Grammatik betrieben wird, soll dieselbe neben und nicht nach der lateinischen Grammatik betrieben werden. Dieses Handinhandgehen der grammatischen Belehrung über beide Sprachen fordert auch den Schüler zum Vergleiche der Erscheinungen und der Gesetze beider Sprachen auf. Der Schüler erkennt Ähnliches und Übereinstimmendes, Verschiedenartiges und Gegensätzliches an diesen Sprachen. Damit erleichtert er sein Verständnis und vertieft sein Wissen um diese Sprachen. Frühzeitig sollen die Schüler zum Lesen der alten Schriftsteller angeleitet werden. Durch Lesen üben und vervollständigen sie ihre Sprachkenntnisse; durch Lesen dringen sie ein in die Weisheit der Alten. Die Schriften, welche zum Lesen vorgelegt werden, sollen in ihrer Redeweise sprachlich rein, in ihrem Inhalte fesselnd sein. Schriften, die den Keim sittlicher Fäulnis in sich tragen, sind fernzuhalten. Gute Sitten ohne Kenntnisse sind besser als Wissenschaft ohne Sittenzucht. Die

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 43 griechischen und lateinischen Schriftsteller, die in Vorschlag gebracht werden, haben zum Teil sich ihren Platz in der Schule erobert und bis heute behalten; zum Teil müszten dieselben von uns aus sprachlichen Rücksichten und nicht zum mindesten auch aus sittlichen Bedenken zurückgewiesen werden. Nicht nur die Verschiedenartigkeit der Ergebnisse der beiderseitigen Unterrichtsweise soll dahin bestimmen, der neuen Richtung den Vorzug zu geben. Auch den Beweggründen, welche die Anhänger des Alten sich abwenden lassen von den Verbesserungsvorschlägen der Humanisten, wird nachgegangen. Bei den einen ist es die Unlust an der Arbeit, die ihnen erwachsen würde, wenn sie sich die Weise der Neuerer aneignen wollten; bei andern ist es Miszgunst gegenüber den jüngeren Leuten, welche den Weg zu den Studien nicht etwa mühelos zurücklegen sollen, während sie selbst Schwierigkeiten aller Art auf demselben zu überwinden gehabt haben. Hier wirkt fromme Scheu vor dem Hergebrachten, dort Überhebung, welche der Meinung anderer nicht grözseres Gewicht einräumen will, als der eignen Ansicht. Die Haltlosigkeit fällt denn auch die innere Berechtigung zum Widerstande gegen die von dem Humanismus empfohlene Umgestaltung der Studien. Manche der Verteidiger des Alten sprechen sich gegen die Beschäftigung mit den Werken der Dichtkunst und insonderheit gegen das Lesen der heidnischen Dichter aus. Andere, welche diese unversöhnliche Einseitigkeit bereits abgestreift haben, wenden sich gegen den Umfang und die Auswahl, wie sie von den Humanisten bezüglich der alten Dichtungen für die Zwecke des Unterrichtes für notwendig und heilsam erachtet werden. Dem gegenüber wird hervorgehoben, dasz manche Stücke des Alten Testamentes in dem Gewande der Dichtung erscheinen. Das Verständnis der Heiligen Schrift setzt also Vertrautheit mit den Werken der Dichtkunst voraus. Und wenn die Kirchenlehrer zum Lesen und Lernen gerade dieser poetischen Abschnitte der Heiligen Schrift anhalten, so fordern sie damit zur Beschäftigung mit Dichtwerken auf. Feierlich erhabene und schwungvoll hinreiszende Lieder haben seit jeher auch in den Zeiten des Christentums den Gottesdienst verherrlicht. Eine würdige Feier des Gottesdienstes, die jedwedem Christen Pflicht sein soll,

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 44 erheischt mithin die Pflege der Dichtkunst. Christliche Sänger in stattlichster Anzahl haben zum Preise Gottes und seiner Werke unsterbliche Dichtungen verfaszt. Dichtungen als solche können also nichts Gefährliches oder Verwerfliches an sich haben. Doch auch die Dichtungen der Heiden dürfen nicht eben grundsätzlich verworfen werden. Vieles läszt sich unter ihnen ausfindig fährdung in sich trägt, das dagegen in der sinnigen Schönheit der Sprache und in der erhebenden Hoheit des Inhaltes für den studierenden Jüngling wie für den durch wissenschaftliche Erkenntnisse gereiften Mann unvergleichlichen Wert hat. Mit noch gröszerer Entrüstung, wie sie das Bewusztsein gekränkten Rechtes in ihm erzeugt hat, wendet sich Murmellius gegen diejenigen, die nur Worte der Miszbilligung und des Tadels dafür haben, dasz an dem Gymnasium zu Münster den Schülern auch Abschnitte der Heiligen Schrift beim Unterricht in der lateinischen Sprache vorgelegt wurden. Der Lehrinhalt der Heiligen Schrift ist hochwichtig für jedweden Menschen. Die Lehrweise der Schrift hat ihre besonderen Vorzüge; sie ist deutlich und leicht, mild und anziehend. Die sprachliche Darstellung hat unvergleichliche Schönheit; sie vereinigt Anmut des Ausdruckes, Fülle der Kraft und Schärfe der Rede. Hervorhebungen solcher Art dienen Murmellius zur Abwehr der Gegner. Auch gegen unbrauchbare Erklärungsschriften zu den klassischen Schriftstellern, wie sie den Büchermarkt überschwemmten, zieht der Scoparius zu Felde. Das Gebaren ihrer Verfasser, die nicht sowohl der Wissenschaft als dem eignen Geldbeutel dienen, wird an den Pranger gestellt; die Mängel und Schäden ihrer Machwerke werden blosz gelegt. Überflüssiges ziehen sie heran; Fragen kleinlicher Art spinnen sie in weitschichtigen Zergliederungen aus; selbstgeschaffene Einwendungen widerlegen sie in spitzfindigem Schluszverfahren; mit geflissentlicher Umständlichkeit erklären sie solches, was der Erklärung nicht bedarf; bei wirklicher Schwierigkeit versagt ihre Kunst. Damit verwirren sie, wo sie entwirren sollten; damit schaffen sie Dunkelheit, wo sie Licht verbreiten sollten; sie überladen den Geist mit Nebensächlichem und Kleinlichem, während sie ihm den Kern des Wissens vorenthalten.

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In einigen Abschnitten giebt dann Murmellius seine eignen Erklärungen zu einzelnen Wörtern und Redewendungen des Lateinischen. Er will damit den Beweis erbringen, dasz die bisherige Erklärungsweise eine unzureichende ist; er läszt zugleich die Unmöglichkeit erkennen, in den bisher üblichen Lehrbüchern Aufschlüsse zu erhalten, welche das eigene Sprachgefühl befriedigen und den Sprachgebrauch der Alten für sich haben. Die Begründung seiner besonderen Deutungen giebt ihm Gelegenheit, seine Belesenheit in den Alten, seine Sprachgewandtheit, sein scharfes und richtiges Urteil in sprachwissenschaftlichen Dingen darzuthun. Die grammatischen Lehrbücher alter und neuer Zeit, griechische und lateinische Wörterbücher, die vorhandenen Erklärungsschriften zu den Schriften der Griechen und Römer und auch zu manchen Schulschriften der christlichen Zeit werden in einem bis an Vollständigkeit grenzenden Umfange aufgezählt. Brauchbares und Unbraucbares wird allenthalben gesondert. Murmellius beherrscht eben als ein wissenschaftlich geschulter Sprachkenner die Hilfsmittel des Sprachstudiums durchaus. Und dieses unser Urteil wird auch dadurch nicht wesentlich beeinträchtigt werden, dasz Murmellius einige Werke aufführt, die damals wie heute nur bruchstückweise in vereinzelten Anführungen in den Werken anderer vorlagen, die ihm also nur dem Namen, nicht indes dem Inhalte nach bekannt geworden sein werden. Der Scoparius eifert gegen solche, die sich erkühnen, Lehrer zu sein, ohne in Wissen und Können, in Sitte und Zucht berufen zu sein, andere zu belehren. Berufslehrer sind allen andern vorzuziehen, tüchtig in Kenntnissen, gewandt in der Weise, vertrauenerweckend im Wandel. In gleicher Weise zieht der Scoparius gegen gewisse Rechtsgelehrte, die besser Rechtsverdreher und Gesetzkrämer hieszen, zu Felde. Es erscheinen dieselben verächtlich in ihrer ebenso unbegründeten wie maszlosen Überhebung. Als Kenner und Hüter des bürgerlichen und geistigen Rechts vermeinen sie auf jedwede andere Wissenschaft geringschätzend herabsehen zu dürfen, während sie doch in der Gesamtheit des Wissens wie an Bildung des Geistes den Vertretern anderer Wissenschaften gegenüber nur zu oft zurückstehen müssen. Aber auch unter einander

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 46 begegnen sie sich mit gleicher Überhebung. Jeder hat nur Gefallen an seinen eignen Worten; die Worte seiner Berufsgenossen erklingen ihm misztönig. Vornehmlich aber verdienen sie Tadel wegen der Gewalt, die sie der lateinischen Sprache anthun, sei es in der willkürlichen Verwendung der überlieferten Wörter für die im Rechtsverfahren notwendigen Begriffsbezeichnungen, sei es in der eigenmächtigen Umbildung und Neubildung lateinischer Wörter. Die Rechtswissenschaft aber ist die Kenntnis aller menschlichen und göttlichen Dinge. Für rechtskundig dürfte also nur derjenige gehalten werden, welcher einen Inbegriff aller Erkenntnisse sich zu eigen gemacht hat, welcher mithin auch alle Künste und Wissenschaften, wie sie im Gymnasium gelehrt werden, beherrscht. Die Würde der Wissenschaft und das Wesen seines Amtes fordern also von einem Rechtsgelehrten auch vollgültige Kenntnis der lateinischen Sprache. Mit besonders scharfen Worten wendet sich der Scoparius gegen gewisse Lehrer der philosophischen Wissenschaften, gegen die ‘sophistischen Dialektiker’, die da vermeinen und vorgeben weise zu sein, während sie doch von der wahren Weisheit weit entfernt sind. Kaum sind ihnen die Formen des logischen Schluszverfahrens geläufig geworden, so wähnen sie im Besitze der Weisheit zu sein. In ihrem Dünkel täuschen sie sich selbst über ihren eignen Wert; mit ihren Trugschlüssen täuschen sie andere über das Wesen des Wissens und der Weisheit. Sie sind die denkbar untauglichsten Führer der Jugend; ohne das Ziel und die Wege zum Ziele zu kennen, unterfangen sie sich, die Jugend zum Gipfel der Weisheit hingeleiten zu wollen. Ihrem Wirken entspringt, trotz des prunkvollen Gebarens desselben, nur Unheil. Der Scoparius trägt seinen Namen: ‘Auskehrer’ mit Fug und mit Recht: er räumt auf mit mancherlei Mängeln und Schäden, wie sie den wissenschaftlichen Studien und der Unterweisung der Jugend von alters her anhafteten; er räumt auf mit solchen Vertretern der Wissenschaft und der Jugendbildung, welche die Forderungen des Humanismus, die zu Besserem hinführen sollen und können, nicht anerkennen oder annehmen wollen; er räumt auf mit mancherlei Gebrechen, wie sie Männer der Wissenschaft und der Schule für ihre Person oder für ihre Berufsthätigkeit an sich tragen. Die Forderungen,

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 47 für welche der Scoparius eintritt, sind wohl begründet, insofern sie lediglich bestehende Übelstände bekämpfen; sie sind vollberechtigt, da sie die Pflege der Wissenschaft und die Bildung der Jugend zu fördern imstande sind; sie sind durchaus maszvoll, denn sie schlieszen nicht die zersetzende Umwälzung, sondern die verbessernde Umgestaltung des Bestehenden ein. Murmellius selbst spricht verhältnismäszig selten in dem ‘Scoparius’; vornehmlich läszt er andere sprechen, und zwar durchweg Männer, deren Lehransehen ein allgemeines ist. Damit tritt das rein Persönliche zurück, das solchen Meinungsstreitigkeiten so oft zu Grunde liegt und das ihm für sein Eintreten in diesen Streit zum Vorwurf gemacht werden könnte; damit wahrt er seiner Schrift die Bestimmung, lediglich der Wissenschaft und der Jugendbildung zu dienen. Viele und vielerlei Zeugen führt Murmellius vor; er entnimmt sie den verschiedensten Zeiten und Völkern. Damit mehrt er die Beweiskraft des Zeugnisses, für welches er sie aufgerufen; damit erhöht er seiner Schrift die Rückwirkung auf die Zeitgenossen. Eine dritte pädagogische Schrift des Murmellius ist die ‘Pappa’. 1 Dieselbe ist ein Lernbuch für die Hand der Schüler. Sie zerfällt in ihrer ursprünglichen Gestalt in vier Kapitel. Das erste Kapitel bietet eine Zusammenstellung ‘lateinischer Namen für mancherlei Dinge mit deutscher Bedeutung oder Auslegung.’ Die in diese Sammlung aufgenommenen Wörter sind nach Begriffsreihen in 52 Gruppen geordnet. Ausgehend von ‘Gott und den himmlischen Dingen’ und mit den ‘vier letzten Dingen’ endigend, benennen dieselben die mannigfaltigen Dinge der verschiedenen Naturreiche, Einrichtungen und Erscheinungen im häuslichen und öffentlichen Leben der Menschen, in Kunst und Wissenschaft, in Religion und Sitte. Von grammatischen Begriffswörtern werden Zahlbezeichnungen und Zahlhauptwörter, darunter auch die weniger häufig auftretenden, nach ihren Arten geordnet vorgeführt. Den einzelnen Hauptwörtern ist durch kennzeichnende Buchstaben die Bezeichnung des grammatischen Geschlechtes und der Deklinationszugehörigkeit

1 Über die Bedeutung des Wortes ‘Pappa’ vergl. unten namentlich die Vorrede zur ‘Pappa’.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 48 beigefügt. Einzelne der vorgeführten Wörter sind auch ihrem Begriffe nach erklärt. Sinnverwandte und sinngleiche Wörter sind mitunter zusammengestellt. Der zweite Abschnitt führt ‘mancherlei Redensarten für den Gebrauch der Knaben’ - lateinisch und deutsch - vor. Die Darstellung bewegt sich zum gröszeren Teile in der Weise des Gespräches zwischen zwei Schülern oder - freilich selten - zwischen Lehrer und Schüler. Berücksichtigung finden Einrichtungen und Forderungen der Schule, Vorkommnisse am Schulorte, die persönlichen Verhältnisse der Schüler und ihr Gebaren auszerhalb der Schule; selbst des Lebens kleinere Züge, wie der einzelne Tag sie im Verkehr der Menschen heibeiführt, werden nicht übergangen. Einzelne Schlaglichter streifen die wirtschaftlichen Verhältnisse am Schulorte, welche das äusere Leben der Schüler bestimmen. Wir erfahren, dasz die Schüler auch des Lebens heitere Seiten kannten. Die Weise aber, wie sie sich das Leben genuszreich gestalteten, kennzeichnet in einzelnen Zügen auch wieder den Übermut der Jugend, dem Maszhalten fremd ist. Der Gesprächston schlägt mitunder eine Derbheit an, die uns Roheit dünken würde. Manches Lehrhafte flieszt unter: Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten; Lehrsätze und Sinnsprüche aus den Schriften der Alten; Wahrheiten, wie die tagtägliche Erfahrung sie nahegelegt hat. Alles dieses wird dem Schüler in mustergültigem Latein dargeboten. So wird er in den Stand gesetzt, sich auch über die mannigfaltigen Vorkommnisse, wie der einzelne Tag sie bringt, in der Unterhaltung mit seinen Genossen in gewählter Sprache lateinisch, sowie die strenge Ordnung der Schule es forderte, auszulassen. Das Buch des Murmellius muszte dem Schüler umso dankenswerter erscheinen, als er an der Hand des grammatischen Unterrichtes oder durch das Lesen der lateinischen Schriftsteller schwerlich Gelegenheit gefunden hätte, sich einen ausreichenden Vorrat von Ausdrücken und Redewendungen gerade für diese Verwendung der lateinischen Sprache anzueignen. Durch die ‘Lebensregeln und Sittenlehren’ des dritten, wenig umfangreichen Abschnittes wird der Zögling an seine Obliegenheiten als Christ und Schüler erinnert. Die Pflichten der eignen sittlichen und geistigen Vervollkommnung, Satzungen einer der Erfahrung entsprungenen und durch die Erfahrung

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 49 bestätigten Lebensweisheit, Vorschriften eines freundschaftlichen und geselligen Verkehrs, welcher sich nach den Gesetzen der Höflichkeit und Schicklichkeit gestaltet, werden in kurzen, wirkungsvollen Sätzen vorgeführt. In gleicher Weise werden die ‘mancherlei Sprichwörter’, welche der letzte Abschnitt in freilich beschränkter Auswahl darbietet, auf Führung und Leistung des Schülers gedeihlich eingewirkt haben.

Unsere Betrachtung der pädagogischen Wirksamkeit des Johannes Murmellius führt zu folgendem Endergebnis. Johannes Murmellius hat nicht neue Wege für Studien und Unterricht angebahnt; aber er hat die neuen Wege, welche von andern erschlossen worden, als einer der ersten und mutigsten betreten. Er hat wieder andere zu diesen Wegen hingeführt; mit sicherer Hand hat er dabei die Hemmnisse, welche aus dem bisherigen Denken und Meinen derselben entsprongen, beseitigt; mit starker und kühner Hand hat er die Angrisse abegwiesen, welche ihn und seine Schützlinge von diesen neuen Wegen abzudrängen sich unterfingen. Auch über seinen Tod hinaus hat er durch seine Schriften die Anleitung gegeben, diese Wege zu finden; in seinen Schriften hat er das Rüstzeug geboten, diese Wege zu wandeln, ohne auf Umwege oder auf Irrwege zu geraten. Auf diese Weise hat er der Wissenschaft und der Menschenbildung im Sinne des Humanismus gedient. Seine pädagogischen Schriften entrollen uns durch das, was sie fordern, und durch das, was sie bekämpfen, ein Bild des Geisteslebens und der Schulzustände seiner Zeit. Aber nicht allein dieser geschichtliche Wert wohnt ihnen inne. Sie bergen eine Fülle von allgemeinen Gedanken und Anregungen, welche für immer einem jeden, dem nur Erziehung und Unterricht der Jugend wertvoll sind, hochbedeutsam erscheinen müssen; sie enthalten eine Menge von Regeln und Mahnungen, die ein hervorragender Schulman aus seiner eigenen reichen Erfahrung geschöpft hat, und die jedem Lehrer und Erzieher, welcher an der Erfahrung anderer die eigne Erfahrung mehren möchte, willkommen und dankenswert sein werden. Murmellius hat seine vielseitige Kraft auf den Gebieten des Unterrichtes, der Philologie, der Dichtkunst versucht; auf

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 50 allen Gebieten hat er nicht Unbedeutendes geleistet; er hat sich damit bei seinen Zeitgenossen Bewunderung und bei den Späterlebenden Nachruhm erworben. Aber im Kern seines Wesens ist er doch immer der Bildner der Jugend gewesen. Seine Berufsthätigkeit war der Schule geweiht; auch die meisten seiner philologischen Arbeiten dienen der Schule in ihren näheren oder entfernteren Zwecken; und viele seiner Dichtungen haben eine unmittelbare Bedeutung für Erziehung und Unterricht. Ein sittlich ernster Zug durchweht des Murmellius Meinen und Wirken. Murmellius ist durchdrungen von der Bedeutung der Wissenschaft für den Menschen wie für die Menschheit. Aber höher noch als alle Wissenschaften stellt er die Sittlichkeit; in ihr erst bekundet sich der wahre Wert des Menschen. ‘Nicht wissen ist besser als mit Schuld lernen’, so lautet sein Grundsatz. ‘Nichts ist verderblicher als ein gelehrter und dabei schlechter Mensch,’ so tönt uns sein Mahnwort entgegen. Und diese Sittlichkeit erblüht für ihn, den begeisterten Berehrer der Alten, nur auf dem Boden des Christentums. Er findet sich nicht mit dem Christentum wegen seiner menschenbeglückenden Sittenlehre priesen, ohne sich durch die Glaubenssatzungen desselben verpflichtet zu fühlen. Murmellius ist streng kirchengläubig; in seinen Schriften billigt er ‘nichts, was nicht von der römischen Kirche beschlossen und angenommen sein wird’. Als Lehrer hat Murmellius bei der höchsten Würdigkeit zum Berufe auch den gröszten Erfolg im Berufe erzielt. Überall, wo er wirkt, hebt sich die Schule, mehrt sich die Schülerzahl, entbrennt edelster Bildungseifer. Sein Amt als Lehrer legte ihm eine gewaltige Arbeitslast auf, die umfassender war, als die Gepflogenheit unserer Tage es ahnen läszt. Ein Jüngling von 20 Jahren übernahm er seine erste Lehrerstelle. Als er als 37 jähriger Mann starb, hinterliesz er eine Menge von Schriften; ihre Anzahl musz im Hinblick auf die Leistungen, die sein engerer Beruf ihm auferlegte, und in Berücksichtigung der kurzen Zeit seiner Wirksamkeit geradezu erstaunlich grosz genannt werden. Bis zum Jahre 1513 hatte er bereits 400 Briefe von seinen Freunden und Gönnern erhalten; nach seinem eignen Geständnis hatte er bis dahin ebenso viele selber verfaszt. Unerschöpflich musz ihm die Arbeitskraft und die Arbeitslust

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 51 gewesen sein. Und um so rühmlicher erscheint sein unverwüstlicher Fleisz, als äuszere Güter ihm durch seine vielseitige Thätigkeit nicht zu teil wurden. Selbstgenügsam lebte er bis zu seines Lebens Ende in Dürftigkeit. Sein hochideales Streben und Schaffen ist ihm des Glückes genug gewesen. Als Johannes Murmellius aus diesem Leben abberufen wurde, stand er inmitten des regsamsten Schaffens. Groszes hatte er als Lehrer und Schriftsteller geleistet; Gröszeres noch liesz er erhoffen. Sein Tod wurde von seinen Freunden als ein herber Verlust empfunden. Schwer litt unter seinem Dahinscheiden die Schule zu Deventer, an welcher er zuletzt gewirkt; mit ihm sank ihre Blüte für immer dahin. Aber auch das Schulwesen insgesamt, dem er sein Leben geweiht, hatte seinen frühzeitigen Heimgang zu beklagen.

IV.

Die pädagogischen Schriften des Johannes Murmellius erscheinen in der vorliegenden Ausgabe zum ersten Male in deutscher Übersetzung. Es werden im Folgenden in Übersetzung vorgelegt: ‘Das Handbuch für Knaben’, der ‘Scoparius’, die ‘Pappa’. Von der letztgenannten Schrift gelangt das erste Kapitel nur mit Auswahl, die drei folgenden dagegen vollständig zur Wiedergabe. Die den einzelnen Schriften beigefügten Anmerkungen sind Zusätze des Herausgebers.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 52

Handbuch für Schüler. 1

Widmung und Vorrede. 2

Dem weitberühmten Magister der Philosophie Timann Kemner aus Werne, 3 dem hochverdienten Gründer und Leiter der wissenschaftlichen Schule zu Münster, wünscht der Lehrer der schönen Wissenschaften Johannes Murmellius Heil und Wohlergehen. Nicht widersinnig ist es, wenn bei Plautus jener Philolaches seine Meinung dahin äuszert, dasz die Menschen, wenn sie geboren sind, neuen Gebäuden ähnlich seien; 4 gleichwie diese, auch 1 Die Buchaufschrift lautet vollständig: ‘Opusculum Joannis Murmellii de discipulorum officiis: quod enchiridion scholasticorum inscribitur.’ Die Übersetzung ist verfaszt nach einer der Königlichen Paulinischen Bibliothek zu Münster gehörigen Ausgabe, (gedruckt zu Zwoll - Swollis, Petrus Os de Breda - ohne Jahr, c. 1505). - Die erste Ausgabe ist mit einem Bilde geschmückt: auf einer vor einem Lehrpult angebrachten Bank sitzt ein Lehrer, dessen Haupt von einem Heiligenschein umflossen ist; von den zwei Schülern, die das Bild ferner zeigt, hockt der eine, sitzt der andere vor dem Lehrstuhle; ein Spruchband zeigt die Worte: Accipies tanti doctoris dogmata sancti. 2 Zusatz des Herausgebers. 3 Über Timann Kemner vergl. Einleitung II. 4 Philolachus in Plautus' Mostellaria (Hausgespenst) Akt I. Auftritt 2. - Des besseren Verständnisses wegen wird die ganze Stelle bei Plautus (nach der Übersetzung von Wilh. Binder) aufgenommen.

Philolaches: ‘Viel hab' ich und auch lange hin und her gedacht. Und mancherlei Betrachtungen darüber angestellt, In meinem Herzen auch (hab' anders ich ein Herz) Das Ding der Läng' und Breite nach herumgewälzt: Mit was der Mensch, wenn er geboren ist, sich woh Vergleichen lasse, welchem Bild entsprechend sei, Und mit einmal ist's gefunden. Der Mensch - so dünkt mich - der das Weltlicht hat erblickt, Gleicht einem neugebauten Haus. Den Grund dafür Will ich euch sagen. Kommt es euch für jetzt auch nicht Wahrscheinlich vor, so will ich doch bewirken, dasz Ihr von des Satzes Richtigkeit euch überzeugt. Ich weisz gewisz, wenn ihr mich hört, gesteht ihr selbst, Es sei so und nicht anders. - So vernehmet denn Für das, was ich behaupte, den Beweis; ich will, Dasz ihr klar sehet, wie ich selber. Sobald ein Haus neu aufgerichtet ist, gepuszt Und nach der Richtschnur wohl geformt, lobt jedermann Den Meister wie den Bau; nach diesem Muster will Sich jeder selbst eins bau'n, man scheuet keine Müh' Und keine Kosten. Zieht jedoch ein Taugenichts, Der selbst nichts thut und Leute hat, die auch nichts thun, Ein Mensch, der nicht auf Reinlichkeit und Ordnung hält, Hinein, so wird das Haus, so gut es war, im Nu Einen Fehler kriegen, weil es schlecht verwaltet wird. Und oft tritt auch der Fall ein, dasz ein Sturm entsteht, Der Ziegel und Traufen 'runterreiszt, wo dann der Herr

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 53

In seiner Faulheit keine neuen machen läszt. Es kommt ein Regen, näszt die Wände durch und durch, Das Wasser dringt durch das Gebälk, die Luft vermorscht Des Meisters Werk. Das Haus ist zum Gebrauche nun Schon minder wert, und das ist nicht des Meisters Schuld. Von der Art aber sind die Menschen groszenteils: Wenn etwas sich mit wenig Kosten flicken läszt, So sehen sie immer zu und thun nichts, bis zuletzt Das Mauerwerk zusammenstürzt, und also wird Das ganze Haus von Grund aus wieder neu gebaut. So verhält sich's mit den Bauten. Jetzt will ich euch auch sagen, wie die Ähnlichkeit Der Menschen mit den Häusern ihr erkennen könnt. Fürs erste sind die Eltern die Erzeuger Der Kinder, nicht blosz legen sie den Grund dazu, Sie ziehn sie auf und bilden sie mit allem Fleisz Zur Festigkeit, um brauchbar für die Welt zu sein Und angesehen bei dem Volk. Da gehen sie Mit sich und mit ihren Mitteln gar nicht kärglich um, Die Kosten halten sie für keine Kosten mehr; Sie bilden, unterrichten sie in Wissenschaft, Recht und Gesetz, mit Müh' und Aufwand suchen si Das zu erreichen, dasz auch andere Kinder sich, Den ihren ähnlich, wünschen. Gehn zum Heer sie ab, Giebt man als Beistand ihnen einen Vetter mit: Das ist der Trennungspunkt von den Erzeugern. Wenn nun ein Jahr vom Kriegsdienst abgelaufen ist, Dann zeigt die Probe, wie der Bau sich machen wird. Ick selber war so lange brav und ordentlich, Als unter meiner Meister Aufsicht noch ich stand. Doch seit ich meinem eignen Sinne nach gelebt, Da ging mit einmal ihre Müh' an mir zu Grund: Der Müsziggang zog bei mir ein, das war der Sturm, Der gleich im Kommen Hagel und Regen mitgeführt, Die Scham und alles Masz der Ehrbarkeit in mir Zerstört und plötzlich alles von mir abgedeckt. Darauf war ich für Ausbesserung ganz unbesorgt. Nun schlug die Liebe statt des Regens mir ins Herz Und überschwemmt es und durchnäszt' es allsogleich. Nun wich mit einem Mal Vermögen, guter Ruf, Kredit und Ehr' und Tugend von mir; wirklich ward Mein Leben immer schlimmer. Wahrlich, dies Gebälk Ist von der Nässe ganz durchfault. Ich sehe kaum Die Möglichkeit, mein Haus zu flicken, ohne dasz Es ganz und gar zu Boden stürzt, samt Fundament Zu Grunde geht und niemand mehr ihm helfen kann. Gram faszt mein Herz, wenn ich bedenke, was ich war Und was ich jetzt bin, den von allen Jünglingen Kein andrer übertraf in Kunst der Körperkraft, Im Diskusschleudern, Ballspiel, Speer- und Lanzenwurf, Im Laufen, Fechten, Reiten. O, wie lebt' ich da So recht vergnügt! Mit meiner strengen Lebensart Und Sparsamkeit war ich ein Muster anderer; Die Besten baten sich von mir Belehrung aus. Jetzt bin ich nichts - und das ist meine eigne Schuld.’

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften wenn dieselben von einem tüchtigen Meister erbaut und mit kunstreicher Sorgfalt ausgesmückt worden sind, meistens infolge unthätiger Sorglosigkeit derer, die sie bewohnen, verfallen

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 54 und zusammen stürzen: so werden auch die Jünglinge, solange sie unter der Gewalt ihrer Erzeuger stehen und den Eltern und Lehrern gehorsamen, mit rechter Sorgfalt erzogen und in den Wissenschaften und guten Sitten unterwiesen; sie werden schlieszlich in allen edlen Künsten soweit ausgebildet, dasz andere Eheleute den Wunsch äuszern, es möchten ihnen Kinder beschert werden, die jenen gleichen. Sobald sie aber nach ihrem eignen Gutdünken leben, da brechen plötzlich soviel Stürme und Platzregen herein, dasz das Gefühl für Scham und Ehrbarkeit in Verwirrung gerät, dasz in der Folge dem Gebäude allseitiger

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 55 und vollständiger Einsturz droht, wofern ihm nicht rechtzeitig Stützen angelegt werden. Daher haben die Jünglinge dafür Sorge zu tragen, dasz sie nicht vor dem reifen Alter mit der schwarzen Schar schlimmer Leidenschaften ihre Wohnung teilen; sie sollen es vielmehr zulassen, dasz ihre lieben Eltern und ihre wackern Lehrer, welche gewissermaszen ihre geistigen Eltern sind, so lange für die ausschmückende Ausstattung dieser Wohnungen Sorge tragen, bis sie selbst imstande sind, dieselben mit der Hausgenossenschaft der gestrengen Tugenden nicht allein zu bewohnen, sondern auch zu beschützen, die etwaigen Schäden auszubessern, die ausschmückende Ausstattung zu mehren und dieselben nach beglückender Benutzung zu räumen und mit einer weit beseligenderen Wohnung zu vertauschen. Zum Zwecke einer angemessenen Ausbildung werden nun sowohl von dem Schüler wie von dem Lehrer Pflichten gefordert. Hinsichtlich der Pflichten des Lehrers verweise ich auf andere, welche hierüber mit Umsicht und Bedacht geschrieben haben. Welche Pflichten dagegen dem Schüler obliegen, habe ich nach Maszgabe meiner schwachen Kraft so gut als möglich in diesem Werkchen auseinandergesetzt, welchem man deshalb die Aufschrift ‘Enchiridion scholasticorum’ d. i. ‘Handbuch für Schüler’ zu geben für gut befunden hat. Wie auch immer dieses Werkchen beschaffen sein mag, ich widme es dir, mein feingebildeter Timann, der du mit nicht gewöhnlicher Gelehrsamkeit und mit reichster Erfahrung ausgerüstet das Gymnasium der schönen Wissenschaften in der Stadt Münster seit längerer Zeit mit Klugheit zum Ruhme und zur Ehre für dich selber leitest und deine Zuhörer sowohl durch erprobte Vorschriften in Sachen der Wissenschaft als auch durch hocherhabene Lehren der Sittenzucht nach allen Kräften unterweisest und bildest. Wiewohl du weit bessere Gabe verdienst, so hoffe ich gleichwohl, dasz du gemäsz deiner bewährten Einsicht dieses kleine Geschenk nicht nach seinem Werte, sondern nach der Gesinnung dessen, der es dir gewidmet, beurteilst und dasz du das, was ich zur Förderung der studierenden Jugend geschrieben habe, gütig und wohlwollend aufnimmst. Lebe in Gesundheit, du hochgelehrter Mann, und schenke mir, wie du es bisher gethan, deine Liebe!

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 56

Kap. 1. Es ist die Pflicht der Eltern, die Kinder mit Umsicht und in Ehren zu erziehen und zu guten Sitten hinzuführen.

Über die Erziehung der Kinder und über die Unterweisung des Knaben- und Jünglingsalters haben hochgelehrte Männer gar viele Werke verfaszt; dieselben sind vortrefflich und lesenswert; sie enthalten Vorschriften über das, was dem gesamten Menschengeschlechte vor allem nützlich ist und not thut. Wer wäre nämlich gesunden Verstandes und sähe nicht ein, welch groszes Unheil es nicht allein den Eltern, sondern der ganzen menschlichen Gesellschaft bringen würde, wenn eine gute Erziehung der Kinder verabsäumt würde! Hierüber spricht sich der Stifter der peripatetischen Schule, Aristoteles, 1 in dem Ein-

1 Aristoteles, geb. 384 zu Stagira in Thracien, gest. 322 zu Chalkis auf der Insel Euböa, der für das wissenschaftliche Leben des Mittelalters bedeutsamste Philosoph des Altertums. Während seines zweiten Aufenthaltes zu Athen pflegte er in den schattenreichen Laubgängen des Lyceums wandelnd seine Zuhörer zu belehren. Von diesem Umherwandeln (περιπατετν) soll seine Schule den Namen der Peripatetiker erhalten haben. Andere - z. B. Lewes - leiten die Bezeichnung ‘Peripatetiker’ nicht von der Eigentümlichkeit des Artistoteles, im Umherwandeln zu lehren, ab, sondern von einem besondern Namen jener Laubgänge (περιπατός), der dieselben als Ort des Umherwandelns kennzeichnete. - Das Lyceum war ein in der zu Athen gehörigen östlichen Vorstadt gelegenes Gymnasium, welches nach dem Heiligtume des Apollo Lykeios (Lichtbringer) den Namen führte. - Über die Bedeutung des Aristoteles spricht sich Trendelenburg (kleine Schriften II. 254) dahin aus: ‘Aristoteles ist ein unermeszlicher Geist. Nichts ist so grosz und nichts so klein, das er nicht beobachtete, nicht ergründete, und kaum hat sich wieder in irgend einem die Richtung auf die unendliche Masse des Einzelnen und die entgegengesetzte auf den diese Masse beherrschenden allgemeinen Gedanken so durchdrungen, wie in ihm. Er schuf die Logik und schrieb darin die Gesetze unseres schlieszenden Denkens; er suchte in Bewegung und Raum und Zeit die letzten Grundlagen der Natur und bestimmte sie in seiner Physik; er gründete die Naturgeschichte. Noch heute hält es diese Wissenschaft für ihre Ehre, wenn sie Entdeckungen des Aristoteles wieder entdecken kann. Er dachte dem Begriffe der Seele nach und offenbarte ihre Entwicklung in seiner bewunderungswürdigen Psychologie; selbst Rede und Dichtkunst unterwarf er in seiner Rhetorik und Poetik der eindringenden Betrachtung; in der Ethik untersuchte er voll Tiefe den letzten Zweck und die Glückseligkeit des menschlichen Lebens und zeichnete das Wesen der Tugenden in ethischen Physiognomieen für alle Zeiten; er beschrieb die Formen der verschiedensten Staaten und mit dem an der Erfahrung gereiften Blick verfaszte er die Politik, in der er das Wirkliche nach dem eigenen in ihm wohnenden Gedanken betrachtet und beurteilt; endlich stieg er in die verborgenen Tiefen der letzten Gründe, selbst des Verstandes Gottes, und rastete nicht, in seiner Metaphysik an den Tag zu bringen, was davon dem menschlichen Geiste zugänglich ist.’ - Vergl. Goethe (Farbenlehre II. 2. Abteilung, Ges. Werke XXXV. 43): ‘Aristoteles steht zu der Welt wie ein Mann, ein baumeisterlicher. Er ist nun einmal hier und soll hier wirken und schaffen. Er erkundigt sich nach dem Boden, aber nicht weiter, als bis er Grund findet. Von da bis zum Mittelpunkt der Erde ist ihm das übrige gleichgültig. Er umzieht einen ungeheuren Grundkreis für seine Gebäude, schafft Materialien von allen Seiten her, ordnet sie, schichtet sie auf und steigt so in regelmäsziger Form pyramidenartig in die Höhe, wenn Plato, einem Obelisken, ja einer spitzen Flamme gleich, den Himmel sucht.’

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 57 gange des achten Buches der ‘Politik’ dahin aus: ‘Dasz für den Gesetzgeber die Erziehung der Jugend ein Hauptgegenstand seiner Bestrebungen sein soll, wird gewisz niemand bezweifeln. Denn die Vernachlässigung dieser Pflicht zieht in den Staaten eine Schädigung des Gemeinwohles nach sich.’ 1 Laertius 2 berichtet, dasz derselbe wiederholt den Ausspruch gethan habe: Eltern, welche sich die Erziehung ihrer Kinder angelegen sein lieszen, seien bei weitem ehrenwerter als solche, welche ihren Kindern lediglich das Dasein gegeben hätten; diese nämlich hätten denselben nur das Leben geschenkt, jene aber hätten ihnen auch ein gutes und glückliches Leben geschenkt. Plato 3 nun sagt

1 Aristoteles, Politik VIII. cap. 1. 2 Diogenes Laertius aus Laerte in Cilicien verfaszte um 200 n. Chr. ein Sammelwerk in 10 Büchern: ‘Über Leben, Lehren und Aussprüche hervorragender Philosophen’. 3 Plato, geb 427 zu Athen, gest. 348; Schüler des Sokrates; Haupt der Akademiker; nächst Aristoteles der bedeutendste Philosoph des Altertums. - Die Akademie war ein in der nördlichen Vorstadt Athens gelegener Hain mit Gymnasium, welcher nach einem Heros Hekademos den Namen führte. In einem daselbst gelegenen Garten, ebenfalls Akademie genannt, sammelte Plato seine Schüler um sich; nach diesem Garten wurden dann in der Folge Platos Schüler und Anhänger Akademiker genannt. - Über Plato vergl. Goethe (a. a. Orte, Ges. Werke XXXV. 43): ‘Plato verhält sich zu der Welt wie ein seliger Geist, dem es beliebt, einige Zeit auf ihr zu herbergen. Es ist ihm nicht sowohl darum zu thun, sie kennen zu lernen, weil er sie schon voraussetzt, als ihr dasjenige, was er mitbringt und was ihr so not thut, freundlich mitzuteilen. Er dringt in die Tiefen, mehr um sie mit seinem Wesen auszufüllen als um sie zu erforschen. Er bewegt sich nach der Höhe, mit Sehnsucht, seines Ursprunges wieder teilhaftig zu werden. Alles, was er äuszert, bezieht sich auf ein ewig Ganzes, Gutes, Wahres, Schönes, dessen Forderung er in jedem Busen aufzuregen strebt. Was er sich im einzelnen von irdischem Wissen zueignet, schmilzt, so man kann sagen, verdampft in seiner Methode, in seinem Vortrag.’

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 58 in dem Gespräche, welches die Aufschrift hat ‘Theages, über die Weisheit:’ 1 ‘Bis jetzt habe ich noch nicht erkannt, welcher Sache jemand gröszeren Eifer widmen soll, als dasz er seinen Sohn zu einem guten Menschen heranbilde.’ Krates 2 sagte wiederholt, wenn es ihm gestattet wäre, würde er sich an den höchsten Punkt der Stadt hinstellen und von dorther mit lauter Stimme ausrufen: ‘Wohin eilt ihr Menschen, die ihr all euren Eifer der Anhäufung von Gold widmet, die ihr aber euren Söhnen, denen ihr dieses Geld hinterlassen werdet, geradezu keinerlei Leitung und Pflege angedeihen laszt!’ Ähnlich spricht sich der heilige Hieronymus 3 in seinem Briefe an Salvina aus: Es ist kein geringes Verdienst vor Gott die Kinder gut zu erziehen.’ Daher ernten die Lacedämonier nicht geringes Lob, welche sehr grosze Sorgfalt auf die Knaben, und zwar von Staats wegen, verwenden. 4 Wofern ihr nun, ihr wackern deutschen Männer, Ruhm und Ehre begehrt; wofern ihr die Vervollkommnung eurer Kinder liebt; wofern ihr endlich euer eignes Glück und das Heil eurer Kinder erstrebt: so haltet die Lehrer, die der feinsten dafür, dasz eure Söhne in den trefflichen Wissenschaften und Künsten unterwiesen werden. Und solange es in Anbetracht ihres Alters nicht angeht, dasz dieselben diese meine Vorschriften

1 Der ‘Theages’ wird von der heutigen Forschung als nicht zu den echten Werken Platos gehörig betrachtet. Vergl. Prantl: Übersicht der griechischen und römischen Philosophie 72. 2 Krates von Theben, Schüler des Diogenes; durch ihn wurden die Lehren der Cyniker in die der Stoa hinübergeleitet. ‘Krates war der edelste und in seinem Wirken segensreichste von allen Bekennern der cynischen Philosophie.’ Über die Bezeichnung ‘Cyniker’ s. unten Kap. 5. Anmerkung zu Menippus. 3 Sophronius Hieronymus, geb. 331 (340) nach Chr. gest. 30. September 420, einer der vier groszen abendländischen Kirchenlehrer, fruchtbarer Schriftsteller: Bibelübersetzung, exegetische, dogmatische, geschichtliche Werke, Briefe (darunter auch solche pädagogischen Inhaltes) Der Brief an Salvina findet sich unten Nr. LXXIX. 4 Vergl. Aristoteles, Politik. VIII. cap. 1 § 3: ‘Auch in diesem Punkte verdienen die Lecedämonier alles Lob. Die Jugend wird bei ihnen auf das sorgfältigste erzogen, und die Erziehung ist eine öffentliche Angelegenheit.’

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 59

über ihre Pflichten entgegennehmen, wie sie von mir neu ersonnen und angeordnet und nicht ganz ohne Geschick zusammengestellt worden sind, so ermahnt ihr selbst sie auf das eifrigste zu dem heiligen Studium der Wissenschaften. Weist sie häufig mahnend darauf hin, welch ein Unterschied sei zwischen einem Herkules und einem Sardanapal, 1 zwischen einem Gebildeten und einem Ungebildeten, zwischen einem Weisen und einem Thoren. Dann wird es euch nicht gereuen, euren Kindern das Leben gescheukt zu haben, und eure Kinder wird es nicht gereuen, das Geschenk des Lebens erhalten zu haben.

Kap. 2. Die Kinder sollen der Schule übergeben und von zartem Alter an unterrichtet werden.

Dasz nun die Kinder auf das sorgfältigste unterricht werden müssen, kann nur ein thörichter Mensch bezweifeln. Darüber aber, ob es richtiger wäre, dasz sie von Staats wegen unterrichtet würden, oder ob es besser wäre, dasz dieser Unterricht als Familiensache angesehen würde und ob er dann zeckmäsziger zu Hause oder in der Schule vorgenommen würde, darüber lag ehedem unter den Menschen eine Übereinstimmung nicht vor. Fabius 2 aber hat in dem ersten Buche seiner ‘An-

1 Herkules als Sinnbild gewaltiger Kraft und unerschöpflicher Arbeitslust; Sardanapal als Sinnbild üppigen Lebensgenusses und kraftloser Unthätigkeit. - Sardanapal d. i. Assurbanipal (667-626) hat sich nach der Sage bei der Einnahme Ninives durch Meder und Babylonier mit seinen Weibern verbrannt. Durch die Sage ist das Bild dieses Herrschers entstellt worden. Nach dem heutigen Stand des geschichtlichen Wissens war er ‘einer der glanzvollsten wenn auch nicht mächtigsten Herrscher Assyriers, das richtige Bild eines orientalischen Willkürherrschers.’ Die Eroberung Ninives und die Auflösung des assyrischen Reiches fällt in das Jahr 606 v. Chr. Vergl. Hommel: Geschichte Babyloniens und Assyriens, Seite 695-698. 2 Quintus Fabius Quintilianus, geb. zu Calagurris am Ebro zwischen 35 und 42 n. Chr., gest. vor dem Jahre 97 n. Chr. Seine wissenschaftliche Ausbildung fand er zu Rom, wo sein Vater als Lehrer der Beredsamkeit wirkte. Im Jahre 68 gründete Quintilian in Rom eine Rhetorenschule. ‘Als Gerichtsredner und als Lehrer der Beredsamkeit sehr geschätzt, blieb er 20 Jahre thätig, um seine Grundsätze unter der ihm zuströmenden Jugend zu verbreiten. Erst in seinen späteren Jahren trat er als Schriftsteller auf, zuerst mit einem Buche über die Ursachen des Verfalls der Beredsamkeit; dann (seit 90 n. Chr.) mit einem gröszeren Werke von 12 Buchern (de oratoria institutione) über die gesamte Bildung zum Redner mit Einschlusz der grammatischen Vorbildung. Um das Jahr 93 ward er von Kaiser Domitian zum Erzieher einiger jüngeren Verwandten des kaiserlichen Hauses berufen.’ Im I. Buche Kap. 2 des Hauptwerkes findet die oben erwähnte Frage ihre Beantwortung. Auszüge aus Quintilians Darlegung bei Schumann: Lehrbuch der Pädagogik. I. 55-59; Niedergesäsz: Geschichte der Pädagogik 55-57.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 60 leitung zur Beredsamkeit’ jeglichen Zweifel über diese Frage in einer Weise beseitigt, dasz ich denjenigen nicht mehr für einen wissenschaflich Gebildeten halte, welcher nicht der Meinung ist, dasz die Knaben weit besser in der Schule -wofern dieselbe nur zweckmäszig eingerichtet ist - unterrichtet werden. Dashalb erspare ich es mir, hierüber noch weiteres zu sagen. Und wenn ich mich über das Alter, in welchem sie der Schule übergeben werden sollen, ausgesprochen habe, so will ich einiges wenige über das hervorheben, was für einen jeden Schüler als notwendig gelten soll. Von Kindheit an nun sind sie an gute Sitten und an das Studium zu gewöhnen. So lange erweist sich der Sinn des Jünglings willfährig, solange das Alter lenksam bleibt. Denn, wie der Welweise sagt, nicht wenig, sondern sehr viel, ja eher noch alles liegt daran, ob die Menschen sich in der Jugend so gewöhnt haben. Und unser Dichter Maro 1 sagt: ‘So viel träget es aus, wie die zarteste Jugend gewöhnt wird.’ Auch der satirische Dichter 2 sagt:

‘Lange bewahret der Topf den Geruch, der als neu ihn durchbalsamt.’ Und ein anderer: 3 ‘Denn viel lieget daran, in was für Wissen und Sitten Du ihn erziehest. Der Storch ernährt die Jungen mit Schlangen. Und Eidechsen, die fern vom Wege in den Feldern er auffand. Haben sie Schwingen erlangt, dann suchen sie gleiches Getier auf.’

1 Publius Virgilius Maro, Georgica II, 272. 2 Horaz, Episteln I, 2, 69. 3 Juvenal, Satiren XIV, 73-76

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 61

Und eben dahin geht auch die wohldurchdachte Ansicht Quintilians: ‘Von Natur aus halten wir dasjenige ungemein fest, was wir in uns aufgenommen haben, als wir noch jung und unerfahren waren, gleichwie der Geruch, mit dem man etwas Neues erfüllt, anhält, gleichwie die Färbung, die man der Wolle stat ihrer natürlichen Farbe gegeben hat, nicht ausgetilgt werden kann. Und das, was schlecht ist, haftet um so hartnäckiger an uns; denn das Gute ändert sich leicht in Schlechtes.’ So Quintilian. Der heilige Hieronymus pflichtet ihm bei mit den Worten: ‘Schwer läszt sich das ausmerzen, was ein junges und unerfahrenes Gemüt in sich aufgenommen hat. Wer kann der purpurfarbigen Wolle ihre ursprüngliche Färbung wiedergeben! Lange hält der Topf den Geruch und den Duft, womit er einmal erfüllt worden. Wer da immer seinen Sohn und sich selbst liebt, der höre auf die Vorschrift des Phocyllis: ‘So lange dein Sohn zart ist, lehre ihn edle Sitten. Denn wie der Thon, so lange er feucht und weich ist, auf der schnellen Töpferscheibe gebildet wird, so soll der Knabe gerade in dieser Zeit mit Eilfertigkeit und ohne Unterlasz gebildet werden, auf dasz aus ihm frühzeitig ein nützliches Gefäsz in der Kirche des Herrn werde.’ Wer aber seine Jugend in Unthätigkeit oder in verwerflichem Thun verbringt und erst, wenn das Alter schon vor der Thüre steht, sich den Wissenschaften zu widmen versucht, der handelt thöricht und verdient mit Fug und Recht denselben Vorwurf, wie ihn Dädalus bei Petrarca ausspricht:

‘Lerntrieb wandelt dich spät an; der Jugend flüchtige Blüte Schwand dir; da war es Zeit; doch jetzt noch zu lernen ist schimplich. Was in der Jugend du solltest erlernen, das will nun des Alter Alles erfassen, doch flüchtig ist es und kennt nicht den Zügel. Sei zufrieden mit deinem Geschick; überlasse die Zither Andern, die sie gespielt von der Kindheit Tagen mit Wohllaut.’

Kap. 3. Was einem Studierenden not thut.

An einen, der sich dem Studium der schönen Wissenschaften widmet und ein gelehrter Mann werden will, müssen, wie mir

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 62 scheint, folgende Anforderungen gestellt werden: Lernbegierde, Verstandesschärfe, starkes Gedächtnis, feste Gesundheit, mäszige Mittel für Nahrung und Kleidung, günstige Lage des Wohnortes, Zeit und Musze, Seelenruhe, ein erprobter Lehrer, eine Menge Bücher, Umgang mit wissenschaftlich Gebildeten, Ordnung, Masz und Ausdauer in den Studien. Wer alles dies erlangt hat, der mag Gott dem Herrn den wärmsten Dank sagen, denn zeitig wird er in Wahrheit die erfreuenden Früchte seines Strebens gewinnen. Aber es ist sehr schwer, wird man sagen, alles dies zu erreichen; einiges kann das Glück darbieten: anderes kann der Mensch selbst erringen; alles aber kann nur Gott allein gewähren. Ich räume ein, dasz dies mühsam und ungemein beschwerlich ist. Daher sind, so behaupte ich, zu allen Zeiten gelehrte Männer gar selten gewesen. Aber wenn es auch an dem einen oder andern fehlt, so wird deshalb doch niemand dem Studium der Wissenschaften entsagen.

‘Stets nach dem Möglichen streben ist gut, wenn weitres versagt ist.’1

Wir können nicht alle Männer wie Aristoteles oder Cicero, wie Hieronymus oder Aurelius 2 sein, und nicht allen wird eine solch glückliche Begabung des Geistes zu teil, wie sie jüngst bei Johannes Picus 3 hervorgetreten ist. Gleichwohl studiere jeder eifrigst uns suche nicht feine Unthätigkeit durch den Hinweis

1 Horaz, Episteln I, 1. 32. Vergl. Properz II, 8, 10: ‘Wenn man Groszes beginnt, ist schon der Wille genug.’ 2 Aurelius Augustinus, geb. 354 zu Tagaste in Numidien, 387 getauft, 391 Presbyter, 395 Bischof von Hippo Regius (heute Bona in Algerien), gest. 28. August 430 zu Hippo (im dritten Monat der Belagerung der Stadt durch die Vandalen). ‘Augustinus war einer der hervorragendsten Bischöfe und gröszten Kirchenlehrer aller Zeiten. Die christliche Spekulation der patristischen Litteratur hat er zum Abschlusz gebracht, wie er auch der Nachwelt durch seine Schriften ein hellleuchtendes Licht geworden ist.’ 3 Johannes Picus (Giovanni Pico), Fürst von Mirandula und Concordia (1464-1494), trotz seines kurzen Lebens einer der glänzendsten und gepriesensten Humanisten Italiens. Ein Zeitgenosse (Angelo Poliziano 1454-1494) urteilt über ihn: ‘Er war beredt und tugendhaft, ein Heros eher als ein Mensch. In seiner ganzen Persönlichkeit lag eine Mischung von engelhafter Milde, schamhafter Keuschheit und erquickendem Wohlwollen, welche die Blicke erfreute und die Herzen anzog.’

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 63 auf die Schwerfälligkeit des Geistes oder auf die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses oder auf den Mangel an Geldmitteln zu beschönigen. Wofern der Mensch da, wo es sich um sein Heil handelt, es an Mitwirkung nicht fehlen läszt, so wird das Geschick ihm seine Gunst schenken und wird Gott ihm seinen Beistand verleihen; und das Studium der Weisheit wird ihn dahin führen, dasz er persischen Prunk 1 und die Schätze eines Krösus 2 und das Glück eines Augustus 3 gering schätzt.

Kap. 4. Wie Lernbegierde zu mehren sei.

Die Lernbegierde ist dem Menschen von Natur aus eigen; sie kennzeichnet sich gerade in der Lust an Wahrnehmungen und Vorstellungen. Es ist nun nicht zu bezweifeln, dasz dieselbe durch eine verderbte Einbildungskraft und durch geistige Trägheit unterdrückt werden kann, dasz dieselbe dagegen durch unverdorbene Einbildungskraft und durch Nachdenken über Ehrbares gefördert werden kann. Es soll der Knabe vor allem darauf bedacht sein, dasz er seine Gedanken dahin richtet - denn dazu ermahnen ihn Eltern und Lehrer -, inwieweit ein wissenschaftlich gebildeter Mensch sich vor den übrigen auszeichnet, und weiterhin wie wenig an Würde ein ungebildeter Mensch vor den unvernünftigen Tieren voraus hat. Dem Menschen nämlich sind die Gaben der Vernunft und der Rede eigen; ohne wissenschaftliche Beschäftigung kann dieselbe niemand in richtiger Weise ausbilden. Mit ebenso viel Wahrheit wie Geschmack schreibt Quintus Tullius: 4 ‘Gleichwie jedweder fruchtbare Acker ohne Bearbeitung keine Früchte bringen kann, so

1 vergl. Horaz, Od. I, 38, 1: ‘Perseraufwand ist mir zuwider.’ 2 Der wegen seines Reichtums sprichwörtlich gewordene König von Lydien (560-546 v. Chr.). 3 Octavianus Augustus, Alleinherrscher im römischen Reiche von 30 v. Chr. bis 14 n. Chr. Als ihm von dem Konsul Valerius Messala im Namen des Senates der Name ‘Vater des Vaterlandes’ angetragen wurde, erwiderte er: ‘Meine Wünsche sind nun alle erfüllt. Jetzt habe ich von den unsterblichen Göttern nur noch zu erflehen, dasz es mir vergönnt sei, bis an mein Lebensende diese einmütige Liebe mir zu bewahren.’ Vergl. Sueton, Aug. 4 d. i. Cicero, s. Scoparius Kap. 28.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 64 bleibt auch der Geist ohne Belehrung fruchtlos.’ Da endlich von den Peripatetikern 1 drei Arten von Gütern unterschieden werden: geistige, körperliche und äuszere Güter, so soll der Jüngling wissen, dasz für den Menschen lediglich die geistigen Güter, die da in Tugenden und Kenntnissen bestehen, von Dauer sind, dasz dagegen die übrigen dem Wechsel und dem Schicksal unterworfen sind. Dieselben können gleichwohl in keiner Weise besser als nach den durch die Weltweisheit vermittelten Erkenntnissen entweder für den Fall ihres Vorhandenseins bewahrt oder für den Fall ihres Nichtvorhandenseins nicht begehrt werden. Dagegen soll er auch durch die Hoffnung auf Nachruhm, welche nach den Worten des Dichters für den Menschen ein ungemein scharfer Sporn ist, 2 sich zu dem Studium der schönen Künste anregen lassen; er möge die Erkenntnis gewinnen, dasz durch nichts anderes als durch die Wissenschaften der Name des Menschen in eben derselben Weise der Nachwelt überliefert und unsterblich gemacht werden könne. Schlieszlich möge er sich daran erinnern, dasz er eben zu dem Zwecke geboren worden, sich durch ein gutes und ehrbares Leben und durch die Befolgung des göttlichen Gebotes den Weg zum

1 Die Peripatetiker: Schüler und Anhänger des Aristoteles s. oben Kap. 1. Nach Aristoteles (Nikomachische Ethik) verstehen die Menschen unter der Glückseligkeit Verschiedenartiges, ‘der eine Lust, der andere Thätigkeit, ein dritter Weisheit.’ Aristoteles selbst lehrt dasz der Mensch durch Thätigkeit, d. h. durch Tugend, das Ziel der Glückseligkeit erreiche. Er unterscheidet dabei zwei Klassen von Tugenden: Die ethischen, ‘welche in der Herrschaft der Vernunft über die sinnlichen Triebe bestehen,’ und die dianoëtischen sind: Vernunft, Wissenschaft, Kunst, Einsicht, Weisheit. Diese ethischen und dianoëtischen Tugenden machen die inneren Güter des Menschen aus. Äuszere Güter: Ehre, Sieg, Macht, Reichtum mehren das Glück des Menschen; sie sind aber zum Glück des Menschen nicht notwendig. In späteren Zeit unterschieden die Anhänger des Aristoteles gegenüber diesen innern und äuszern Gütern auch noch ‘körperliche’ (physische) Güter, z. B. Freundschaft, so weit sie auf Nutzen und Genusz bedacht ist, Scham, so weit darunter ein blosz physischer Zustand verstanden wird. Aristoteles selbst hatte lediglich die Gesundheit als ein körperliches Gut hingestellt. 2 ‘Die verfeinertste und übersinnlichste Belohnung’ nennt ein Schriftsteller unserer Tage die Hoffnung auf Nachruhm (Lecky: Sittengeschichte Europas von Augustus bis auf Karl den Groszen II, 161).

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Himmel zu bereiten. Wenn er mit den Wissenschaften vertraut ist, wird er dies sehr leicht erwirken; wenn er aber ungebildet bleibt, so liegt nicht geringe Gefahr vor, dasz er in Gemeinschaft mit verblendeten und thörichten Menschen in die Hölle gestürzt wird

Kap. 5. Die Menschen jedweder Lebensstellung sind zum Lernen verpflichtet.

Weniges habe ich über die Lernbegierde hervorgehoben; aber auf dasz nicht etwa einer nicht vor Lust an wissenschaftlicher Beschäftigung entbrenne, will ich mir eine eingehendere Auseinandersetzung gestatten. Einige rühmen sich des Adels ihres Geschlechtes und geben der Meinung Raum, sie brauchten sich um dieWissenschaften nicht zu kümmern, weil sie nicht Geistliche werden wollten. Allein diese Thoren wissen nicht, dasz für niemanden die Weisheit mehr vonnöten ist als für die Fürsten und für die Leiter der Länder und Staaten. Wahr und der Erinnerung wert ist das Wort, welches Rudolf Langen, 1 der fromme Dichter und die besondere Zierde Deutschlands, im Munde führte: ‘Damals, als die Fürsten gelehrt waren, unterstand fast der ganze Erdkreis ihrer Botmäszigkeit; jetzt aber, da sie von den Wissenschaften keine Kenntnis nehmen, haben sie kaum vier Morgen Landes zu eigen.’ Alexander der Grosze, für den ‘eine’ Welt nicht genug war, begehrte ebenso durch Gelehrsamkeit aller Art als durch Herrschergewalt es den übrigen Menschen zuvorzuthun. Julius Cäsar, Octavianus 2 Augustus, Karl der Grosze und viele andere Kaiser und Könige haben ebenso sehr durch den Ruhm der schönen Künste als durch den der Waffen geglänzt. Wenn du also edel geboren bist, so erstrebe es mit allem Eifer, dasz zu dem Ruhm des Geschlechtes sich hinzugeselle der Glanz der Sittenzucht und des Wissens. Wenn du aber aus einer Familie stammst, deren

1 Über Rudolf von Langen (1438-1519) vergl. Einleitung II. 2 Im Texte steht ‘Octavius’. Der gens Octavia entsprossen hiesz er ursprünglich Gajus Octavius; nach der Adoption durch Gajus Julius Cäsar wurde er Gajus Julius Cäsar Octavianus genannt.

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Namen ohne Klang ist, so widme dich mit Eifer der Philosophie; denn sie bringt in Wahrheit den Adel; durch sie wirst du es leicht erreichen, dasz du deine Vorfahren überstrahlst und dasz diese dir einen berühmten Namen verdanken. Der Adel ist nämlich, wie Juvenal sagt, einzig und allein die Tüchtigkeit. 1 Wenn du ein freier Mann und von freien Eltern geboren bist, mit welchem Rechte wirst du es dann wagen, die Künste zu verachten und zu vernachlässigen, welche man aus keinem andern Grunde die ‘freien’ Künste nennt, als weil sie sich für die Freien ziemen. Wenn du als ein Knecht geboren bist, so ist es vonnöten, dasz du der Philosophie verknechtet seist, auf dasz dir die wahre Freiheit zu teil werde; denn den Namen eines Knechtes verliert derjenige, dessen Geist frei ist. Terentius, 2 der unter den lateinischen Lustspiel-Dichtern einen Namen von so gutem Klang hat, soll der Sklave des Lucanus Terentius gewesen sein; da er sich treu erwies und leichte Fassungskraft bekundete, so wurde er Lehrern der schönen Wissenschaften übergeben; auf diese Weise wurde er dank der Sorgfalt und der Freigebigkeit seines Herrn ein berühmter Dichter. Der Fabeldichter Äsop 3 war ein phrygischer Sklave;

1 Vergl. Juvenal Satir. VIII, 20: ‘Den Adel verleiht allein und einzig die Tugend.’ Dante sagt vom Adel (Göttliche Komödie, Paradies XVI, 7-9): ‘Wohl bist ein Mantel du, der bald sich kürzet, So dasz, wenn man nicht Tag für Tag hinzufügt, Die Zeit ihn mit der Schere rings beschneidet.’ Und weiter (Dante: Gastmahl lib. IV): ‘Es waltet Adel stets, wo Tugend waltet, Doch Tugend nicht, wo er.’ Vergl. Petrarca (Über die Heilmittel in Glück und Unglück): ‘Ein wahrhaftiger Adeliger wird nicht geboren, sondern allmählich gebildet.’ 2 Publius Terentius Afer (196-159 v. Chr.) stammte aus dem karthagischen Afrika (daher sein Beiname Afer); in früher Jugend kam er als Sklave nach Rom und wurde hier auf Veranlassen seines Herrn in die griechische Bildung eingeführt. Von seinen Lustspielen sind 6 auf uns gekommen. Es lehnen sich dieselben nachahmend an die Werke griechischer Dichter, vornehmlich an die des Menander (332-290 v. Chr.) an. ‘Terenz ist ein Kunstdichter in dem Sinne der feineren, d. h. griechisch gebildeten vornehmen Gesellschaft Roms, in deren Kreisen er nicht fremd war.’ 3 Äsop aus Phrygien in Kleinasien diente als Sklave verschiedenen Herren. Der Philosoph Jadmon von Samos schenkte ihm die Freiheit. Seitdem unternahm Äsop grosze Reisen. Seine Lebensweisheit erwarb ihm während seines Lebens viele Bewunderer und über die Zeit seines Lebens hinaus dauernden Nachruhm. Seine Fabeln, welche erst lange nach seinem Tode (560? v. Chr.) gesammelt und aufgezeichnet wurden, haben im Laufe der Zeiten sich mancherlei Veränderungen gefallen lassen müssen.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 67 er wurde der Zahl der Weisen beigesellt. Der Stoiker Epiktet, 1 der Sokratiker Phädon, 2 Menippus 3 und andere, deren

1 Epiktet stammt aus Hierapolis in Phrygien. Er kam als Sklave des Epaphoditus, eines Freigelassenen des Kaisers Nero, nach Rom. Als sein Herr ihm die Freiheit schenkte, widmete sich Epiktet unter der Leitung der Stoiker Euphrates und Musonius Rufus den philosophischen Studien. Später gründete er zu Nikopolis in Epirus eine Philosophenschule. Epiktet lehrte gleich Sokrates nur mündlich. Sein Schüler Flavius Arrianus hat uns seine Lehren aufgezeichnet. (Dissertationes Epicteti; Familiarium sermonum libir XII; Epicteti manuale.) Das letztgenannte Werk ‘Epicteti manuale’ ist ‘ein von Heiden und Christen hochgeschätztes Handbuch der stoischen Sittenlehre’. Nach Aulus Gellius (Noctes atticae I, 2) ist Epiktet der gröszte unter den stoischen Weisen; Augustinus (De civitate Dei IX, 5) preist ihn als den edelsten. ‘Epiktet war sehr arm; sein Haus in Rom bedurfte keines Riegels. Ein Strohsack, eine hölzerne Bank, eine Decke von Binsen und eine irdene Lampe war sein ganzer Hausrat.’ Ein dem Epiktet selbst (ob mit Recht?) zugeschriebenes Epigramm lautet (Aul. Gellius II, 18): ‘Ich Epiktet, der geborene Sklave, gebrechlichen Körpers, Arm wie Irus, ich bin doch der Unsterblichen wert.’ - Irus: Der durch Homer, Odyssee XVIII, verewigte Bettler. - Epiktet ward seiner geläuterten Ansicht wegen sehr geschätzt. Sein Wahlspruch lautete: ‘Leide und meide!’ 2 Phädon aus Elis, welcher im Kriege der Eleer mit den Spartanern (401 v. Chr.) gefangen genommen und nach Athen verkauft worden war, wurde auf Betreiben des Sokrates (von Kriton?) losgekauft. ‘Phädon verdankte dem Sokrates in der Folge die Errettung aus äuszerer und innerer Unfreiheit und pflegte mit treuem Eifer in sich die Keime seiner Lehre.’ Er ward der Lieblingsschüler des Sokrates. Nach des Meisters Tode (399) stiftete er die Elische Schule. Seine Dialoge haben sich nicht erhalten. Platos Gespräch über die Unsterblichkeit der Seele (Phädon) ist nach ihm benannt. 3 Menippus aus Gadara in Syrien, um 280 v. Chr. ein Philosoph der cynischen Schule. - Antisthenes, der Stifter dieser Schule, lehrte nach der Sokrates Tode im Gymnasium Kynosarges. Das Gymnasium in der athenischen Vorstadt Kynosarges war für die Halbathener bestimmt, welche von den anderen Bildungsstätten Athens ausgeschlossen waren. Antisthenes nämlich stammte von einer thracischen Mutter ab. Der Namen des Gymnasiums ‘Kynosarges’ wurde von den Athenern durch die Erzählung gedeutet, dasz einst, als Diomos dem Herkules daselbst opferte, ein ‘weiszer Hund’ das Opferfleisch vom Altare raubte. (In ‘Kynosarges’ sind dem Lautbestande nach die Bezeichnungen für ‘Hund’ und ‘weisz’ enthalten.) Von ‘Kynosarges’ sind dann die Bezeichnungen ‘Cyniker’, ‘cynische’ Schule hergeleitet. Die Bezeichnung Cyniker (Kyniker) ist nicht ohne Doppelsinn; man verband mit derselben den Hinweis auf das ‘hündische’ Wesen und Auftreten jener Philosophen. ‘Durch den Namen Cyniker wollte man zugleich auf die widerliche und eines Menschen unwürdige Lebensweise hinweisen. Bis dahin war man in Athen gewohnt, philosophische Bildung mit Wohlstand und feiner Sitte verbunden zu sehen. Die Philosophie der Cyniker erklärte jeder feineren Bildung und Sitte den Krieg; in der Kunst des Entsagens wurde Antisthenes von seinen Schülern noch überboten.’ Vergl. E. Curtius, Griechische Geschichte III, 495.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 68

Gellius 1 Erwähnung thut, sind aus Sklaven nicht unberühmte Philosophen geworden. Tagtäglich erfahren auch wir es, dasz solche, die sonst wohl Schäfer oder Schweinehirten geworden wären, dank der Beschäftigung mit den Wissenschaften nicht Hirten der Herden, sondern Hirten der Menschen werden. Wenn du ein edles Äuszere besitzest, hüte dich, es durch Laster zu verunehren. Wenn dich aber die Natur miszgestaltet erschaffen hat, so bemühe dich, das, was dem Körper abgeht, durch Bildung des Geistes auszugleichen. Es giebt Obst, welches unter unschöner und rauher Schale einen süszen und geschmackvollen Kern birgt. Odysseus war kein schöner Mann, gleichwohl war er wohlberedt. Wenn du Reichtum in Überflusz besitzest, so setze dein Vertrauen nicht auf das flüchtige und veränderliche Gut, ‘das im Nu der entfliehenden Stunde Ob durch Bitte, durch Kauf, durch Gewalt, durch letztes Verhängnis Seine Besitzer vertauscht und dem Rechte von andern anheimfällt.’ 2 Kenntnisse können uns selbst tausend Gewaltherrscher nicht entreiszen. Den Aristipp, 3 der sich aus dem Schiffbruch

1 Aulus Gellius, etwa 120-175 n. Chr., römische Grammatiker. Sein Sammelwerk: ‘Attische Nächte’ (noctium atticarum libri XX) kennzeichnet ‘die grammatische und rhetorische Richtung seiner Zeit.’ (Niebuhr, Römische Geschichte V, 345.) Gellius hat in demselben vereinigt, ‘was er aus dem Verkehr mit den Gelehrten der Zeit und aus Büchern über alte Litteratur und Sprache, Recht und Philosophie, Altertümer und Naturwissenschaften gelernt hatte.’ Den Namen ‘Attische Nächte’ gab er seinem Werke aus dem Grunde, weil es dasselbe zu Athen in Winternächten begonnen hatte. 2 Horaz, Episteln II, 2, 172-174. 3 Aristipp, aus Cyrene, Schüler des Sokrates, Stifter der cyrenischen Schule. Aristipp faszte ‘die Philosophie nur als Lebenskunst auf: er nahm die Tugend wesentlich nur als Masz im Genusse; Erkenntnis, Wissen und höhere Geistesbildung stellte er in den Dienst dessen, was - immerhin in nicht gemeinem Sinne gefaszt, - dieser Richtung als ein glückseliges Leben galt.’ Durch Schiffbruch wurde er einst an die Küste der Insel Rhodus verschlagen. ‘Als er hier einige geometrische Figuren gezeichnet fand, soll er voll Freude seine Begleiter aufgefordert haben, guten Mutes zu sein, da er Spuren von Menschen entdeckt habe. Vertrauensvoll eilte er sofort nach der Stadt und lenkte seine Schritte in das Gymnasium, wo er in trefflicher Weise seine philosophischen Grundsätze entwickelte. Die Rhodier aber ehrten ihn dafür mit so reichen Geschenken, dasz er nicht nur sich selbst, sondern auch seine Begleiter mit allem Nötigen hinlänglich wieder versehen konnte. Als nun diese in die Heimat zurückzukehren sich anschickten und ihn fragten, was er zu Hause auszurichten habe, antwortete Aristipp: ‘Saget meinen Mitbürgern, sie sollten den Kindern solche Schätze erwerben und solches Reisegeld bereit halten, welches, wenn sie Schiffbruch , mit ihnen ins Merr hinausschwimmt.’ Vergl. Mapheus Vegius, Erziehungslehre II, c. 1.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 69 gerettet hatte und sich von jeglichem Besitze entblöszt sah, liesz die Philosophie nicht im Stiche. Den Ovid 1 haben die Musen bis zu den Geten begleitet; einem Menschen wie ihm, der sich so groszem Elend überantwortet sah, gewährten sie dauernd Tröstung. Wenn du arm bist, so ergieb dich dem Studium der schönen Künste; in kurzer Zeit wirst du reich sein, oder, was noch mehr deinem Besten dient, du wirst des Reichtums nicht begehren. Was soll ich der Ärzte und der Rechtsgelehrten Erwähnung thun, deren Gewinn ein überreicher ist! Auch Gram-

1 Ovid (43 v. Chr. - 17 n. Chr.) wurde, als er schon fünfzig Jahre alt geworden, von Kaiser Augustus nach Tomi am Schwarzen Meere (südlich von dem Einflusz der Donau) verbannt. Ovid selbst singt (Klagelieder I, 5, 61-62): ‘Mich, der ich Meere so weit entfernt wie die Sterne, durchmessen, Schickte des Cäsars Zorn fort an den Getischen Strand.’ Über den Trost, welchen die Dichtung ihm in der Verbannung gewährte, spricht er sich dahin aus (Klagelieder IV, 10 111-118, 121-122):

‘Wenn umtönet ich hier von der Nachbarn Waffen auch werde, Lindre mein trauriges Los ich, wie ich kann, durch Gesang. Und wenn niemand auch ist, zu dessen Ohren er dringe, Täusch' ich auf diese Art doch und verbringe den Tag. Also, dasz ich noch leb' und widerstehe dem Drangsal Und zum Ekel mir nicht wird der bekümmerte Tag, Dank' ich, Muse, nur dir, denn du gewährenst mir Tröstung, Du bringst Ruhe dem Harm, du mir heilenden Saft. Du, was selten ist, gabst mir gefeierten Namen bei Lebzeit, Welchen zu geben der Ruf sonst nach dem Tode nur pflegt.’

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 70 matiker und Dichter haben ein groszes Vermögen erlangt. Virgilius übersandte alljährlich seinen Eltern Geld zu reichlichem Unterhalt. 1 Horaz wünschte sein erworbenes Vermögen u verzehren. 2 Oppian, 3 welcher die Natur der Fische in griechischer Sprache beschrieb, tauschte zu seinem Heil und Glück für jeden einzelnen Vers ein Goldstück ein. Daher wollen wir alle eifrig lernen und das Mahnwort des Flaccus beobachten:

‘Dieses Werk und Geschäft laszt uns mit Eifer betreiben, Wollen dem Staat und uns selber wir leben zur Wohlfahrt und Freude.’

Kap. 6. Über die Verschiedenheit der geistigen Anlagen.

In welcher Weise dem Knaben Lernbegierde eingeflöszt wird, ist nun, denke ich, zur Genüge auseinandergesetzt worden. Nunmehr wollen wir von der Ausbildung des Geistes sprechen. Gott hat den Menschen unterschiedliche Gaben verteilt; sein Wille ist es, dasz die einen sich hierin, die andern sich darin auszeichnen. Daher sehen wir, dasz die einen scharfsinnigen und lebhaften Geistes, die andern dagegen stumpfen und schwerfälligen Geistes sind. So sagte der göttliche Plato, dasz Aristoteles des Zügels, Xenokrates 4 dagegen des Spornes bedürfe. Die Naturforscher berichten, dasz der Geist des Menschen

1 Virgil hinterliesz bei seinem Tode ein ansehnliches Vermögen; ein Viertel desselben vermachte er dem Kaiser Augustus. 2 Über seine äuszeren Verhältnisse spricht Horaz sich selber aus; vergl. Episteln II, 2, 49-52:

. . ‘Wie mich aus dem Dienst heimführte Philippi, Ganz kleinlaut, mit beschnittenen Flügeln, des heimischen Herdes Und Grundstückes beraubt, da trieb nichts scheuende Armut Verse zu machen mich an.’ Und weiter Satir. II, 6, 1-4: ‘Das war immer mein Wunsch, ein Gütchen von mäszigem Umfang, Dran ein Gärtchen, und nahe dem Haus frischsprudelndes Wasser, Drüber hinaus noch ein weniges Wald. Doch reicher und besser Haben's die Götter gefügt.’ 3 Oppian aus Cilicien verfaszte im II. Jahrhundert n. Chr. ein Lehrgedicht über den Fischgang. 4 Xenokrates, 397-314 v. Chr., Schüler des Plato, von 331-314 Leiter der Schule der Akademiker. - Der unmittelbare Nachfolger Platos in der Leitung der Schule war Speusippos, Platos Schwestersohn. - Diogenes Laertius (s. oben) berichtet, dasz Plato bezüglich seiner beiden Schüler Xenokrates und Aristoteles die Äuszerung gethan habe: ‘Was für einen Esel habe ich zu diesem Pferde gespannt!’ - Der Esel galt den Alten nicht als Sinnbild der Beschränktheit, sondern als Sinnbild schwerfälliger Bedächtigkeit.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 71 sich in seiner besondern Art nach der Art der Luft gestalte, in welcher der Mensch lebe. So erwähnt Cicero, dasz die Thebaner trägeren Geistes, die Athener dagegen scharfsinniger und gewitzigter gewesen, weil die Luft zu Theben dick uns schwer, zu Athen dagegen dünn und fein gewesen. 1 Es finden sich indes sehr wenige, welche von Natur aus ungelehrig sind. Denn wie nach der Hervorhebung des Fabius 2 die Vögel zum Fliegen, die Pferde zum Laufen, die reiszenden Tiere zur Wildheit erschaffen sind, so ist uns Menschen die Thätigkeit und Regsamkeit des Geistes eigen. Und die Klugheit des Demokrit 3 zeigt an, dasz, wie Juvenal sagt,

‘Männer von mächtigem Geist und bestimmt zu erhabenem Beispiel Könne die dickeste Luft und Heimat erzeugen der Schöpfe.’ 4

1 Vergl. Curtius, Griechische Geschichte III, 255: ‘Die Äolier in Böotien (also auch die Thebaner) schlossen sich mit einem gewissen Trotze gegen jede geistige Bewegung ab, je regsamer sich jenseit der Berge der jonische Stamm (z. B. die Athener) entwickelte; die wurden immer stumpfer und träger, sie thaten sich den verfeinerten Athenern gegenüber etwas zu gut auf ihre bäurische Derbheit und Grobheit; sie suchten sich für die höheren Lebensfreuden, die ihnen versagt waren, durch Sinnengenusz zu entschädigen.’ 2 d. i. Quintilian, s. oben Kap. 2. 3 Demokrit, geb. um 470 zu Abdera; sein ererbtes Vermögen (100 Talente) verausgabte er auf seinen weiten Reisen, ‘die dem Drang nach Wissenschaft gewidmet waren.’ Nach der Rückkehr in seine Vaterstadt gewann er bald den Ruf eines weisen, von den Göttern begeisterten Mannes. Sein Hauptwerk: ‘Diakosmus’ brachte ihm seitens seiner Vaterstadt ein Ehrengeschenk von 100, nach andern von 500 Talenten ein. Er soll in einem Alter von mehr als 100 Jahren gestorben sein. Wie schon einer seiner Lehrsätze: Aus nichts wird nichts und etwas kann nie vernichtet werden’ bekundet, vertritt er in seinen Lehrmeinungen materialistische Ansichten. Vergl. Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. I, 7. - Abdera lag in Thracien, ‘welches wegen seiner Sümpfe, Wälder und unangebauten Gegenden eine dicke und feuchte Luft hatte. Die Bewohner des Landes (die Thracier) waren gleich den Bewohnern Böotiens (z. B. Thebaner) als beschränkt und einfältig verrufen.’ 4 Juvenal, Satir. X, 49-50.

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Auch Deutschland ist ungemein reich an scharfsinnigen Köpfen, wiewohl es gar weit gegen Norden sich erstreckt. Wenn diese von Jugend an in rechter Weise unterrichtet würden, wenn sie zu des Lebens Mäszigkeit und zur hingebenden Beschäftigung mit den schönen Künsten angehalten würden: so hätten sie sich nicht zu scheuen, mit den hochfahrenden Italienern um den Ruhm in den Wissenschaften den Wettstreit zu wagen. Wenn andere dagegen ganz und gar unbildsam sind und menschliche Anlagen kaum bekunden, so mögen sie Schweine oder Ziegen hüten und das Studium der Weisheit Besserbeanlagten überlassen. Wenn aber einer ein wenig schwer von Begriff, sonst aber lernfähig ist, der soll der Überzeugung Raum geben, dasz er um so gröszeren Fleisz auf das Studium der Wissenschaften zu verwenden hat; der soll sich durch unausgesetzte Geistesübung seine Anlagen zu entwickeln suchen. Denn wie Plinius der Jüngere mit beredten Worten schreibt:

‘Wie man am Wachs es lobt, wenn weich es sich formte und geschmeidig In kunstfertiger Hand wird zu dem Werk, das man will, Jetzt sich gestaltet zum Mars, und jetzt zur keuschen Minerva, Jetzt von Venus ein Bild, jetzt von Cupido uns giebt; Und wie der heilige Quell nicht Feuerbrände mir löschet, Sondern Blumen auch oft labet und Auen im Lenz: So auch ziemt es dem Geiste, wenn ihn durch erheiternde Künste Edele Strebsamkeit bildet und lenkt auf die Bahn.’ 1

Auch darf nach meinem Dafürhalten der Umstand nicht unerwähnt bleiben, dasz der Fortschritt in den Wissenschaften nicht unwesentlich gefördert wird durch fromme Anrufung vornehmlich der jungfräulichen Gottesmutter, dann auch durch kindliche Verehrung des h. Hieronymus, der h. Katharina und

1 Briefe, Buch VII, 9, 11. - Übersetzt von Kluszmann und Binder. - Cajus Plinius Cäcilius Secundus (seine Mutter war die Schwester des ältern Plinius), geb. 62, gest. 113 n. Chr.; bekleidete im Jahre 100 das Konsulat; einige Jahre später erhielt er als Prokonsul die Verwaltung von Pontus und Bithynien in Kleinasien. Sein Hauptwerk ist die Sammlung seiner Briefe (247 Stück in neun Büchern); dieselben sind an seine Freunde, unter denen auch Kaiser Trajan (98-117), gerichtet.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 73 anderer Heiligen. Was nämlich der Mensch gemäsz der Unbeholfenheit seines Geistes nicht zu fassen vermag, das wird er meistens auf die Fürbitten der Heiligen erreichen.

Kap. 7. Von der Stärke des Gedächtnisses.

Lehren der Wissenschaft entgegennehmen, ohne sie im Gedächtnisse zu behalten, hat keinen Nutzen. Die, welche leicht empfänglichen Geistes sind, haben gewöhnlich ein weniger gutes Gedächtnis; diejenigen dagegen, welche das Lernen grosze Anstrengung kostet, behalten das Gelernte länger in ihrem Geiste. So nimmt eine weiche Masse den Siegelabdruck leicht an, aber es zergeht derselbe auch sogleich wieder; der Fels dagegen verliert die Zeichen, die in ihn eingehauen werden, nur nach vielen, vielen Jahren. Vor allem hat man sich davor zu hüten, dasz die Gedächtniskraft nicht etwa durch andauernde Bekümmernis oder durch nachhaltige Erschlaffung gleichsam durch Schlafsucht schwinde. Am meisten ist Trunkenheit zu meiden; nichts nämlich ist verderblicher für die geistige Kraft; sie richtet die Werkzeuge der äuszern und der innern Sinne zu Grunde und reibt den Geist mit samt dem Körper auf. Daher unterscheiden sich trunkene Schlemmer von Tieren nur noch durch ihre Leibesgestalt; weder die Füsze noch die Geisteskräfte leisten ihnen den schuldigen Dienst. Häufig ist das Haupthaar zu beschneiden, doch nicht sowohl zu dem Zwecke, dasz der Knabe zierlich aussehe, sondern auf dasz die Kammern des Gedächtnisses sich eines bessern Zustandes erfreuen, soll ihnen doch ein ungemein kostbarer Schatz an Wahrnehmungen und Erfahrungen anvertraut werden. Doch es mag genug sein an diesen wenigen Worten der Ermahnung. Über die sonstigen Mittel, durch welche das Gedächtnis gestärkt werden kann, möge man, wenn es notwendig erscheinen sollte, die Ärzte um Rat angehen.

Kap. 8. Dem Studierenden ist eine feste Gesundheit vonnöten.

Bei jeder Art des Studiums ist eine feste Gesundheit vonnöten. Wenn der Körper mit Krankheit behaftet ist, so

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 74 erweist sich der Geist zum Nachdenken weniger geeignet. Aber es ist nicht in deine Hand gegeben, dasz du immer gesund bist. Die Gesundheit des Körpers ist gleich den andern Gütern ein Geschenk Gottes, welches kostbarer ist als Gold und Edelsteine. Gleichwohl hängt es von deinem Willen ab, die Mäszigkeit hoch zu halten, die da für die Festigkeit der Gesundheit von der gröszten Bedeutung ist, Höre auf die Worte des Columella, 1 welcher hierüber vortreffliche Vorschriften gegeben hat: ‘ Wer sich durch grosze Thaten auszeichnen will, insonderheit wer in den Wissenschaften Ruhm zu erringen strebt, der musz sich des Schlafes und des Weines so viel wie möglich enthalten; Schlaf und Wein nämlich sind die schlimmsten Feinde des Fleiszes. Denn dem Trunkenen entschwindet das Pflichtgefühl ebenso wie das Gedächtnis, und dem Schläfrigen entgeht das meiste. Welche Thaten könnte er nämlich selbst vollführen, oder was könnte er schlafens Hohes und Ruhmwürdiges in seinen Gedanken ergründen!’ Auch von den Diensten der Liebesgöttin wende man sich ab. Wer sich nämlich diesen widmet, vermag an nichts anders zu denken als an das, was er liebt. Hat sich der Sinn von diesen Verlockungen bestricken lassen, so hält er keinen Preis für erfreuender als die Befriedigung der Begierde und kein Opfer für schwerer als die Vereitelung seines Verlangens. Seneca 2 sagt in einem Briefe an Lucilius Folgendes: ‘Beobachtet daher eine vernünftige und zweckdienliche Lebens-

1 Lucius Junius Moderatus Columella aus Cadir, Zeitgenosse des Seneca, schrieb 12 Bücher ‘de re rustica’; das 10. Buch ‘vom Gartenbau’ ist metrisch (436 Hexameter) verfaszt. 2 Lucius Annäus Seneca, geb. zu Corduba in Spanien im Jahre 2 oder 3 n. Chr. kam frühzeitig nach Rom, woselbst er sich dem Studium der Rhetorik und der Philosophie widmete. Als Redner und Philosoph gewann er besonders Ansehen. Auf Betreiben Messalinas, deren Hasz er sich zugezogen, wurde er auf 6 (8?) Jahre (nach Corsica) verbannt. Agrippinas Erhebung (48 n. Chr.) brachte ihm die Freiheit; seit dem Jahre 50 ward er Erzieher Neros. Im Jahre 65 wurde er durch Nero zum Selbstmorde gezwungen. Seine philosophischen Schriften, seine (124) Briefe an Lucilius standen im Mittelalter in hohem Ansehen. Seneca galt ‘als die edelste Erscheinungsform’. Bei heiszt er ‘Seneca saepe noster’, d. h. ein der christlichen Wahrheit mitunter sehr nahe kommender Weiser. Seit dem IX. Jahrhundert ist dann die Annahme von einer Bekehrung Senecas durch den h. Paulus allgemein geworden. - Die Briefe an Lucilius ‘enthalten nicht nur einen Schatz der herrlichsten Lehren und Ansichten, die meist unmittelbar aus dem Leben geschöpft sind, und atmen einen kräftigen nach dem Höchsten ringenden Geist, sondern sie sind auch durch die Absicht, welche Seneca bei ihrer Abfassung hatte, und durch die Wahl der darin behandelten Stoffe eine für die Jugend höchst geeignete und fruchtbare Lesung; sie sind ein Vermächtnis aus der Zeit seiner vollen geistigen Reise und Läuterung, worin fast alle Fragen besprochen worden sind, die sich auf wissenschaftliche und sittliche Bildung beziehen.’

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 75 weise, so dasz ihr dem Körper euch nur in soweit nachgiebig zeigt, als dies zur Erhaltung der Gesundheit sich ausreichend erweist. Es ist derselbe mit einiger Strenge zu behandeln, auf dasz er nicht dem Geiste den gebührenden Gehorsam verweigere.’ 1 Hierin verdient Sokrates Nachahmung. Derselbe soll, wie Gellius 2 berichtet, eine solche Enthaltsamkeit bekundet haben, dasz er fast die ganze Zeit seines Lebens hindurch sich andauernder Gesundheit erfreute. Bei jener verheerenden Pest, welche im peloponnesischen Kriege vornehmlich die Stadt Athen durch mörderische Krankheit entvölkerte, 3 hat jener durch die Weise seiner Mäszigung und Enthaltsamkeit sowohl sich vor Krankheit, wie sie dem Sinnengenusz entstammt, bewahrt als auch dem Körper die gesundheitsförderlichen Kräfte erhalten, so dasz er in keinerlei Weise dem sonst für alle gemeinsamen Unheil der Seuche ausgesetzt war.

Kap. 9. Ein mäsziges Vermögen ist für den Schüler am zuträglichsten.

Auf dasz sich jemand mit den Wissenschaften beschäftigen könne, ist für ihn der Besitz des Notwendigen erforderlich. Es

1 Seneca, Briefe an Lucilius VIII, 4. Vergl. Brief XIV und XV: ‘Ick gestehe, dasz uns eine Liebe zu unserm Körper angeboren ist; ich gestehe, dasz wir mit Recht Vorsorge für ihn tragen; ich leugne nicht, dasz wir nachsichtig gegen ihn sein sollen: dasz wir ihm aber sklavisch dienen sollen, leugne ich. Denn vieler Menschen Sklave wird sein, wer seines Körpers Sklave ist, wer zu sehr für ihn fürchtet, wer alles auf ihn bezieht. Wir dürfen uns nicht so verhalten, als ob wir des Körpers wegen leben müszten, sondern als ob wir ohne Körper nicht leben könnten.’ 2 Über Gellius s. oben Kap. 5. 3 Dreimal - in den Jahren 430-428 - wurde Athen von der Pest heimgesucht.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 76 ist nämlich nicht gut möglich, dasz der Mensch einem gewinnbringenden Erwerb nachgeht und zugleich den Studien der Philosophie obliegt. Eine vernünftige Einrichtung war es daher, dasz bei den Ägyptern die Kaste der Priester, die für ihres Lebens Unterhalt nicht zu sorgen hatten, philosophische Studien anstellte, 1 insofern ja der Weise und der Gerechte und andere ihresgleichen der Dinge bedürfen, die zum Leben notwendig sind. Und wie an einer andern Stelle gerade Aristoteles sagt: ‘Es ist unmöglich oder doch immerhin nicht leicht möglich, dasz einer, dem die Mittel fehlen, herrliche Thaten verrichtet, dem Freunde, Reichtum, Einflusz und Macht in der Bürgerschaft sind die Werkzeuge für viele solcher Thaten.’ Mit Recht sagt daher unser Juvenal: 2

‘Schwer kommt einer empor, des Tugenden häuslicher Notstand Hemmend entgegen sich stellt.’

Und in einer anderen Satire sagt er mit ebenso viel Wahrheit als Menschenkenntnis: 3

‘Aber der Meister des Sangs von nicht gewöhnlicher Ader, Der des Verbraucheten nichts pflegt abzuspinnen und der nicht Ein alltäglich Gedicht nur münzt von gemeinen Gepräge, Diesen, wie nicht ihn schildern ich kann und nur ihn empfinde, Macht ein Gemüt, das Kummers entbehrt, nichts Herbes erduldet, Das nach Wäldern verlangt und vermag, der Aonischen Schwestern

4

1 Für den Unterhalt der ägyptischen Priester war gesorgt durch den zu jedem Tempel gehörigen reichen Besitz an Land und Leuten; derselbe wurde von eigenen Beamten, Schreibern und Vorstehern des Tempelgutes, verwaltet. - Für die Wissenschaften der Mathematik, Astronomie, Medizin haben die ägyptischen Priester Rühmliches geleistet. Für erfolgreiche Pflege philosophischer Studien fehlte ihnen ‘der freie Forschergeist, der die Probleme um ihrer selbst willen aufsucht und zu bewältigen strebt. Daher tritt auch die Persönlichkeit des Gelehrten vollständig zurück: niemals ist ein Ägypter auf den Gedanken gekommen, in seinem eignen Namen ein wissenschaftliches Werk zu verfassen oder mit selbsteignen Ansichten aufzutreten. Es ist immer uralte Weisheit, die er vorträgt. Wir kennen bei den Ägyptern nur Werke der Kaste, nicht eines einzelnen in der Kaste.’ Vergl. Ed. Meyer, Geschichte des alten Ägyptens, 128. 2 Juvenal, Satir. III, 164-165. 3 Juvenal, Satir. VII, 53-65. 4 Die ‘Aonischen’ Schwestern d. i. die Musen. Aonia ist der mythische Namen für Böotien, woselbst die Sitze der Musen: der Berg Helikon, die Quellen Aganippe und Hippokrene gelegen waren.

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Quellen zu trinken. Es kann in Pierischer 1 Grotte ja nimmer Sang anstimmen und nicht nach dem Thyrsus 2 greifen betrübte Armut, die auch des Geldes entbehrt, das bei Nacht und bei Tage Heischet der Körper: Horaz ist satt, läszt hören er: ‘Euho!’ 3 Wie kann blühen der Geist, wenn nicht Gesang nur sich mühet Und sich ergriffen nur fühlt durch Cirrhas Herren und Nydas 4 Euere Brust, die nicht es vermag zwei Sorgen zu tragen?’

Mitunter pflegt gleichwohl inmitten der äuszersten Schwierigkeiten eine edle Natur nach Art der Palme sich in die Höhe zu erheben, und gewöhnlich schadet guten Anlagen maszlose Fülle des Besitzes mehr als selbst der gröszte Mangel.

‘Maszlos werden die Menschen zumeist, wenn das Glück ihnen hold ist; Gleichmut zu wahren im Glück ist für die Menschen nicht leicht.’

1 Die Musen wurden auch die ‘Pieriden’ genannt, entweder nach Pierus, König von Emathia, dessen neun Töchter mit den Musen einen Wettstreit wagten und darüber in Elstern verwandelt wurden (Ovid, Verwandlungen V 310 ff.), oder nach dem Macedonier Pierus, welcher den Musen ihre Namen gegeben und ihren Dienst in Thespiä (Böotien) eingeführt haben soll. (Pausanias, Beschreibung von Griechenland lib. IX. c. 29 § 3.) 2 Thyrsus: Der Stab des Bacchus und das Sinnbild bacchischer Lust, ein lanzenartiger, mit dem Pinienapfel gekrönter Stab, zuweilen mit Ephen, stets mit Bändern unwunden. 3 Evōē (Murmellius hat ‘ohe’ - griech. εύοτ): Der Jubelruf der Bacchantinnen und aller Verehrer des Bacchus. - Der Hinweis auf Horaz bezieht sich auf Horaz' Oden II, 19, 5-8:

‘Evoe! von neuem Schauer noch bebt des Herz, Und voll des Bacchus jauchzt es in stürmischer Entzückung: Evoe! schon', o Liber, Schone, du furchtbarer Thyrsusschwinger.’

4 Cirrha: Die Hafenstadt für Delphi, die berühmteste Tempelstätte Apollos; Cirrhas Herr, d. i. Apollo, der Vater der neun Musen. - Nysas Herr: Bacchus, der nach der Überlieferung zu Nysa, einer Stadt Indiens, erzogen worden ist.

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‘Für viele, sagt Seneca, sind Reichtümer ein Hindernis zur Pflege der Philosophie.’ 1 Deshalb - wie der h. Hieronymus in seinem Briefe an Paulinus erwähnt - befreite sich Krates, 2 einst der reichste unter den Thebanern, von seinem vielen Gelde, als er nach Athen ging, um dort philosophische Studien zu betreiben; er war der Meinung, dasz er nicht zu gleicher Zeit Tugenden und Reichtümer besitzen könne. ‘Willst du deine freie Zeit - sagt Seneca - dem Geiste widmen, so muszt du entweder arm oder dem Armen ähnlich sein. Dein Streben kann nicht ersprieszlich werden ohne Sorge für Mäszigkeit, Mäszigkeit aber ist freiwillige Armut.’ 3

Kap. 10. In welcher Weise der reiche, der wenig bemittelte, der mittellose Schüler leben soll.

Wenn deine Eltern Reichtum in Fülle besitzen und dich mit Geld freigebig ausrüsten, so treibe keinen Miszbrauch mit demselben und setze kein allzugroszes Vertrauen auf dasselbe. Die Wissenschaften gehen - wie Hieronymus in seinem Briefe an Rufinus sagt - nicht dem Geldbeutel nach; sie sind die Begleiter von innerer Mühe und Anstrengung; sie sind die Genossinnen der Hungrigen und nicht der Gesättigten, der Mäszigen und nicht der Verschwender. Demosthenes 4 soll mehr Geld für Öl als für Wein ausgegeben haben; allen Künstlern soll er es stets in nächtlichen Arbeiten zuvorgethan haben. Wenn deinen Eltern beschränkte Mittel zur Verfügung stehen, wenn sie diese Mittel durch eigene Arbeit zu erwerben und durch strengste Wirtschaftlichkeit zusammenzuhalten suchen, auf dasz du um so ungehinderter dich den Studien der schönen Künste widmen könnest, so hüte dich, dasz du nicht etwa nach der Weise nichtsnutziger Menschen häufiger Schenken und Gar-

1 Seneca, Briefe an Lucilius XVII, 2. - Die Fortsetzung lautet: ‘Die Armut ist ungehindert, ist sorgenfrei.’ 2 Über Krates s. oben Kap. 1. 3 Seneca, Briefe an Lucilius XVII, 4. 4 Demosthenes, 384-322 v. Chr. Der gröszte unter den griechischen Meistern der Beredsamkeit. Vergl. unten ‘Scoparius’ Kap. 28.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 79 küchen als das Gymnasium aufsuchest. Sondere dich lieber ab von denen, die reiche Mittel im Überflusz haben. Gieb das, was unter vielem Schweisz erworben worden, nur für unabweisbare Bedürfnisse aus. Finde Gefallen an deinen Büchern, halte sie in Ehren und liebe sie auf das zärtlichste. Trachte nicht nach Vergnügungen, sondern fliehe weit weg von ihnen. Denke daran, dasz du zu etwas Gröszereum geboren bist, als der Sklave deines Leibes zu sein. Wähle dir solche Speisen aus, welche nahrhaft und der Gesundheit dienlich sind, nicht aber solche, welche den Gaumen durch lieblichen Geschmack kitzeln. Sei für den kommenden Tag insoweit besorgt, dasz du es verstehst, mit geringen Mitteln eine geraume Zeit auszukommen, auf dasz du nicht genötigt bist unter häufiger Unterbrechung der Studien in deine Vaterstadt zurückzukehren. Die Natur ist mit wenigem, selbst mit dem wenigsten zufrieden. Ist der Bauch fett, so ist der Geist mager. Die Kleider sollen dir nicht zum Prunk oder zum Schmuck, sondern zum Schutze des Leibes dienen. Schmücke deinen Geist mit guten Sitten. Wenn etwas abgenutzt ist, so lasse es beizeiten wieder in stand setzen, auf dasz du dich nicht später mit einer gröszeren Ausgabe belastet findest. Wenn du indes ganz und gar mittellos bist, und wenn dir nicht dasselbe Geschick zu teil wird, welches ehedem dem Protagoras 1 widerfahren sein soll - als nämlich Demokrit 2 aus Abdera sah, wie dieser, um sich den Lebensunterhalt zu erwerben, ein Bündel Holz trug, nahm er ihn mit sich, sorgte für seinen Unterhalt und unterwies ihn in den Lehren der Philosophie - so muszt du dich der Notwendigkeit beugen und ehrenwerten freigebigen Menschen deine Dienste widmen und deine Arbeitskraft mitunter verdingen und deinen Geist soweit, wie es angeht, von den Arbeiten abwenden und dem Studium

1 Protagoras aus Abdera, lebte um 490-410, einer der Sophisten. Demokrit (s. oben Kap. 6) ist um etwa 20 Jahre jünger als Protagoras gewesen. Dasz die Überlieferung den Protagoras gleichwohl zu einem Schüler des Demokrit macht, wird auf den Umstand zurückzuführen sein, dasz beide derselben Vaterstadt angehörten. Vergl. Erdmann, Grundrisz der Geschichte der Philosophie I, § 58. 2 Murmellius hat ‘Diogenes’. Diogenes aus Sinope, der Cyniker, lebte indes in den Jahren 412?-324 v. Chr. Statt Diogenes ist Demokrit, dessen Vaterstadt Abdera war, zu lesen.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 80 der Philosophie widmen. Plautus, 1 der launigste unter den Lustspieldichtern, soll behufs Erwerbung des Lebensunterhaltes sich einem Bäcker verdingt haben, um die Mühle, die man Handmühle nennt, zu drehen. Der Philosoph Kleanthes 2 trug des Erwerbes wegen des Nachts Wasser zur Befeuchtung der Gärten herbei.

Kap. 11. Über den zwiefachen Ort des Studiums.

Der Ort, wo du deine Studien vornehmen kannst, ist ein zwiefacher: ein öffentlicher und ein häuslicher. Besuche den ‘öffentlichen’ Ort des Studiums, wenn demselben ein tüchtiger Rektor vorsteht. Jener Ort darf indes nicht unbequem oder ungeeignet gelegen sein. Aber man soll dabei nicht auf die himmelanstrebende Masse des Gebäudes achten; auch wird die Schule dadurch nicht besser, dasz sie mit mancherlei Gemälden und Bildsäulen geschmuckt ist, oder dadurch, dasz sie das Auge ergötzt durch den ungehinderten Ausblick auf den vorbeigleitenden Strom oder auf grünende Wiesen. Wenn die Schule dagegen abseits liegt von dem Verkehr und dem Gewühl des Volkes, so ist sie zu loben, so eignet sie sich zu Studien. Die Platoniker

1 Titus Maccius Plautus, geb. zu Sarsina in Umbrien um 254, gest. 184 v. Chr., der bedeutendste unter den Lustspieldichtern der Römer. 20 Lustspiele haben sich von ihm erhalten. ‘Seine Sittenschilderung ist von unbefangener Nacktheit und Derbheit, seine Laune unerschöpflich, sein Witz sehr beiszend; seine Sprache liebt altertümliche Worte und Wendungen: der sittliche Zorn über die Ausartung der Sitten blickt überall hinter der Verspottung derselben hervor.’ Seine Darstellung ist lebensvoll und lebenswahr, sie verschmäht nicht niedrige und gemeine Späsze, um dem Behagen des gewöhnlichen Volkes genug zu thun; die Gebildeten zieht sie an durch ‘echten Humor, gediegenen Witz, kräftige Zeichnung’. 2 Kleanthes aus Assus lebte um 250 v. Chr., Schüler Zenos; von seinen Schriften hat sich nichts erhalten auszer einem Hymnus auf Zeus. - Kleanthes übte sich bis in hohes Alter hinein an körperlichen Arbeiten. Als er einst beim Umgraben des Gartens auf sich selber schalt, antwortete er auf die Frage: ‘Wen schiltst du?’ mit Lachen: ‘Einen Greis mit grauen Haaren, aber ohne Sinn und Verstand.’ Zu einem spartanischen Jüngling, der den Ausspruch that: ‘Die Arbeit ist etwas Gutes’, sprach Kleanthes die anerkennenden Worte: ‘Du bist von vornehmen Geblüt, mein Sohn.’

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 81 und die Stoiker 1 suchten die Tempel und ihre Säulenhallen auf, damit sie unter dem Eindruck der Heiligkeit dieses beschränkten Aufenthaltsortes ihre Gedanken auf nichts anderes als auf die Tugend richteten. Plato selbst war zwar reich; ein Anzeichen dafür liegt darin, dasz Diogenes einst das Lager desselben mit schmutzigen Füszen betrat; 2 - gleichwohl wählte er, um der Philosophie seine Musze zu widmen, die Akademie aus, ein Landgut, welches, fern von der Stadt, nicht nur öde und verlassen dalag, sondern auch ungesund war, 3 auf dasz die Nachstellungen der Begierden durch die Sorge um andauernde

1 Der Stifter der stoischen Schule war Zenon aus Cittium auf Cypern (340-260?); derselbe lehrte zu Athen in der Stoa Poikile, einer an der Nordseite des Marktes gelegenen Säulenhalle. Cimon hatte dieselbe von Peisianar erbauen lassen; Polygnotos hatte sie mit Gemälden geziert (Theseus im Kamp mit den Amazonen, die Einnahme Trojas, die Schlacht bei Marathon, die Schlacht bei Oinoe); von ihrem Bilderschmuck wurde sie Poikile (die bunte) genannt. Der Name des Ortes (Stoa), woselbst Zenon lehrte, wurde bezeichnend für die Benennung seiner Schüler (Stoiker). 2 Die Stelle scheint im Texte verderbt oder unvollständig überliefert zu sein. Es liegt in ihr der Anklang an die von Diogenes Laërtius überlieferte Begebenheit: ‘Diogenes betrat einst in Gegenwart des Tyrannen Dionys von Syrakus die Lagerstätte Platos mit schmutzigen Füszen unter den Worten: ‘Ich trete Platos Hochmut nieder.’ Plato erwiderte darauf: Wie sehr bist du selbst von Hochmut aufgeblasen, Diogenes, während du meinen Stolz niederzutreten vermeinst.’ - Plato begab sich zweimal an den Hof des Tyrannen Dionys II. (Alleinherrscher 367-357 und 346-343, Todesjahr unbekannt), einmal (388? v. Chr.) um den jungen Dionys für Tugend und Wissenschaft zu gewinnen, das andere Mal (361 v. Chr.) um Dionys mit seinem Oheim Dion (Regent von Syrakus in den Jahren 367 und 357) auszusöhnen. 3 Über die Lage der ‘Akademie’ vergl. oben Kap. 1. Anmerkung zu Plato. - Plutarch (vita Cimon. c. 5) berichtet, dasz Cimon, der Besieger der Perser, jene Örtlichkeit, welche den Namen ‘Akademie’ führte, ‘reich bewässert, bepflanzt und mit Wegen zum Lustwandeln ausgestattet habe.’ Diogenes Laërtius überliefert, dasz Plato in dem ihm daselbst zugehörigen Garten ein Heiligtum der Musen gestiftet, dasz sein Schwestersohn Speusippos diesen Garten mit den Bildnissen der Charitinnen geschmückt, dasz ein Perser Mithridates daselbst eine Bildsäule des Plato aufgestellt habe. Nach Pausanias (Beschreibung Griechenlands XXX c. 3) lag daselbst auch die Grabstätte und das Grabmal Platos. Der Garten selbst fiel als Erbe an die Schüler Platos. - Bezüglich der Ungesundheit der Örtlichkeit hat der Herausgeber bestätigende Angaben der Alten nicht ausfindig machen können.

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Krankheiten gebrochen würden, auf dasz seine Schüler kein anderes Vergnügen empfänden als das, welches die Erkenntnisse, die sie sich zu eigen machten, ihnen bereiteten. Den häuslichen Ort des Studiums aber sollst du dir, wofern du in einer fremden Stadt weilst, bei Leuten wählen, die in Ehrbarkeit leben und von der Furcht des Herrn erfüllt sind. Denn, wie Seneca schreibt - wir sollen einen Ort auswählen, der nicht sowohl der Gesundheit des Leibes als der Gesundheit der Sitten zuträglich ist. Deshalb möchte ich nicht unter Henkersknechten wohnen, ebenso nicht unter Garköchen. Wir sollen bei der Wahl des Ortes so verfahren, dasz wir die Lockungen des Lasters soweit wie möglich von uns fern halten. Unser Sinn ist zu stählen und den Schmeicheleien der Lust zu entziehen. Wähle dir deshalb, studierender Jüngling, eine solche Hausgenossenschaft aus, die deinem Studium nicht zum Hindernis werden kann. Hüte dich, Wohnung zu nehmen in einer Herberge, woselbst die Reisenden absteigen, oder bei einem Kuppler, oder in einer Spielhölle, oder in einer Schenke. Die Behausung einer ‘Thais’ 1 meide von weitem gleichwie die Charybdis. 2 Ick möchte, dasz du solche Hausgenossen hättest, von denen du lernen und mit denen du dich in den Wissenschaften üben kannst. Guten Beispielen wohnt eine grosze Kraft inne für die Hinführung zum Bessern. Wenn sich die Möglichkeit darbietet, so möchte ich, dasz du mit einem Lehrer oder mit einem wissenschaftlich Gebildeten oder mit einem Priester von erprobtem Wandel zusammen lebtest, auf dasz du die Sitten und die Lebensweise desselben von Grunde aus kennen lerntest und an der Hand täglicher Gewöhnung nachahmtest. Wenn du vielleicht in deiner Unerfahrenheit bei gewöhnlichen und gemeinen Leuten deine Wohnung gemietet hast, so wechsele dieselbe, sobald du es rechtlich thun kannst. In der Zeit aber, die du inzwischen dort verweilst, halte dich aufs sorgfältigste von Lastern fern und begieb dich häufig an andere Orte zu wissenseifrigen Mitschülern.

1 Thais eine berüchtigte Buhlerin Athens. 2 Charybdis ein gefährlicher Strudel in der Meerenge von Messina gegenüber dem Felsen Scylla. (Heute: Calofaro und la Rema.)

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Kap. 12. Uber die Ausnutzung der Zeit.

Man erzählt, dasz einer gegen die Natur Klage erhoben habe, weil sie Schlangen, Krähen, Hirschen, Elefanten und andern Lebewesen dieser Art ein sehr langes Leben verliehen habe, während sie dem Menschen, dem Lernbegierde angeboren sei und der fähig sei, die göttlichen Dinge zu erfassen, nur eine sehr kurz bemessene Lebenszeit zugestanden habe. Aber gewaltig fürwahr! irren jene, die solches vermeinen, da sie dabei an Gott und an die Bestimmung der Menschen nicht denken. Wenn wir des und allen gemeinsamen Ausganges des Lebens eingedenk bleiben, wenn wir die kurze Zeit weder mit niedrigem Thun ausfüllen noch mit eitlen und faden Dingen verbringen, wenn wir sie vielmehr auf treffliche Studien verwenden, so ist kein Grund vorhanden über die Kürze des Lebens zu klagen. Ausreichende Zeit zum Studium werden wir haben, wofern wir dem berühmten Plinius Secundus 1 nachahmen, welcher alle Zeit für verloren hielt, die er nicht den Studien zuwandte. Nur wenig Schlaf gönnte er sich und selbst zur Zeit des Mahles, bei welchem er die gröszte Mäszigkeit beobachtete, und auf der Reise. Auch Cato 2 hatte die Gewohnheit, in der Zeit,

1 Cajus Plinius Cäcilius Secundus der Ältere (23-79 n. Chr.), der Verfasser die historia naturalis, ist gemeint. Sein Neffe Plinius der Jüngere berichtet über ihn in einem Briefe an Macer (Briefe III, 5): ‘Während der Hauptmahlzeit wurde ein Buch gelesen und Bemerkungen dazu gemacht, und zwar in flüchtigster Form. Ich erinnere mich noch, dasz, als der Vorleser sich etwas versprochen hatte und einer der Freunde des Oheims ihn innehalten und das Vorhergegangene wiederholen liesz, dieser jenen fragte: “Du hattest es doch wohl verstanden?” und als er die Frage bejahte, entgegnete der Oheim: “Warum lieszest du ihn denn noch einmal lesen? Wir haben zehn Zeilen und darüber durch die Unterbrechung verloren.” So grosz war seine Sparsamkeit mit der Zeit.’ 2 Marcus Porcius Cato Censorius (234-149 v. Chr.), ‘der beste Redner, der Weiseste im Rat, der erste Feldherr’; (vergl. Plinius Historia naturalis VII. c. XXVII). Noch in seinem Alter, wahrscheinlich nach seiner Prätur im Jahre 198, sah er sich veranlaszt, die griechische Ausnutzung der Zeit wie auch sein selbst in seinem hohen Alter unermüdlicher Fleisz lassen sich aus den Worten erkennen, die ihm Cicero in seiner Schrift ‘Cato oder von dem Greisenalter’ § 38 in den Mund legt: ‘Ich habe jetzt das siebente Buch meiner Urgeschichte unter Händen; ich sammle alle Urkunden des Altertums; die Reden für alle wichtigeren Rechtshändel, die ich je verteidigt habe, arbeite ich gerade jetzt aus; ich beschäftige mich mit dem Rechte der Augurn und der Oberpriester, sowie mit dem bürgerlichen Rechte; auch die griechische Litteratur treibe ich fleiszig, und nach Art der Pythagoreer vergegenwärtige ich mir zur Übung des Gedächtnisses am Abende, was ich an jedem Tage gesagt, gehört und gethan habe. Das sind die Übungen des Geistes, das die Wettkämpfe des Verstandes; in ihnen schwitzend und mich abmühend vermisse ich nicht sonderlich die Körperkräfte. Ich vertrete meine Freunde vor Gericht, komme häufig in die Senatssitzungen, teile unaufgefordert viel und lange überdachte Gegenstände mit und verteidige sie mit den Kräften des Geistes, nicht des Körpers. Und wäre ich auch nicht mehr imstande dieses auszuführen, so würde ich doch auf meinem Ruhelager Unterhaltung finden, auf dem ich eben das überdächte, was ich nicht mehr ausführen könnte. Dasz ich es aber noch kann, ist die Wirkung meiner früheren Lebensweise. Denn wer immer in solchen Beschäftigungen und Arbeiten lebt, bemerkt nicht, wann das Alter heranschleicht.’ - Curie d. i. die Curia Hostilia, ein unter Tullus Hostilius für die Senatssitzungen bestimmtes Gebäude.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 84 während sich der Senat versammelte, in der Curie mit Eifer in seinen Büchern zu lesen; so kann es, dasz er Ratschläge zu geben pflegte, die nicht für den jemaligen Augenblick allein, sondern für alle Zeiten dem Vaterlande zum Heile gereichten. Auch König Alexander von Macedonien, welcher nicht nur den Namen des Groszen führte, welcher auch durch seine Herrschergewalt grosz war, pflegte gar viel im Lager zu lesen. Julius Cäsar, der uns das römische Reich geschaffen hat, schrieb seine Bücher, während er mit dem Heere auf dem Marsch war. 1 Wiewohl Augustus während des Krieges von Mutina ein so groszes Unternehmen in Angriff genommen hatte, pflegte er gleichwohl im Lager zu lesen oder zu schreiben und sich täglich in der Redekunst zu üben. 2 Seneca schreibt im 8. Briefe an Lucilius über sich selbst folgendes: ‘Kein Tag verflieszt mir

1 Cäsars ‘Denkwürdigkeiten über den gallischen Krieg’ sind mit Ausnahme des 8. Buches in dieser Weise entstanden. 2 Der Mutinische Krieg (44-43) ward herbeigeführt durch die Feindschaft zwischen Marcus Antonius und Decimus Brutus; Octavianus zog im Auftrage des Senates dem in Mutina eingeschlossenen Brutus zu Hilfe. - Sueton (vita Octavian. Aug.i) berichtet: ‘Während des Krieges von Mutina soll Augustus trotz der so groszen Arbeitslast täglich gelesen, geschrieben und Vortragsübungen gehalten haben. Er hielt nämlich in der Folgezeit nie eine Rede im Senate, ans Volk oder ans Heer, ohne sie wohl durchdacht und ausgearbeitet zu haben, wenn es ihm auch nicht an der Fähigkeit gebrach, in unvorhergesehenen Fällen aus dem Stegreife zu reden.’

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 85 in Unthatigkeit, einen Teil der Nächte wahre ich den wissenschaftlichen Beschäftigungen. Ich bleibe nicht ohne Schlaf, aber ich erliege ihm; 1 meine vom Wachen ermatteten und zufallenden Augen halte ich noch auf die Arbeit geheftet.’ 2 Wenn Aristoteles sich zur Ruhe niederlegte, nahm er eine Erzkugel in die Hand; unter derselben stand ein Erzgefäsz, auf dasz er, sobald die Kugel seiner Hand entfallen war, durch den Klang zur Wiederaufnahme seiner Studien und Betrachtungen geweckt werde. Diese Beispiele wollen wir uns vor Augen führen, damit uns endlich die Scham darüber befällt, dasz wir einen so groszen Teil unserer Lebenszeit im Schlafe verbringen. Sicherlich werden wir und dadurch aufgemuntert fühlen und wir werden den schönen Künsten um so eifriger obliegen, wenn wir den Wert der Zeit erkannt haben.

‘Ist sie verronnen, man ruft zurück nie wieder die Woge. Ist sie verronnen, es kehrt nimmer die Stunde zurück.’ 3

Die Zeit der Kindheit flieszt reiszend schnell dahin; die Weise der Kindheit indes haftet an uns, wofern wir nicht thätig sind im Lernen. Nach Kraft und Möglichkeit wollen wir uns daher unsern Beschäftigungen unterziehen und unsere Zeit auf das Studium dessen, was uns not thut, verwenden. Bisweilen soll gleichwohl die geistige Arbeit unterbrochen werden, so lange nämlich jemand körperlich zu arbeiten genötigt ist. Denn wie der Philosoph im 8. Buche der Politik schreibt: ‘Zu gleicher Zeit mit dem Verstande und mit dem Körper angestrengt arbeiten, taugt nicht. Beide Arten von Arbeiten bringen ihrer Wesenheit nach entgegengesetzte Wirkung hervor: Die körperliche behindert den Geist, die geistige aber den Körper’ 4

1 d. h. ich überlasse mich dem Schlafe erst dann, wenn er mich überwältigt. 2 Briefe an Lucilius VIII, 1. 3 Ovid: Die Kunst zu lieben III, 63-64. 4 Aristoteles, Politik VIII, cap. 4 § 2.

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Kap. 13. Über die zwiefache Art der Musze.

Über die Ausnutzung der Zeit habe ich meines Erachtens genug gesagt. Nunmehr will ich, wie dies der Gedankengang keineswegs zurückweist, über die zwiefache Art der Musze einige Bemerkungen anreihen, deren Erkenntnis nicht unwillkommen sein dürfte. Es giebt eine Musze, bei welcher wir uns von allem zurückziehen und uns in verdrossener Unthätigkeit verzehren. Diese Musze bekundet Unfreude am Schönen, an der Bildung, an Arbeit und Anstrengung; sie ist weiterhin schimpflich und verwerflich, weil sie uns jeglicher Menschenwürde entkleidet und uns den unvernünftigen Tieren zugesellt. Hierüber spricht sich Seneca dahin aus: ‘Musze ohne wissenschaftliche Beschäftigung ist der Tod und das Grab eines lebendigen Menschen.’ Eine solche Musze macht den Menschen zu den Lüsten und zu jeglicher Unmäszigkeit geneigt. Daher sagt Ovid im ersten Buche über die Heilmittel der Liebe in trefflicher Weise:

‘Wenn du die Musze verscheuchst, ist Amors Bogen vernichtet Und die Fackeln des Gotts liegen verschmäht und verlöscht. Wie die Platane des Bachs, wie die Pappel des Wassers sich freuet, Und wie dem Rohre des Sumpfs schlammiger Boden behagt, So liebt Venus die Musze.’1

Und ein anderer Dichter singt nicht ohne Geschmack:

‘Nicht aus der Üppigkeit Prunk erwachsen die glanzvollen Namen; Nicht in weichlicher Ruh' wurzeln Ehre und Ruhm.’

1 ‘Und willst du enden die Liebe, Führe Geschäfte - sie weicht diesen - so bist du geschützt. Trägheit und unmäsziger Schlaf, von keinem gestöret, Und das Spiel und ein Haupt, taumelnd von reichlichem Wein, Rauben sämtliche Kraft ohn' alle Wunde dem Geiste; Unvermutet erscheint Amor, der tückische, dann, Müszigen folget er gern, die Thätigen hasset der Knabe; Unbeschäftigtem Geist gieb ein ihn fesselndes Werk.’

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Plato pflegte seinen Schülern zu sagen: ‘Ziehet die Musze der Arbeit vor, wofern ihr nicht vermeint, dasz der Rost den Glanz überstrahle.’ Daher schrieb auch Baptist von Mantua im ersten Buche der Parthenice: 1

‘Wenn säumigen Sinne noch Musze gegönnt wird, Stumpft er thatlos sich ab: an Schlaffheit verderben die Geister, Denen Empfänglichkeit mangelt. Das Eisen, das täglich gebraucht wird, Strahlet in dauerndem Glanz, und froh seines glanzvollen Anblicks, Möcht' es dem prunkenden Silver an schimmernder Zierde es gleichthun. Fällt es lange der Ruhe anheim: übergieszt es mit Rost sich, Schwärzlich wird es und rauh, gar bald sind die Tage gezählt ihm.’

Die zweite Art der Musze ist die, bei welcher der Geist von den Beschäftigungen des tagtäglichen Lebens sich zurüchkzieht zu den Studien der Weisheit und zu stiller Gedankenarbeit. Diese Musze zeugt von Liebe zum Schönen, zur Bildung, zur geistigen Anstrengung; sie ist etwas durchaus Schönes, und mehr als alles andere ist sie des Lobes wert. Über sie sagt Tullius im 5. Buche der Tusculanen: ‘Was ist schöner als eine wissenschaftliche Musze?’ 2 Und Plinius der Jüngere schreibt

1 Baptist van Mantua (Battista Mantovano) geb. 1448, gest. 1519; Mitglied des Karmeliter-Ordens, seit 1513 General dieses Ordens, lebte seit 1478 andauernd in Mantua. Markgraf Giovanni Franzesco II. (geb. 1466, gest. 1519) und die Gemahlin desselben, Isabella von Este (1474-1539) hatten ihm die Erziehung ihres Sohnes Sigismund anvertraut. Baptist von Manua ist als Dichter hochberühmt. Seine gedankenreichste Dichtung ist: ‘Die Not der Zeit’ (de calamitate temporum) in sieben Büchern. Eine andere bedeutsame Dichtung: ‘Parthenice’ giebt in sieben Büchern Lebensbeschreibungen der heiligen Maria und anderer heiliger Jungfrauen: Katharina, Agatha, Lucia, Apollonia, Cäcilia. ‘Diese Lebensbeschreibungen sind fast alle sinnig zart, erheben sich mitunder zu hoher Schönheit und besitzen kunstvolle Anlage, dramatische Bewegung, kräftige Farben.’ Die Darstellungsweise, die Wahl des Ausdrucks und der Bilder läszt erkennen, in welch hohem Masze Baptist von Mantua, dem Zuge der Zeit folgend, trotz des christlichen Inhaltes seiner Dichtungen abhängig war von den Dichtern des Altertums. Den Himmel nennt er den Olymp; Gott den Vater nennt er ‘Jupiter tonans’ u. s. w. 2 Tuscul. lib. V. c. XXXVI. § 105.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 88 in seinem Briefe an Minutius Fundamus: ‘Das ist eine süsze, verständige Geschäftslosigkeit, gegen die fast jedes Geschäft zurücktreten musz.’ 1 Dasselbe hat auch unser Dichter Maro 2 in seiner Weise zum Ausdruck gebracht. Seneca schreibt im achten Briefe an Lucilius folgendes: ‘Glaube mir, die nichts zu thun scheinen, thun oft weit Wichtigeres; Menschliches und Göttliches treiben sie zu gleicher Zeit.’ Deshalb pflegte auch Publius Scipio, 3 der erste dieses Namens, welcher Africanus genannt wurde, zu sagen - wie dies Cato 4 schreibt - er sei niemals weniger müszig gewesen als im Zusammenleben mit solchen, die sich der Musze hingeben, und er sei niemals weniger allein gewesen, als wenn er mit sich selbst allein gewesen.

Kap. 14. Der Studierende soll sich Ruhe und Heiterkeit des Gemütes wahren.

Der studierende Jüngling soll ein ruhiges und leidenschaftloses Gemüt haben, auf dasz er die Weisungen seines Lehrers ohne Murren und ohne Furcht entgegennehme. Lastern

1 Briefe I, (, 15. - Die vorhergehenden zum Verständnis der angeführten Stelle notwendigen Worte lauten: ‘So geht es mir, seit ich auf meinem Laurentinum (das Landhaus des Plinius bei Laurentum) lese oder schreibe oder meiner Gesundheit lebe, von welcher der Geist getragen und frisch erhalten wird. Da höre ich nichts, was ich gehört, da spreche ich nichts, was ich gesprochen zu haben bedauern müszte; da verkleinert keiner den andern in liebloser Rede; ich selber zanke mit niemanden, auszer manchmal mit mir selbst, wenn ich mich gar zu ungeschickt beim Schreiben anstelle; auch regt mich keine Hoffnung, keine Furcht auf; mich beunruhigt kein Geschwätz, ich verkehre nur mit mir selber und mit meinen Büchern. Das ist ein rechtes, herziges Leben, das ist eine’ u. s. w. (s. oben.) 2 d. i. Virgil s. oben K. 2. 3 Publius Cornelius Scipio Africanus Major, der Besieger Hannibals, geb. 237, gest. 183 v. Chr. 4 Marcus Porcius Cato Censorius (s. oben Kap, 12. Anmerkung) verfaszte in höherem Alter seine 7 Bücher ‘origines’ d. h. Ursprungsgeschichten’. Es ist dies ‘das älteste lateinisch geschriebene Geschichtswerk und das erste bedeutende prosaische Werk der römischen Litteratur.’ Das Werk läszt zwei inhaltlich verschiedene Hauptteile erkennen. Der erste enthält die Gründungsgeschichte Roms, der italischen Städte, der Punier, Siciliens; der zweite bietet eine Zusammenstellung von ‘Merkwürdigkeiten’, die bis auf das Jahr 149 v. Chr. hinabreichen.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 89 darf er nicht ergeben sein. Gott liebe er aus seinem ganzen Herzen und beobachte seine Gebote mit gröszter Gewissenhaftigkeit. Der jungfräulichen Gottesmutter Maria zolle er häufig mit freudig ergebenem Sinne seine Verehrung. Eltern und Lehrern sei er gehorsam. Ehrenwerten Männern, Klerikern und Priestern erweise er die schuldige Ehre. Gegen alle Menschen zeige er sich freundlich und gefällig. Auf diese Weise wird er in kurzer Zeit in den Wissenschaften wie in den Tugenden grosze Fortschritte machen. In ein böswilliges Gemüt wird die Weisheit nicht eingehen. Wer sich eines lasterhaften Lebens bewuszt ist, kann nichts Rechtes thun; er wird beständig von schwerer Betrübnis gequält und wie Juvenal sagt: 1

‘Unaufhörliche Angst weicht auch zu der Stunde des Mahls nicht.’

Ein ruhiger Sinn dagegen ist gleichsam ein immerwährendes Gastmahl.

Kap. 15. Es ist geboten, einen wohlerprobten Lehrer auszuwählen.

Mit gröszter Sorgfalt ist darauf zu achten, dasz ein wohlerprobter Lehrer ausgewählt werde, von welchem der Knabe mit allem Eifer unterwiesen werden soll. Im sechsten Buche über die Gesetze 2 schreibt Plato folgendes: ‘Der Mensch gehört, wie wir behaupten, zu den zahmen Geschöpfen. Wenn er bei einer günstigen Beanlagung die richtige Erziehung genieszt, so wird er - so viel ist gewisz - zum herrlichsten und sanftesten Wesen heranreifen. Wenn man ihm aber eine ungenügende oder schlechte Erziehung zu teil werden läszt, so wird er zum wildesten Geschöpfe werden, das die Erde hervorbringt. Deshalb darf der Gesetzgeber eine so wichtige Sache wie die Erziehung der Jugend nicht hintansetzen; er hat sich vielmehr zu bemühen, den tüchtigsten Mann auszuwählen, dem er die Erziehung der Knaben anvertraut.’ Derselbe Plato pries - wie dies Plutarch im Leben des Marius berichtet 3 - in den

1 Juvenal. Satir. XIII, 211. 2 lib. VI. c. 12. 3 Plutarch. C. Marius, c. 46.

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Tagen, da er den Tod herannahen fühlte, seinen guten Genius und sein Geschick dafür, dasz er fürs erste als ein Mensch und nicht als ein vernunftloses Tier, zum zweiten, dasz er als ein Grieche und nicht als ein Barbar zur Welt gekommen, und an dritter Stelle, dasz er zu den Zeiten des Sokrates gelebt habe. So hoch schätzte dieser erhabene Mann die Weisheitsfülle seines Lehrers. Auch König Philipp von Macedonien sagte den Göttern seinen heiszesten Dank für das Glück, dasz ihm zu den Zeiten des Aristoteles ein Sohn geboren. Philipps Absicht ging dahin, dasz sein Sohn von diesem groszen Philosophen in den Anfängen der Wissenschaften unterwiesen werden sollte. Durch irgend einen Irrtum indes erhielt Leonidas 1 diese Stelle, welcher - wie Diogenes von Babylon 2 berichtet - den Alexander an gewisse Fehler gewöhnte, die auch späterhin dem groszen und gewaltigen Könige dank der Erziehung in seinen Kinderjahren anhafteten. Es giebt nichts, das einen schwankenden und zum Laster geneigten Sinn eher ins Verderben stürzt als die Überredung seitens schlechter Lehrer, welche Plato in dem Gespräche, das die Aufschrift ‘Sophistes’ 3 führt, nicht Lehrer, sonder Verführer und Betrüger nennt mit diesen Worten: ‘Die Verführer täuschen gleichsam mit Hilfe von gewissen Blendwerken und Gaukeleien die Jünglinge, die noch weit entfernt sind von der Erkenntnis der Wahrheit der Dinge.’ Vornehmlich sind auch prahlerische Menschen zu meiden,

1 Leonidas, ein Mann von finsterem Charakter, ein Verwandter von Alexanders Mutter Olympias, war der Leiter der Erziehung, ‘der Vorsteher von allen Erziehern, Hofmeistern, Lehrern.’ Plutarch, Alexander c. 5. Später erst, als Philipp bei seinem Sohne Unbeugsamkeit des Willens beobachtete, der sich gegen Zwang sträubte, aber doch durch vernünfige Vorstellungen leicht zum rechten Ziele geführt werden konnte, berief er den Aristoteles zum Erzieher Alexanders. Plutarch, Alexander c. 7. 2 Diogenes von Babylon, geb. zu Seleukia am Tigris, Schüler des Chrysippus (geb. 290 v. Chr. zu Soli in Cilicien), Anhänger der stoischen Philosophie, daher auch ‘der Stoiker’ genannt. Diogenes der Stoiker, Kritolaos der Peripatiker und Karneades der Akademiker wurden im Jahre 155 v. Chr. von den Athenern als Botschafter nach Rom gesandt. Bei dieser Gelegenheit hat Diogenes den Römern die erste Kunde von der stoischen Philosophie gebracht. 3 Das Platonische Gespräch: ‘Sophistes’ hat die Erörterung und Widerlegung von ‘Scheinwissen und Irrtum’ zum hauptsächlichsten Gegenstande.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 91 welche, - wie Fabius 1 sagt, - wenn sie kaum über die Anfänge der Wissenschaften hinaus gekommen sind, sich selbst in eine irrige Überzeugung von dem eigenen Wissen hineinleben. Denn sie halten es unter ihrer Würde, andern gegenüber nachzustehen, welche im Lehren erfahren sind, und pochend auf ein gleichsam in ihren Vorzügen begründetes Recht, auf welches hin sich fast diese ganze Art von Menschen aufbläht, lehren sie bisweilen unter lärmender Anmaszung die eigene Unwissenheit. Aber auch solche sind nicht (als Lehrer) zu billigen, welche zwar für ausreichend gebildet erachtet werden, aber gleichwohl die Knaben nicht in rechter Weise unterrichten, sondern dieselben mit Vorliebe hinhalten; teils werden sie dabei von dem Verlangen geleitet, für weitere Zeit ihren mäszigen Lohn zu beziehen; teils werden sie von dem Ehrgeiz bestimmt, das, was sie (zu lehren) versprochen haben, für um so schwieriger erscheinen zu lassen und für sich selbst den Anschein umfassender Gelehrsamkeit und viellseitigen Unterrichts zu gewinnen; teils trägt bei ihnen dazu bei die eigene Unfähigkeit oder die Nachlässigkeit im Unterrichten.

Kap. 16. Über die Eigenschaften und Pflichten eines guten Lehrers.

Ein guter Lehrer, welcher würdig ist, dasz seiner Leitung der Unterricht der Knaben anvertraut werde, soll mit vorzüglicher Tugend und Gelehrsamkeit begabt sein. In seiner Sprache, namentlich aber in seinen Sitten erweise er sich allem Ungebildeten und Rohen abgeneigt; in den Studien, wie der Humanismus sie pflegt, sei er durchaus erfahren; er sei nicht nur selbst vertraut mit den Wissenschaften, sondern er befleiszige sich auch der besten Weise, sie andern mitzuteilen. Er hüte sich vor allem, nach Art der meisten Lehrer bei den Anfängen des grammatischen Studiums die Schüler hinzuhalten mit überflüssigen Regeln und mit weitschweifigen und mannigfaltigen Erklärungen vieler Wörter in Anlehnung an die Weise des Alexander Gallus. 2

1 d. i. Fabius Quintilianus s. oben Kap. 2. 2 Alexander Gallus de villa dei (von Villedieu in der Normandie), Minorit, gestorben als Kanonikus in Avranches, gab im Jahre 1209 (oder 1199) unter dem Titel ‘doctrinale puerorum’ - ‘Lehrbuch für Knaben’ - eine in leoninischen Hexametern abgefaszte Grammatik heraus, welche das Werk des Donatus (s. unten Kap. 17, Anmerkung) zur Grundlage hatte. - Der leoninische Hexameter zeigt den Reim zwischen Cäsur und Versausgang. - Alexanders Werk war in den Schulen des Mittelalters viel verbreitet. Nach der Weise des Alexander ‘wurden die Kasus einzeln ihrer Bedeutung nach philosophisch abgehandelt, und im Anschlusz an ihn brauchten dann die scholastischen Lehrer hierzu eine unsinnige Zeit, so dasz die Schüler nach langer Mühe wohl die Kasus logisch definieren, gleichwohl aber einfach deklinieren nicht konnten.’

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Dieselben können vielmehr weit bequemer und mit weit gröszerem Vorteil für ihre Studien nach kurzer Behandlung der grammatischen Regeln an einem Hirtengedichte des Virgil oder an einem Lustspiele des Plautus oder des Terenz 1 oder an den Briefen oder Gesprächen des Cicero die Bedeutung der Wörter kennen lernen und sich an den wahren und reinen Sprachgebrauch im Lateinischen gewöhnen. ‘Er ziehe vielmehr das, was Nutzen bringt, dem vor, was auf Glanz und Prunk berechnet ist. Solange er noch mit Anfängern, deren Anlagen erst der Entwicklung bedürfen, zu thun hat, belaste er nicht ohne weiteres den schwachen Geist der Lernenden, sondern zügele seine Kräfte und richte sich nach dem Fassungsvermögen seiner Zuhörer. Denn wie Gefäsze mit enger Öffnung eine Flüssigkeit, die in Menge über sie ausgegossen wird, nicht aufnehmen, aber von solchen Flüssigkeiten, die allmählich ihnen eingegossen oder gar eingeträufelt werden, angefüllt werden, so ist auch darauf

1 Die Lustspiele des Plautus (s. oben Kap. 10) und des Terenz (s. oben Kap. 5) wurden manches Jahrhundert hindurch als Schulbücher verwandt. Die Werke des Plautus sind, wenngleich auch nicht gerade alle sittlich anstöszig sind, als Schullektüre ihres sittlichen Inhaltes wegen bedenklich. Die vierte preuszische Direktoren-Konferenz hat mit Einstimmigkeit die Lustspiele des Plautus als ungeeignet für die Schullektüre bezeichnet. - Nach Lessing (Sämtliche Werke XXII 310) ‘sind Captivi das schönste Stück, das jemals auf die Bühne gekommen ist.’. Plautus' Trinummus ist von Lessing zu einem einaktigen Lustspiele (ohne Frauenrollen): ‘Der Schatz’ umgearbeitet worden. - Auch andere Bedenken liegen vor: ‘Bei Plautus ist die Schwierigkeit in Sprache und Versbau zu grosz; eine Bekanntschaft mit der geschichtlichen Entwicklung der Sprachformen des Lateinischen liegt auszerhalb der Schule, und über die prosaischen und metrischen Gesetze des Dichters schwebt noch der Streit.’ - Auch Terenz ist durch Beschlusz der Direktoren-Konferenz in Preuszen als Schullektüre verworfen. Im Königreich Sachsen dagegen ist die Lektüre geeigneter Stücke von Terenz ‘als Abwechslung’ für die Unterprima gestattet.

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Obacht zu geben, wie viel der Geist der Knaben in sich aufnehmen kann.’ 1 Es ist dabei der Mahnung, die Horaz in der ars poetica giebt, folgezuleisten:

‘Was du für Lehren auch giebst, sei kurz, dasz schnell das Gesagte Fasse gelehrig der Geist und treulich im Lernen bewahre: Alles, was über das Masz, nimm ab vom beladenen Herzen.’ 2

Es ist nicht genug, dasz der Lehrer seine Schüler in den Wissenschaften unterweise, wenn er nicht auch durch die Strenge der Zucht die Sitten derer, die sich um ihn scharen, zu zügeln weisz. ‘Vor allem soll er daher gegen seine Schüler eine väterliche Gesinnung annehmen; er soll der Meinung leben, dasz er an die Stelle derer trete, von welchen ihm die Kinder anvertraut worden. Er selbst darf keine Fehler an sich haben, noch darf er Fehler an andern dulden. Seine Strenge sei nicht kalt, seine Heiterkeit sei nicht ungebunden, auf dasz nicht jene Hasz und diese Verachtung erzeuge. Gar häufig rede er von dem, was ehrenhaft und gut ist. Denn je öfter er ermahnt, um so seltener wird er züchtigen. Jähzornig darf er unter keinen Umständen sein. Solches, dem Verbesserung not thut, darf er nicht übersehen. Sein Unterricht sei ungekünstelt. Er zeige Geduld bei seinen Arbeiten; Ausdauer sei ihm dabei lieber als Übermasz. Denen, die ihn fragen, antworte er gerne; diejenigen, die ihn nicht fragen, forsche er aus eignem Antriebe aus. In dem Lobe der Vorträge seiner Schüler sei er weder karg noch verschwenderisch; jenes - Kargheit - erzeugt Unlust an der Arbeit, dieses - Verschwendung - sorglose Sicherheit. Bei der Verbesserung des Fehlerhaften sei er nicht bitter, am wenigsten aber schmähsüchtig. Denn gerade der Umstand, dasz manche Lehrer in einer Weise ihren Tadel aussprechen, als ob sie den, welchen sie tadeln, haszten, schreckt viele von dem Vorhaben ab, sich den Wissenschaften zu widmen. Er selbst trage täglich einiges, ja vieles vor, was die Zuhörer mit-

1 Die unter ‘-’ eingeschlossene Stelle ist aus Quintilian de inst. orat. I. c. 2 genommen. 2 Horaz, ars poetica 335-337. Die ‘ars poetica’ ist eine an L. Calpurnius Piso und seine Söhne gerichtete poetische Epistel ‘Über die Dichtkunst’. Horaz, Episteln lib. II, 3.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 94 nehmen können. Wenn freilich auch das Lesen genugsam Beispiele zur Nachahmung darbietet, so hat gleichwohl das lebendige Wort, wie man sagt, gröszere Nährkraft, namentlich das Wort eines Lehrers, welchen die Schüler, wofern sie nur richtig erzogen worden sind, lieben und verehren. Es läszt sich kaum aussprechen, mit wie groszer Freude wir denjenigen nachahmen, denen wir unsere Gunst zugewandt haben.’ 1 - Es halte aber der Lehrer die Schüler an, zeitig in der Schule zu erscheinen und das, was zur Niederschrift vorgetragen wird, stillschweigend anzuhören und sauber in wohlgebundene Hefte einzutragen; er erinnere dabei fleiszig an die Forderungen der Rechtschreibung und der Zeichensetzung. Wenn dann der Vortrag beendet ist, gebiete er Schweigen und bestimme bei allseitiger gröszter Aufmerksamkeit irgend einen zum Vorleser, damit sie sich auch an richtiges Lesen und an tadellose Aussprache gewöhnen. Liest der Vorleser gut, so lobe er ihn; hat derselbe eine schlechte Aussprache, so tadele er ihn, auf dasz die Schüler aus Scheu vor Beschämung und aus Begierde nach Belobigung es einander in ehrenvollen Wettstreite auf dem Gebiete der Wissenschaften zuvorzuthun suchen und auf dasz sie das, was in der Schule 2 vorgenommen werden soll, zuvor zu Hause eifrig durchdenken.

Kap. 17. Erprobte Lehrer soll man selbst unter Mühen und Beschwerden aussuchen.

Bewährte Lehrer sind sehr selten; deshalb soll man mit dem gröszten Eifer sie aufzufinden suchen. Es verdriesze dich nicht, sagt Sokrates, einen weiten Weg zu denjenigen zu machen, die sich da anbieten, dich etwas Nützliches zu lehren. Schändlich wäre es nämlich, wenn die Kaufleute so weite Meere

1 Auch diese Stelle (‘-’) ist Quintilian de instit. orat. lib. II, c. 2 entlehnt. 2 Murmellius bezeichnet die Schule nach römischer Weise mit ‘ludus’ (in ludo tractanda). ‘Der gewöhnliche Ausdruck für Schule als Unterrichtsräumlichkeit war bei den Römern “ludus”, d. h. der Platz für die zur Erholung vorgenommenen Übungen der körperlichen und geistigen Kräfte.’ Vergl. K. A. Schmid: Geschichte der Erziehung. I. 283.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 95 durchschifften, um ihren Reichtum zu mehren, wenn die Jünglinge dagegen nicht einmal die Anstrengungen eines weiten Weges zu ertragen vermöchten, um ihren Geist auszubilden. Das Beispiel des Euklid aus Megara 1 verdient Nachahmung. Über die denkwürdige That desselben berichtet bei Gellius 2 der Philosoph Taurus. 3 Durch ein Gesetz, so erzählt derselbe, hatten die Athener bestimmt, dasz jedem Bürger aus Megara, welcher die Stadt Athen beträte und daselbst ergriffen würde, dies als ein todeswürdiges Verbrechen angerechnet werden sollte. 4 Solchen Hasz trugen die Athener den ihnen benachbarten Megarensern nach. Euklid nun, welcher ebenfalls aus Megara stammte, pflegte vor dem Erlasz dieses Gesetzes sich in Athen aufzuhalten und den Sokrates zu hören. Nachdem dieses Gesetz erlassen worden, ging er beim Einbruch der Nacht, bevor es dämmerte, mit einem langen Weibergewande angethan und in einen buntfarbigen Mantel gehüllt mit verhülltem Haupt und Antlitz aus seinem Hause zu Megara nach Athen zu Sokrates, auf dasz er für einen Teil der Nacht an den Beratungen und Gesprächen bei demselben teilnehmen könne. Gegen Tagesanbruch hinwieder ging er in derselben Kleidung den Weg von etwas mehr als 20 000 Schritt zurück. Wir lesen, dasz die gröszten Gelehrten keine Mühen scheuten, um von den Lehrern der Weisheit noch mehr zu lernen. So suchte Pythagoras die Seher zu Memphis, 5 Plato ging nach Ägypten und zu

1 Euklid gründete noch zu Sokrates' Lebzeiten eine eigene Schule zu Megara. Seine Anhänger wurden wegen ihrer einseitigen Beschäftigung mit dialektischen Studien ‘Dialektiker’ genannt. Von Euklids in Gesprächsform abgefaszten Schriften ist keine auf uns gekommen. 2 s. oben Kap. 5. 3 Calvisius Taurus aus Berytos, Platoniker, wirkte zur Zeit des Kaisers Hadrian (117-138); seine in griechischer Sprache abgefaszten Schriften sind sämtlich verloren gegangen. 4 Nach der Schlacht bei Sybota (433 v. Chr.) hatten die Athener auf Antrag des Charinos, eines Vertrauten des Perikles, die Sperre über Megara verhängt, wonach den Megarensern ‘bei Todesstrafe Handel und Verkehr mit Athen und allen Häfen des athenischen Herrschaftsgebietes untersagt wurde.’ 5 Pythagoras von Samos (geb. 584 (580?) v. Chr., gest. 497?) hat grosze Reisen unternommen, die ihn nach Ionien, Phönicien, Mesopotamien, Ägypten gelernt haben soll; in die Arithmetik dagegen, in welcher er vielleicht noch gröszer als in Geometrie war, sollen ihn die Chaldäer eingeweiht haben, die er in Babylon antraf.’ - Memphis, die Hauptstadt des ‘Alten Reiches’, an der Südgrenze des Nordlandes, wenige Meilen oberhalb des Deltas. Der Name ‘Memphis’ ist die griechische Umgestaltung aus dem ägyptischen Mennofer ‘die schöne Ruhestätte’.

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Archytas von Tarent; er durchwanderte unter vielen Beschwerden denjenigen Teil Italiens, welcher ehemals Groszgriechenland hiesz. Er, welcher als Lehrer zu Athen hohe Bedeutung gewonnen hatte, er, von dessen Lehren die Hallen der Akademie ertönten, wurde ein Fremdling und ein Schüler, da er lieber Fremdes bescheiden lernen, als Eigenes andern anmaszend aufdrängen wollte. Als er schlieszlich den gleichsam über den ganzen Erdkreis sich verflüchtigenden Wissenschaften nachging, wurde er von den Seeräubern gefangen und verkauft; so hatte er dann dem grausamsten Gewaltherrscher Gehorsam zu leisten; der Philosoph aber war auch als gefesselter Gefangener und als Sklave gröszer als derjenige, welcher ihn kaufte. 1 Wir lesen, dasz zu Titus Livius, bei dem die Gabe der Beredsamkeit in hellen Strömen hervorbrach, einige vornehme Männer aus den äuszersten Teilen Spaniens und Galliens gekommen seien. 2 Die, welche die Stadt Rom nicht zu ihrer

1 Nach dem Tode des Sokrates (399 v. Chr.) wandte sich Plato (s. oben Kap. 1) zunächst nach Megara, woselbst er den Euklid (s. oben) zum Lehrer hatte. Dann begab er sich nach Kyrene zu dem Mathematiker Theodorus, dann nach Ägypten - Strabo spricht von einem 13 jährigen Aufenthalt des Plato in Ägypten -, nach Sicilien und Unteritalien. Letzteres wurde wegen der zahlreich dort aufblühenden griechischen Pflanzstädte ‘Groszgriechenland’ genannt. In Unteritalien trat Plato mit den Pythagoreern in Verbindung. Das Haupt derselben war zur Zeit Archytas von Tarent, ebenso bedeutend als Mench und Philosoph wie als Staatsman und Feldherr. Durch Dion, ein Mitglied des pythagoreischen Bundes, wurde Plato an dem Hofe Dionys' I. von Syrakus (406-367) eingeführt. Durch Ansichten und Verhalten erregte Plato den Zorn dieses Gewaltherrschers. Wenn derselbe auch von seinem Vorhaben, ihn töten zu lassen, Abstand nahm, so übergab er ihn gleichwohl einer spartanischen Gesandtschaft mit dem Auftrage, ihn ins Meer zu werfen oder als Sklaven zu verkaufen. Die Spartaner verkauften ihn den Ägineten, welche damals den Athenern feindlich gesinnt waren. Plato soll dann von Annikeris, einem Mitglied der cyrenäischen Schule, losgekauft worden sein. Nach seiner Rückkehr nach Athen (um 387 v. Chr.) lehrte dann Plato in der Akademie (vergl. Kap. 1. Anmerkung). Es wird noch von zwei andern Reisen des Plato nach Syrakus berichtet. Die Nachrichten hierüber haben indes nicht allseitig Glauben gefunden. 2 Vergl. des Plinius Brief an Nepos: ‘Hast du niet gelesen, wie ein Mann as Cadix, von des Titus Livius Namen und Ruhm angezogen, von den äuszersten Marken der Erde kam, um ihn zu sehen, und wieder abreiste, sobald er ihn gesehen hatte?’ Plin. Briefe II, 3, 8. - Titus Livius, geb. 59 v. Chr., gest. 15 n. Chr. schrieb eine Geschichte des römischen Volkes in 142 Büchern, von denen sich 1-10 und 12-45 und einige Bruchstücke erhalten haben. ‘Die lebendig-geschmackvolle, mit seinem Verständnisse jedesmal der Lage angepaszte Sprache, die jedoch durch ihre zahlreichen poetischen Wendungen bereits das nahende “silberne” Zeitalter der Latinität ankündigt, machte das Lesen des Livius den Römern zu einem wirklichen Genutz, dessen Buch über ihre ältere Zeit einen wahrhaft zauberhaften Glanz ausbreitete.’

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Besichtigung hatte herbeiziehen können, zog der Ruf eines einzigen Mannes herbei. Jenes Zeitalter wies ein unerhörtes und für alle Jahrhunderte denkwürdiges Wunder auf, dasz nämlich diejenigen, welche jene gewaltige Stadt betraten, etwas aufsuchen wollten, was jene Stadt als Stadt nicht zu bieten vermochte. Apollonius, 1 jener Zauberer, wie ihn das Volk nennt, jener Philosoph, wie ihn die Pythagoreer nennen, ging zu den Persern, überstieg den Kaukasus, suchte die Albaner, 2 die Scythen, 3 die Massageten 4 auf, durchwanderte die reichen Länder Indiens

1 Apollonius von Tyana in Kappadozien lebte im ersten Jahrhundert nach Chr. Geburt. Er scheint ein überzeugungstreuer Philosoph der neupythagoreischen Richtung gewesen zu sein, der durch ein Leben voll Enthaltsamkeit Aufsehen erregte. ‘Seine wundersüchtigen Zeit- und Gesinnungsgenossen haben sein Leben als das eines unmittelbar göttlichen Wunderthäters betrachtet und dargestellt.’ Die vielerlei über ihn überlieferten Wundergeschichten gehen auf das Werk des Flavius Philostratus zurück, welcher dasselbe im Auftrage der Julia Domna, der zweiten Gemahlin des Kaisers Septimius Severus (193-211), verfaszte. Philostratus hat aus dem Leben ‘des gefeiertsten Heiligen der hellenischen Welt eine Art von religiösem Reise- und Tendenzroman gemacht. Ohne unmittelbar das Christentum zu befeinden wird hier einerseits der auszerordentlichen Gestalt des Stifters der christlichen Religion thatsächlich eine antike Idealfigur gegenübergestellt, anderseits die neupythagoreische Philosophie als ein Läuterungs- und Erhebungsmittel für die alte Religion, gegenüber den sie innerlich und äuszerlich auflösenden Faktoren hingestellt.’ 2 Die Albaner bewohnten (nach Ptolemäus) das heutige Georgien in seinen östlichen Teilen, das nördliche Armenien bis in die Nähe von Eriwan, die russischen Provinzen Dagestan und Schirwan, die östlichen Teile des ehemaligen Tscherkessengebietes. Vergl. Georgii, alte Geographie I, 151. 3 Die Alten unterschieden ein Scythien diesseits und jenseits des Imaus d. i. Uralgebirges. 4 Die Wohnsitze der Massageten, eines scythischen Volkes, erstreckten sich ostwärts vom Aralsee.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 98 und kam schlieszlich nach Überschreitung des mächtigen Flusses Physon 1 zu den Brahmanen, 2 um den Jarchas, der auf goldenem Throne sasz und aus der Quelle des Tantalus trank, 3 inmitten weniger Schüler über die Natur, über die Sitten, über den Lauf der Gestirne und der Tage lehren zu hören. Von da kehrte er durch das Gebiet der Elamiter, 4 der Babylonier, der Chaldäer, 5 der Meder, der Assyrer,

1 Ein Flusz dieses Namens ist dem Herausgeber nicht bekannt. - Physkon, heute Adhem, ist der Name eines Nebenflusses des Tigris. - Der Phasis, heute Rion, ein Flusz in Transkaukasien, wird auch wohl Phison genannt. - Phison (Pison) ist nach Moses I, c. 2, 11 einer der vier Flüsse des Paradieses. - Pison (d. i. Kanal) der Name des Kanals, welcher von Hit am Euphrat (nordwärts von Babylon) am Rande der arabischen Wüste in gleicher Richtung mit dem Euphrat bis zum Meere angelegt war, in das er sich in eigener Mündung ergosz. Dieser Kanal, auch Pallakopas (Grenzflusz) genannt, heiszt heute Hafar Saadeh. - An diese Flüsse wird indes schon der Lage nach nicht gedacht werden dürfen. - Vielleicht ist unter Physon der Hyphasis (indisch Vipasa, heute Bejah), einer der Ströme des Pendschab (der Hyphasis mündet in den Acesines, heute Tschenab, dieser in den Indus), zu verstehen. 2 Das indische ‘brahman’ bedeutet ursprünglich ‘Gottesverehrung, die ihren Ausdruck sucht und findet’. Demgemäsz heiszt Brahmane ‘der fromme Beter oder Gottesdiener und jeder, der aus innerstem Herzensdrange seiner Verehrung Ausdruck leiht’. (Lefmann, Geschichte des alten Indiens 72.) Später werden dann die vertrauten und betrauten Lehrer und Priester der Gottheit, die einen streng geschlossenen Stand bilden, Brahmanen im engeren Sinne genannt. Die Standespflichten, die das Gesetzbuch der Inder den Brahmanen auferlegt, sind: den Veda zu lesen und ihn andere zu lehren; zu opfern, andern beim Opfer beizustehen; Almosen zu geben, wenn sie reich sind; wenn sie arm sind, Geschenke zu nehmen. - Veda d. i. Wissen, heilige Wissenschaft; die Urkunden dieser heiligen Wissenschaft sind die Vedas; Sammlungen von uralten religiösen Hymnen und Sprüchen. 3 Der Sinn dieser Bemerkung ist dem Herausgeber unerfindlich. - Wenn ein Schüler der Brahmanen einen bestimmten Teil seines Lehrganges zurückgelegt hatte, so wurde eine feierliche ‘Wasserspende’ abgehalten. Vergl. Lefmann, Geschichte des alten Indiens 488 f. Der Schüler, welcher seine Lehrzeit beendet hatte, wurde Snâtaka d. i. ‘einer, der gebadet hat,’ genannt. (Schmid: Geschichte der Erziehung I, 107.) Vielleicht liegt in den obigen Worten eine Andeutung auf diese Gebräuche bei den Brahmanen. 4 Die Elamiten bewohnten das Land Elam, östlich vom persischen Meerbusen und vom Tigris, südlich von Medien. 5 Chaldäa ist das Niederland der mesopotamischen Ebene vom persischen Meerbusen im Süden bis nördlich zur Linie zwischen Hit am Euphrat und Samaras am Tigris. (Hommel, Geschichte Assyriens und Babyloniens, 182.) Chaldäa und Babylonien erscheinen für gewöhnlich als Namen für ein und dasselbe Landgebiet. Mit Chaldäa wird auch wohl das Land westlich vom Euphrat bis zu den groszen Kanälen von Maarsares, heute Kerbela, und Pallakopas, heute Hafar Saadeh, bezeichnet. - In Babylonien wurden, namentlich in den späteren Jahrhunderten, die Priester, die Träger der Wissenschaften, ‘Chaldäer’ im engeren Sinne genannt.

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Parther, 1 Syrer, Phönicier, Araber, Palästinenser nach Alexandria zurück. Dann zog er weiter nach Äthiopien, um die Gymnosophisten 2 und den berühmten Sonnentisch 3 in der Wüste

1 Parther, ein Volk scythischer Abstammung. Sie erscheinen zunächst in dem Gebiete östlich von Medien in den heutigen persischen Provinzen Kohestan und Komis. Unter Arsakes I. (250-248 v. Chr.) beginnt die Loslösung Parthiens vom Reiche der Seleuciden und die Gründung eines parthischen Reiches, das weit über die Grenzen des alten Parthiens hinausgreift. 2 Gymnosophisten, ursprünglich: ‘nackte indische Weisen’. 3 Der ‘Sonnentisch’: Herodot (III, 17) berichtet, dasz der Perserkönig Kambyses (529-522) von Ägypten aus eine Gesandtschaft zu den langlebenden Äthiopiern auch zu dem Sonnentisch hingeführt worden seien. ‘Dieser Sonnentisch - so erzählt Herodot III. c. 18 - ist eine Wiese in der Vorstadt, voll gekochten Fleisches von allen vierfüszigen Tieren. Von den jedesmaligen Stadtbeamten wird bei Nacht dieses Fleisch hingelegt, und bei Tage kommt, wer will, und speist.’ - Diese Makrobier will man in den heutigen Somal (Mehrzahl zur Einzahl ‘Somali’) an der Küste zwischen Bab el Mandeb und Kap Guardafui wiederfinden. Die heutigen Somal sind ein handeltreibendes Volk: ihr Gebiet ist gleichsam der Stapelplatz für den kaufmännischen Verkehr zwischen Afrika und Arabien. Die alten Ägypter haben mit dem Lande Punt - so bezeichneten sie die Gebiete östlich und westlich von der Strasze Bab el Mandeb und vom Golf von Aden (-) schon des Weihrauchs wegen, dessen Heimat Südarabien und die Somaliküste ist, von den ältesten Zeiten in Handelsverbindungen gestanden. Unter Sanchkare, dem letzten Könige der XI. Dynastie, um 2000 v. Chr., wird ein ägyptisches Schiff nach Punt abgeschickt, ‘ um frischen Weihrauch von den Häuptlingen des roten Landes zu holen’. Unter der Königin Makara-Hatschop (Ha'tschepsut) - XVIII Dynastie - (1500-1480?) werden die Handelsbeziehungen mit Punt wieder angeknüpft. - Sind nun die Makrobier, wie man nach der Lage des Landes und nach den in Hieroglyphen-Inschriften erhaltenen Überlieferungen annehmen darf, ebenfalls ein Handelsvolk gewesen, ‘so war der Sonnentisch - der Altar der Sonne - vielleicht der Marktplatz, an den, weil fast aller Handel in Afrika unter den Schutz von Heiligtümern gestellt wird, religiöse Ideen sich anknüpften, und das gekochte Fleisch von der Sonne gedörrtes.’ Vergl. Heeren: Ideen über die Politik, den Verkehr und den Handel der alten Welt. 2. Teil I, 357.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 100 zu sehen. Überall fand er solches, woran er lernen konnte. Indem er beständig reiste, vervollkommnete er sich beständig. Soweit der hl. Hieronymus. Quintilian aber sagt im ersten Buche der ‘Anleitung zur Beredsamkeit’ von Plato folgendes: ‘Warum zeichnete sich Plato in alle dem aus, was einer, der Redner werden will, nach meinem Dafürhalten zu lernen hat? Er war nicht zufrieden mit den Kenntnissen, in welchen sich Athen hervorzuthun vermochte; desgleichen begnügte er sich auch nicht mit den Lehren der Pythagoreer, zu welchen er die Meerfahrt nach Italien unternommen hatte; sondern er suchte auch die Priester Ägyptens auf und lernte die Geheimnisse derselben kennen.’ Ebenderselbe schreibt im 12. Buche über Cicero folgendes: ‘Marcus Tullius beobachtete folgende Weise. Nachdem er unter den damals lebenden Sachwaltern sich einen berühmten Namen erworben hatte, begab er sich zu Schiffe nach Asien und suchte daselbst zwar auch bei andern Lehrern der Weisheit und Beredsamkeit, vornehmlich aber zu Rhodus bei Apollonius Molon, 1 welchen er bereits zu Rom aufgesucht hatte, die Vollendung seiner Bildung.’ Von unsern Landsleuten will ich nicht reden; hier bieten sich allerorts Beispiele in Fülle dar. Der Spanier Drosius 2 suchte, um das Wesen der Seele kennen zu lernen, zuerst den Augustinus, dann den Hieronymus in überaus langer und beschwerlicher Fahrt auf. Und selbst Hieronymus begnügte sich nicht damit, zu Rom den

1 Apollonius Molon aus Alabanda in Karien, eines der Häupter der Rhodischen Rednerschule, kam als Gesandter der Rhodier nach Rom, um wegen der Beschädigungen, welche die Rhodier im mithridatischen Kriege erlitten, zu verhandeln. Von ihm liesz sich damals (88, 87 v. Chr.) Cicero in der Redekunst unterweisen. Später (78 v. Chr.) ging Cicero zu demselben Zwecke nach Rhodus, welches ein Hauptsitz griechischer Kunst und Wissenschaften geworden war. ‘Die rhodische Rednerschule strebte die Mitte zu halten zwischen der Überladenheit der asiatischen Beredsamkeit und der knappen, gedrungenen Redeweise derjenigen attischen Stilgattung, die auch zu Ciceros Zeiten viele für die allein mustergültige hielten.’ 2 Der Presbyter Drosius aus Lusitanien (geb. 390? nach Chr., Todesjahr unbekannt) suchte 414 den hl. Augustinus in Afrika (Hippo) und auf dessen Veranlassung den hl. Hieronymus († 420) zu Bethlehem auf, um sich in Widerlegungen gegen die Irrlehren des Priscillian, die sich unter anderm über den Ursprung der Seele verbreiteten, unterweisen zu lassen.

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Rhetor Victorinus 1 und den Grammatiker Donatus 2 gehört zu haben: er begab sich nach Konstantinopel und hatte daselbst den Gregor von Nazianz 3 zu seinem Lehrer in der hl. Schrift; auch hörte er häufig zu Antiochia den Apollinaris. 4 Als seine Haare schon grau waren, zog er nach Alexandria, um dort von dem blinden Didymus 5 noch tiefer in die Studien der Weisheit eingeführt zu werden. Später kehrte er nach Bethlehem zurück und lernte dort heimlich zur Nachtzeit hebräisch. Seine Lehrer fürchteten nämlich, es möchten die Juden Kunde erhalten und dann ihre Wut gegen ihn wenden. 6

1 C. Marius Victorinus, ein Afrikaner von Geburt, wirkte in der Mitte des IV. Jahrhunderts als Grammatiker und Rhetor, schrieb eine ars grammatica in 4 Büchern. In seinen späteren Lebensjahren ist er zum Christentum übergetreten. Er verfaszte Erklärungen zu den Büchern des hl. Paulus, auch Gedichte in Anlehnung an Stoffe der hl. Schrift. 2 Älius Donatus lebte als Grammatiker in der Mitte des IV. Jahrhunderts zu Rom. Die ‘ars grammatica’ desselben enthält eine kurze in Fragen und Antworten sich darstellende Unterweisung über die Redeteile. Seit Mitte des XII. Jahrhunderts wurde dieses Lehrbuch des Donat fast ausschlieszlich dem ersten lateinischen Unterricht zu Grunde gelegt. 3 Der hl. Gregor von Nazians, geb. 330?, gest. 389 (390), berühmter Kirchenlehrer, ‘eines der drei Lichter der Kirche von Kappadozien’, verweilte von 379 bis 381 zu Konstantinopel behufs Regelung der durch Irrlehren und Zwietracht gefährdeten kirchlichen Verhältnisse daselbst. Auch hier ‘wirkte seine wunderbare Beredsamkeit zündend.’ Hierselbst suchte ihn Hieronymus, zur Zeit etwa 40 Jahre alt, auf, um seinen öffentlichen Vorträgen beizuwohnen und um sich von ihm im Einzelunterricht in der Kunst, die hl. Schrift auszulegen, unterweisen zu lassen. 4 Apollinaris der Jüngere, Bischof von Laodicea, gest. nach dem Jahre 380. 5 Didymus der Blinde, geb. zu Alexandria 310, gest. ebendaselbst um 395. Von seinem fünften Lebensjahre an erblindet, widmete er sich gleichwohl mit bewunderungswürdiger Ausdauer wissenschaftlichen Studien. Er gewann in der Folge groszen Ruf als Gelehrter und Lehrer. Länger denn 50 Jahre bekleidete er das Amt eines Vorstehers der Katechetenschule zu Alexandria. Von seinen in griechischer Sprache erschienenen Werken sind die bedeutendsten die beiden: ‘Über die Trinität’ und ‘Über den heligen Geist.’ Letzteres ist von Hieronymus ins Lateinische übertragen worden. 6 Die obige Darstellung von den Reisen des hl. Hieronymus hat insofern eine Berichtigung zu erfahren, als der erstmalige Aufenthalt desselben zu Antiochia dem zu Konstantinopel voraufgegangen ist. Nach dem ersten Aufenthalte zu Antiochia zog sich Hieronymus für die Zeit von 374-378 in die Wüste von Chalcis (in Syrien) zurück. Während dieser Zeit liesz er sich bereits von einem getauften Juden in der hebräischen Sprache unterrichten (vergl. Hieron. epist. ad Rusticum monachum c. 12). Auch zu Bethlehem betrieb er späterhin hebräische und chaldäische Studien meistens zur Nachtzeit; Rabbinen waren dabei seine Lehrer.

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Kap. 18. Es ist irrig, Kinder, die in einer volkreichen Stadt, woselbst die Pflege der Wissenschaft in Blüte steht, geboren sind, anderswohin gröszerer Vervollkommnung wegen zu schicken.

Es ist also ein tüchtiger Lehrer sogar auf mühevollem Wege aufzusuchen. Knaben, die in einer volkreichen Stadt geboren sind, woselbst ein berühmter Lehrer der Leiter des Gymnasiums ist, sollen namentlich im zarten Alter nicht an einen andern Ort geschickt werden, um sich dort in der Wissenschaften unterweisen zu lassen. Welche Thorheit wäre es nämlich, wenn im eigenen Hause Weizenbrot vorhanden ist, lieber erbetteltes Kleienbrot zu essen. Dieselbe Thorheit fände sich bei solchen Menschen, die da der Meinung sind, dasz ihre Kinder auszerhalb der Vaterstadt bessere Fortschritte machen. Sie können sicherlich - wenn wir Plinius dem Jüngeren Glauben schenken 1 - weder einen angenehmeren Aufenthalt finden als in der Vaterstadt, noch besser in Zucht gehalten werden als unter den Augen der Eltern, noch geringeren Kostenaufwand

1 Vergl. Plinius des Jüngeren Brief an Tacitus (Epist. lib. IV, XIII 3-5): Als ich kürzlich in meiner Heimat war, kam der Sohn eines Landsmannes von mir, welcher die verbrämte Toga trug (die jungen Römer legten mit dem 15. Lebensjahre die verbrämte Knabentoga ab), um mich zu besuchen. Ich fragte ihn: ‘Studierst du?’ Er antwortete: ‘Ja wohl!’ ‘Wo?’ ‘Zu Mediolanum (Mailand).’ ‘Warum nicht hier?’ Da gab sein Vater, der auch mit dabei war und den Knaben zu mir gebracht hatte, mir den Bescheid: ‘Weil wir hier keine Lehrer haben.’ ‘Warum nicht? Es musz ja doch euch, die ihr Väter seid,’ - und glücklicherweise hörten dies mehrere anwesende Väter - ‘gar viel daran liegen, dasz eure Kinder vorzugsweise hier geschult werden. Denn wo sollten sie lieber ihren Aufenthalt nehmen als in ihrer Vaterstadt? wo besser in Zucht gehalten werden als unter den Augen ihrer Eltern? wo weniger kosten als zu Hause? Was für eine Kleinigkeit wäre es also Geld zusammenzulegen und Lehrer anzustellen und das, was ihr jetzt für Wohnung, für Reisekosten, für das, was ihr auswärts kauft - denn auswärts wird doch alles gekauft - aufwendet, dem Lehrer-Gehalte zuzulegen?’

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 103 erfordern. ‘Die Pflanze erstarkt nicht, welche häufig versetzt wird.’ 1 Den Lehrer, an den sie sich einmal gewöhnt haben, mögen sie - wofern er ein guter Lehrer ist und wenn es füglicher Weise möglich ist - so lange hören, bis sie an Jahren wie an Kenntnissen in den Wissenschaften herangewachsen sind und für ihre philosophischen Studien einer Hochschule anvertraut werden. Inzwischen mögen die Eltern das Geld, das sie sonst auszugeben genötigt wären, für ihre Söhne zurücklegen, damit dieselben in der Folge dem philosophischen Studium um so länger obliegen können.

Kap. 19. Welches sind die Pflichten des Schülers gegen den Lehrer?

Wer einen erprobten Lehrer gefunden hat, der möge ihn vor allem lieben und verehren. Die Liebe ist nämlich, wie dies der jüngere Plinius bezeugt, der beste Lehrer. Und, wie Petrarca sagt, Lehren, die aus einem geliebten Herzen kommen, finden weit leichteren Eingang bei den Zuhörern. Quintilian schreibt im 2. Buche folgendes: ‘Nachdem ich nun vieles über die Pflichten der Lehrer gesagt habe, ermahne ich die Schüler zu diesem einen, dasz sie ihre Lehrer ebenso lieben wie ihre Studien, und dasz sie in ihren Lehrern zwar nicht ihre leiblichen so doch ihre geistigen Eltern sehen. Kindliche Scheu dieser Art bringt dem Studium groszen Vorteil. Dann werden sie nämlich gern zuhören und dem Gehörten Glauben schenken und ihnen ähnlich zu werden begehren. Freudig und munter werden sie zu den Stunden kommen. Werden sie zurecht gewiesen, so werden sie nicht zürnen; werden sie gelobt, so werden sie sich freuen; sie werden darauf Anspruch erheben dürfen, in ihrem wissenschaftlichen Streben geschätzt zu werden. Denn wie jene die Pflicht haben zu lehren so haben diese die Pflicht sich gelehrig zu erweisen; eines ohne das andere genügt nicht. Wie es vergeblich wäre, Samen auszustreuen, wenn nicht der Acker bereitet ist, ihn aufzunehmen, so kann auch die Beredsamkeit nicht Wurzel fassen, wenn sich nicht Einmütigkeit zwischen Geber und Empfänger ihr zugesellt.’

1 Seneca, Briefe an Lucilius I, 2, 2.

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Fast alles dieses hat aber Quintilian von Cicero entlehnt. Es sagt nämlich dieser in einem Briefe an seinen Sohn: 1 ‘Du hast deinen Lehrer nicht weniger zu lieben als deine Studien, da ja der Lehrer dein Vater ist; ich will damit nicht sagen, dasz derselbe dein leiblicher Vater sei; wohl aber ist derselbe der Vater deines Geistes, welcher den Leib an Wert und Bedeutung so sehr übertrifft. Höre gerne auf ihn und schenke seinen Worten Glauben; bestrebe dich, ihm ähnlich zu werden. Unter den andern Studierenden sei froh und munter. Und wenn du zurecht gewiesen wirst, so erzürne dich nicht; wenn du gelobt wirst, so erweise dich deshalb im Studium um so tüchtiger. Denn es ist die Pflicht des Lehrers zu lehren, die des Schülers sich gelehrig zu erweisen, wenn es vonnöten ist.’ Juvenal schlieszlich sagt in der siebten Satire: 2

‘Weich sei, Götter, die Erde und leicht den Schatten der Ahnen Duftender Safransflor und der Urne ein ewiger Frühling, Welche dem Lehrer bestimmt die geheiligte Stelle des Vaters! Schon ein Erwachsener, übt in der Heimat Bergen Achilles, Bang vor der Rute, Gesang, und wem nicht hätte zu der Zeit Lachen entlockt der Schweif des zur Zither singenden Meisters.’3

Des Gehorsams, welchen eben dieser Achill seinem Lehrer bekundet, thut Ovid im ersten Buch ‘der Kunst zu lieben’ Erwähnung:

1 Marcus Tullius Cicero geb. 65. v. Chr. - In der dem Herausgeber vorliegenden Sammlung der Briefe Ciceros ist ein Brief an den Sohn nicht enthalten. In einem Briefe, den der Sohn von Athen aus an den Freigelassenen Tiro schreibt (ad familiares lib. XVI, 21) spricht derselbe davon, dasz ihm ‘der Brief von dem freundlichen und teuren Vater die gröszte Freude bereitet hat’. 2 Juvenal. Satir. VII, 207-212, 3 Der Centaur Chiron, der Lehrer und Erzieher Achills, war der Sage nach berühmt als Bogenschütze und Leierspieler, als Kräuterkenner und Arzt, als Weisheitslehrer und Sterndeuter. - Es hat sich ein Pompejanischen Wandgemälde erhalten, welches darstellt, wie der Centaur - halb Mensch halb Pferd - den Achill im Saitenspiel unterweist und wie der Jüngling den Worten des Lehrers aufmerksam lauscht.

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‘Ihm, der die Feinde so oft, so oft die Gefährten erschreckte, Machte, so meldet die Mär, Furcht ein bejahreter Greis. Hände, die Hektor einst empfinden sollte, die bot er Willig den Schlägen dar, wenn es der Lehrer befahl.’1

Der ist der Wissenschaft unwürdig, welcher sich auflehnt gegen den Lehrer der Wissenschaft. Der Schüler soll sich beim Eintritt des Lehrers erheben und sein Haupt vor ihm neigen. Spricht der Lehrer, so soll der Schüler seine Worte mit der gröszten Aufmerksamkeit entgegennehmen. Denn, wie der jüngere Plinius sagt, ‘zum Lesen findet sich immer Gelegenheit, nicht immer zum Hören. Ferner macht das lebendige Wort, wie man zu sagen pflegt, einen viel gröszeren Eindruck. Denn mag immerhin das, was man liest. schärfer durchdacht sein, so haftet doch das, was der lebendige Vortrag, was Auge, Persönlichkeit und Gebärde des Redenden einprägen hilft, tiefer in der Seele.’ 2 Den Lehrern soll ein jeder den Entgelt für die Unterrichtsbemühungen je nach seinem Vermögen freigebig entrichten. Denn dann werden sie mit um so gröszerem Eifer unterrichten und, angelockt durch Belohnungen, werden sie keine Mühe scheuen. Wie nämlich Martial sagt: 3

‘Ungern tragen das Joch auf magerem Felde die Stiere; Fetter Boden erschöpft, aber er lohnet die Müh'.’

Kap. 20. Welche Bücher soll der Schüler besitzen?

Der Studierende hat eine solche Fülle von Büchern vonnöten, dasz nach Horaz eine freie und willkürliche Auswahl

1 Ovid, ars amandi I, 13-16. 2 Brief an C. Nepos. Plin. epist. II, 3, § 9. 3 Epigramme. Buch I, 107, 7-8, - Marcus Valerius Martialis (42-102 n. Chr.) aus Bilbilis in Spanien, lebte von 64-98 in Rom. Seine formvollendeten Dichtungen - 15 Bücher Epigramme - bekunden hohe Begabung; Anmut und Wisz, Salz und Galle bieten sie genugsam. Seine Dichtungen gingen indes nach Gunst und Brot. Stofflich lehnen sich dieselben an Beobachtung und Erfahrung im Leben an und greifen mit Vorliebe die weniger saubern Geschehnisse und Verhältnisse des Lebens auf. Martial selbst ‘lebte anständiger als er zu schreiben beliebte’.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 106 derselben für ihn schlimmer sein dürfte als eine Teuerung. Horaz nämlich sagt im ersten Buche der Episteln:

‘Was wohl fühl' ich, o Freund? was glaubst du, dasz mein Gebet heischt?

Bleibe nur, was ich besitz', auch weniger; darf ich mir selbst nur Leben die fernere Frist, wenn fern're mir schenken die Götter; Bücher in reichlicher Meng' und ein Jahr ausreichender Früchte Vorrat, dasz ich nicht schweb' in der Pein unsicheren Daseins.’1

Es ist überliefert, dasz Plato drei Bücher des Pythagoreers Philolaos 2 um 10000 Denare 3 gekauft hat. Aristoteles hat, wie berichtet wird, ein paar Bücher des Philosophen Speusippos 4 nach dem Tode desselben für drei attische Talente 5 gekauft. Picus von Mirandola 6 soll 7000 Goldstücke auf den Erwerb von Büchern verwandt haben. Mit Recht legt daher ein Dichter unserer Zeit einem Buchhändler diese Worte in den Mund:

‘Perlen erwerbt ihr! Warum? das ist nur ein wertvoller Hausrat. Haltet ihr dies nicht für wahr, habt ihr nicht Augen im Kopf.’

1 Horaz, Epist. I, 18, 106-110. Die drei ersten der angeführten Verse sind von dem Herausgeber des Verständnisses wegen hinzugesetzt. 2 Philolaos, ein Mitglied der pythagoreischen Schule, der ‘Vertreter der streng wissenschaftlichen Pythagoreer, hoch verdient um Ausbildung und Verbreitung der pythagoreischen Lehren.’ ‘Fast ein Jahrhundert nach Pythagoras haben Archytas von Tarent (s. oben Kap. 17) und Philolaos die pythagoreische Lehre schriftlich zur Darstellung gebracht. Auf den Bruchstücken dieser Schriften und auf einzelnen Stellen bei Aristoteles, der immer nur von Pythagoreern, nie aber von Pythagoras spricht, beruht unsere Kenntnis von der Lehre des Pythagoras.’ Prantl. a. a. O. 16. ‘Plato verdankt seine Zahlen und Ideenlehre ganz dem Philolaos.’ Erdmann, Gesch. der Philos. I, 25. 3 10000 Denare haben in Silberwährung den Münzwert von 7016, 40 Mark, in Goldwährung von 8700, 80 Mark, an Geldwert stellen 10000 Denare etwa den 10 bis 12 fachen Betrag dar. 4 Speusippos, der Schwestersohn des Plato, übernahm nach des Meisters Tode die Leitung seiner Schule, der sog. älteren Akademie. (s. oben Kap. 1.) 5 Drei attische Talente hatten einen Münzwert von 10145, 75 Mark; der Geldwert würde das Zehn- bis Zwölffache betragen. 6 Über Picus von Mirandola s. oben Kap. 3.

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Überaus glücklich wären wir in diesem Jahrhundert, woselbst dank der Erfindung jener wohlthätigen Kunst, welche man ‘Chalkographie’ 1 nennt, allenthalben so viele Bücher für geringen Preis zum Kauf angeboten werden, wenn nicht fast alle von unzähligen Fehlern wimmelten. Irgend ein böser Dämon mag uns wohl so groszen Glückes wegen beneiden! Vielleicht wendet sich dies zu unserem Besten, auf dasz wir nämlich nicht in unserer Leichtgläubigkeit den Büchern allzugroszes Vertrauen schenken. Aber um zu unserm Vorhaben zurückzukommen: ein Knabe, welcher noch durch Unterricht gebildet wird, soll nur wenige Bücher besitzen. Dieselben sollen indes so genau und fehlerfrei wie thunlich sein. Er soll sich indes nicht blosz an gedruckte Schriften gewöhnen; er soll es auch lernen - und dies wird ihm später von groszem Nutzen sein - die Buchstaben durch die Schrift darzustellen und frühzeitig das, was von dem Lehrer zum Niederschreiben vorgetragen wird, in einem für diesen Zwecke bereit gehaltenen Büchlein aufzuszeichnen. Auf diese Weise wird er allgemach die richtige Schreibweise erlernen, und dessen, was er selbst geschrieben hat, wird er sich viel leichter erinnern, und die Erinnerung daran wird länger in seinem Geiste haften. Wenn er aber in den Studien schon gröszere Fortschritte gemacht hat, so mag er sich nach Beratung mit seinem Lehrer geeignete und erprobte Bücher beschaffen. Und wenn auch Plinius sagt, kein Buch wäre so schlecht, dasz es nicht in irgend einer Beziehung Nutzen brächte, 2 so mag sich der Schüler gleichwohl vor Büchern, welche überflüssige Regeln und sprachwidrige Ausdrücke enthalten, wie solche zu groszer Schädigung der Studierenden für gewöhnlich zum Kauf angeboten werden, in gleicher Weise wie vor giftigen Schlangen hüten. Denn, wie Gellius sagt, der Nutzen, welchen richtige Sprache den Geistesanlagen der Jünglinge bringt, ist nicht so grosz als der Schaden, welchen fehlerhafte Sprache ihnen anthut. Seneca sagt an einer Stelle, woselbst er von der Handhabung der Bücher spricht, dieses: ‘Es kömmte nicht darauf an, wie

1 Die Buchdruckerkunst wird Chalkographie d. i. Erzschrift genannt wegen der Lettern aus Metall, die bei ihr verwandt werden. 2 Dieser Ausspruch des älteren Plinius wird von dem jüngeren Plinius angeführt Briefe III, 5, 10.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 108 viele Bücher du hast, sondern wie gute Bücher du hast. Lesen, welches sich an ein und dasselbe Buch hält, bringt Bildung; Lesen, welches bald zu diesem bald zu jenem Buch greift, gewährt Unterhaltung. Der Wanderer, welcher sein Ziel erreichen will, bleibt auf ein und demselben Wege und geht nicht bald diesem bald jenem Wege nach; denn das hiesze nicht ‘wandern’, sondern ‘umherirren’. Und an einer andern Stelle sagt er: ‘Die Menge der Bücher zerstreut. Da du also nicht so viel lesen kannst, als du haben möchtest, so genügt es, so viel zu haben, als du lesen kannt. ‘Aber, sagst du, ich mag gern bald in diesem, bald in jenem Buche blättern.’ Es ist das Zeichen eines verdorbenen Magens, viele Speisen zu kosten; wenn diese verschiedener und entgegengesetzter Art sind, so werden sie ihn verunreinigen, nicht nähren. Daher lies immer bewährte Schriftsteller, und hast du einmal Lust, auch bei andern einzusprechen, so kehre bald wieder zu den früheren zurück.’ Soweit Seneca. 1 Meine Ermahnungen zielen deshalb dahin, dasz der fleiszige Schüler nicht planlos, sondern nach dem Rate seines Lehrers seine Bücher emsig berichtige und die einzelnen Sätze und Satzglieder durch richtige Zeichensetzung von einander trenne; dasz er die Stellen von besonderem Werte sich anmerke oder besser noch ausziehe und in einem diesem Zwecke entsprechenden Büchlein zusammenstelle. Plinius, der Verfasser der Naturgeschichte, las nichts, ohne sich darüber Auszüge zu machen. 2 Beim Lesen stoszen wir auf gar manches, was des Behaltens wert ist; sonderen wir es nicht aus, so werden wir es leicht vergessen, und wenn wir es dann wiederum aufsuchen wollen, so werden wir uns genötigt sehen, fast das ganze Buch wieder zu durchblättern. Wenn wir uns aber kleine Auszüge gemacht haben, so werden wir gar leicht auf dasselbe stoszen. Die Sätze nämlich, welche sich auf ein und denselben Hauptgedanken beziehen, sind anzumerken und an ein und derselben Stelle einzutragen. Beim Lesen soll man mit lauter Stimme sprechen; einer-

1 Seneca, Briefe an Lucilius I, 2, 2-3. 2 Über Plinius den Älteren s. oben Kap. 12. - Die angeführte Thatsache findet sich in den Briefen des jüngeren Plinius (III, 5, 10) erwähnt.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 109 seits nämlich trägt dies viel zum Verständnisse bei; anderseits begünstigt dies auch die Verdauung, wie solches die Naturkundigen überliefert haben.

Kap. 21. Welchen Vorteil der Verkehr mit Studierenden mit sich bringt.

Der Verkehr mit Studierenden wird dem strebsamen Schüler nicht geringen Vorteil bieten. ‘Unter Heiligen bist du heilig, unter den Verworfenen verworfen,’ lautet ein viel gebrauchtes Sprichwort. Wenn du einen Lahmen zum Nachbarn hast, wirst du es lernen, selbst lahm einherzugehen. In dem Hirtengedicht des Petrarca heiszt es: 1

‘Seuche verschleppt der Schäfer zum Schäfer, das Schaf zu den Schafen.’

Seneca schreibt im siebten Briefe: ‘Verkehre mit denen, welche dich besser machen werden, und verstatte solchen den Zutritt, die du besser machen kannst. Hierbei findet eine Wechselwirkung statt, und die Menschen lernen, indem sie lehren.’ 2 Und Aristoteles sagt im neunten Buche der Ethik: ‘Von solchen, die sich um das Beste eifrig bemühen, wirst du immer das Beste lernen.’ 3

1 Das Hirtengedicht des Petrarca (s. oben Kap. 2) ist ein sinnreiches Dichtwerk, welches in das anmutige Gewand der Hirtendichtung unter Anlehnung an gegebene Verhältnisse der Zeit eine Fülle weisheitsvoller Lehren für sittliches und staatliches Leben einkleidet. 2 Seneca, Briefe an Lucilius I, 7, § 7. 3 Aristoteles, Nikomachische Ethik IX, c. 12 § 3: ‘Die Freundschaft der Guten ist selbst gut und wächst als solche durch gegenseitigen Umgang. Man kann sagen, beide Teile werden besser, indem sie einer für die Zwecke des andern wirken, und einer den andern zurechtweist; denn jeder drückt vom andern gefällt. Daher das Dichterwort: Gutes lernst du von Guten.’ Dieser Ausspruch stammt von Theognis her, einem berühmten Spruchdichter aus Megara (Mitte VI. Jahrhundert v. Chr.) Die Stelle bei Theognis lautet:

‘Nimmer mit schlechten Männern gehe du um, stets nur zu guten gesellt! Solche seien Gesellen beim Trunk dir, sowie bei der Mahlzeit, Oder im Rat, und es sei ihnen gefallen dir Pflicht. Denn von Guten wirst Gutes du lernen; doch wenn du den Schlechten Zu dich gesellst, so verlierst du auch den eignen Verstand. Folge dem Rat und gesell' dich zu Guten, damit du einst sagest: Gut war der Rat, den ich hier sorglich den Freunden erteilt.’

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 110

Der Jüngling sei daher gegen Gespielen und Hausgenossen und gegen alle seine Mitschüler dienstwillig und freundlich. Gerade an die Zuverlässigsten und Strebsamsten schliesze er sich liebend an; mit ihnen stelle er häufig Übungen in den Wissenschaften an. Er bediene sich der lateinischen Sprache und beteilige sich mitunter auch an wissenschaftlichen Streitgesprächen. Es schärft dies nämlich den Geist, bildet die Sprache, stärkt das Gedächtnis. In den Studien fördert wetteifernde Nachahmung der Gelehrten gewaltig. Daher gab Aristoteles auf die Frage, in welcher Weise die Schüler treffliche Fortschritte machen könnten, zur Antwort: ‘Wenn sie denjenigen, die sich auszeichnen, nachfolgen, und nicht auf diejenigen, welche zurückbleiben, warten.’ Ein edler Sinn empfindet es mit Schmerzen, von andern übertroffen zu werden und denjenigen, welche dasselbe Studium betreiben, nachzustehen und gleichsam hinter ihnen als weniger begabt zurückzubleiben. Mag auch, wie Quintilian sagt, der Ehrgeiz ein Fehler sein; 1 häufig ist er jedoch die Quelle der Tugenden. Der weniger Unterrichtete schäme sich nicht, von einem andern, welcher reicher an Kenntnissen ist, sich unterrichten zu lassen. Das ist eine schlecht angebrachte Scham, die uns an der Vervollkommnung hindert. Man sollte stets jenen Ausspruch des Horaz im Sinne haben:

‘Weshalb lieber aus eitler Scham nichts wissen, als lernen?’ 2

Einen Unwissenden unterweisen darf der Wissende sich nicht verdrieszen lassen. Denn nach dem Zeugnis Quintilians besteht die beste Weise, das eigene Wissen zu vervollkommnen, darin, andere das zu lehren, was man selber gelernt hat. 3 Seneca

1 Quintilian, de instit. orat. lib. I, c. 2. 2 Horaz, Episteln II, 3, 88. 3 Quintilian, welcher 20 Jahre hindurch sich der Bildung der römischen Jugend widmete, durfte mit vollem Rechte diesen Erfahrungssatz aussprechen. Martial preist ihn mit den Worten (Epigramme II, 90, 1-2):

‘Quintilianus, du Stolz der Erzieher flüchtiger Jugend, Quintilianus, du Ruhm römischer Toga zugleich.’

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 111 spricht sich im sechsten Briefe dahin aus: ‘Ich freue mich deshalb etwas zu lernen, um es lehren zu können, und nichts wird mir Vergnügen bereiten, sei es noch so vortrefflich und heilsam, wenn ich es für mich allein wissen soll. Würde mir alle Weisheit mit der Einschränkung verliehen, dasz ich dieselbe in mir verschlossen halten müszte und nicht zum Ausdruck bringen dürfte, so würde ich dieselbe zurückweisen. Keines Gutes Gesitz ist ohne Genossen erfreulich.’ 1 Der hl. Ambrosius sagt im zweiten Buche ‘Von den Pflichten’: ‘Was nützt es, Weisheit zu besitzen, wenn man guten Rat verweigert, wenn man andere von dem Schatz an guten Ratschlägen fernhält. Damit bringt man eine Quelle zum Versiegen, so dasz dieselbe weder andern zuflieszt noch einem selber Nutzen bringt.’ 2

Kap. 22. Über Gang und Ziel der Studien.

Es erübrigt nun, dasz ich mich über den Gang und die Weise der Studien und über die Ausdauer bei denselben mit einigen Worten verbreite, so gut es meine schwache Kraft gestattet. Es giebt ein zwiefaches Studium: das der Sitten und das der Wissenschaften. Das Studium der Sitten stattet die Menschen mit Tugenden aus, es läszt uns Wohlgefallen finden vor Gott und den Menschen und führt schlieszlich zum glückseligen Leben. Auf dieses Studium soll jeder, der vernunftbegabt ist, aufs eifrigste bedacht sein; denn ohne Sittenzucht nützt auch die umfassendste Kenntnis der Wissenschaften und der Weltweisheit nichts. Es ist nämlich nichts verderblicher als ein gelehrter Mensch, welcher verworfen is, wie dies Laurentius Balla 3 herrlich sagt. Es bieten sich aber eine Menge sittlicher Vorschriften dar. Welche von diesen ein tüchtiger Lehrer seinen Schülern tagtäglich ermahnend vorhalten soll, kann man sehr leicht den Distichen, welche Cato zugeschrieben

1 Seneca, Briefe an Lucilius I, 6, § 3, 4. 2 Ambrosius, geb. um 340, gest. 4. April 397, Bischof von Mailand, einer der vier groszen Kirchenlehrer des Abendlandes. Sein Werk ‘Über die Pflichten’ (libri III de officiis) ist moralisch-ascentischen Inhaltes. 3 Laurentius Balla (1407-1457), berühmter Humanist Italiens. Vergl. unten ‘Scoparius’ Kap. 55.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 112 werden, entnehmen, 1 oder dem Werkchen Senecas über die vier Kardinaltugenden 2 oder dem goldenen Büchlein des Isokrates, 3 oder der ‘Jugend’ des Jakob Wimpheling. 4 Nun aber will ich von den Studien der Wissenschaften sprechen. Zunächst soll Mühe auf die Grammatik verwandt werden; sie ist die Quelle und der Ursprung der freien Künste. Bei der Erlernung ihrer Grundsätze schliesze sich der Knabe an ‘einen’ bewährten Verfasser an, an Perottus, 5 Sulpitius, 6

1 Über Marcus Portius Cato Censorius s. oben Kap. 12. ‘Von Cato sind eine Anzahl Sentenzen, Sinnsprüche oder treffende Antworten in Umlauf gekommen, welche teils durch mündliche Überlieferung sich fortgepflanzt, teils aus seinen Schriften entlehnt, schon zu Ciceros Zeiten zu einer nicht unbedeutenden Sammlung erwachsen waren.’ Vergl. Gerlach: Marcus Porcius Cato, der Censor, S. 49. Diese ‘senteniae Catonis’ wurden in den Schulen des Mittelalters vielfach als Stoff zu Gedächtnisübungen verwertet. 2 Eine Schrift Senecas, die den oben erwähnten Namen führt, hat sich nicht erhalten; auch unter den verloren gegangenen Schriften wird eine solche nicht aufgeführt. Vielleicht liegt eine Verwechslung vor mit Senecas Schrift ‘de tranquillitate animi’ (Von der Gemütsruhe) oder mit seiner Schrift: ‘de constantia sapientis’ (Von der Unerschütterlichkeit des Weisen). 3 Isokrates (436-338), Lehrer der Beredsamkeit zu Athen. Die 21 Reden, welche sich von ihm erhalten haben, sind lediglich Schulreden, d. h. Reden, welche seinen Schülern zum bestimmenden Muster werden sollten. Es fehlt ihnen die erwärmende Begeisterung; in ihrem kunstreichen Satzbau und in dem zierlichen Schmuck des Ausdrucks erscheinen sie gesucht und wirken ermüdend. (s. Scoparius Kap. 25). Agricola hat die Reden des Isokrates für den Schulgebrauch ins Lateinische übersetzt ‘in freier Behandlung, aber mit sicherem Verständnis’. 4 Die ‘Jugend’ des Jakob Wimpheling bietet namentlich in ihrem zweiten Teile eine ungemein reichhaltige Sammlung von Sittenregeln für alle Verhältnisse des Lebens. Vergl. des Herausgebers: Wimpheling, Band XIII der vorliegenden Sammlung, Seite 175-330. 5 Nikolaus Perottus (Niccolo Perotti), geb. 1430, lehrte seit 1451 zu Bologna Rhetorik und Poesie, starb 1480 als Erzbischof von Siponto und Manfredonia. Sein Hauptwerk: Cornucopiae sive commentariorum linguae latinae liber primus (ein zweiter Band ist nicht erschienen) wurde 1479 zu Venedig herausgegeben. Dasselbe bietet unter der Form einer Erklärung von Martials Dichtungen (s. oben Kap. 19) wertvolle grammatisch-exegetische Studien. Ein anderes Werk: Rudimenta grammaticae (Elementargrammatik) erschien 1473 zu Rom. 6 Johannes Sulpitius Verulanus (Giovanni Sulpicio aus Veroli), XV. Jahrhundert, Humanist, lehrte zu Rom. Seine Schrift ‘Praeludia grammatica de octo partibus orationis’ (Über die acht Redeteile) wurde seit 1511 in Deutschland eingeführt. Andere Schriften: De componendis epistolis (Über die Kunst des Briefschreibens); de scansione et syllabarum quantitate (Über Metrik und Prosodie).

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 113

Guarinus von Verona, 1 Pylades, 2 Vespinus, 3 Mancinellus, 4 oder an einen andern berühmten Grammatiker. Während er sich mit der Fallbiegung der Hauptwörter beschädigt, soll er es lernen Hauptwort und Eigenschaftswort mit einander zu verbinden und in Verbindung mit einander in die einzelnen Fälle zu setzen, wie liquidus fons; albus dens; pulchra vena; alma Ceres; levis pluma; flavum mel; triste bellum; clarum lumen u. s. w. Wenn er bis zur Satzlehre gekommen ist, so sollen ihm mehrere gleichmäszig gebaute Sätze, die sich auch ihres Inhaltes wegen als Beispielssätze empfehlen, aus Plautus, Terentius, Cicero, Virgil, Ovid, Gallust, 5 Plinius dem Jüngeren und anderen berühmten Schriftstellern vor Augen geführt werden; dieselben sollen dann durch häufige Wiederholung dem Gedächtnisse gleichsam eingeprägt werden. Auf diese Weise wird in kurzer Zeit viel gewonnen, wenn den kurz gefaszten Regeln auch nur eine mäszige Anzahl von Beispielen zur Seite gestellt wird. Wenn der Schüler späterhin imstande ist, die Darstellung

1 Battista Guarino von Verona (1370-1460), Lehrer zu Verona; seit 1429 Erzieher der fürstlichen Kinder zu Ferrara und Lehrer an der Hochschule, später wieder in Verona thätig. Nach Äneas Sylvius (Pius II.) war er der Lehrer fast aller derjenigen, die sich in jener zeit in den humanitätsstudien auszeichneten. Seine grammatischen Werke sind: Vocabularius breviloquus (Basel 1478) und Grammaticae institutiones (Verona 1487). 2 Pylades von Brescia d. i. Gian-Francesco Bocardo von Brescia gab 1495 eine Grammatik heraus, welche auch in Deutschland Verbreitung gefunden hat. 3 italienischer Humanist. 4 Anton Mancinelli, geb. 1452 zu Velletri, gest. 1505 zu Rom, Grammatiker. Seine wichtigsten Schriften: Thesaurus de varia constructione; Lexicon de verborum significatu. Epitoma seu regulae constructiones. 5 Cajus Sallustius Crispus, geb. 86, gest. 35 v. Chr. schrieb ‘De conjuratione Catilinae’ (Verschwörung des Catilina) und ‘Bellum Jugurthinum’ (Krieg gegen Jugurtha). Seine altertümlende Sprache bietet keine besondere Schwierigkeit für die Behandlung in der Schule (in Tertia bez. in Secunda). Vergl. Lehrplan von Wiese. - Über die anderen im obigen angeführten Schriftsteller der Römer vergl. die vorhergehenden Kapitel (10, 5, 4, 2, 5, 6).

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 114 der Dichter zu verstehen, so soll der Lehrer solche Dichter erklären, welche schamhaften Sitten keinen Eintrag thun, welche vielmehr ebenso sehr dem Sinn des Jünglings durch Lehren edler Menschlichkeit Nahrung geben als seinen Geist durch die Reinheit der Sprache bilden. Der Jüngling studiere selbst mit eifriger Vorliebe den Bau der Verse und die Gesetze der Dichtung. Unter der Anleitung des Lehrers mache er sich in seinem Heiszhunger nach Wissen vertraut mit gewählten, gedankenreichen, sprachlich freien Ausdrücken und Wendungen; er lerne es unterscheiden, was nachahmenswert ist oder nicht. Nachahmend bilde er ähnliche Ausdrücke und Wendungen, die dem Gesetze und dem Geiste der Sprache entsprechen. Nach solchen Beispielen verbessere er das, was er in seinem Ausdruck als unlateinisch erkennt. In ungebundener Rede übe er den Stil seiner sprachlichen Darstellung. Allmählich ist dann überzugehen zu dem Studium der Dialektik, vermöge deren wir das Wahre vom Falschen unterscheiden, und zu den übrigen Lehrgegenständen. Immer indes ist beim Studium eine bestimmte Ordnung zu beobachten; es dürfen nicht verschiedenartige Bücher in ungeregelter Aufeinanderfolge gelesen werden; es ist vielmehr geboten, für die einzelnen Lesungen besondere Stunden anzusetzen. Bezüglich des Wechsels der Bücher und der Überwältigung des Lernstoffes hat vor allem ‘Eines’ hohe Bedeutung, wie sich dies zur Gegnüge und mit Leichtigkeit erkennen läszt. Wenn einer nämlich zu einer bestimmten Stunde einen kleinen Abschnitt lieft oder in eigener Niederschrift auszieht, so wird er schon in einigen Tagen erfahren, dasz er damit vieles gefördert hat. So singt Hesiod: 1

‘Wenn du vielleicht auch nur ganz Kleines dem Kleinen hinzufügst, Aber thust du dies oft - bald wird auch Selbiges grosz sein.’

1 Hesiod, Werke und Tage (auch: ‘Hausregeln’ genannt) 361-362. Hesiod aus Askra in Böotien lebte um 800 v. Chr. Das genannte Werk ‘bildet keine in sich abgeschlossene Einheit, sondern ist nur eine oft sehr lose zusammenhängende Spruchsammlung lehrhafter Art. In seiner Gesamtheit bietet es ein anziehendes Bild der griechischen Vorzeit in ihrer Einfachheit, Natürlichkeit, Sittlichkeit und Häuslichkeit.’ Murmellius führt nicht den griechischen Wortlaut, sondern die von Suarinus Veronensis (s. oben) gegebene Übersetzung dieser Zeilen Hesiods an: ‘Parvula si tentas superadjecisse pusillis Idque frequens peragas magnus cumulatur acervus.’

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 115

Es sind aber vornehmlich zwei Fehler zu vermeiden. Man darf erstlich nicht Unbekanntes für bekannt ansehen und demselben ohne weiteres zustimmen. Wer diesem Fehler entgehen will, wird auf die Betrachtung der Dinge Zeit und Fleisz verwenden müssen. Der andere Fehler besteht darin, dasz man zu groszen Eifer und zu viel Mühe auf dunkle und schwierige Stoffe, die dazu nicht einmal für die Ausbildung nötig sind, verwendet. Daher hüte sich der Jüngling davor, seine Zeit zu verbringen mit dem Blendwerk dialektischer Spitzfindigkeiten und mit den scharfsinnig aufgebauten Trugschlüssen der Sophistik. ‘Es giebt nämlich, wie Aristoteles im achten Buche der Politik schreibt, auch unter den eines freien Mannes würdigen Künsten einige, welche bis zu einem gewissen Punkte zu betreiben ehrenwert ist; sich denselben aber ganz und gar hingeben und dieselben bis zu ihren tiefsten Tiefen ergründen zu wollen, erzeugt eine ruhelose und niedrige Sinnesart.’ 1 Der Mensch strebe daher fortwährend nach höheren Kenntnissen und wende sich frühzeitig den freien Künsten: der Philosophie oder der Rechtswissenschaft, oder der Arzneikunde oder am besten der Gottesgelehrtheit zu. Und wenn er auch nicht allenthalben die gewählte Sprechweise eines Cicero antrifft, so weise er darum die heiligen Schriften nicht von sich. ‘Ich möchte nicht, sagt Hieronymus in einem Briefe an Paulinus, dasz du bei der heiligen Schrift Anstosz nähmest an der Einfachheit und gewissermaszen Alltäglichkeit des Ausdrucks, welche entweder durch Verschulden der Abschreiber oder in Absichtlichkeit so überliefert worden, auf dasz sie um so leichter auf eine ländliche Versammlung belehrend einwirke und auf dasz aus ein und demselben Satze der Gebildete dies, der Ungebildete jenes heraushört.’

Kap. 23. Bisweilen soll mit Unterbrechung der Studien dem Geiste in ehrbaren Spielen Erholung gegönnt werden.

Wie in allen andern Dingen, so soll man auch beim Studium das richtige Masz innehalten. Bisweilen sollen die Schüler von der Arbeit feiern und sich an Spielen, die der Sittenzucht nicht zuwider laufen, ergötzen, worauf sie dann

1 Aristot. Politik. VIII. c. 2 § 1 und 2.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 116 um so frischer zu ihren Studien zurückkehren. Geschmackvoll bringt dies Papinius 1 in vierten Buche der ‘Wälder’ zum Ausdruck:

‘Schlieszt doch den schädlichen Köcher und lockert die Sehne am Bogen

Oftmals der Parther; das Rosz, im olympischen Wettlauf ermüdet, Führet der Lenker des Wagens zum Bad in die Flut des Alpheus. 2 Kräfte, die immerdar thätig, erschlaffen; es stärkt und ermuntert Ruhe zu richtiger Zeit; die Musze läszt wachsen die Kraft uns.’

Mit anmutigen Worten wendet sich Ausonius 3 an seinen Enkelsohn:

‘Lernt der gelehrige Knabe mit Freuden, so mag es genug sein! Feiertag setze die Schule dem Sohn an; besagt doch ihr Namen, 4 Dasz sie geschäftigen Musen vergönnt eine maszvolle Ruhe. Leichter erfolgt dann im Wechsel mit Arbeit erfrischendes Scherzspiel. Lern' langdauernder Arbeit zu setzen beschränkende Grenzen. Pausen sind nötig: der Knabe erschlafft ob der Arbeit des Geistes, Wenn nicht die Tage der Last und die Tage der Lust für ihn wechseln.’

1 Publius Papinius Statius (45-96 nach Chr.) verfaszte Gelegenheitsgedichte (5 Bücher) unter dem Gesamtnamen ‘Silvae’ (Wälder); dieselben sind überwiegend beschreibender Art und sind als Spiegelbilder jener Zeit auch für den Geschichtsforscher nicht ohne Wert. 2 Olympia, die Stätte der Nationalspiele der Griechen, war an dem Flusse Alpheus (Alpheos) gelegen. 3 Decimus Magnus Ausonius, geb. um 300 n. Chr. zu Burdigala (Bordeaux), Erzieher des Kaisers Gratian (geb. 358, reg. von 375-383), verfaszte Briefe, Epigramme, Idyllen. Die berühmteste seiner Idyllen ist ‘Mosella’, um 370 vollendet. Seine gefälligen Dichtungen sind wegen ihrer vollendet schönen Form zu rühmen. In der IV. an seinen Enkel gerichteten Idylle giebt Ausonius ein Bild des damaligen Unterrichtes. 4 Das lateinische schola (Schule) - hergeleitet von dem griechischen σχολή - bezeichnet seinem ursprünglichen Wortsinne nach: ‘Ruhe von der Arbeit’.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 117

Und Ovid:

‘Musze pfleget den Leib und gewährt auch dem Geiste die Nahrung; Beide werden geschwächt, strenget zu sehr man sie an.’1

Seneca schreibt im fünften Briefe an Lucilius: ‘Auch heisze ich dich nicht immer über deinen Büchern und Papieren liegen; man musz auch dem Geiste einige Pausen geben, jedoch so, dasz er nicht erschlaffe, sondern sich erhole. 2

Kap. 24. Die Studien dürfen unterbrochen, aber nicht aufgegeben werden; sie sind während des ganzen Lebens zu betreiben.

Von der Erholung des Geistes ist solcher Gebrauch zu machen, dasz wir bald zu den Studien zurückkehren. Wenn wir aber beim ersten Anblick irgend etwas nicht erfassen, so sollen wir nicht sofort das Buch aus der Hand legen; durch andauernde Betrachtung sollen wir vielmehr unsern Geist diesem Gegenstande zuwenden. Mit Recht sagt Seneca: ‘Es giebt nichts, was sich nicht durch unverdrossene Arbeit und durch sorgfältige und emsige Bemühung überwinden liesze.’ Hüten wir uns daher vor allem davor, dasz wir der Musze oder der täglichen Körperarbeit wegen unser Studium aufgeben. Hören wir vielmehr auf Ovid, welcher im fünften Buche der ‘Klagelieder’ bezeugt, wie grosz der durch Unterbrechung der Studien erwachsende Verlust ist:

‘Füge dazu, dasz mein Geist, so lang unthätig, erschlafft ist, Und viel weniger Kraft hat, als er früher gehabt. Wenn fruchtbares Gefild nicht stets von neuem gepflügt wird, Wird es zuletzt nichts mehr tragen als Dornen und Gras. Schlecht wird laufen das Rosz, wenn es lange stand, und von allen Wird es das hinterste sein, welches die Schranken verliesz. Spalten wird sich der Kahn und übergehen in Fäulnis, Wenn er entzogen lang ist der gewohneten Flut.’

1 Ovid, Pontica I, 4, 21-22. 2 Seneca, Briefe an Lucilius I, 15, 5.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 118

Keiner Arbeit wollen wir uns weigern, auf dasz wir zu wissenschaflich gebildeten Männern werden und auf dasz wir eine süsze Frucht pflücken können, deren Wurzel bitter ist. Geistvoll sagt Hermolaus Barbarus 1 in einem Briefe: ‘Ohne Arbeit, ohne Nachwachen kann niemand zu dem gelangen, was uns von dem gewöhnlichen Haufen scheidet.’ Und wie er selbst bezeugt, war bei den Griechen ein Vers an Stelle eines Sprichwortes in aller Munde:

‘Schlaf und Gelage und Weiber soll fliehn, wer begierig auf Nachruhm.’

Mit herrlichen Worten ermahnt uns auch Horaz in der ars poetica dahin, dasz wir uns der Arbeit nicht entziehen: 2

‘Wer sich im Wettlauf müht, das ersehnte Ziel zu gewinnen, Viel hat der Knabe gethan, hat geduldet, geschwitzt und gefroren, Lüste geflohn und Wein; wer am pythischen Feste 3 die Flöte Spielt, hat gelernt vorher und die Strenge des Meisters gefürchtet.’

Schlieszlich wollen wir im voraus unsern Studien keine Grenze setzen, sondern dem Ratschlage Senecas Folge leisten, der sa sagt: ‘So lange müssen wir lernen, so lange wir unwissend sind oder so lange wir leben, sofern wir dem Sprichwort Glauben schenken, auf dasz wir nach Vollendung der Mühseligkeiten dieses Lebens die süszeste Ruhe und ewige Wonne bei den Himmlischen finden.’

1 Hermolaus Barbarus (Ermolao Barbaro), ein italienischer Humanist, geboren 1453 zu Venedig, studierte zu Verona; 1491 Patriarch von Aquileja; gest. 1493 zu Rom. Er verfaszte unter anderem lateinische Übersetzungen zu Themistios, Dioscorides, zur Rhetorik des Aristoteles; Erläuterungen zur Naturgeschichte des Plinius (Castigationes Plinianae) und zu Pomponius Mela (Castigationes in Pomponium Melam). 2 Horaz, ars poetica (s. oben Kap. 16) 412-415. 3 Zu Ehren des Apollo wurden zu Delphi in jedem fünften Jahre Festspiele, ‘die Pythien’, gefeiert, bei welchen neben gymnastischen Wettkämpfen auch Zitherspieler, Flötenbläser und Sänger um den Siegespreis kämpften.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 119

Scoparius. 1

Vorspruch: ‘Rein will ich's jetzt hier haben: bringet Besen her Und Kehrwisch; die verdammte Spinnenarbeit musz Vernichtet sein; ich will das ganze Kunstgeweb Herunterfegen’ 2

Vorrede.

Johannes Murmellius entbietet Johannes Alexander aus Meppen 3 und Hermann Stüve 4 Grusz und Heil. Ich möchte euch, ihr viellieben Freunde, jetzt nicht anders als mit jenen Worten ansprechen, welche ehedem der Philosoph Heraklit 5 seinen Freunden zur Antwort gegeben haben soll. Als derselbe nämlich einstmals in einen kleinen Bäckerladen

1 Die vollständige Buchaufschrift lautet: ‘Scoparius (Auskehrer, Besen) von Johannes Murmellius, gerichtet gegen die Vorkämpfer der Unbildung und die Verächter der humanistischen Studien, geschöpft aus verschiedenen Schriften berühmter Männer.’ Das Werk wurde übersetzt nach der Ausgabe: Scoparius Joannis Murmellii in barbariei propugnatores et osores humanitatis ex diversis illustrium virorum scriptis ad juvanda politioris literaturae studia comparatus opus novum poëticae cultoribus perjucundum. Coloniae, Quentell, 1518. (Königliche Paulinische Bibliothek zu Münster.) 2 Plautus: Stichus II. Akt. 3. Auftritt. 3 Johann Alexander von Meppen, hervorgegangen aus der Schule zu Deventer, wirkte als Lehrer in Zwoll, später bis zu seinem Tode als Rektor in Osnabrück; mit Murmellius seit der gemeinsamen Studienzeit an der Hochschule zu Köln eng befreundet. 4 Hermann Stüve aus Vechta, Schüler des Murmellius, später Lehrer in Zwoll. 5 Heraklit (aus Ephesus?), lebte um 500-440 v. Chr.; er ward der dunkle (Skoteinos) genannt. Seine Hauptschrift (περì φύσεως, später auch ‘Musen’ genannt) bietet eine solche Fülle schwerwiegender Gedanken, dasz Sokrates sagte, zum Lesen derselben gehöre ein tüchtiger Schwimmer.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 120 eintrat und daselbst wahrscheinlich des erwärmenden Feuers wegen längere Zeit verweilte, wunderten sich einige darüber, dasz er eine so elendige Behausung beträte; als sie ihn nun dessentwegen befragten, gab er ihnen lächelnd zur Antwort: ‘Auch hier sind ja Götter! Denn wenn es auch für mich vielleicht angenehmer wäre, die Muszestunden mit der Erklärung der Dichter oder mit der Pflege philosophischer Studien oder mit Abfassung von Gedichten auszufüllen, so schäme ich mich gleichwohl nicht, hierher herabgestiegen zu sein, wenn schon um mich zu wärmen, so mehr noch um den Fuszboden kehren zu lassen, damit die hungrigen Knaben sich bald hier einfinden können, um die Brötchen, wie sie im Ofen gebacken und auf die Erde säuberlich auf Sägemehl hingelegt worden sind, mit Heiszhunger zu verzehren. Kommt also herbei, meine Freunde, wenn es euch gelüstet, mit mir freundliche Rede zu tauschen. Schämt euch nicht, in dieses “Nest” eingetreten zu sein und meinen Auskehrer abzulösen, wofern derselbe von der Arbeit ermüden sollte. Denn auch hier sind Götter, die da fleisziger Arbeit gütig den Lohn zuwenden wollen. Seht zu, ich bitte euch, mit wie vielerlei und mit wie vielen Besen ich meinen Diener ausgerüstet habe, damit er imstande sei, nicht nur den Fuszboden zu reinigen sondern auch diejenigen zu züchtigen, welche es wagen sollten, denselben zu verunreinigen oder ihn in seinem Reinigungswerke zu verhindern.’ Lebet wohl und grüszt mir in meinem Namen Gerhard Listrius, 1 der sich durch seine philosophischen Studien einen berühmten Namen gemacht hat.

An den verehrlichen Leser.

Traun, es führet verschiedene Besen ein Auskehrer mit sich, Wo nur ein ärmliches Haus zeigt sich erfüllet mit Staub; Unrat verschwinde und nirgends sei häszliches Spinnengewebe, Und wenn verscheuchet der Schmutz, strahle der Boden im Glanz. Leser, dem heilig die Schöpfung der Musen, der scheuvollen Herzens Studien liebt und betreibt, gönne mir freundliche Gunst.

1 Gerhard Listrius aus Rheine, Rektor an der Schule zu Zwoll.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 121

Kap. 1. Vorrede zu dem Schriftchen des Sulpitius Verulanus: 1

über das Geschlecht der Dingwörter.

Oftmals habe ich bei mir die Frage eifrig erwogen und geprüft, wie es zu erreichen wäre, dasz die Knaben leichter bessere Fortschritte in der Kunst der Grammatik machten. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dasz man bei ihnen gröszere Erfolge erzielt, wenn man ihnen statt dunkler und umständlicher Vorschriften klare und kurze Regeln giebt. Derweil ich nun über die Fallbiegung der Dingwörter und über die Behandlung der Zeitwörter und der übrigen Redeteile jüngst zwei in ihrer Darstellung abegkürzte und übersichtlich gehaltene Bücher herausgegeben habe, so wandelte mich die Lust an, über das Geschlecht der Dingwörter und über die Formen der Vergangenheit und des Supinums bei der Zeitwörtern zwei weitere Bände von geringem Umfange zu schreiben. Den Knaben nämlich macht gerade die Lehre von der Biegung und dem Geschlechte der Dingwörter, von den Formen der Vergangenheit und des Supinums und von der Verwendung dieser Formen Schwierigkeit. Wenn ich sie nun über diese Schwierigkeit durch kurze, klare, wirksame Regeln hinweghebe, dann glaube ich meiner Pflicht genug gethan zu haben; dann werde ich von meiner Arbeit Dank und Ruhm gewinnen. Ich wundere mich aber darüber, dasz die Menschen des vorangegangenen Zeitalters oder dasz die alterfahrenen Schulmeister dieses Arbeitsfeld nicht für sich in Anspruch genommen haben; dasz sie es vorgezogen haben, den Jünglingen die Unklarheiten und Irrtümer des Alexander 2 beizubringen. Meine Meinung geht nun dahin, dasz bei einigen die Scheu vor der Arbeit die Schuld trägt, dasz dagegen bei andern Miszgunst gegen die jüngeren Leute die Ursache gewesen ist, insofern sie das, dessen Erlernung ihnen selbst Mühe gemacht hatte, andere lehren wollten, ohne diese Mühe des Lernens zu mindern; auch sollte den Nachlebenden der Weg, sich auszuzeichnen, nicht freigegeben werden. Andere haben sich durch eine Art frommer

1 Über Sulpitius vergl. oben Handbuch c. 22. 2 Über Alexander vergl. oben Handbuch c. 16.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 122

Scheu abhalten lassen, an den Grundzügen des Lernens zu ändern; auf dasz nicht bei einem Volke, welches sich vielleicht dazu überreden liesze, die neue Weise ihre verdiente Würdigung gewinne, verwenden sie wie ehedem so auch jetzt alle überflüssige Zeit auf das Buch des Alexander. Von den Grammatikern kennen sie ihn allein; vornehmlich sein Buch haben sie zum Eigentum; in ihm allein lesen sie nach; die andern rühren sie nicht an; ihn allein erklären sie den Knaben; auf ihn verwenden sie ganze Tage. - Aber wie unklug sind sie bei diesem Thun, wenn ich mich mit ihrer Erlaubnis so ausdrücken soll. Knaben, welche mit Milch und mit leckern, leicht verdaulichen Speisen genährt werden sollen, nähren sie in übel angebrachter Weise mit viel Wermut und mit bäuerlich derben Speisen; sie machen dieselben dadurch kraftlos und miszgestaltet; sie machen sie aufgedunsen statt feist. Man wird nun erwidern, dasz jene leichter ein Gedicht 1 des Alexander als eine Darstellung in ungebundener Rede lernen und behalten. Dies trifft bei vielen zu. Es giebt dagegen auch viele, welche ungebundene Rede leichter als gebundene lernen. Aber es sei dem wirklich so! Auf welche Weise soll es aber möglich sein, dasz die Kunst der Grammatik in Gedichten eine ausführliche und klare Darstellung gewinne? Sie mögen den Alexander wohl gedächtnismäszig kennen. Wenn sie es noch nicht verstehen, so werden sie, - sagt man - allmählich ein Verständnis gewinnen. Wie lange wird dies dann dauern? Bis zum dritten oder bis zum vierten oder bis zum fünften oder bis zum sechsten Jahre? 2 Ich will dir einen Knaben trefflicher Begabung anvertrauen; gleichwohl wird derselbe kein Verständnis gewinnen aus dem in seiner Kürze dunklen Gedichte. Ich gebe dir einen Knaben von trägem Geiste; er wird nie über deinen Alexander hinauskommen. Gieb du mir einen Knaben, gleichviel von welcher Begabung, wenn er sich nur für deinen Alexander geeignet erweist. Ehe drei Jahre vergangen sind, wird er nach dieser neuen Lehrweise die Biegung und das Geschlecht der Dingwörter,

1 Die Grammatik des Alexander war in Verse eingekleidet; vergl. oben Handbuch c. 16. 2 d. h. des grammatischen Studiums.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 123 die Formen der Vergangenheit und des Supinums und die Anwendung dieser Formen bez. den Satzbau besser kennen als der deinige. Dasselbe verspreche auch ich, wirst du einwenden. Du wirst indes dein Versprechen nicht halten. Und es wird bei dem deinigen weder der Ausdruck so gewählt noch die Rede so wortreich sein wie bei dem meinigen. Doch nicht einen einzigen, sondern sehr viele werde ich bei gleichmäszigem Fortschritt unterrichten. Wenn du aber so schnell unterrichten willst, wirst du dies nicht auszuführen imstande sein, es sei denn, dasz du nur wenige unterrichtest, und diese würden dann in Bezug auf anderweitige Kenntnisse ununterrichtet bleiben. Was wirst du mir zur Antwort geben? Wirst du deinem Alexander einen Vorwurf machen? Nein, sagst du. Seine Darstellung ist nämlich fehlerhaft, schwer verständlich, dunkel. Ich frage dich wiederum: sollen die schlechten Schriftsteller gelesen werden? Du verneinst dies. Wenn nun Alexander fehlerhaft und unklar ist, ist er dann nicht ein schlechter Schriftsteller? Warum liesest du also einen schlechten Schriftsteller, wenn nicht aus angebornem Schwachsinn? Siehst du denn nicht, dasz Alexander und gleich ihm einige andere die Grammatik verhunzt und die Geisteskräfte der Menschen entweiht haben? Wir wissen es, wie wenig gebildet die vorherlebenden Menschen waren, bei denen Alexander die erste Rolle spielte; die andern, die vor ihm lebten, waren hochgebildet. Wir Unglückliche sollen den Alexander, die Gräcismen, 1 die ‘modi significandi’ 2 lesen. Damit werden die Jünglinge einge-

1 ‘Gräcismus’ ist der Name eines grammatischen Werkes, welches Eberhard (Evrard), geb. zu Bethune in der Grafschaft Artois, im Jahre 1124 in Form eines Gedichtes (Hexameter vermischt mit Pentametern) herausgegeben hat. Der Name ‘Gräcismus’ entspricht genau genommen nur dem 10. Kapitel, welches eine Reihe von Erklärungen griechischer Wörter enthält. Das Werk will die Wörter nach ihrem begrifflichen Inhalte und nach ihren Begriffsunterscheidungen behandeln. Wie heute der ‘Graecismus’ vorliegt, entspricht er seinem Inhalte nach nicht dem in der Vorrede gekennzeichneten Plane. 2 Auf die ‘modi significandi’ d. h. auf die mit allen Spitzfindigkeiten der Dialektik begründeten Erklärungen und Unterscheidungen der Redeteile und der Wortformen wurde beim grammatischen Studium das Hauptgewicht gelegt. ‘Die Grammatik war eine rein spekulative Wissenschaft geworden, die nicht mehr das thatsächlich Gegebene ins Auge faszte, sondern die Gründe nach den philosophischen Principien erörterte. Mit dem dreizehnten oder vierzehnten Jahre muszten die Schüler in die Spitzfindigkeiten dialektischer Behandlung sich fügen, die ihnen nun auch mit unbarmherziger Strenge eingebleut wurden, aber freilich die entsprechende Vorbildung für die dialektische Behandlung aller Wissenschaften auf den Universitäten gewährten.’ Kämmel: Geschichte des deutschen Schulwesens im Übergange vom Mittelalter zur Neuzeit. 168 f.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 124 bildeter und thörichter werden als sie es früher gewesen sind, ehe sie solches begannen. Und diese Art des Lernens oder besser des Aberglaubens ist den Alten allen unbekannt gewesen. Barro, 1 Cäsar, 2 Quintilian, 3 Palämon, 4 Asper, 5 Probus, 6 Charisius, 7 Phocas, 8 weiterhin, - um auch neuere zu erwähnen - Donatus, 9 Servius, 10 Priscian 11 haben niemals von dieser Weise gehört. O verlorne Zeit! O vergebliche Arbeit! O ihr Geisteskräfte,

1 Marcus Terentius Varro aus Reate (116-27 v. Chr.). Bibliothekar des C. Julius Cäsar, ein sehr fruchtbarer Schriftsteller; gegen 60 Werke sind von ihm nachzuweisen; sein Hauptwerk ‘De lingua latina’ in 25 Büchern; Buch 5-10 erhalten. 2 Cajus Julius Cäsar (100-44 v. Chr.) hat neben seinen ‘Denkwürdigkeiten’ auch grammatische Studien verfaszt: de analogia libri II: 2 Bücher Analogieen. 3 s. Handbuch Kap. 2. 4 Quintus Remmius Palämon aus Vicenza, berühmter Grammatiker zur Zeit der Kaiser Tiberius (14-37) und Claudius (41-54). Seine ‘ars grammatica’ bezeichnen konnte. Juvenal. Sat. VI, 452; VII, 215. 5 Unter dem Namen eines römischen Grammatikers Asper haben sich ‘zwei sehr verschiedene, aber gleich wertlose’ Schriften erhalten. 6 Markus Valerius Probus wird von Sueton (75-100 n. Chr.) unter den angesehensten Grammatikern aufgezählt. Unter dem Namen des Probus hat sich eine ‘ars’ erhalten. 7 Flavius Sosipater Charisius (magister urbis Romae) schrieb für seinen Sohn: ‘institutiones grammaticae’ in 5 Büchern, von denen das letzte bis auf ein Kapitel verloren gegangen ist. 8 Phokas wirkte als Lehrer der Grammatik zu Rom (grammaticus urbis Romae), V. Jahrhundert 2. Hälfte. Seine Werke: ‘ars de nomine et verbo’; vita Virgilii (in Hexametern). 9 Donatus, s. Handbuch Kap. 17. 10 Servius Honoratus (IV. Jahrhundert 2. Hälfte), berühmt durch seine Erklärungen zu Virgil, in welchen er eine Fülle von Stoff aus Geschichte, Geographie und Religions-Altertümern zusammengestellt hat. 11 Priscian lehrte die Grammatik zu Konstantinopel zur Zeit des Kaisers Anastasius (491-518); seine 18 Bücher institutionum grammaticarum bieten ‘das vollständigste und vollendetste Lehrgebäude der lateinischen Sprache’ dar; hochangesehen in der Schulen des Mittelalters.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 125 die ihr euch mit dem Fangen von Fliegen habt abgeben müssen! Doch was soll dies? Wenn nun die Eltern ihre Söhne einmal nur nach Alexander unterrichten lassen wollen! O verderbte Sitten! O ihr unglücklichen Jünglinge! Wehe! Wehe! Weinen solltet ihr und klagen! Denn die Feinheiten der Sprache werden euch vorenthalten, und mehr die Ungebildeten als die Gelehrten wollen über eure Bildung eine Untersuchung anstellen. Doch, ihr Knaben, entschlieszet euch nicht für den Alexander! Verachtet, verwerfet, meidet, flieht diejenigen, die ihn erklären! Geht einer verständlichen und verbesserten Lehrweise nach, auf dasz ihr in kurzer Zeit vieles lernt. Und ich ermahne euch nicht, dasz ihr einzig und allein meine Schriften lesen sollt. Leset vielmehr auch die Schriften anderer, wofern nur dieselben gut sind. Später aber, wenn ihr mit dieser Lehrweise vertraut geworden, werdet ihr ohne Scheu euch auch mit den andern Grammatikern beschäftigen können. Ick zweifle nun nicht, dasz die Anhänger des Alexander gegen mich zu Felde ziehen werden und dasz sie es wagen werden, meine Werke mit ihren Wortklaubereien verwerflich zu machen. Wenn indes diese Streitfrage dem Urteil der Gebildeten anheimgegeben werden wird, so habe ich nichts zu fürchten. Mögen sie mir Verleumdungen und Nachstellungen bereiten; mögen sie toben und schelten; für die Wahrheit bleibt dies ohne Belang. In wenigen Jahren wird Alexander beiseite gelegt werden; er wird aus der groszen Welt verbannt werden in das Land seiner barbarischen Sprache; die Italiener werden dann die lateinische Sprache aus lateinischen und nicht aus barbarischen Schriftstellern erlernen. Ich habe die Überzeugung, dasz ich einen Schritt gethan habe, der den meisten dankenswert erscheinen wird, und zwar in Sonderheit den gelehrten geistreichen Männern, welche mich und mein Streben ohne Anflug von Neid loben und in Schutz nehmen werden gegen diese bethörten Anhänger Alexanders und gegen die Feinde einer feinen Bildung, wenn es solche Menschen geben sollte.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 126

Kap. 2. Brief des Aldus Manutius an die Lehrer der Grammatik. 1

Die Grundzüge der Grammatik der lateinischen Sprache, welche ich vordem verfaszt habe, glaube ich euch, den Erziehern der Jugend und Leitern der Sittenzucht, zum Lesen empfehlen zu dürfen, nicht als ob ich der Meinung wäre, ihr bedürftet meiner Ausarbeitungen - wiewohl Plinius 2 zu sagen pflegte, es sei kein Buch so schlecht, dasz es nicht nach irgend einer Seite Nutzen brächte - sondern damit ihr die etwaigen Irrtümer - sind wir doch Menschen - verbessertet und mich auf diese Fehler in freundschaftlicher Weise hinwieset. Ein zweiter Beweggrund liegt für mich darin, dasz - und ich möchte dies mit eurer Hilfe ausgeführt wissen - dieses Büchlein zum Unterricht und zur Unterweisung dienen soll, insoweit ich nämlich dafür halte, dasz dieses Werkchen ihnen von Nutzen sein wird. Daher möchte ich euch bitten, zunächst dessen eingedenk zu sein, dasz er eure Pflicht ist, derjenigen, deren Unterweisung ihr übernommen habt, euch in der Weise in eurer Mühewaltung anzunehmen, dasz dieselben zugleich Bildung und Reinheit der Sitten sich aneignen. Denn:

‘Lange bewahrt der Topf den Geruch, der als neu ihn durchbalsamt.’ 3

Vieles kommt daher auf die Gewöhnung vom zarten Kindesalter ab an. Und ihr sollt euch nicht allein für die Lehrer und Leiter der Jünglinge, sondern für ihre Eltern halten. Ob ihr nun gut oder schlecht seid, das hat nach meiner Meinung eine solche Tragweite, dasz ich behaupten möchte, alle Güter, alle Übel, die irgendwie in der Welt vorkommen, haben

1 Aldus Pius Manutius (Aldo Pio Manuzio) 1449-1515, aus Bassano (daher Bassianus); Humanist; gelehrter Kenner der griechischen Litteratur, insbesondere der Platonischen Philosophie; als Buchdrucker vornehmlich auf die Verbreitung griechischer Druckwerke bedacht; seine Ausgaben erlangten Weltruf; er verfaszte auch grammatische Schriften: Institutiones grammaticae Graecae; Institutiones Graeco-latinae. 2 Plinius, Briefe III, 5, 10. 3 Horaz, Epist. I, 2, 69.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 127 ihre vornehmlichste Quelle gerade in euch. Denn die Rechtsgelehrten, die Philosophen, die Obrigkeiten in den Städten, die Fürsten, die Herzöge und die Könige, nicht minder Mönche, Priester, Bischöfe, Kardinäle und selbst Päpste, schlieszlich alle, welche auch nur die Buchstabenzeichen kennen gelernt haben, haben ehedem unter eurer Zucht gestanden und sind in ihrer Knabenzeit von euch unterwiesen worden. Eure Tugenden oder eure Laster haben ihren Sitten Nutzen oder Schaden gebracht. Solche Kraft hat die langjährige Gewohnheit, dasz du selbst heilig wirst, wofern du mit einem Heiligen zusammen lebst; lebst du aber mit einem verdorbenen Menschen zusammen, so wirst du selbst verdorben werden. 1 So hat - wie Quintilian berichtet 2 Leonidas, 3 der Erzieher Alexanders, auf diesen gewisse Fehler übertragen, welche dem gewaltigen und groszen Könige seit seiner Unterweisung im Knabenalter dauernd anhafteten. Welch groszen Nutzen daher brave und tugendhafte Lehrer den Städten bringen, vermöchte ich nicht leicht zu sagen; welch groszen Schaden desgleichen leichtfertige und lasterhafte Lehrer anrichten, bin ich überhaupt nicht imstande zu sagen. Deshalb kann es mich nicht genug wunder nehmen, dasz von den Vätern der Knaben und von den Obrigkeiten in den Städten bei der Auswahl der Lehrer auf die Sittenzucht derselben fast gar kein Gewicht gelegt wird. Sie bemerken es nicht, wie sehr es hiervon abhängt, ob gute oder schlechte Menschen in der Bürgerschaft Raum und Bedeutung gewinnen. Denn wie geartet diejenigen sind, welche unterweisen, so geartet werden auch diejenigen sein, welche unterwiesen werden. Sie mögen es wollen oder nicht, mit der Länge der Zeit werden sie dahin kommen. Die Länge der Zeit lehrt den Löwen dem Menschen gehorchen. Mit der Länge der Zeit zernagt ein schwacher Wassertropfen den Felsen. Erkennet also, die ihr lange Zeit hindurch und ohne Unterlasz Jünglinge von zartem und arglosem Gemüte unterweiset, wie sehr ihr den Menschen nützen und schaden könnt. Wenn nun irgend wer seiner Pflicht so wenig eingedenk sein könnte, dasz er die seiner Obhut anvertrauten Lämmer gleichwie ein Wolf zerrisse, wehe! welche Strafe

1 Vergl. Handbuch, Kap. 21. 2 Quintilian de instit. orat. I, 1, 9. 3 Über Leonidas s. Handbuch, Kap. 15.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 128 wird seiner im Jenseits oder gar in kurzer Zeit warten! Diejenigen nämlich, welche so gefährlich sind, dasz sie nicht nur dadurch schaden, dasz sie selbst verdorben sind, sondern auch dadurch, dasz sie andere verderben und mehr durch ihr Beispiel als durch ihr Vergehen schaden, werden frühzeitig vom Tode dahingerafft, auf dasz ihnen die Möglichkeit zu schaden genommen wird, auf dasz sie die Welt nicht verderben. Daher soll man nach Kraft und Vermögen dahin streben, dasz die Jünglinge zu gleicher Zeit sowohl in tugendhaften Sitten als auch in gedeihlichen Wissenschaften unterrichtet werden. Denn das eine ist ohne das andere in keinerlei Weise zu erreichen. Aber wenn bei dem einen oder bei dem andern ein Fehler gemacht werden müszte, so würde mir die Kunst, ein gesittetes Leben zu führen, wichtiger erscheinen als die Kunst, auch das Beste zu lernen. Ich sehe es nämlich lieber, dasz Leute von guten Sitten keine Kenntnis von den Wissenschaften haben, als dasz Leute von schlechten Sitten alles wissen. Solche würden den bösen Geistern gleichen. Wiewohl nämlich diese vieles wissen - denn deshalb ist ihnen von den Griechen der Name ‘Dämonen’ gegeben worden 1 -, so sind sie gleichwohl so schlecht wie nur immer denkbar.

1 Mit ‘Dämon’ bezeichneten die Griechen die Abhängigkeit des Menschen von dem Schicksal, das ihn beherrscht: ‘Dämon ist der stärkste Ausdruck, mit welchem der Grieche des Menschen Schicksal als unentgehbar, als bannend bezeichnet.’ Bei Sophokles bricht Ödipus (Oedipus rex 17) in die Worte aus:

‘Weh! Weh mir! Wohin trägt irrend der Fusz In die Weite der Welt mich, hinaus in die Nacht? Wo flieget der Laut von der Lippe mir hin? Wo stürmst du hinein mich, o Dämon?’

Je nach der Art des Geschickes, das dem Menschen zu teil ward, unterschieden die Griechen einen guten und bösen Dämon (Agathodämon und Kakodämon). So heiszt es bei Theognis (s. Handbüchlein Kap. 21 Anmerkung):

‘Vielen ward nichtsnutziger Geist, doch ein trefflicher Dämon, Welchen, was böse erschien, immer zum Guten gerät. Andere mit gutem Rate und mit nichtsnutzigem Dämon Mühn sich schwer, und es folgt nie das Gelingen dem Thun.’

- Das Wort Dämon ist lautlich und begrifflich auf eine Wortwurzel zurückzuführen, welche die Bedeutung: ‘Wissen’ hat. - Vergl. Lehrs: Populäre Aufsätze aus dem Altertum, vorzugsweise zur Ethik und Religion der Griechen, S. 166-174.

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Ein zweites, dessen ihr nach meinem Wunsche gedenken sollt, besteht darin, dasz ihr die Jünglinge nur solches auswendig zu lernen nötigt, das von hochgelehrten Schriftstellern herrührt, weiterhin keine grammatischen Regeln auszer möglichst kurz und knapp gehaltenen Auszügen, welche sie leicht im Gedächtnisse zu behalten vermögen. Ich finde es löblich, dasz sie auswendig lernen, aber nur in soweit, dasz sie jene Regeln häufig und sorgfältig lesen und die Abwandlung der Nomina und Verba durchaus verstehen. Indem wir sie nämlich nötigen, unsere Ausarbeitungen, sei es in gebundener sei es in ungebundener Rede, mit Absicht und Fleisz in ihr Gedächtnis aufzunehmen, machen wir - wie mir wenigstens scheint - Fehler nach mancherlei Richtung. Was sie mit vieler Mühe auswendig gelernt haben, verlernen sie in wenig Tagen, wie ich dies als Knabe und Jüngling an Regeln, die ich selbst zusammengestellt hatte, häufig erprobt habe. Als ich nämlich mit vielem Eifer die Regeln über das Genus und das Präteritum meinem Gedächtnisse eingepragt hatte, vergasz ich dieselben in sehr kurzer Zeit wieder. Ich glaube, dasz dasselbe auch andern begegnet. Weiterhin lassen sich die Jünglinge durch die Schwierigkeit des Inhaltes wie der Darstellung so weit entmutigen, dasz sie schlieszlich von Schule und Wissenschaft davon laufen und dasz sie die Studien, welche sie nicht mehr lieben können, nunmehr grimmig hassen. Dann werden sie in ebenderselben Zeit, in welcher sie Sachen von uns auswendig lernen, leichter und zweckmäsziger etwas von Cicero oder Virgil oder von andern berühmten Schriftstellern auswendig lernen können, das ihnen zur Zierde und in Zukunft zu nicht geringem Nutzen gereichen möchte. Dasz mir Solches in einem Knabenalter, als ich auf Geheisz des Lehrers das läppische Gedicht des Alexander über die Grammatik meinem Gedächtnisse einprägte, nicht zu teil geworden, beklage ich sehr. Nehmt dazu, dasz wir, gerade weil wir die Werke von Ungebildeten und Barbaren lernend durcharbeiteten, selbst ebenso oder besser noch ungebildeter und barbarischer wurden. Wir pflegen nämlich zumeist schlechter zu werden als diejenigen, denen wir nachahmen. Daher ist Quintilian der Ansicht, dasz von Anfang an und für immer die besten Schriftsteller gelesen werden sollen und unter ihnen vornehmlich derjenige, welcher

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 130 die lichtvollste und gewählteste Darstellung zeigt. Über Cicero giebt er dieses Urteil ab. - Cicero ist, wie mir wenigstens scheint, für Anfänger angenehm und auch genugsam geeignet; er kann nicht nur Nutzen bringen, sondern auch die Vorliebe der Schüler an sich fesseln. Ein jeder soll, wie die Vorschrift des Plinius lautet, Cicero so ähnlich wie immerhin möglich werden. Allein über Fragen dieser Art könnte man eine lange Auseinandersetzung halten. Ich bin hierauf gekommen in meiner groszen Liebe zu den Studierenden. Deshalb bitte ich euch wieder und wiederum: geht mit euch zurate, was ich etwa Gutes gesagt habe. Lebet wohl! Venedig, im Monat Oktober 1507.

Kap. 3. Aus einem Werke des Jakob Wimpheling. 1

Es gab in Deutschland hochgelehrte und weithin berühmte Männer, bevor irgend jemand an Alexander dachte. Und heute sehen wir, dasz die klugen Italiener ihre Kinder in anderer Weise unterrichten. In möglichst kurzer Zeit nämlich werden dieselben mit den Grundzügen der Grammatik bekannt - so viel davon unerläszlich ist für die Verbindung der Wörter. Dann führen sie dieselben zu den Dichtern, zu den Rednern, zu den Geschichtsschreibern. Hier lernen sie zur Genüge die besondere Weise des Lateinischen, die ansprechende Gefälligkeit, die kennzeichnende Eigentümlichkeit des Ausdruckes, Schönheit und Reichtum der Rede, wohlgewählten Gedankengang, Bedeutung schwieriger Wörter, die Kunst andere zu überzeugen. So gewinnen die Söhne der Italiener bald die Fähigkeit, Vorlesungen über die Gesetze, über die Canones, 2 über die hl. Schrift zu hören, und sie treten häufig als Rechtsgelehrte auf in einem Lebensalter, in welchem meine bemitleidenswerten

1 Über Wimpheling s. Handbuch Kap. 22. - Der mitgeteilte Abschnitt ist dem ‘Wegweiser’ - c. 17, 2. Hälfte - entnommen. 2 Das griech. canon (d. i. regula) bezeichnet: Verordnung, Vorschrift. - Nach dem gegebenen Zusammenhange bezeichnet ‘canones’ die Gesamtheit der kirchlichen Disciplinarsätze, Entscheidungen und Verordnungen gegenüber dem weltlichen Gesetze (leges).

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 131

Landsleute noch über den Vokativ, über die fünf Figuren, über die Fehler bei der Apposition sich mit einander streiten und mit den unklaren Bedeutungen des Genetivs und mit den ungereimten Gedichten des Alexander - wofern diese Machwerke wirklich die Bezeichnung ‘Gedichte’ verdienen - in lächerlicher Weise sich beschäftigen. Und während sie an der Hand tüchtiger Lehrer bereits den Lorbeer oder den Doktorhut zu erlangen vermocht hätten, so wissen sie nunmehr nach einem Studium von zehn oder gar von fünfzehn Jahren auf die Frage, was sie denn gelernt hätten, nichts zu antworten als ‘die beiden Teile des Alexander.’ 1 So kommt es, dasz die meisten unserer Landsleute, welche Magister der Philosophie oder der sieben freien Künste heiszen, wenn sie die Hochschule verlassen und mit gebildeten Leuten zusammen treffen, nicht imstande sind, lateinisch zu sprechen oder einen lateinischen Brief zu schreiben oder ein Gedicht in lateinischer Sprache zu verfassen; auch vermögen sie es nicht, eine Geschichte zu erzählen oder die kürzeste geistliche Lesung, die sogenannte Kollekte, 2 zu erklären.

Kap. 4. Aus einem Briefe des Antonius Illuminatus. 3

Antonius Illuminatus spricht sich in einem Briefe an Antonius Mancinellus 4 dahin aus: ‘Es entweiche der Barbar

1 Bei dem Lehrbuch des Alexander Gallus (s. Handbuch Kap. 16) wurden vier Teile unterschieden: I. Formenlehre, Lehre von der Bildung und der Bedeutung der Wörter; II. Syntax; III. Metrik, Prosodie, modulatio vocis und clausulae und die pausationes d. h. Interpunktion: IV. de accentuatione cum novis quibusdam sententiarum additionibus. 2 ‘Kollekte’ heiszt das kirchliche Bittgebet, welches in der hl. Messe unmittelbar der Epistel folgt. - Wimphelings Darstellung beruht auf Ansichten, welche auch die Bewegung unserer Tage, die sich eine Umgestaltung des höheren Schulwesens zum Ziele setzt, sich zu eigen gemacht hat. Die einseitige Betonung des grammatischen Unterrichts in den alten Sprachen wird auch heute als eine Schädigung und eine Gefahr für die Ausbildung des Jünglings nach der Richtung hin betrachtet, ‘für welche ihn Neigung und Beruf im Leben bestimmen sollen’. Vergl. E. v. Richthofen: Zur Gymnasial-Reform in Preuszen p. 13 ff. 3 Für den Herausgeber nach den ihm zugebote stehenden Hilfsmitteln nicht nachweisbar. 4 Antonius Mancinellus s. Handbuch Kap. 22.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 132

Alexander und suche mit seiner barbarischen Sprechweise sein barbarisches Vaterland auf.’

Kap. 5. Über die Irrtümer des Alexander.

Wer so stumpfen Geistes ist, dasz er die Weise des Alexander billigt, der mag das Buch des Pylades Buccard von Brescia 1 lesen, welches die Aufschrift trägt: Bemerkungen des Pylades zu Alexander; er mag das Buch des Nestor Dionysius 2 ‘Über Länge und Kürze der Silben’ lesen; dann wird er von seinen läppischen Ansichten ablassen.

Kap. 6. Gegen die Erklärer des Alexander.

Es nimmt mich wunder, dasz einige nicht ungelehrte Leute in ihren Ungereimtheiten bis dahin gekommen sind, dasz sie der Meinung Raum geben, den Alexander in derselben Weise wie die Krähe des Äsop 3 mit sorgfältig zurechtgelegten Erklärungen schmücken zu müssen. Um wie viel besser hätten sie ihre gute Zeit verwertet, wenn sie es vorgezogen hätten, dan Tändeleien des Alexander den Dienst zu kündigen und für den Gebrauch der Studierenden neue Bücher zu schreiben und die alten Wände mit frischem Stuck und mit neuer Malerei zu schmücken. Was nützt es, hohle Nüsse mit Goldblättchen zu schmücken oder altersmorsche Pfähle mit Purpurdecken zu bekleiden?

1 Boccordo v. Brescia s. Handbuch Kap. 22. 2 Dionysius Nestor, Franziskanermönch aus Novara in Italien, lebte um 1400. Von seinen Werken sind bekannt: Dictionarium; de octo partibus orationis; de compositione eleganti et notandis quibusdam; opus grammaticae. 3 Die Beziehung ist unklar. In der dem Herausgeber vorliegenden Sammlung Äsopischer Fabeln (183 Nr.) ist eine Fabel ‘die Krähe’ nicht enthalten. Auch die daselbst aufgenommenen Fabeln: ‘Die Schwalbe und die Krähe’ Nr. 76, ‘die Krähe und der Rabe’ Nr. 98, ‘die Krähe und der Hund’ Nr. 99 geben keinen Anhaltspunkt zur Deutung obiger Bemerkung.

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Kap. 7. An dieselben über die Frage, was im eigentlichen Sinne ‘curtum’ heiszt.

Aber während diese guten Leute dem Alexander vieles zukommen lassen, empfangen sie von ihm alle mögliche barbarische Sprechweise. Und wenn ich auch hinsichtlich des Übrigen ein Auge zudrücken will, dieses eine kann nicht länger schweigend übergangen werden: jene haben sich selbst eine falsche Ansicht beibringen lassen und bringen gleichfalls eine falsche Ansicht den Knaben bei, wenn sie ohne weiteres eine kurze Silbe ‘verkürzt’ nennen. Die Wörter ‘breve’ (kurz) und ‘curtum’ (verkürzt) sind nämlich begrifflich sehr verschieden von einander. Denn ‘curtum’ bezeichnet im eigentlichen Sinne des Wortes etwas Verstümmeltes, Zerbrochenes, Zerstückeltes; es bezeichnet solches, welches nicht mehr unversehrt ist. So heiszt es bei Persius: 1

‘Tecum habita et novis quam sit tibi curta supellex’ (Wohn' bei dir selbst, dann lernst du, wie ‘knapp’ dein Geräte bestellt sei)

und an einer andern Stelle: 2

‘Et centum graecos curto centusse licentur.’ (Und feilscht hundert Griechen um hundert ‘lumpige’ Heller.)

Und Angelus Politianus 3 schreibt an Mabilius:

‘Altera curta tibi solea est curtumque Mabili Subligar erumpunt hinc digiti hinc veretrum’ (Einer der Schuh' ist ‘zerrissen’, ‘zerrissen’ auch ist dir der Leibschurz; Schau'n dort die Zehen hervor, zeiget die Blösze sich hier).

1 Aulus Persius Flaccus (34-62 n. Chr.) wendet sich in seinen sechs Satiren gegen die Verderbtheit seiner Zeit. Die Waffen für die Bekämpfung derselben entnimmt er den Lehrmeinungen der stoischen Philosophie. Das Verständnis seiner Dichtungen wird erschwert durch die vielfach in abgerissenen Sätzen sich bewegende Darstellung und durch die Vorliebe für ungewöhnliche Wörter. Obige Stelle findet sich Satir. IV, 52. 2 Persius, Satir. V, 191. 3 Angelo Poliziano (1454-1494) berühmter Dichter am Hofe des Lorenzo von Medici, öffentlicher Lehrer des Lateinischen und Griechischen zu Florenz.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 134

Curta und nicht brevis ist also eine Silbe zu nennen, wenn derselben irgend etwas abgeht, was zu ihrer Vollständigkeit gehört, wenn z. B. das Wort Christus ohne das Zeichen für den Hauchlaut geschrieben wird (Cristus) oder wenn es ohne diesen Laut ausgesprochen wird. In ‘Cristus’ ist dann die erste Silbe verkürzt (curta), dieselbe wird, wie bekannt, gleichwohl lang ausgesprochen; wenn man weiterhin z. B. etas statt aetas schreibt und felix statt foelix. Dasz man eine Silbe dieser Art ‘verkürzt’ nennen musz, wird, denk' ich, niemand bezweifeln wollen.

Kap. 8. Sehr viele kommen zu irrigen Ansichten aus Unkenntnis der griechischen Sprache.

Aus Unkenntnis der griechischen Buchstaben hat Alexander manchen Fehler gemacht, so bei den Wörtern idolum, mamona, aptotum, Jacobus und bei andern dieser Art. Es werden dieselben nämlich im Griechischen mit omega ( ω ) geschrieben, und dies bezeichnet immer ein langes o : εìδωλον, μαμωνα, απτωτον, 'Iαxωβος. 1 Mamona ist weder ein griechisches noch ein hebräisches-Wort; es ist vielmehr ein syrisches Wort (wie dies der h. Hieronymus gezeigt hat). Es bezeichnet bei den Syrern dasselbe, was bei den Griechen πλουτος (Plutos, Reichtum) bezeichnet, den jene zum Gott machen. Es ist ein nur in der Einzahl verkommendes Wort männlichen Geschlechtes. Man darf also den Anhängern des Alexander nicht Glauben schenken, die dasselbe zu einem Worte sächlichen Geschlechtes machen.

Kap. 9. Gegen zu wenig vorgebildete Erzieher und Sprachlehrer (nach dem ersten Buche der Unterweisung in der Redekunst von Quintilian).

Von den Erziehern gilt dies in noch höherem Masze: sie sollen entweder gründlich unterrichtet sein - und dies sollte,

1 Die angeführten Wörter bedeuten der Reihe nach: ‘Bild (Götzenbild), Mammon, untadelig, Jakob.’

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 135 wenn es nach meinem Willen ginge, ihre erste Sorge sein - oder sie sollen selbst die Überzeugung gewinnen, dasz sie nicht unterrichtet sind. Denn es giebt nichts Schlimmeres als Leute, die kaum einen Schritt über das Abc hinausgekommen sind und sich dann in eine falsche Meinung von ihrer Wissenschaftlichkeit hineinleben. Denn nur mit Unwillen stehen sie vor denjenigen zurück, die sich Erfahrung im Unterrichten erworben haben. Indem sie auf ein vermeintliches Recht pochen, überheben sie sich nach Art solcher Leute bis zur Aufgeblasenheit und hören in blindem Eifer inzwischen nicht auf, ihre Thorheit zu lehren. Und es bringt ihr Irrtum nicht geringeren Schaden den Sitten. So hat Leonidas, 1 der Erzieher des Alexander - wie dies Diogenes von Babylon 2 berichtet -, auf seinen Zögling gewisse Fehler übertragen, welche jenem mächtigen und groszen Könige von der Zeit seiner Erziehung im Knabenalter anhafteten.

Kap. 10. Nach demselben. 3

Oder würde es König Philipp von Macedonien gewollt haben, dasz sein Sohn Alexander in den Grundzügen der Wissenschaften von Aristoteles, dem gröszten Philosophen jener Zeit, unterrichtet würde, oder würde dieser jene Aufgabe übernommen haben, wenn er nicht der Überzeugung gewesen wäre, dasz er von höchster Bedeutung wäre, wenn die Anfänge der Wissenschaften gerade von dem Tüchtigsten gelehrt würden?

Kap. 11. Nach demselben. 4

Gemäsz unserer Geartung haftet das in uns am festesten, was wir in den Jahren, woselbst wir noch unerfahren waren, in uns aufgenommen haben, gleichwie der Geschmack, womit

1 Über Leonidas s. Handbuch Kap. 15. 2 Über Diogenes von Babylon s. ebendaselbst. 3 Vergleiche Handbuch Kap. 15. 4 Quintilian, de insti. orat. I, 1, 4.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 136 man neue Gefäsze angefüllt hat, denselben für die Dauer verbleibt; auch ist es nicht möglich, die Farbe auszuwaschen, die man der Wolle statt ihres ursprünglich so schlichten Glanzes gegeben hat. Und dies haftet um so fester, je schlechter es ist. Denn das Gute ändert sich leicht zum Bösen; niemals indes wird sich Fehlerhaftes in Gutes umgestalten. Es gewöhne sich daher ein Knabe, so lange es möglich ist, nicht an eine Sprechweise, die er sich wieder abgewöhnen müszte. 1

Kap. 12. Von dem tüchtigsten Lehrer sollen den Knaben die besten Vorschriften gegeben werden. Nach Mapheus Vegius im zweiten Buche ‘Über die Erziehung der Kinder’. 2

Es ist geboten, noch gröszere Sorgfalt 3 auf die Wahl der Lehrer zu verwenden, von welchen der öffentliche Unterricht gehandhabt werden soll, auf dasz dieselben vor allem würdigen Ernst bekunden, auf dasz sie in ihrem ausgezeichnetem Wissen ausgerüstet sind. Denn wie der Säugling an Gesundheit und Kraft um so mehr zunimmt, je reiner und unverdorbener die Milch ist, mit der ihn die Amme nährt, ebenso werden auch

1 Quintilian spricht in diesem Zusammenhange von dem Sprechen-lernen der Kinder. 2 Maffeo Vegio (1406-1458), geb. zu Lodi, daher auch Laudensis genannt; öffentlicher Lehrer der Dichtkunst und der Rechtswissenschaft zu Pavia; später Augustinermönch, gest. zu Rom. Von den vielen Schriften des Maffeo Vegio ist die bedeutendste die Erziehungslehre; de educatione liberorum et eorum claris moribus libri VI. ‘Für eine vernunftgemäsze Erziehung stellt er uns die Weisen des Altertums in Wort und That vor Augen und beleuchtet an ihrem Beispiel die Kunst, weise zu leben und das Zusammensein mit der Mitwelt zu veredeln und zu verschönern; für den religiös-sittlichen Fortschritt des Menschen, für eine christliche Erziehung, entnimmt er seine Grundsätze der Offenbarungswahrheit, der hl. Schrift, den Werken der heiligen Väter und dem lebendigen Beispiel der Heiligen. So ist Vegius' Werk zugleich eine kostbare Ausbeute des heidnischen und christlichen Altertums für die pädagogische Wissenschaft.’ Vergl. Kopp: Mapheus Vegius' Erziehungslehre Seite 20. - Das oben Angeführte ist dem II. Buche Kap. 5 entnommen. 3 Im Vorhergehenden ist bei Vegius die Rede von der Auswahl des Studienortes (lib. II, 3) und der Hofmeister (lib. II, 4).

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 137 die Schüler in Sittenzucht und Wissenschaft um so erfreulichere Fortschritte machen, je reicher das Wissen und je edler die Sitten ihrer Lehrer sind. Es ist daher daran kein Zweifel, dasz man von Anfang an für sie gerade die vorzüglichsten Lehrer auswählen soll; wenn es freilich auch den Anschein haben sollte, dasz zur Unterweisung von unerfahrenen Kindern auch ein mittelmäszig gebildeter Lehrer und, wie man zu sagen pflegt, der erste beste gut genug sei. Denn je gebildeter einer ist, um so klarer und um so leichter faszlich wird er seinen Unterricht gestalten, der für den Geist der Knaben die heilsamste Nahrung bildet; um so sicherer und um so regelrechter werden die Grundlagen des Wissens sein, die er legt; diese Grundlagen werden für immer gerade so beschaffen sein, wie sie gelegt wurden, und ihre anfängliche Festigkeit wird ihnen für alle Dauer verbleiben.

Kap. 13. Nach demselben. 1

Vor allem wird die Sorge des Lehrers dahinzielen, die Schüler in das Lesen guter und bewährter Schriftsteller des Altertums einzuführen. Hierüber ist in unserer Zeit am meisten Klage zu führen. Denn mit der Unwissenheit der Lehrer ist es bis zu dem Punkte gekommen, dasz sie für den Knaben gewisse Ungeheuerlichkeiten von Büchern - nichts kann mit denselben in Bezug auf Abgeschmacktheit, Thorheit und Schlechtigkeit verglichen worden - zum Lernen in die Hand geben, gleich als wenn dies eine durchaus reine und vornehmlich für ihren Geschmack angenehme Milch wäre, während ihnen doch kein schlimmeres und verderblicheres Gift gereicht werden kann. Recht wäre es, wenn solche Bücher in das Land der Sarmaten 2 und noch darüber hinaus gebracht würden, auf dasz dieselben bei freien Menschen auch nicht einmal im Gedächtnisse mehr

1 Masseo Vegio, Erziehungslehre II, c. 18. (1. Abschnitt.) 2 Die Sarmaten bewohnten im wesentlichen das heutige europäische Ruszland - Die tabula Peutingeriana (eine von einem Mönch zu Colmar im Jahre 1265 angefertigte Nachbildung einer um etwa 280 n. Chr. entstandenen Landkarte) zeigt die Wohnsitze der Sarmaten öftlich von den Karpathen.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 138 vorhanden wären, oder dasz sie - und dies wäre noch besser - ganz und gar vernichtet würden und für immer vom Erdboden verschwänden. 1

Kap. 14. Nach demselben. 2

Nicht mit Unrecht sollen daher die Knaben vornehmlich den Virgil gleichsam als den glänzendsten und ehrwürdigsten unter allen Dichtern zur möglichst fleiszigen Lesung in die Hand nehmen.

Kap, 15. Aus dem Briefe des hl. Hieronymus an Läta. 3

Es ist ein Lehrer auszuwählen, dessen Alter, Leben und Verhältnisse gute Gewährleistung geben. Selbst die Behandlung der Anfangsgründe und die Anordnung der Vorschriften klingt anders aus dem Munde eines Gebildeten, anders aus dem Munde eines Ungebildeten. Sie 4 lerne im zarten Alter nicht Dinge, die sie später wieder verlernen musz. Es wird berichtet, dasz die Sprechweise der Mutter von früher Kindheit ab einen groszen Einflusz auf die Beredsamkeit der beiden Gracchen gehabt hat. 5 Die Redefertigkeit des Hortensius 6 er-

1 Maffeo Vegio tritt im weiteren Verlauf des Kapitals 18 für eine besonnene Auswahl von lateinischen Rednern und Dichtern ein. 2 Maffeo Vegio, Erziehungslehre II, c. 18 und c. 19. 3 Die beiden Briefe des Hieronymus an ‘Läta’ und ‘Gaudentius’ sind als ‘Erziehungsbriefe’ hochbedeutsam. Die von Murmellius mitgeteilte Stelle ist dem Briefe an Läta Kap. 2 entnommen. 4 d. h. Marcella, die Tochter der Läta und des Toxotius. Nach der Geburt ihrer Tochter hatte sich Läta an den h. Hieronymus gewandt mit der Bitte um eine Anleitung für die Erziehung derselben. In dem gen. Briefe willfahrt Hieronymus dieser Bitte. 5 Cornelia, die Tochter des Scipio Afrikanus Major, die Mutter des Tiberius und des Cajus Sempronius Gracchus, wird im Altertum wegen ihrer unablässigen Sorge um die Ausbildung ihrer Söhne als ein Muster für die römischen Frauen dargestellt. 6 Quintus Hortensius Hortulus (114-50 v. Chr.) einer der berühmtesten Redner der Römer, der glänzendste Vertreter derjenigen Stilgattung der Rede, die man die ‘asiatische’ hiesz. Vergl. Handbuch Kap. 17 Anmerkung.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 139 starkte auf dem Schosze des Vaters. Schwer wird ausgerottet, was der Geist in sich aufgenommen hat, als er noch ungebildet war. Wer wäre imstande, der purpurfarbigen Wolle die ursprüngliche Farbe wiederzugeben! Ein neues irdenes Gefäsz bewahrt lange Geschmack und Geruch von dem, womit es zuerst angefüllt worden. Die griechische Geschichte erzählt, dasz der mächtige König Alexander, der Bezwinger des Erdkreises, in seinem Gebaren und seinem Gange Fehler seines Erziehers Leonidas1, von denen er als Knabe angesteckt worden, nicht abstreifen konnte. Leicht ist die Nachahmung des Bösen, und schnell ahmt man die Fehler derjenigen nach, deren Tugenden nachzuahmen man nicht vermag.

Kap. 16. Aus Juvenal. 2

‘Dank dir, dasz du den Bürger dem Land und dem Volke geschenkt hast, Wenn du ihn brauchbar machst für das Land und nützlich den Äckern, Nützlich sowohl für des Krieges als auch für des Friedens Geschäfte. Denn viel lieget daran, in was für Wissen und Sitten Du ihn erziehest. Der Storch ernährt die Jungen mit Schlangen Und Eidechsen, die fern vom Weg in den Feldern er auffand. Haben sie Schwingen erlangt, dann suchen sie gleiches Getier auf. Fort von dem Zugvieh eilt und dem Hund und den Kreuzen 3 der Geier Und fliegt hin zu der Brut und bringt ihr Stücke vom Aase; Drum ist auch es der Frasz des erwachsenen Geiers und selbst sich Nährenden, wenn er bereits auf eigenem Baume das Nest macht.

1 s. oben Kap. 9. 2 Juvenal, Satir. XIV. 70-85, - Über Juvenal s. Handbuch Kap. 2 Anmerkung. 3 d. h. die Kreuze auf der Richtstätte mit den Leibern der Mörder und Sklaven.

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Hasen und Rehe jedoch jagt Jupiters Diener 1 und edler Vogel im Walde, von hier kommt hin zu dem Lager die Beute; Aber sobald von dort die gereifete Brut sich erhoben, Eilt, wenn der Hunger sie treibt, sie hin zu der nämlichen Beute, Die sie gekostet zuerst, nachdem durchbrochen das Ei war.’

Kap. 17. Aus dem ersten Buche des Augustinus über den Gottesstaat. 2

Den Virgil lesen die Knaben deshalb, auf dasz die Werke dieses groszen Dichters, welcher unter allen der berühmteste und beste ist, schon in den Jahren zarter Kindheit ihnen bekannt werden und auf das dieselben nicht leicht ihrem Gedächtnisse entschwinden können. Ein Ausspruch des Horaz lautet:

‘War einmal er getränkt noch neu, die Gerüche bewahrt er Lange der Topf.’ 3

Kap. 18. Aus Paul Vergerius. 4

Vor allem ist das zu beachten, dasz nicht nur jene Vorschriften, welche den Fortgeschrittenen gegeben werden, schwerer sind, sondern auch dasz er sich ziemt, die Grundzüge der Wissenschaften gerade von den besten Lehrern entgegenzunehmen. Aus diesem Grunde wollte auch König Philipp von Macedonien, dasz Alexander die Anfänge der Wissenschaften bei Aristoteles erlerne. Und die alten Römer hielten darauf, dasz ihre aus der Schule entlassenen Söhne zuerst an Virgil unterrichtet wurden, und dies mit gutem Grunde; denn das, was dem

1 d. i. der Adler. 2 Augustinus, de civitate Dei lib. I. c. 3. 3 Horaz, epist. I, 2, 69-70. - Übersetzung von Vosz. 4 Peter Paul Vergerius (Vergerio), italienischer Humanist. Kaiser Sigismund, welcher ihn bei Gelegenheit des Konzils von Kostnitz (1414-1417) kennen lernte, veranlaszte ihn zur Herausgabe einer lateinischen Übersetzung von Arrians Geschichte Alexanders des Groszen.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 141 biegsamen Sinne eingepflanzt wird, schlägt tiefe Wurzeln und kann später mit keiner Gewalt mehr ausgerottet werden. Wenn sie sich daher von Anfang ab an die bessern Lehrer anschlieszen, so werden sie sich vornehmlich an dieselben halten und denselben stets gleichsam als ihren Führern folgen. Wenn sie aber irgendwie irrige Ansichten eingesogen haben, so erfordern diese die doppelte Zeit, indem es nämlich damit notwendig wird, dasz sie zuvor diese Irrtümer von sich abschütteln, ehe dasz sie richtige Vorschriften lernen. Deshalb forderte der zu seiner Zeit berühmte Musiker Timotheus von solchen Schülern, welche bei anderen noch nichts gelernt hatten, ein Unterrichtsgeld von bestimmter Höhe; von denen aber, welche bei andern irgend etwas gelernt hatten, forderte er den doppelten Betrag.

Kap. 19. Aus einer Gedichtsammlung des Johannes Murmellius. 1

Vieles liegt dran, bei welchem der Lehrer ein Jüngling als Kind noch Latiums Sprache erlernt. Nimmt er mit kindlichem Sinn Wissen entgegen, wie leicht dann schlüpfet auch Schlechteres unter; Hat solches Wurzel gefaszt, ist es zu reuten gar schwer. Wer giebt der Wolle, die einmal mit Purpur getränkt ist, die alte' Farbe zurück? Wer nimmt schlimmen Geruch dem Geschirr? Lange bewahrt sich der Topf den Geruch, der zuerst ihn erfüllte; Lange verhaucht er den Duft, der ihn nur einmal durchdrang. Jupiters Vogel wendet der strahlenden Sonne den Blick zu; Ist auch nicht flügge die Brut, lehrt er sie Gleiches zu thun. Findet der Storch eine Schlange, so führt er hinzu seine Jungen; Willig drum ähnlichen Frasz schleppt sich das Junge herbei.

1 Diese Sammlung erschien unter der Aufschrift: ‘Epistolarum moralium liber’ wahrscheinlich im Jahre 1513. Zehn ‘moralische Episteln’ sind in diese Sammlung aufgenommen.

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Kap. 20. Ein Distichon des Murmellius.

Tief senkt die Wurzel sich ein von barbarischer Weise der Sprache; Keinerlei Arbeit und Müh' reiszt die beharrliche aus.

Kap. 21. Ein Epigramm des Murmellius zur Mahnung an die Lehrer.

Sprachbarbarei vertreibet mit Zischen aus jeder Lateinschul'! Latiums Sprache indes finde dort Pflege und Ruhm! Eben das Beste ist bildsamen Knaben im Anfang zu bieten, Wann noch lenkbar ihr Sinn, Niedriges niemals indes. Lange bewahrt sich der Topf den Geruch, den als neu er empfangen; Keinerlei Kunst entfärbt Wolle, die einmal gefärbt. Das, was zuerst sie gelernt, behalten für lange die Knaben. Es zu erlernen war leicht; es zu verlernen ist schwer. Thor, der da liebt zu verzehren die Eichel, doch schmackhafte Feldfrucht Speichert sorglich er auf schmutzigem Stallvieh zur Kost.

Kap. 22. Aus des Murmellius ‘Anleitung zur Verskunst’. 1

Nach dem Urteil des Quintilian sollen die besten unter den Dichtern von vornherein und fortwährend gelesen und nachgeahmt werden. Derselbe giebt auch die zweckmäszige Vorschrift, dasz die Knaben alsbald dem besten Lehrer übergeben werden sollen, da es die gröszte Mühe erfordere, Fehler zu beseitigen, die sich einmal festgesetzt. Daher handeln die meisten nicht eben klug, die da ihre jungen Söhne zum Unterrichten wenig wissenden und halbgebildeten Lehrern übergeben, bei

1 Diese Schrift: ‘Tabulae in artis componendorum versuum rudimenta’ (auch: ‘Tabulae de ratione faciendorum versuum’) erschien im Jahre 1515. Es hat dieselbe eine sehr grosze Verbreitung gefunden, wie dies die bis zum Jahre 1658 erschienenen 63 Ausgaben bekunden.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 143 welchen den bedauerswerten Schülern die läppischen Verse des Alexander Gallus, des Jacetus, 1 des Alanus 2 und andere Machwerke dieser Art, welche von Sprachungeheuerlichkeiten, strotzen, erklärt werden. Nicht weniger thöricht sind diejenigen, die da ihre Kinder solchen Lehrmeistern anvertrauen, welche zwanzig oder dreiszig ungleich beanlagten und in ihren Kenntnissen auf verschiedenen Stufen stehenden Knaben dasselbe erklären und einpauken und dabei auf nichts in gleicher Weise als auf ihren Gewinn bedacht sind. Wie sehr die Sprachbarbarei dieser Leute, die sich zwischen den häuslichen Wänden breit macht und gerade gegen die Gelehrtesten in unverschämter Weise loszieht, dem leichtbestimmbaren Sprachgefühl der Knaben schadet, und wie schwachherzige Nachsicht gegenüber diesen Leuten den guten Sitten Eintrag thut, wer vermöchte dies mit wenig Worten darzulegen?

Kap. 23. Aus der Murmellius Sammlung von Epigrammen über die Pflichten der Lehrer und der Schüler. 3

So du reiches Wissen erstrebst, o Jüngling, Der du rühmst dich herrlicher Gaben: ohne Scheu vor Müh', mit Vollkraft des Geistes suche Tüchtige Lehrer.

1 ‘Facetus’ ist der Name einer in den Schulen des Mittelalters vielfach verwandten Sittenlehre in gereimten Distichen. Der Verfasser derselben ist Johannes von Garlandia, s. unten Kap. 53. 2 Alanus (Alain von Lille). Als Geburtsjahr wird 1114? angenommen; gestorben ist er um das Jahr 1202. Seine Bedeutung als philosophischer Denker und Schriftsteller brachte ihm den Namen ‘doctor universalis’ ein. Seine Sprichwörter (proverbia oder parabolae) wurden in den Schulen des Mittelalters eifrig gelesen. In dem Lehrgedicht ‘Anticlaudianus’ schildert er, ‘wie die Natur, nachdem Gott eine völlig reine Seele geschaffen, im Verein mit allen Tugenden einen vollkommenen Menschen gestaltet.’ Die Theologie, die sieben freien Künste werden als Personen eingeführt; die Klugheit unternimmt eine Fahrt durch das Weltall; in diesem Rahmen bietet sich dann ein Aufbau des gesamten Wissens jener Zeit dar. 3 Das Gedicht bewegt sich in sapphischen Strophen; jede besteht aus drei kleineren sapphischen Versen ( _ _ _ | _ | _ _ ) und aus einem adonischen Verse ( _ _ ).

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Wer von schwerer Krankheit geplagt wird, sucht sich Einen Arzt von Ruf; für des Geistes Pflege Wähle Lehrer aus von erprobter Kunst und Klangvollem Namen.

Wem is fremd die glanzvolle Weisheit Platos? Jenen trieb der Eifer nach Wissen fort zum Nil, er sah italisches Land und hört' die Pythagoreer. 1

Gaditaner kamen dereinst nach Rom, um Anzuhören Livius; 2 Peithos 3 Gabe Zog sie hin: es lockte sie seiner Sprache Lieblicher Wohllaut.

Kap. 24. Aus derselben Sammlung.

Als Lehrer der Grammatik sollst du sein ein Bewährtes Beispiel deinen Schülern allen; Dasz sie dies ehren, lieben und befolgen, Das sei dein Streben. Stetig ihres Wohles Sei eingedenk und minder deines Vorteils. Des Kaufmanns Sinn ist auf Gewinn gerichtet; Der Lehrer soll auf Arbeit nur bedacht sein: Gott lohnet nach Verdienst verdienstlich Leben. Beachte stets der Schüler Geisteskräfte, Und der Begabung derer, die dich hören, Such' anzupassen deine Lehre; mindre Des Lehrstoffs überflüss'ge Last den Schwachen: ‘Zuviel’ bringt dir nicht Ehre ein noch Beifall. Der Weg sei mühelos zum Ziel des Lernens; Zum Nützlichen geselle Angenehmes.

1 Über die Reise des Plato s. ‘Handbuch’ Kap. 17. 2 Nach Plinius, Briefe II, 3, 8. - Vergl. Handbuch Kap. 17 Anmerkung. 3 Peitho ( Πειθώ) - Suadela: Die Göttin der Überredung, die Gefährtin der Musen.

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Die höchste Kunst ist: Künste kunstvoll lehren. Enghalsiges Gefäsz wird langsam nur man füllen; Drum acht' darauf, wie viel der Knaben kaum erst Erschloss'ner Geist kann fassen und behalten. Vor allem halte unverbrüchlich Ordnung Als Lehrer inne; inhaltsreiche Kürze Erstrebe wie im Vortrag so in dem, was Den Schülern du zum Niederschreiben bietest. Nich übermäszig ernst darfst du dich zeigen, Willfährig freundlich nur, so weit es billig. Ein heiter Antlitz mildert strenges Handeln.

Kap. 25. Aus derselben Sammlung.

Keinerlei Laster ergeben darf sein das Leben des Lehrers: Achtbaren Lebens Verlauf spieg'le sich wieder in ihm.

Kap. 26. Aus einem Briefe des Rudolf Agricola. 1

Auch dies möchte ich gern erfahren, ob bei euch einer sei, der die Jünglinge in den Nebenstunden unterrichtet, wenn sie der öffentlichen Schule ledig sind, wie dies bei unserm Friedrich der Fall ist, wie du weiszt, und ob der Zutritt jedem Beliebigen frei steht, wofern er das ausbedungene Unterrichtsgeld zahlt. Gar sehr wünschte ich nämlich, dasz derselbe die Unterrichtsgegenstände so schnell wie möglich erlerne; da die Knaben dadurch, dasz sie hierbei länger verweilen, nicht nur Zeit verlieren, sondern auch - wie dies nach deinem Wissen

1 Rudolf Agricola (Huesman), 1443-1485, Schüler der Hieronymianer zu Zwoll (unter Thomas van Kempen), deutscher Humanist der älteren Richtung, welcher in Italien wie in Deutschland gleichen Ruhm gewann. Wiewohl selbst nicht als Lehrer thätig, hat er gleichwohl grosze Bedeutung für das wissenschaftliche Leben seiner Zeit gewonnen. In seinem Werke: ‘libri de inventione dialectica’ erläutert er die allgemeinen Gesetze und Formen des Tenkens, welche auch für wissenschaftliches Arbeiten bestimmend sind, und die Kunst, jede Frage nach allen Beziehungen hin zu ergründen. Kennzeichnend für seine Art und seine Bestrebungen sind namentlich die Briefe des Agricola.

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Von den Unsrigen überliefert wird, - sich mit einem gewissen Abscheu erfüllen und Sprachfehler sich aneignen, so dasz sie in der Folge das Richtigere nicht nur zu spät, sondern auch mit um so gröszerer Mühe erst lernen.

Kap. 27. Aus dem ersten Tausend der Sprichwörter des . 1

Nunmehr komme ich zu einem Sprichwort, welches ich, wie ich mich entsinne, ehedem in meiner Knabenzeit, als ich der griechischen Sprache noch unkundig war, aus einem Briefe meines hochgelehrten Rudolf Agricola gelernt habe. In diesem Schreiben unternahm derselbe es, dem Stadtrat von Antwerpen 2 den Ratschlag zu erteilen, den Sprachunterricht einem

1 Desiderius Erasmus von Rotterdam (1467-1536), der gefeiertste unter den Humanisten Deutschlands. Zu dem 12 jährigen Erasmus hatte einst Rudolf Agricola das ahnungsvolle Wort gesprochen: ‘Du wirst ein groszer Mann werden.’ In der Folge verbreitete sich des Erasmus Ruf und Ruhm ‘von Polen bis nach Spanien, von England bis nach Ungarn.’ Bei einem der Zeitgenossen (Joachim Cameratius 1500-1574) findet sich in Bezug auf ihn diese Darstellung: ‘Man klascht ihm Beifall, wie einem gelehrten künstlerischen Schauspieler auf den Brettern der Studien. Alles bewundert, verherrlicht und preist ihn, was nicht für einen Fremdling im Reiche der Musen gehalten werden will. Wenn einer einen Brief von Erasmus herauslocken kann, so ist sein Ruhm ungeheuer und er feiert den herrlichsten Triumph. Wenn aber einer gar mit ihm spricht und umgeht, so ist er selig auf Erden.’ - Erasmus' ‘Sprichwörter’ (‘Adagia’ - ‘Adagiorum opus’) erschienen im Jahre 1500. Diese erste Ausgabe bot eine blosze Zusammenstellung von mehreren Hundert Sprichwörtern, - ein trockenes, dürftiges Machwerk, wie Erasmus selber darüber urteilt (opus jejunum atque inops). Die Sammlung wurde in den weiteren Ausgaben vervollständigt und mit Erklärungen ausgestattet, so dasz zuletzt mehr denn 4000 Sprichwörter dargeboten wurden. Es sind indes nicht lediglich ‘Sprichwörter’ in der hergebrachten Bedeutung dieses Wortes; es sind nach Erasmus ‘berühmte Worte, deren Inhalt bekannt und deren Ausdruck seltsam und neu ist; ’ es ist ‘die Weisheit der Alten, welche Erasmus aus den griechischen und lateinischen Schriftstellern zusammengetragen hat.’ Die Ausgabe aus dem Jahre 1608 enthielt über 10000 Verse aus griechischen Dichtern als Belegstellen. Die Erklärungen umfassen Wort- und Sacherklärungen, Ähnlichkeiten und Vergleiche, Erzählungen aus der Geschichte und dem Leben des Tages. - Andere von den wichtigeren Schriften des Erasmus werden in den Anmerkungen zu den folgenden Kapiteln erördert werden. 2 Bei Murmellius: ‘senatus Hentuerpilensis.’

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Lehrer anzuvertrauen, welcher die schönen Wissenschaften erlernt habe, und dieses Amt nicht etwa - wie dies gewöhnlich der Fall sei - einem jungen Theologen zu übertragen oder einem Naturforscher, der da Selbstvertrauen genug habe, über jedwede Sache zu sprechen, der aber nicht anzugeben wisse, was wirklich da ist. Was soll ein solcher beim Sprachunterricht thun, - sagt er -, offenbar dasselbe - wie die Griechen sagen, was der Hund im Bade. 1

1 Agricola war (1482) von Barbirianus aufgefordert worden, die Leitung der Schule zu Antwerpen zu übernehmen. In dem Antwortschreiben des Agricola ist die von Erasmus angeführte Stelle enthalten. Dieser Briefe des Agricola ist kennzeichnend für seine Ansicht von der Schule und dem Amte des Lehrers. ‘Eine Schule gleicht einem Gefängnis, wo es Schläge, Thränen und Geheul giebt ohne Ende. Hat irgend etwas einen seinem Wesen widersprechenden Namen, so ist dies die Schule. Die Griechen haben sie ‘schola’ d. i. ‘Musze’ genannt. Die Lateiner nennen sie ‘ludus literarius’ (vergl. Handbuch Kap. 16). Und doch ist nichts der Musze fremder als gerade sie: nichts ist strenger und allem Spiel widerstrebender als gerade sie. Mit mehr Recht hat Aristophanes ihr den Namen φροντιστήριον (curarum sedes): ‘Sorgenort’ gegeben. Ich soll eine Schule leiten? Wo bliebe mir Zeit zum Studieren, wo Ruhe zum Erfinden und Ausarbeiten? Wo eine oder zwei Stunden zum Erklären eines Schriftstellers? Die Knaben nähmen ja meine Zeit gröszenteils in Beschlag und brächten zudem meine Langmut so in Aufruhr, dasz ich der Musze nicht zum Studieren, sondern zum Verschnaufen und um wieder stille zu werden bedürfte.’ - Die Anführung bei Erasmus stimmt mit dem ursprünglichen Wortlaut des Briefes nich in allem überein. - Im Anschlusz an die von Erasmus mitgeteilte Stelle giebt Agricola den an die Stadtväter von Antwerpen gerichteten Ratschlag: ‘Sie mögen einen Mann nach Art des achilleischen Phönix annehmen, der lehren, sprechen und handeln kann; finden sie einen solchen, so sollen sie ihn um jeden Preis an sich ziehen.’ - Dem Achilles war von seinem Vater Peleus beim Zuge gegen Troja ‘Phönix’ als Begleiter und Berater mitgegeben worden. Phönix sollte ihn durch Wort und Beispiel lehren:

‘Beides, beredt in Worten zu sein und rüstig in Thaten.’

Vergl. Homers Ilias IX, 443. - Dieser Brief des Agricola an Barbirianus ist in der Folge als ‘epistola de formandis studiis’ besonders herausgegeben worden, so von Melanchthon. Später erscheint er mit Zusätzen von der Hand anderer unter der Aufschrift: ‘libellus de formando studio vere aureus dignus qui studiorum omnium manibus teratur.’

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Kap. 28. Aus der Schrift des Erasmus: ‘Über die Weise des Studiums’. 1

Daher soll auf beiden Gebieten von Anfang an das Beste, und zwar bei den besten Lehrern gelernt werden. Was giebt es nämlich Thörichteres als mit vieler Mühe etwas lernen, was man nachher mit noch gröszerer Mühe wieder zu verlernen genötigt ist? Aber das Falsche, das sich einmal dem Geiste eingeprägt hat, kann - es ist dies wunderlich zu sagen - nicht mehr ausgerottet werden. Den ersten Platz nun nimmt die Grammatik für sich in Anspruch, und es soll dieselbe den Knaben von Anfang an in doppelter Form vorgetragen werden, griechisch nämlich und lateinisch, nicht nur weil in diesen beiden Sprachen fast alles Wissenswerte überliefert ist, sondern auch weil beide mit einander verwandt sind und weil beide in Verbindung mit einander sich schneller erlernen lassen, als wenn die eine ohne die andere gelernt werden sollte; sicherlich ist dies des Fall, wenn die lateinische ohne die griechische erlernt werden sollte. Quintilian sähe es lieber, wenn wir mit den Griechen den Anfang machten; seine Ansicht ist dabei die, dasz dann dem Unterricht im Griechischen in nicht zu langem Zwischenraume der im Lateinischen folgen sollte, und dasz dann auf beide Sprachen die gleiche Sorgfalt verwandt werden sollte, und zwar sollte dies so geschehen, dasz nicht die eine der andern Eintrag thäte. Deshalb sollen die Anfangsgründe beider Sprachen sogleich, und zwar bei dem besten Lehrer erlernt werden. Wenn die je nach Umständen nicht möglich sein sollte, so hat man sich - dies ist das Zunächstliegende - an die besten Schriftsteller 2 zu wenden: es sollen dies nach meinem Willen zwar nur wenige, aber aus-

1 Die Schrift des Erasmus: ‘de ratione studii et instituendi pueros commentarii’ aus dem Jahre 1512 bietet nicht sowohl eine von allgemeinen Grundsätzen ausgehende und in regelrechtem Aufbau auch die Einzelheiten berücksichtigende Darlegung des Unterrichts nach Ziel und Weise; sie enthält vielmehr eine Zusammenstellung einzelner Vorschriften über die Vorbildung des Lehrers und die Handhabung des Unterrichtes; die vorgetragenen Ansichten sind zum Teil auch für unsere Zeit nicht ohne Bedeutung. 2 d. h. die grammatische Lehrbücher geschrieben haben.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 149 erwählte sein. Jeder wird unter den griechischen Grammatikern den ersten Platz dem Theodor Gaza 1 einräumen. Den zweiten nimmt nach meinem Dafürhalten Konstantin Laskaris 2 mit Recht für sich in Anspruch. Von den lateinischen Grammatikern wäre unter den älteren Diomedes 3 der bedeutendste. Unter den neuern finde ich nicht viel Unterschied, es sei denn dasz Perottus 4 - abgesehen von seinen abergläubischen Ansichten - als der trefflichste unter allen erscheint. Wie ich aber Vorschriften dieser Art als notwendige bezeichne, so möchte ich auch, dasz das, was vorgenommen werden kann, wenn es auch wenig sein sollte, doch zu dem Besten gehöre. Und niemals habe ich dem groszen Haufen der Sprachlehrer gegenüber meine Billigung ausgesprochen, die da die Knaben bei der Einprägung dieser Lernstoffe mehrere Jahre aufhalten. Denn die wahre Kunst richtig zu sprechen wird erworben einerseits durch Umgang und Unterhaltung mit solchen, die sich einer reinen Sprache befleiszigen, mehr aber noch durch anhaltende Lesung ausgewählter Schriftsteller. Von diesen sind an erster Stelle solche vorzunehmen, deren Redeweise nicht nur sprachlich rein ist, die auch durch ihren anziehenden Inhalt den Lernenden zu fesseln vermögen. Unter ihnen möchte ich die erste Stelle dem Lucian, 5 die zweite dem

1 Theodorus Gaza (Gazes), geb. 1398, floh 1430 vor den Türken aus seiner Vaterstadt Thessalonike nach Italien; hier wirkte er namentlich zu Siena und zu Ferrara mit groszem Erfolge als Lehrer der griechischen Sprache; gest. 1478. - Erasmus hat die griechische Grammatik des Theodor Gaza in neuer - lateinischer - Bearbeitung herausgegeben (1516). 2 Konstantin Lakkaris, geb. zu Konstantinopel, einer der griechischen Gelehrten, welche infolge der Eroberung des byzantinischen Reiches eine Zuflucht in Italien suchten. 3 Diomedes, römischer Grammatiker, um 300? n. Chr.; seine ‘ars grammatica’ in drei Büchern ist einem sonst nicht bekannten ‘Athanasius’ gewidmet. In welchem Ansehen diese Grammatik auch noch zur Zeit des Humanismus stand, erhellt daraus, das Hermann Busch im Jahre 1523 eine neue Ausgabe veranstaltete, desgleichen Johannes Cäsarius im Jahre 1525. 4 Über Perottus s. Handbuch Kap. 22. 5 Lucian von Samosata (in Syrien), geb. um 120 n. Chr. gest. 190?, der ‘Voltaire’ seiner Zeit, welcher in vielerlei Schriften bei durchdringender Kenntnis der Verhältnisse seiner Zeit die Vorurteile und Thorheiten seiner Mitmenschen mit ätzendem Spott und geistreichem Witz geiszelte und ihre Laster in rücksichtslosem Freimute mit der ganzen Kraft packender Anschaulichkeit in ihrer abstoszenden Blösze an den Pranger stellte. Es beherrschte ihn das ehrliche Streben, eine Umkehr zur Sittlichkeit und zur Weisheit anzubahnen. Die religiösen Anschauungen seiner Zeit, die des absterbenden Heidentums wie die des mächtig erblühenden Christentums, sind ihm beliebte Zielpunkte seines Spottes. Den beiderseitigen Lehrmeinungen erweist er sich in gleicher Weise abgeneigt. Der ‘gesunde Verstand’ soll ihm das Gesetz der Sittlichkeit finden, ohne dasz derselbe durch eine von auszen kommende Lehre geleitet oder durch ‘innere und ernste Betrachtung’ geklärt werde. - Ein Buch für die Jugend, - auch für die herangereifte, - sind die Schriften Lucians nimmermehr. Die Ansicht des Erasmus von der Verwendbarkeit dieser Schriften in der Schule findet auch heute noch ihre Vertreter, so Köchly, welcher den Vorschlag macht, der Privatlektüre die lucianischen Schriften zu überlassen.

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Demosthenes, 1 die dritte dem Herodot 2 anweisen. Unter den Dichtern möchte ich den ersten Platz dem Aristophanes 3,

1 Demosthenes (384-322 v. Chr.) der gröszte Redner und einer der edelsten Menschen des Altertums. Seine ‘Reden’ sind sprachlich Meisterwerke; sie geben Zeugnis von dem Formenreichtum und der Formvollendung der griechischen Sprache und von der Biegsamkeit, mit welcher dieselbe jedweden Gedanken mit Klarheit und Schärfe in das darstellende Wort einzukleiden vermag. Sie sind stilistisch Meisterwerke; sie sind ein für alle Zeiten unnachahmliches Muster des in der Rede wirksamen Kunstgesetzes, das sie zu einem guten Teil selber geschaffen. Sie sind inhaltlich Meisterwerke; insofern sie das Spiegelbild der Gedanken- und Gefühlswelt eines Mannes sind, welcher, selbst ein sittlich ernster und reiner Charakter, alle seine Kraft einsetzte für die Sittenzucht seiner Mitbürger und für die Freiheit des Vaterlandes. Die Reden des Demosthenes sind bis auf den heutigen Tage Gegenstand des Gymnasialunterrichtes. 2 Herodot' von Halikarnasz, geb. 484, gest. nach 444 n. Chr. schildert in seinen 9 Büchern Geschichte den Kampf der Griechen und der Perser und den Gegensatz zwischen europäischer und morgenländischer Weltanschauung. In zahlreichen Einschaltungen und Abschweifungen zieht er auch die andern Kulturländer der Zeit in den Bereich seiner Darstellung hinein. Sein Werk, welches ein richtiges Volksbuch werden sollte, weist, dieser Geartung entsprechend, viel Wunderbares und Fabelhaftes auf. Über die Verwendbarkeit Herodots für Unterrichtszwecke giebt die heutige Gymnasialpädagogik dieses Urteil ab: ‘Herodots Geschichtsbücher ganz zu lesen, ist unmöglich; sie zu übergehen, wäre ein Unrecht an der Jugend. Wo es sich darum handelt, vor dem Auge der Jugend ein erhebendes Gemälde von der geistigen Grösze Griechenlands aufzurollen, da dürfen die Kämpfe mit den Persern nicht fehlen. Und selbst der jonische Dialekt und die naive Objektivität der Darstellung ist für die Kenntnis der griechischen Litteratur zu bedeutsam, als dasz nicht auch diese Rücksicht dringend die Aufnahme Herodots in die Schullektüre anriete. Diese wird sich aber, so anziehend auch das Übrige sein mag, auf die Perserkriege als den wichtigsten Teil und das Ziel seines Geschichtswerkes beschränken müssen.’ 3 Aristophanes (444?-388? v. Chr.), der ‘Grazienschlingel’ des Altertums; von seinen 54 Lustspielen sind 11 auf uns gekommen. Aristophanes ist berühmt durch die unerschöpfliche Fülle von Witz, Spott und Hohn, womit er in lebenswahren Gestalten die Fehler und Laster seiner Mitmenschen wie die verwerflichen und verderblichen Bestrebungen der Parteien in Athen an den Pranger stellt; er ist berüchtigt durch die rücksichtslose Derbheit, womit er Unterhaltungen und Begebenheiten, die wir als unsittlich bezeichnen müssen, für die Zwecke seiner Darstellung verwendet. Das Altertum wuszte ihn nicht hoch genug zu preisen, wie dies schon aus einem (dem Plato zugesprochenen) Epigramm hervorgebt:

‘Als die Chariten einst einen ewigen Tempel sich suchten, Wählten, Aristophanes, sie deine Seele dazu.’

Allein trotz der lyrischen Stellen von unnachahmlicher Schönheit, trotz der packenden Gewalt des Scherzes, der auch ein verdüstertes Gemüt aufzuhellen vermag, trotz der Meisterschaft der Sprache, die bei aller Kühnheit ihrer Wortschöpfungen immer schön bleibt, sind die Lustspiele des Aristophanes keine Dichtungen für die Hand der Schuljugend.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 151 zweiten dem Homer, 1 den dritten dem Euripides 2 einräumen; denn die Werke des Menander, 3 dem ich sonst selbst den ersten Platz eingeräumt hätte, sind uns verloren gegangen. Wer unter den lateinischen Dichtern hat gröszere Bedeutung für die Handhabung der Sprache als Terentius 4 in seiner ungeschminkten, anmutigen, dem tagtäglichen Sprachgebrauch sich anpassenden Redeweise: Es kommt dazu, dasz derselbe auch in seinem Inhalte der Jugend Anziehendes bietet. Wenn einer der Meinung sein sollte, dasz ihm ausgewählte Lustspiele des Plautus, 5 welche von Unflätigkeiten frei sind, anzuheihen wären, so

1 Ilias und Odyssee, die Dichtungen Homers, ‘welcher im Epos so einzig dasteht, dasz ihm kein andrer Dichter den Vorzug streitig macht.’ bilden heute die Lernstücke der griechischen Lektüre auf dem Gymnasium. 2 Euripides, geb. 485 (480), gest. 405 v. Chr. der dritte der groszen Tragödiendichter Athens, einer der erfindungsreichsten Dichter aller Zeiten. ‘In allem sucht er das menschlich Ansprechende hervorzuheben. Die Unschuld der männlichen Jugend im Tempeldienst, oder ihre frische, spröde Mannhaftigkeit in Jagd und Weidwerk, die Hinneigung der Frauen zu allem Hohen und Edlen hat er mit unvergänglichen Zügen gezeichnet.’ Dramen des Euripides werden auch zu unserer Zeit auf den Gymnasien gelesen. 3 Menander (342-290 v. Chr.), einer der Hauptvertreter der sogenannten ‘jüngeren’ Komödie. Seine für uns verloren gegangenen Werke hatten groszen Einflusz auf die dramatische Dichtung bei den Römern. Manche seiner Stücke sind von römischen Dichtern umgearbeitet worden. 4 Über Terentius und seine Verwendbarkeit in der Schule vergl. Handbuch Kap. 5 und 16. 5 Vergl. Handbuch Kap. 10 und 16.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 152 erhebe ich dagegen keinen Einspruch. Der nächste Platz gebührt dem Virgil, 1 der dritte dem Horaz, 2 der vierte dem Cicero, 3 den fünfte dem Cajus Cäsar. 4 Wenn einer vermeinen sollte,

1 Publius Virgilius Maro, geb. 70 v. Chr. zu Andes bei Mantua, gest. 19 v. Chr., der berühmteste epische Dichter der Römer. Seine ‘Hirtengedichte’ (Bucolica) lehnen sich an das Vorbild der Idyllen des griechischen Dichters Theokrit aus Syrakus (um 280 v. Chr.). ‘Am gröszten ist Virgil da, wo er sein römisches Naturell möglichst ungehemmt von fremden Anschauungen walten läszt, d. h. als Dialektiker in seinem Gedichte von ‘Landbau’ (Georgic. libr. IV). Der Stoff entsprach Virgils eigenen Neigungen und Anschauungen vollständig, uns so bot er seinem Volke, bei welchem der Ackerbau allezeit in hohen Ehren gestanden hat, ein Werk, welches den mit sichtlicher Liebe und Wärme behandelten Stoff in vollendeten Versen und in einer kraftvollen, mustergültigen Sprache darlegte, wie es die Römer bis dahin noch nicht gekannt hatten.’ An Bedeutung steht seine epische Dichtung ‘Äneis’ (12 Bücher) zurück. Virgils Dichterkraft war diesem groszartigen Vorwurf nicht gewachsen, zumal seine besondere Begabung ihn nicht auf die epische Dichtung hinwies. Bei den Römern wurde die Äneis nicht zum mindesten des vaterländischen Gehaltes wegen hoch geschätzt. - Die Dichtungen des Virgil, vornehmlich die Äneis, haben ihren Platz in der Schule behauptet. 2 Quintus Horatius Flaccus, geb. 65 zu Venusia in Apulien, gest. 8 v. Chr. zu Rom. Als Odendichter (4 Bücher Oden, 1 Buch Epoden) ist er ein Nachahmer der Griechen, namentlich des Aläus und der Sappho. Gröszer ist er in seinen Satiren (2 B.) und Episteln (2 B.) ‘Die Satire ist die einzige ganz selbständige römische Dichtart, und Horaz hat sie als Meister gehandhabt, weniger mit dem scharfen Messer des Zornes in die gesellschaftlichen Schäden einschneidend als vielmehr dieselben mit den hundert Nadelspitzen der Ironie prickelnd; stets gehalten, maszvoll lächelnd, aber bei aller Artigkeit und Gutmütigkeit dennoch die Leidenschaften und Lächerlichkeiten der Menschen mit unvergänglicher Wahrheit zeichnend.’ Die Oden des Horaz werden heute wie ehedem auf den höheren Schulen (Prima) gelesen; manche werden dabei übergangen, entweder weil sie das Schicklichkeitsgefühl oder den Schönheitssinn verletzen oder auch ihrer Mittelmäszigigkeit wegen. Auch Satiren und Briefe bleiben nicht ausgeschlossen, eben weil sich in ihnen der Dichter am selbständigsten zeigt. 3 Marcus Tullius Cicero (106-43 v. Chr.); seine Reden und seine philosophischen Schriften, in welchen die lateinische Sprache den Ausdruck ihrer höchsten Vollendung erreicht hat und welche in der Weise ihrer Darstellung bestimmend geworden sind für die Ausbildung der Prosa bei den Römern, gelten noch immer als Schulschriften (Sekunda und Prima). 4 Von Cäsars (s. oben Kap. 1) Schriften werden heute vornehmlich die ‘Denkwürdigkeiten über den gallischen Krieg’ auf den höheren Schulen gelesen.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 153 noch den Sallust 1 anreihen zu müssen, so würde derselbe bei mir nicht eben groszen Widerstand zu gewärtigen haben. Die Beschäftigung mit den genannten Schriftstellern halte ich für ausreichend, um die beiderseitige Sprache kennen zu lernen.

Kap. 29. Aus des Erasmus Buch der Sinnsprüche. 2

Wie die gröszten Ärzte auch Krankheiten von geringerer Gefährlichkeit in der besten Weise heilen, so lehren die kenntnisreichsten Lehrer auch das Geringfügigste in der vorzüglichsten Weise. - Die Bienen bleiben fern von allen welken Blumen. So soll man sich auch nicht mit einem Buch beschäftigen, welches Gedanken enthält, die von sittlicher Fäulnis zeugen. Überhaupt soll man an nichts hinangehen, was sich nicht geschmackvoll und saftreich erweist - Wie verständige Leute nicht ohne weiteres aus jeder Quelle trinken, weil das, was dem einen zum Heile gereicht, dem andern Verferben bringt und diesen oder jenen in Raserei versetzt: so ist es nicht gefahrlos, jedes beliebige Buch zu lesen. Dem einen Buche nämlich entnimmt man Gemütsbewegung, dem andern sinnliche Lust oder bis zum Übermasz gesteigerte Ehrsucht.

1 Über das Leben und die Werke des Sallust s. Handbuch Kap. 22. - ‘Bei Sallust war die Geschichtsschreibung eine Frage sittlicher Erhebung, wodurch er sein besseres Selbst sich und dem Vaterlande zu retten strebte. Drum wählte er Gegenstände, woselbst die sittliche Beurteilung recht eigentlich die Seele der ganzen Darstellung bilden muszte. - Sein strenges Urteil über den sittlichen Verfall des römischen Staates sollte ihn selbst in seinem eigenen Bewusztsein und in den Augen der Bürgerschaft rechtfertigen. Der Irrtum der Jugend sollte nicht das sittliche Bewusztsein des Mannes irre leiten, und ein Denkmal seiner Geistesrichtung sollte ihn der Nachwelt darstellen.’ Vergl. Gerlach: Die Geschichtschreiber der Römer von den ältesten Zeiten bis auf , S. 104. - Über die Verwendung in der Schule s. Handbuch Kap. 22. 2 Bei Murmellius lautet die Überschrift: Ex similibus ejusdem (sc. Erasmi). Im Jahre 1514 veröffentlichte Erasmus sein Werk: ‘Parabolarum sive Similium liber.’ Dasselbe ist eine Sammlung von Sinnsprüchen und Sittenlehren aus den Schriften der Alten, vornehmlich aus den Werken von Aristoteles, Lucian, Plutarch, Theophrast, Xenophon, Plinius, Seneca.

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Kap. 30 Aus den Briefen des Marcus Antonius Sabellicus.1 Marcus Antonius an Jacobus Alsigianus.

Ich wünsche Dir Glück und Heil! Ich erfreue mich, dasz wir ein Söhnlein erhalten haben nach Deinem und meinem Wunsche; ich freue mich für Dich als Erzeuger, für mich als Erzieher. Da dieser Dein Sohn nun ins Leben getreten ist, so ist er Deine Sorge, dasz er am Leben bleibt, die meinige, dasz er einstens ein gutes Leben führt. Dies wird, wie ich hoffe, um so eher geschehen, je gröszer (wie ich höre) die Anzeichen künstigen Fortschrittes bei dem Knaben sind. Denn er lernt, wie ich höre, sehr leicht und er behält das Gelernte so fest, dasz er nach dem Urteil aller nicht sowohl zu lernen als des bereits Gerlernten sich zu erinnern scheint. Aber damit seine Unterweisung sich um so leichter gestalte und damit sein Gedächtnis um so dauerhafter werde, so hast du noch dahin zu streben, dasz er in der Zeit, so lange er noch ein Knabe ist und seines Alters wegen noch nicht bei mir zu verweilen vermag, nichts lerne, was er später wieder verlernen musz. Kaum wirst du es glauben, mein Trauter, welch groszen Schaden solches für einen Geist nach sich zieht, welcher der Bildung noch nicht teilhaftig geworden, welcher noch in dem Anfangsunterricht in den Wissenschaften steht. Es ist daher viel zuträglicher, irgend etwas anderes zu betreiben, als solches dem jugendlichen Geist einzutrichtern, was in gar nicht ferner Zeit zur stillschweigenden Verzweiflung der Lernenden, zuweilen selbst mit Drohungen und Schlägen aus dem Geiste wieder entfernt werden musz. Aber ausreichende Sorge wird, so scheint es, einem Knaben zugewandt, mit dessen Unterweisung einer betraut ist, welcher seinem Munde kein Wort entschlüpfen läszt, das nicht echt lateinisch und geschmackvoll wäre. Gieb Dir deshalb Mühe, dasz der Lehrer Deines Knaben mit Dir eng befreundet sei. Der Lerneifer des Lehrers ist dem Schüler nicht wenig förderlich, mehr doch indes die Gemütsstimmung desselben. Lebe wohl!

1 Marcus Antonius Sabellicus (M. A. Coccius) 1436-1506, Humanist, Bibliothekar der St. Marcusbibliothek zu Venedig. Sein Hauptwerk ist eine ‘Geschichte Venedigs’ (Rerum Venetarum historiae).

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Kap. 31 Aus einem andern Briefe des Sabellicus.

Ich wünsche, dasz er mit gleichem Eifer sich des Griechischen befleiszige, so dasz er täglich etwas, und zwar in griechischer Sprache, schreibt. Ich möchte nicht - um auf die übrige Ausbildung zu kommen - dasz er noch länger bei den grammatischen Untersuchungen sich aufhalte. Es ist die Zeit da, dasz er sich an Wichtigeres gewöhne. Daher möchte ich, dasz ihm Livius 1 oder Lactantius 2 vorgelegt werde, aus denen er mit volleren Zügen die Beredsamkeit schöpfen kann. Genug und übergenug Zeit wird der Grammatik zugewandt werden, wenn man an jedem fünften oder sechsten Tage auf die Besprechung einschlägiger Fragen zurückkommen wird. Die übrige Zeit soll dem Schreiben, dem Sprechen, den Denkübungen, der Redekunst gewidmet sein.

Kap. 32 Der Psalter, die Sprüche Salomonis, das Buch Ecclesiasticus, die Evangelien sollen von den Knaben gelesen werden entgegen der Meinung gewisser Kuttenträger, die ohne Scham und Scheu mehr auf ihren Beutel und auf ihren Gewinn bedacht sind als auf das Schifflein Petri und auf die Tröstung des Nächsten.

Gewisse Kuttenträger, deren Oberhaupt mehr Zank und Streit als die Wissenschaften und die Gelehrten zu lieben scheint,

1 Über Livius s. Handbuch Kap. 17 Anmerkung. 2 Firmianus Lactantius lebte zur Zeit des Kaisers Diokletian (reg. 284-305, gest. 313) als Lehrer der Beredsamkeit zu Nikomedien in Bithynien. Vor dem Jahre 303 ist er Christ geworden. Viele seiner in ungebundener Rede verfaszten Schriften sind verloren gegangen. Aus seiner christilichen Zeit stammen unter anderm: ‘de opificio Dei’, eine Art von Anthropologie, welche den Menschen ‘als Werk Gottes’ zu schildern unternimmt; Divinarum institutionum libri VII: ein Lehrgebäude der Weltweisheit im Geiste des Christentums. Es werden ihm auch Hymnen zugeschrieben; die Urheberschaft derselben ist jedoch zweifelhaft. Die Wahrscheinlichkeit spricht dagegen dafür, dasz er der Verfasser des Lehrgedichtes: ‘de ave Phoenice’, ‘der Vogel Phönix’ (85 Distichen) ist.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 156 bekümmern sich zu sehr um Dinge, die sie nichts angehen. Als sie vernommen hatten, dasz in unserm Gymnasium 1 die Sprüche Salomons und einige Psalmen den der schönen Künste beflissenen Jünglingen vorgetragen wurden, schlugen sie gewaltigen Lärm und verkündeten mit Geschrei, Empörendes hätten sie in Erfahrung gebracht, dasz nämlich in der Schule des Murmellius die heiligen Schriften, die von ihnen selbst nicht einmal verstanden worden, von Knaben gelesen würden; den Hähnen würden Edelsteine und den Schweinen Perlen vorgeworfen. Viel besser würde um die Wohlfahrt der Knaben Sorge getragen werden, wenn ihnen auszer Alexander Gallus 2 und Petrus Hispanus 3 nichts vorgetragen würde. In den Schriften derselben fänden sich die festen Grundlagen der Grammatik und der Dialektik. Unter der wohlbewährten Leitung des Alexander und des Hispanus wären sie selbst das geworden, was sie jetzt darstellten; aus der Unterweisung dieser beiden wären so grosze Meister der Wissenschaft hervorgegangen. Was solche Schwätzer, die in Sachen der Wissenschaft kein Urteil haben, die von irgend einem böotischen 4 Schwein abstammen, von uns denken, kümmert uns nicht im mindesten; aber die Meinung berühmter Männer über diese Fragen wollen wir sorgsam beachten.

Kap. 33 Aus dem Briefe des Hieronymus an Läta über die Erziehung der Tochter. 5

Statt Perlen und serischer 6 Gewandung liebe Deine Tochter die göttlichen Bücher, an welchen ihr nicht das mit bunter

1 d. i. zu Münster. 2 Über Alexander Gallus vergl. Handbuch Kap. 16. 3 Petrus Juliani aus Lissabon, daher ‘Hispanus’ genannt, berühmt als Arzt, Naturforscher und Philosoph; bestieg als Johann XXI. den päpstlichen Stuhl (8. September 1276 bis 20. Mai 1277.) Von seinen Schriften war namentlich das Handbuch der Dialektik: ‘Summulae logicales’ vieil in Gebrauch. 4 Über den Ruf, in welchem bei den Alten Böotien und die Böotier standen, s. Handbuch Kap. 6. 5 Brief an Läta c. 10 - Vergl. oben Kap. 15. 6 Mit ‘Serer’ bezeichneten die Alten vielleicht die Chinesen, jedenfalls ein den Chinesen benachbartes Volk, durch welches ihnen im Handel der ‘serische’ Stoff, d. i. Seide, übermittelt wurde. Dat Tragen ‘serischer’ Gewänder galt als Verschwendung. Noch zu Kaiser Aurelians (270-275) Zeiten wurde Seide thatsächlich mit Gold abgewogen. Vergl. Otto von Schorn: Die Textilkunst S. 13. Es kam dazu, dasz aus ‘serischem’ Stoff Gewänder angefertigt wurden, ‘die nichts verhüllen sollten, und bei denen nicht nur der Körper, sondern selbst die Schamhaftigkeit durchaus keine Hilfe fand.’ Vergl. Seneca: Briefe an Lucilius 90, 21.

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Goldmalerei zierlich geschmückte Pergament, sondern der getreulich verbesserte Wortlaut und die geschickte Anordnung gefallen soll. Zunächst lerne sie den Psalter und erhebe sich an diesen Gesängen zu heiliger Stimmung. Den Sprüchen Salomons entnehme sie Lehren fürs Leben. An der Hand des Buches Ecclesiastes 1 gewöhne sie sich daran, der Güter dieser Welt zu spotten. Im Buche Hiob folge sie dem Beispiel der Tugend und Geduld. Dann gehe sie über zur Lesung der Evangelien, und wenn sie diese aus den Händen legen wird, so möge sie sich in die Apostelgeschichte und die Briefe mit ungeteilter Herzensfreude vertiefen.

Kap. 34 Aus dem Briefe des Hieronymus an den Mönch Rusticus.

Niemals soll dieses Buch Deinen Händen entschlüpfen oder Dir aus den Augen kommen. Der Psalter ist wörtlich auswendig zu lernen.

Kap. 35. Aus der Vorrede des Hieronymus zu den Büchern Salomonis. 2

An den Sprichwörtern (Salomons) lehre den kleinen Sohn und unterweise ihn gleichsam über seine Pflichten durch diese Sinnsprüche. Aus derselben Quelle wird auch manchmal das Mahnwort, welches sich an den erwachsenen Sohn wendet, geschöpft werden können.

1 Ecclesiastes: ‘Der Prediger’ genannt. 2 Hieronymus pflegte bei seiner Bibelübersetzung den einzelnen Schriften besondere Vorreden vorauszuschicken. Die Übersetzung der Salomonischen Schriften ist im Jahre 393 erfolgt.

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Kap. 36. Aus den Erklärungen des Hieronymus zu dem Briefe des hl. Paulus an Titus. 1

Frommes Wissen besteht darin, dasz man das Gesetz kennt, die Propheten versteht, den Evangelien glaubt, mit den Aposteln nicht unbekannt ist.

Kap. 37 Aus dem zwölften Buche der ‘Evangelischen Vorbereitung’ des Eusebius. 2

Da nun die jugendlichen Geister die Lehre der Tugend noch nicht erfassen, so läszt man Spiel und Gesang auf sie einwirken. Mit Recht werden daher bei uns die Hymnen der Propheten von den Knaben gelernt.

Kap. 38 Aus dem zweiten Buche ‘Über die Erziehung der Kinder’ von Mapheus Vegius. 3

Deshalb wird man auch nicht unterlassen dürfen, dan Knaben Abschnitte aus der h. Schrift, die sich für ihr Alter besonders eignen, zum Lesen vorzulegen. Wenn das Lesen dieser Schriften verbunden wird mit dem der heidnischen Schriften, so wird dies nicht geringen Vorteil bringen. Wenn nämlich unsere Vorfahren die Forderung aufstellten, dasz die Knaben zugleich sich mit dem Griechischen und mit dem Lateinischen beschäftigten, auf dasz sie die Weise beider Sprachen in gleichem Masze erfaszten, so scheint eben dieselbe Meinung bezüglich des

1 Die Erklärungen zu den Briefen des hl. Paulus (commentarii in epistolas Pauli) sind von der heutigen Forschung als unecht nachgewiesen; sie lassen pelagianische Lehrmeinungen erkennen. 2 Eusebius von Cäsarea (265-340) einer der bedeutendsten und fruchtbarsten Kirchenschriftsteller: In seiner - griechisch geschriebenen - ‘Evangelischen Vorbereitung in XV Büchern’ erbringt er den Nachweis, wie unendlich erhaben das Christentum und selbst das Judentum gegenüber den Religionen und den philosophischen Lehren des Heidentums dasteht. 3 Buch II Kap. 18. - Vergl. oben Kap. 12.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 159 gleichzeitigen Lesens der heiligen und der heidnischen Schriften angebracht. Falls sie sich zu gleicher Zeit mit der Kenntnis derselben vertraut gemacht haben, so werden die hiermit gewonnenen Vorstellungen um so fester haften und sich später, wenn sie älter geworden sind, gegenseitig in ihrem Gedächtnis hervorrufen. Wer sollte damit nicht einverstanden sein, dasz die Lehrer die erst in den Anfängen der Bildung stehenden Knaben nach dem Alphabet zunächst den Psalter auswendig lernen lassen, da ja durch den ganzen Erdkreis schon Psalmen erklingen und jeder, gelehrt wie ungelehrt, dieselben um der Anrufungen Gottes willen auswendig zu wissen sich bemüht. Wer sollte nicht der Meinung sein, dasz zunächst gerade dieser Lernstoff den Knaben füglicher Weise gleichsam als Milchnahrung dargeboten werden müsse, insonderheit da dieser Lernstoff verständlich, deutlich, mild, leicht und anziehend ist und in ihrem Munde wie in ihrem Herzen in Zukunft für die Dauer Wohnung nehmen möchte! Was bewundern wir ferner die Schaffenskraft der Dichter, die da Liebe und Schmerz und alle übrigen Stimmungen und Leidenschaften der Menschen in einer Weise darzustellenden vermocht haben, dasz es den Anschein gewinnt, als ob man die Handlung erlebe, nicht als ob uns dieselbe im darstellenden Worte vorgeführt werde! Oder ist es uns möglich, etwas Edleres und Göttlicheres zu schauen als jener Sänger der Hebräer, dem es weder an Anmut und Geschmack, noch an Fülle und Kraft, noch an treffender Schärfe der Rede irgend wie fehlt, der Gott den Allerhöchsten mit so gewinnenden Worten zu bitten versteht, dasz er ihn zu bewegen weisz, selbst gegen seinen Willen und fast trotz seines Widerstrebens diesen Bitten Erhörung angedeihen zu lassen? Wenn der Knabe an Jahren so weit herangereift ist, so soll man ihm die Sprüche Salomons, den Ecclesiasticus von Sirach vorlegen. Es kann keine Schrift gefunden werden, welche in höherem Masze als die genannten dazu geeignet und passend wäre, den Knaben Vorschriften fürs Leben zu geben und auf die Gestaltung ihrer Sitten einzuwirken, namentlich in Rücksicht darauf, dasz dieselben an Hieronymus einen feinsinnigen Erklärer gefunden haben.

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Kap. 39. Aus einem Briefe des Johannes Picus von Mirandula an seinen Neffen Johannes Franziscus. 1

Es schliesze sich an die Lesung der hl. Schrift! Wieder und wieder bitte ich Dich, die Fabeln und Tändeleien der Dichter beiseite liegen zu lassen und dieses Buch immer zur Hand zu haben. Du kannst nichts thun, was Gott so wohlgefällig und Dir so heilbringend wäre, als wenn Du Tag und Nacht nicht ablässest, in der hl. Schrift zu lesen. Es ruht in ihre eine himmlische Kraft, die da, selbst lebendig und lebenerweckend, das Herz des Lesers - wofern er nur mit demütigem Sinne die hl. Schrift zur Hand nimmt - mit wunderbarer Gewalt zur göttlichen Liebe umgestaltet.

Kap. 40 Aus einem andern Briefe des Picus von Mirandula.

Inzwischen wende Dich mit Eifer dem Lesen der heiligen Schriften, insbesondere der Lesung der Evangelien zu. Dies hebt oftmals unsern Sinn zu Gott empor, während die Welt und der Teufel Tag und Nacht nicht ruhen, uns durch ihre Verlockungen von Gott abzuziehen.

Kap. 41 Aus dem zweiten Buche des Johannes Franziscus Picus über das Studium der göttlichen und der menschlichen Weisheit.

Wenn Bildung Nutzen in sich trägt und wenn die Vernunft es versichert und das Ansehen heiliger Männer es bestätigt, dasz nichts in höherem Grade zu verabscheuen ist als Unkenntnis der Wahrheit und dasz alle Erkenntnis an sich gut, heilsam und begehrenswert ist: warum sind wir denn so schläfrig und unthätig in der Erforschung der göttlichen

1 Über Picus von Mirandula s. Handbuch Kap. 3. - Johannes Franziscus Picus (Giovanni Franzesco Pico), gest. 1533, der Sohn seines Bruders Galeotto Pico.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 161

Aussprüche, die da alles Wissen und alle Beredsamkeit der Heiden in hervorragendem Masze auch neben dem ihnen eigentümlichen Inhalte darbieten und nach dem Urteile der Heiden selbst noch übertreffen. Welcher Philosoph, frage ich, hat über die Natur der Dinge Vollkommneres zur Darstellung gebracht, als Moses? Hat einer Weiseres und Verständigeres geschrieben, aus dem jeder, der Ungebildete wie selbst der Feingeistige, je nach der Fassungskraft seines Geistes, zu schöpfen vermag? Solches trifft bei keinem der heidnischen Schriftsteller jemals zu. In welchem Geschichtsbuch wird man wahrheitsvollere Darstellung finden als in den göttlichen Aussprüchen? Wo wird man eine deutlichere und schlichtere, eine glühendere und gottbegeistertere Darstellung über die Liebe finden als in den Psalmen, diesen Liedern unter den Liedern? Wo finden sich sittliche Vorschriften in reicherer Fülle und gröszerer Vollkommenheit als im Buche Exodus, im Deuteronomium, in den Sprüchen Salomons und schlieszlich in den Evangelien? Wo zeigt sich eine vollendetere Kunst der Beredsamkeit, und zwar nicht der auf Trug und Schein bedachten, sondern der echten, als bei den Propheten, als bei dem Apostel Paulus?

Kap. 42 Aus der ‘Paraclesis’ des Erasmus von Rotterdam. 1

Dies, sage ich, ist volkstümlich. Wenn die Fürsten gemäsz ihrer Stellung sich hervorthun wollten; wenn die Geistlichen bei ihren Versammlungen und Ansprachen mit Nachdruck auftreten wollten; wenn die Lehrer in den höheren Schulen den Knaben statt jenes Erlernten lieber das, was sie aus den Quellen des Aristoteles 2 und des Averroës 3 geschöpft haben,

1 Erasmus gab 1516 das griechische Neue Testament heraus: Novum Instrumentum (in späteren Auflagen: Testamentum) omne diligenter recognitum et emendatum. Im Anhange war eine lateinische Übersetzung beigegeben und eine Reihe von Anmerkungen, welche mit den weiteren Auflagen an Zahl und Umfang zunahmen. Zwei besondere Schriftchen waren gleichsam als Vorrede oder Einleitung vorangeschickt: ‘Paraclesis sive Exhortatio ad christianae philosophiae studium’ (Ermunterung zum Studium der christlichen Weltweisheit) und: ‘Ratio sive compendium verae theologiae’ (Abrisz der wahren Gottesgelehrtheit). 2 Über Aristoteles s. Handbuch Kap. 1. 3 Averroës (Abul Ibn Roschd) 1126-1198, ein spanisch arabischer Gelehrter, vornehmlich berühmt durch seine Erläuterungen zu den Schriften des Aristoteles. Er hat im Verein mit andern (Ibn Tofeil, Maimonides) ‘die aristotetisch-neuplatonische Philosophie in die Form gebracht, in welcher dieselbe nachher zu den christlichen Scholastikern Frankreichs und Italiens überging, um besonders in letzterem Lande bis in das XVI. Jahrhundert hinein Geltung zu behalten.’ Vergl. Müller, Geschichte des Islam im Morgen- und Abendland II, 651.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 162 beibringen wollten; so würde die Christenheit nicht von diesen fast allerorts ausbrechenden kriegerischen Unruhen in ihrem Frieden gestört werden; so würde nicht alles in unruhiger Bewegung sein, um in einem fast an Wahnsinn grenzenden Eifer mit erlaubten und unerlaubten Mitteln Reichtum zusammenzuscharren; so würden nicht allenthalben die Verhältnisse in Kirche und Staat so viele lärmvolle Zwistigkeiten aufweisen; so würden wir uns schlieszlich nicht lediglich durch Namen und Gebräuche von denjenigen unterscheiden, welche sich nicht zur Weisheit Christi bekennen - wenn anders es vornehmlich an diesen drei Klassen der Menschen gelegen ist, das christliche Leben in seiner Reinheit wiederherzustellen und zu mehren: an den Fürsten und an denen, welche die Pflichten derselben übernommen haben, an den Trägern des obrigkeitlichen Amtes; an den Bischöfen und ihren Stellvertretern, den Priestern; an denjenigen schlieszlich, welche jenes erste Lebensalter in allen Dingen zur gelehrigen Folgsamkeit hinführen sollen.

Kap. 43. Gegen die Verächter der Dichtung.Entnommen dem Briefe des hl. Hieronymus an Paulinus über die Bücher der heiligen Geschichte.

David, den wir unsern Simonides, 1 Pindar, 2 Alcäus, 3

1 Simonides von Keos (559-469 v. Chr.), lyrischer Dichter, gepriesen wegen seiner Elegieen und Dithyramben. 2 Pindar aus Boötien (521-441 v. Chr.) dichtete Oden und Hymnen für Verherrlichung der Sieger in den nationalen Festspielen der Griechen. Quintilian nennt ihn den ‘König der lyrischen Dichter’ (princeps lyricorum), ‘wegen der feierlichen Pracht seines Geistes, wegen der sinnreichen Sprüche, wegen der groszartigen Bilder seiner Rede, wegen der herrlichen Fülle von Gedanken und Worten.’ 3 Alcäus aus Mitylene (612-590 v. Chr.), lyrischer Dichter.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 163 auch Flaccus, 1 Catull 2 und Serenus 3 nennen dürfen, preist Christus auf der Harfe; mit zehnsaitigem Psalter 4 singt er dem von den Toten Aufstehenden entgegen.

Kap. 44. Aus der Vorrede des hl. Hieronymus zum Buche Hiob.

Von Anfang des Buches bis zu den von Hiob gesprochenen Worten bewegt sich im Hebräischen die Darstellung in ungebundener Rede. Von den Worten Hiobs, in denen er spricht: ‘Verloren sei der Tag, an dem ich geboren bin, und die Nacht, da man sprach: Ein Mensch ist empfangen!’ 5 bis zu der Stelle, wo gegen das Ende des Buches geschrieben steht: ‘Darum strafe ich mich selbst und thue Busze in Staub und Asche,’ 6 bewegt sich die Darstellung in Hexametern, die in daktylischen uns spondeischen Versfüszen einherschreiten und die wegen der Eigentümlichkeit der Sprache nicht bei denselben Silben, aber doch für dieselben rhythmischen Zeitabschnitte andere Füsze aufnehmen. Zuweilen gestaltet sich der Rhythmus, auch ohne dasz er auf die Zahl der Füsze achtet, gefällig und wohlklingend; doch wird dies mehr einem Verskundigen als dem einfachen Lehrer zum Bewusztsein kommen. Von dem oben bezeichneten Verse bis zum Ende des Buches wird der kurze und übrig bleibende Abschnitt in ungebundener Redeweise angefügt. Wenn es einem unglaublich erscheinen sollte, dasz bei den Hebräern solche Versmasze zur Anwendung gekommen sind und dasz der Psalter, die Klagelieder des Jeremias und fast alle Dichtungen

1 Flaccus, d. i. Horaz, s. oben Kap. 28. 2 Cajus Valerius Catullus (87-54 v. Chr.) verfaszte kleinere Gelegenheitsgedichte, Epigramme; es haben sich 115 derselben erhalten. Seine Dichtungen gehören zu dem Formvollendetsten, was die römische Dichtkunst geschaffen hat. Vom sittlichen Standpunkte aus müssen gegen dieselben schwere Bedenken erhoben werden. 3 Von einem ‘Septimius Serenus’ ist eine Dichtung ‘opuscula ruralia’ auf uns gekommen. Es wird ihm nachgerühmt, dasz er die metrischen Formen der Griechen mit ‘Anmut und Geschick’ nachgeahmt habe. - Ein ‘Quintus Serenus Sammonicus’ hat ein Lehrgedicht (de medicina) in 1115 Hexametern verfaszt. 4 d. i. ein zitherartiges Saitenspiel. 5 Buch Hiob cap. III, 3. 6 ebendaselbst c. XLII, 6.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 164 der hl. Schrift in ihrem metrischen Bau nach der Weise unseres Flaccus und des griechischen Dichters Pindar, des Alcäus, der Sappho 1 gestaltet sind: der mag nachlesen bei Philo, 2 bei Josephus, 3 bei Origenes 4, bei Eusebius von Cäsarea 5 und auf Grund ihrer Zeugnisse wird er bestätigen, dasz ich Zutreffendes behauptet habe.

Kap. 45 Aus der Vorrede des hl. Hieronymus zu der Chronik des Eusebius. 6

Was giebt es Wohltönenderes als den Psalter, welcher nach der Weise unseres Flaccus und des Griechen Pindar bald in jambischen Versfüszen sich bewegt, bald in alcäischen Versen erklingt, bald die volltönende sapphische Weise wählt, bald selbst halbe Versfüsze nicht verschmäht? 7 Was giebt es Schöneres als die Gesänge des Deuteronomiums und des Isaias? Was

1 Sappho aus Mitylene, lyrische Dichterin, lebt um 600 v. Chr. 2 Philo (24? v. Chr. - 54? nach Chr.) ein alexandrinischer Schriftgelehrter jüdischer Herkunft. Einige seiner an die Glaubensgenossen sich wendenden Schriften haben die Erklärung des mosaischen Gesetzes, vornehmlich der Bücher Genesis und Exodus, zum Inhalt. 3 Flavius Josephus (geb. 37, gest. 93? nach Chr.) verfaszte in griechischer Sprache wichtige Werke über die Geschichte und die Altertümer seiner Stammesgenossen, der Juden, ‘oft genug die Wahrheit selbstsüchtig fälschend.’ 4 Origenes (Adamantius) 185-254, ‘der gelehrteste Mann seines Jahrhunderts,’ Lehrer an der Katechetenschule zu Alexandria. Er hat unter anderm zu den hl. Schriften ‘Scholien’ (kurze Erklärungen einzelner Wörter und Stellen), ‘Kommentare’ (zusammenhängende Erklärungen einzelner Schriften), ‘Homilieen’ (erbauliche Belehrungen) verfaszt. Vieles davon ist verloren gegangen. 5 Über Eusebius vergl. oben Kap. 37. 6 Eusebius von Cäsarea wird seiner geschichtlichen Werke wegen der christliche Herodot genannt. Sein Hauptwerk: ‘Vielfältige Geschichte’ gliedert sich in zwei Teile: ‘Chronographie’ und ‘Synchronistischer Canon.’ Ersteres ist nur durch eine armenische Übersetzung gekannt gworden. Letzteres - von Eusebius bis zum Jahre 326 fortgeführt - ist von Hieronymus ins Lateinische übertragen und bis zum Jahre 378 ergänzt worden. 7 Es sind die nach Alcäus und Sappho (s. oben Kap. 43 und 44) genannten Verse vierzeilige Strophen.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 165 giebt es Gewichtigeres als die des Salomon? Was Vollendeteres als die des Hiob? Und diese Dichtungen bewegen sich alle - wie Josephus und Origenes angeben - in Hexametern und Pentametern.

Kap. 46. Aus Arator. 1

Fremd ist der heiligen Schrift nicht metrische Sprache und Weise: Davids Psalmengesang schmückt sich mit lyrischem Vers; Kleideten doch in daktylischen Versfusz - so lehrt es die Ursprach' - Einst Jeremias und Job ein ihrer Worte Gewalt.

Kap. 47. Aus dem ‘Apologetikon’ des Baptist von Mantua. 2

Derweil gewisse Leute so manchesmal treffliche Männer beschuldigend anfallen, geht mein Wunsch dahin, dasz jene erkennen sollen, wie die hochheiligen Männer unter den Hebräern der alten Zeit nicht nur Verse und Gedichte gelesen, sondern auch verfaszt haben, und wie dieselben selbst Dichter gewesen sind. Allein sie benannten ein Gedicht anders wie wir; häufiger nämlich gebrauchten sie die Bezeichnung: Gesang, Psalm, Hymne statt Gedicht.

1 Arator entstammte einem vornehmen Geschlechte Liguriens. Unter Athalarich (Enkel Theodorichs des Grossen) war er comes domesticorum d.h. Befehlshaber der königlichen Garde. Er trat später in den geistlichen Stand ein, gest. 556. Sein dem Papste Vigilius († 555) gewidmetes Gedicht: historia apostolica (de actibus apostolorum) libr. II (‘Über die Thaten der Apostel’) hat er zu Rom in der Kirche Petri ad vincula öffentlich vorgelesen. Der Vortrag dauerte vier Tage: ‘so häufige Wiederholungen erforderte der laute Beifall der Zuhörer.’ 2 Über Baptist von Mantua j. Handbuch Kap. 13. In dem ‘Apologetikon’ - ‘Verteidigungsschrift’ - tritt er mit Wärme und Schärfe denjenigen entgegen, welche ihm seine Beschäftigung mit den Dichtwerken der Alten zum Vorwurf machten.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 166

Kap. 48 Aus demselben Werke.

O ihr weisen, würdevollen Männer! Diejenigen, denen wir die Leitung der Kirchen anvertrauen möchten, wollen die Gedichte in die Acht erklären. Es sollen die immerwährender Verehrung würdigen Bücher des Moses, des David, des Jeremias, des Hiob geächtet werden! Ach! seid gelassenen Sinnes, ihr Richter, und fällt nicht hastig das Urteil; gönnt einen Aufschub nur um einen Tag! Von auswärts sollen noch Zeugen herbeigeholt werden. Doch wozu dies? Ich bitte euch: zur Tages- und Nachtzeit lesen und singen wir in den Kirchen Gedichte. Ihr selbst seid mitunter dabei anwesend, während gesungen wird: ‘Conditor alme siderum’; ‘Ales diei nuntius’; ‘Aurora lucis rutilat’; ‘Lux ecce surgit aurea’; ‘Aeterna coeli gloria’. 1 Ihr seid, sage ich, dabei, wenn solches und anderes dieser Art gelesen oder gesungen wird. Im stillen schwatzt ihr nach Art der Krähen. Was ihr hört, lobt ihr; ihr räumt ein, dasz Gott an solchen Liedern sein Wohlgefallen hat. Dies sind indes Wercke der Dichter, und die Werke der Dichter wollt ihr verwerfen und vertreiben.

Kap. 49. Aus einem Briefe des Johannes Franziscus Picus an Kaiser Maximilian. 2

So kam es, dasz ich mich dahin entschied, eine Begebenheit, die des Andenkens bei der Nachwelt in so hohem Masze würdig ist, schriftlich zu verzeichnen und in epischen Versen für die Gegenwart zur Darstellung zu bringen. Ich scheute dabei nicht die Schmähungen, wie sie ‘Philosophaster’ auszuteilen

1 Es sind dies Anfänge von Kirchenliedern: ‘Schon ist des Tages Licht erwacht’ (Ambrosius); ‘Der du erschufft der Sterne Pracht’ (Adventslied); ‘Des Tages Herold ruft, der Hahn’ (Prudentius); ‘Des holden Tages Schein erglimmt’ (Osterlied); ‘Des goldenen Lichtes Strahl erwacht’; ‘Des Himmels Zier von Ewigkeit.’ Bei Murmellius sind noch acht andere Liederanfänge angeführt. 2 Über Johannes Franziscus Picus s. oben Kap. 39. - Kaiser Maximilian I. (1493-1519).

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 167 pflegen, die da nicht wissen, dasz in den schriftlichen Niederzeichnungen gerade diejenigen Stellen, welchen das höchste Gewicht beigelegt wurde, von den ersten Zeiten des Altertums her zu ihrer besondern Hervorhebung in Verse eingekleidet zu werden pflegten. Auch sind sie nicht genugsam bei Plato und Aristoteles zu Hause; von dem einen sind Epigramme, von dem andern sind Gedichte verfaszt worden, um über die ‘Vorschriften der Poetik’ mit Stillschweigen hinwegzugehen. 1 Aber selbst die Theologen dürfen weder die kirchlichen Hymnen unberücksichtigt lassen, noch darf es ihnen unbekannt sein, dasz Gregor von Nazianz, 2Hieronymus, Sedulius, 3 Paulinus 4 und andere

1 Die ‘Poetik’ des Aristoteles ist uns erhalten; es ist dies eine Schrift, ‘an deren Deutung im einzelnen wie an der Erklärung ihres Ursprunges und ihrer Beschaffenheit im ganzen sich seit einem Jahrhundert der Scharfsinn der gelehrtesten Philologen und der tiefsten Denker versucht hat.’ Adolf Stahr: Aristoteles' Poetik. Übersetzt und erklärt. S. 3 f. 2 Gregor von Nazianz (s. Handbuch Kap. 17) hat Gedichte verfaszt, die als Streitschriften gegen verschiedene Irrlehrer aufzufassen sind, besonders gegen die Apollinaristen, die auch durch Dichtungen ihre Lehrmeinungen unter dem Volke zu verbreiten suchten. Gregors Gedichte sollen dann auch die heidnischen, sittlich gefährlichen Dichtungen ersetzen. ‘Seine Dichtung ist vielfach nichts anders als in Verse eingekleidete Prosa, matt und weitschweifig.’ Auch ein Drama ‘Der leidende Christus’ wird ihm zugeschrieben. Es ist dasselbe fast ganz aus Stellen der Tragödien Medea, Rhesus, Bacchen, Hippolyt, Troerinnen und Orestes des Euripides und der Cassandra des Lykophron zusammengesetzt. Vielleicht gehört es dem Apollinaris (s. unten) an. 3 Cölius Sedulius, geb. wahrscheinlich gegen Ende des IV. Jahrhunderts auf der Insel Irland, Ort und Zeit des Todes unbekannt. Sein groszes Dichtwerk ‘Mirabilium divinorum libri V’ (Gottes Wunderthaten) - auch ‘carmen Paschale hoc est: de Christi Jesu miraculis’ genannt - bringt alle wunderbaren Begebenheiten des Alten und Neuen Testamentes zur Darstellung: ‘es erreicht an Anmut und Zierlichkeit der Form und der Sprache die altklassischen Muster.’ 4 Drei christliche Dichter sind unter dem Namen ‘Paulinus’ bekannt. Paulinus, Bischof von Aquileja † 2. Januar 804; es werden ihm 4 Kirchenlieder zugeschrieben, darunter das Weihnachtslied: ‘Anbetung in der Höhe und Preis dem Ewigen.’ - Paulinus aus Burdigala (geb. zu Pella 382) verfaszte eine Schilderung des eigenen Lebens in Form eines Dankgebetes von 616 Hexametern ‘Eucharisticon de vita sua’ (im Jahre 465). - Paulinus von Perigueux (Petricordiensis oder Petrocorius), Verfasser eines epischen Gedichtes über das Leben des heil. Martin von Tours.

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Lieder gedichtet haben. Auch sollte es ihnen nicht entgangen sein, dasz Moses der erste gewesen, welcher Gottes Lob in einem Gedichte in Hexametern gesungen hat.

Kap. 50. Aus dem Erklärungen desselben zu dem Hymnus auf die hochheilige Dreieinigkeit.

Es hat viele gegeben, welche die göttlichen Dinge in Form des Gedichtes zur Darstellung gebracht haben. Von den Griechen - auszer den Hymnen des Dionys, 1 welche von demselben veröffentlicht worden sind, deren Art wir aber durchaus nicht kennen - sind es: Gregor von Nazianz, dessen Darstellungen in gebundener und in ungebundener Rede nur mit groszer Mühe gelesen werden können; Nonnos Panopolitanus, 2 welcher eine Umschreibung zu dem Evangelium des hl. Johannes in epischem Versmasze verfaszte; Amphilochius; 3 Apollinaris 4 hat zu den Zeiten Julians 5 die Thaten der Hebräer in einem epischen Gedichte von 24 Büchern zum Ärger des Julian

1 Für den Herausgeber nach den ihm zu Gebote stehenden Hilfsmitteln nicht nachweisbar. 2 Nonnos aus Panopolis gehört dem IV. Jahrhundert an. 3 Amphilochius, Bischof von Iconium, gest. nach dem Jahre 392. Von ihm hat sich ein Gedicht an Seleukus ‘Über die heiligen Bücher’ erhalten. 4 Apollinaris der Jüngere, Bischof von Loadicea, Stifter der Sekte der Apollinaristen, gest. nach dem Jahre 380 (s. Handbuch Kap. 17). Nach Sozomenus (s. unten) historia ecclesiastica V, 18 hat Apollinaris die Geschichte der Israeliten bis auf Saul in ‘homerischen’ Versen besungen. - Sozomenus legt Apollinaris dem Jüngeren eine griechische Übersetzung der Psalmen in Hexametern bei. Die Urheberschaft ist indes zweifelhaft. 5 Kaiser Julian (361-363) suchte das die Herrschaft erringende Christentum zu verdrängen durch Wiederbelebung des durch neuplatonische Lehrmeinungen veredelten Heidentums. In diesem Kampfe gegen das Christentum erliesz er unter anderm den Befehl, dasz hinfort Christen nicht mehr die Stelle von Rhetoren und Grammatikern bekleiden dürften. Er wollte damit die Christen von der wissenschaftlichen Bildung der Zeit ausschlieszen oder dieselben zwingen, von heidnischen Lehrern sich unterweisen zu lassen. Dieses Bestreben Julians wird durch die im Obigen gebrachte Bemerkung, die Dichtung des Apollinaris habe den Ärger Julians hervorgerufen, gekennzeichnet.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 169 zusammengefaszt, wie uns Sozomenus 1 dies überliefert hat, und auszerdem hat er die lyrische Dichtung des Pindar und die Lustspiele des Menander in glücklicher Weise nachgeahmt. 2 Ebenso hat Stephanus 3 ein Trauerspiel über die Kreuzigung Christi gedichtet; Ambrosius von Alexandria; 4 Sophronius; 5 Johannes Damascenus; 6 Christodorus Thebanus; 7 Egnatius von Konstantinopel; 8 Methodius, 9 welcher die Irrtümer des Porphyrius 10 in einem Gedichte widerlegte; und andere in

1 Sozomenus (Salamanes Hermias) lebte im V. Jahrhundert als Scholasticus zu Konstantinopel; er schrieb eine Kirchengeschichte in 9 Büchern (vom Jahre 323-439); die Einleitung von der Himmelfahrt Christi bis zum Untergange des Licinius (323) ist verloren gegangen. 2 Wenn Picus dem Apollinaris dem Jüngeren Hymnen und Lustspiele zuschreibt, so verwechselt er ihn mit seinem Vater Apollinaris dem Älteren. Dieser, ein Grammatiker aus Alexandria, später Bischof von Loadicea, hat biblische Lustspiele nach dem Muster des Menander und Hymnen nach der Weise Pindars gedichtet; dieselben sind nicht auf uns gekommen. Über Menander und Pindar s. oben Kap. 28 und Kap. 43. 3 Bestimmtere Angaben über diesen Dichter hat der Herausgeber nicht ausfindig machen können. 4 Vielleicht soll darunter der hl. Ambrosius von Alexandria, gest. um 250, verstanden werden. 5 Sophronius, Patriarch von Jerusalem, gest. 638. ‘Bei vielseitigem Inhalte sind seine Lieder reich an schönen Bildern: sie bekunden tiefe Empfindung, Frömmigkeit und Zartsinn.’ 6 Johannes Damascenus (676-754), der letzte in der Reihe der groszen Dogmatiker in der morgenländischen Kirche. Er ward der Goldströmende (Chrysorrhoas) genannt, wegen seiner Beredsamkeit oder wegen ‘der in seiner Lehre wie in seinem Leben aufblühenden goldglänzenden Geistesgnade’. Er gehört zu den bedeutendsten Hymnendichtern der griechischen Kirche. 7 s. oben Anmerkung Nr. 3. 8 Ob Ignatius, Patriarch von Konstantinopel (geb. 790? gest. 877)? 9 Methodius, Bischof von Olymp (auch Patara) in Lycien, später Bischof von Tyrus, Gegner des Origenes, stirbt als Märtyrer zu Chalkis auf Euböä entweder 303 (Diokletianische Verfolgung) oder 311 (Maximianische Verfolgung). Von ihm stammt: ‘Symposium decem virginum sive dialogus de virginitate.’ Diesem Werke ist angefügt: ‘Psalm der lampentragenden Jungfrauen’. Fortlage: ‘Hier findet sich die erste jubelvolle, gleichsam jungfräuliche Begeisterung, mit der die Welt das Christentum empfing, ein überschwellendes Entgegenjauchzen, ein Vergessen seiner selbst und der ganzen Welt über dem genaheten Geheimnis.’ 10 Porphyrius (ursprünglich Malchus) der Tyrier, geb. 233 zu Tyrus (oder zu Batanea) lehrte als Anhänger der neuplatonischen Richtung zu Rom bis zum Jahre 304. Er schrieb unter anderm ein 15 Bücher umfassendes Werk ‘Gegen die Christen’. Dasselbe sollte späterhin auf Befehl des oströmischen Kaisers Theodosius II. (408-450) vernichtet werden; so haben sich nur einzelne Sätze in den Schriften der Kirchenväter erhalten. Auch die Gegenschriften des Methodius und des Eusebius sind verloren gegangen.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 170 nicht geringer Zahl, die sich in jeder Art der Dichtung mit Ruhm gedeckt haben. Lateinische Dichtungen verfaszten Juvencus, 1 Sedulius, 2 Arator, 3 Prudentius, 4 Lactantius, 5 Paulinus, 6 deren Werke wohl bekannt sind. Hieronymus hat auch einige Grab-inschriften verfaszt und den Psalter in Hexametern besungen. Hilarius von Poitiers 7 hat nach den Mitteilungen des Hieronymus ein Buch Hymnen verfaszt. Auch der grosze Ambrosius 8

1 Cajus Vettius Juvencus Aquilius lebte zur Zeit Konstantins als Presbyter in Spanien; er verfaszte eine Bearbeitung der neutestamentlichen Geschichte nach dem Evangelium des Matthäus in epischem Versmasz. 2 Über Sedulius s. oben Kap. 48. 3 Über Arator s. oben Kap. 45. 4 Aurelius Prudentius Clemens (348-410?), berühmt als Dichter von Hymnen und Lehrgedichten. Eine seine gröszeren Dichtungen hat den Namen: ‘Apotheosis.’ In diesem in Hexametern verfaszten Lehrgedicht verteidigt Prudentius die kirchliche Lehre von der Dreieinigkeit und insonderheit die Lehre von Christi Person und Würde gegen die Anfechtungen der Irrlehrer, namentlich gegen die Sabellianer und die Patripassianer, gegen die Ebioniten und die Manichäer. Über die Hymnendichtung des Prudentius vergl. Herder, Sämtliche Werke zur schönen Litteratur und Kunst XII, 192, 221. Den Dichtungen des Prudentius wird nachgerühmt: ‘Bilderreiche, lebendige Darstellung, anspruchslose Einfalt und Klarheit, mächtiger Schwung der Empfindung und der Einbildungskraft, Kühnheit und Kraft der Gedanken und des Ausdrucks.’ 5 Über ‘Lactantius’ s. oben Kap. 31. 6 Über ‘Paulinus’ s. oben Kap. 49. 7 Hilarius, Bischof von Poitiers, daher: Pictaviensis (auch der ‘Bekenner’ genannt), geb. um 310, Bischof seit 352, gest. 366. ‘Durch Thaten, Leiden und Schriften wurde er der Athanasius des Abendlandes’. Er ist der erste bedeutende Hymnendichter des Abendlandes. 8 Über Ambrosius s. Handbuch Kap. 21. - Er ist der Begründer des abendländischen Kirchenliedes. Von den vielen Hymnen, die man ihm zuweisen möchte, sind wenigstens zwölf echt. Augustinus schildert den Eindruck der Gesänge des hl. Ambrosius: ‘Wie habe ich geweint unter deinen Hymnen und Gesängen, heftig bewegt von den Stimmen, die in deiner Kirche lieblich erschallten. Die Laute ergossen sich in mein Ohr, die Wahrheit träufelte in mein Herz und es entbrannte das Feuer der Andacht; die Thränen rannen mir und mir ward so wohl in ihnen.’ Bekenntnisse IX, 4.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 171 hat Hymnen gedichtet. Desgleichen hat Severinus Boëthius 1 in seine ‘Tröstung der Philosophie’ verschiedene Gedichte eingeflochten. Ich übergehe den Damascus, 2 den Licentius, 3 Beda, 4 Hrabanus, 5 Hildebert von le Mans 6 und andere in nicht geringer Zahl - um nicht ein vollständiges Verzeichnis vorzuführen -, die da alle in verschiedener Weise und in verschiedenartiger Dichtung die Religion Christi im Gesange verherrlicht haben.

1 Anicius Manilius Severinus Boëthius, ein wegen seiner Gelehrsamkeit und seiner edlen Gesinnung hochberühmter Redner und Philosoph; geb. 478; gegen Ende der Regierung des Ostgotenkönigs Theodorich des Groszen ward er in den Kerker geworfen; 524 (525) wurde er hingerichtet. Im Kerker verfaszte er die Schrift, die am meisten dazu beigetragen hat, seinen Namen bekannt zu machen: ‘Tröstung der Philosophie’ (libri V Philosophiae consolationis oder de consolatione Philosophiae). 2 Damascus, Papst, geb. 306, Papst seit 366; gest. 384. Von ihm haben sich 40 kleinere Gedichte erhalten, meist Grabinschriften auf Märtyrer, Weiheinschriften für Kirchen und Taufkapellen, auch Kirchenlieder wie: ‘Deus sacrati nominis’; ‘Martyris ecce dies Agathae’. 3 Licentius, Sohn des Romanianus, Schüler des hl. Augustin, richtete von Rom aus, wo er seiner rhetorischen Studien wegen verblieb, ein Gedicht von 154 Hexametern an Augustinus, ‘gespickt mit Phrasen alten und neuen Gepräges von wirrem Gedankengang mit sehr unklassischem Versbau’. 4 Beda ‘der Ehrwürdige’, der Lehrer Englands, welcher alles Wissen seiner Zeit umfaszte, verarbeitete und lehrte, geb. 672, gest. 735 im Kloster zu Jarrow in Northumberland. Von ihm sind elf Hymnen auf uns gekommen; sie bekunden dichterische Begabung, Wärme der Empfindung, sprachliche Gewandtheit. Seine angelsächsischen Dichtungen sind verloren gegangen. 5 Hrabanus Maurus, Abt des Klosters zu Fulda, Erzbischof von Mainz, geb. 776, gest. 856, dichtete Epigramme, Hymnen (28?), drei gröszere Dichtungen, als deren bedeutendste das ‘Lob des hl. Kreuzes’ (de laudibus sanctae crucis) angesehen wurde. Über seine Bedeutung als Dichter s. des Herausgebers: Hrabanus Maurus, 5. Band der vorliegenden Sammlung, Seite 33-37. 6 Hildebert von Lavardin, Bischof von le Mans, später Erzbischof zu Tours; geb. 1056 zu Lavardin (bei Montoire, Departement Loir et Cher, in der altfranzösischen Landschaft ‘Maine’, dem Verbreitungsgebiete der keltischen Völkerschaft der Cenomanen, daher auch ‘Cenomanensis’ genannt), gest. 1134; er wurde als Dichter und als fruchtbarer kirchlicher Schriftsteller hoch gefeiert.

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Kap. 51. Gegen diejenigen, welche sich für sehr erfahren halten, nachdem sie zehn Canones 1 oder Gesetze gelernt haben, und sich über das Ansehen der Grammatiker in ungeziemender Weise erheben.

Es giebt manche, die in den schönen Künsten und in der wahren Litteratur allzuwenig Erfahrung haben. Nachdem sie nämlich einiges von dem canonischen Rechte oder von der Gesetzeskunde kennen gelernt und etwas davon dem Gedächtnisse eingeprägt haben, was entweder die Rechtsverdreher vor Gericht nötig haben oder was bei ihresgleichen angestaunt wird: so kommen sie bald in ihrer Überhebung bis zu dem Grade und blähen sich in ihrem Stolze so sehr auf, dasz sie im Vergleich zu sich selbst alle Gebildeten verachten und dasz sie die Grammatiker (Sprachlehrer) gleichsam als Versemacher geringschätzen. Zu der Zahl dieser Leute gehört einer, dessen Namen ich schonend nicht nennen will, der da neulich, als bei einer Zusammenkunft von einigen Genossen die Frage, ob olla oder navicula ein besseres Wort wäre, unter uns Gegenstand des vertrauten und scherzhaften Gespräches war, auch nach seiner leicht zur Erregtheit hinneigenden Eigenart an gewisse Verse erinnerte und mir mehrfach eben dieses Spottlied in verletzender Weise wiederholte. O lächerlicher Mensch! der du schwerlich heilbar bist und wenn du dreimal Anticyra 2 aufsuchtest. O ihr verblendeten

1 Canon (griechisch) hat ursprünglich den Sinn von ‘Glaubensregel’ (regula fidei); später - seit dem Konzil von Nicäa 335 - bedeutet Canon (nun auch in der Mehrzahlform canones vorkommend) ‘Satzung der kirchlichen Disciplin’ ‘constitutio ecclesiastica “canonis” nomine censetur’); seit dem Konzil von Trient 1545-1563 bezeichnet man mit ‘canones’ kurze Lehrsätze dogmatischen Inhaltes; an die Stelle von ‘Canon’ in dem bisherigen Sinne tritt dann ‘decretum’. 2 Die Bewohner der Stadt Anticyra, welche auf einer zu der mittelgriechischen Landschaft Phocis gehörigen Insel lag, verstanden es, aus der in der Umgegend wachsenden Nieswurz ein wirksames Heilmittel zu bereiten; so erhielt Anticyra den Ruf eines bewährten Heilortes. Die angeführte Stelle lehnt sich an Horat. Ars poetica v. 300 an: ‘Ein Kopf unheilbar in drei Anticyras.’ Vergl. Horaz, Satiren II. 3, 82 f. ’Geizigen reichet man weit die beträchtlichste Gabe von Nieswurz. Wenn sie vielleicht die Vernunft nicht ganz nach Anticyra weiset.’

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Geister! O ihr verhärteten Herzen! In welcher Finsternis des Lebens und in welchen Gefahren wird die Zeit verbracht, die uns nun einmal gegönnt ist. Die vielen Gründe, gemäsz welcher ‘navicula’ dem Wort ‘olla’ vorzuziehen ist, kennen selbst die Knaben, die uns da sagen können, dasz ‘olla’ ein gewöhnliches Thongefäsz für den Küchengebrauch ist, welches bei jedem Stosz oder Schlag dem Zerbrechen ausgesetzt ist, dasz das Schifflein (navicula) dagegen aus einem festen widerstandsfähigen Stoffe zusammengefügt ist und für diejenigen, welche die Gewässer dieser Zeitlichkeit befahren, vom allergröszten Nutzen ist, und dasz dasselbe, wenn es auch zuweilen als ein Spiel von Sturm und Flut dahingetrieben wird, gleichwohl mit Gottes Beistand in der Regel unversehrt zu dem ersehnten Hasen gelangt. Und jene nebst ihrem Kuttenträger als Obmann, welchen ein satirischer Dichter mit diesem Verse bezeichnet zu haben scheint:

‘Aufbläht im Stolz sich, wes Antlitz bedeckt die verhüllende Kutte’ jene - sage ich - die da nicht sowohl Verehrer des canonischen Rechtes als Liebhaber guter Schüsseln sind, 1 hassen die Grammatiker und verurteilen diejenigen, welche keiner der schönen Künste unkundig sind und allenthalben die Wahrheit freimütig verkünden. Aber da wir nun einmal auf die Erwägung von ‘olla’ und ‘cymba’ (Kahn) gekommen sind, so wird es nicht unangenehm sein, aus den weltlichen wie aus den kirchlichen Schriften einige wenige Zeugnisse von den vielen, die es giebt, über beide Wörter anzuführen, durch welche des einen immerfort und überall miszfällig erwähnte Wertlosigkeit und des andern stets gelobte Nützlichkeit dargethan werden soll. ‘Olla’ wird in allbekannten Sprichwörtern angewandt. Unter diesen wendet sich dieses: ‘ollae amicitia’ 2 gegen solche Freunde, welche - wie es täglich vorkommt - die Schüssel und nicht gegenseitiges Wohl-

1 Das in dem Wortlaut: ‘Juris amatores non tam canonici quam patinarii’ gelegene Wortspiel ist unübersetzbar. ‘Jus’ ist in der ersten Anwendung im Sinne von ‘Recht’ zu verstehen, bei der zweiten Bezugnahme im Sinne von ‘Brühe, Suppe’. 2 d. i. etwa unser: ‘Tafelfreundschaft’.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 174 wollen vereinigt. Dasselbe erscheint auch in dieser Gestalt: ‘Fervet olla, vivat amicitia.’ 1 Ein anderes lautet ‘ollam exornas’; 2 es wendet sich an die, welche an einem sinnlosen Werke sich vergeblich bemühen. Es ist nämlich eine unvernünftige Arbeit, ein so wertloses Gefäsz wie einen Topf, der zum Küchengebrauch bestimmt ist, mit Malereien auszuschmücken. Daher rührt denn auch das sinnverwandte Wort: ‘ollas ostentare’; 3 es bezeichnet dies: von einer an und für sich wertlosen und die Alten von einem ‘ollaris deus’, d. h. von einem schwachen und ohnmächtigen Gott, der an Wert mit einem irdenen Topf zu vergleichen ist. Bei Catull ist zu lesen: ‘Ipsa olera olla legit’. 4 Dies kann auf diejenigen angewandt werden, welche zwar selbst mit Frevel bedeckt sind, aber die Schuld auf irgend etwas anderes zurückzuführen suchen, z. B. auf das Glied oder auf das Werkzeug, an dem doch die Schuld fürwahr nicht liegen kann; es trägt vielmehr der Sinn, welcher der bösen Begierde nicht widersteht, die Schuld. Aber nun wollen wir von diesen Zeugnissen absehen und uns den der hl. Schrift entnommenen zuwenden. Es heiszt Exodus cap. XVI: ‘Wären wir doch gestorben durch des Herrn Hand im Lande Ägypten, als wir bei den Fleischtöpfen (super ollas carnium) faszen und Brot aszen bis zur Sättigung’ 5 Und im vierten Buch der Könige steht geschrieben: ‘Als sie von dem Gekoch gekostet hatten, schrieen sie und sprachen: der Tod ist im Topfe, Mann Gottes!’ 6 Desgleichen bei Ezechiel: Wehe der blutbefleckten Stadt, dem Topfe, woran der Rost hängt, dessen Rost nicht abgeht.’ 7 Auch Hieronymus sagt: Ich sehe einen Topf, unter dem Feuer angelegt ist. Des Topfes des Vulkan (olla Vulcani), in welchen die Seele des

1 d. h.: ‘Siedet der Topf, so ist die Freundschaft oben auf.’ 2 Wörtlich: ‘Du schmückst einen Topf aus.’ 3 Wörtlich: ‘Mit den Töpfen grosz thun.’ 4 Wörtlich: ‘Der Topf liest sich selbst die Küchenkräuter zusammen’, d. h. der Topf hilft sich selber. 5 Exodus XVI, 3. 6 ‘Mors in olla, vir dei.’ Könige IV, 4, 40. 7 Vae civitati sanguinum, ollae, cujus rubigo in ea est et rubigo ejus non exivit de ea. Ezechiel c. XXIV, 6.

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Gotenkönigs Theodorich geworfen wurde, thut der hl. Gregor in den ‘Dialogen’ Erwähnung. 1 Das Wort ‘olla’ machen weltliche und heilige Schriften ‘berüchtigt’; aber sie machen auch häufig von dem Worte ‘navicula’ Gebrauch. So Horaz in lobendem Sinne:

‘Navibus atque Quadrigis petimus bene vivere.’ 2

Und ein altes Sprichwort wird häufig angeführt:

‘Navis annosa haud quaquam navigabit per mare.’ 3

Durch dasselbe werden wir in trefflicher Weise dahin ermahnt, dasz es ungeziemend ist, wenn ein ehrwürdiger, gebildeter Greis von einem ungebildeten hochfahrenden Jüngling mit unpassenden Zänkereien belästigt wird. Es ist nämlich billig, dasz einer, welcher die Gerechtigkeit ausgeübt und sich als Freund des Staates erwiesen hat, in sicherem Hafen ein ungetrübtes Dasein führe. - Bei Matthäus heiszt es: Und als sie in das Schifflein (in naviculam) eingetreten waren, legte sich der Wind. Die aber im Schifflein (in navicula) waren, kamen und beteten ihn an und sprachen: Wahrlich, du bist Gottes Sohn.’ 4 Und bei Markus: ‘Und er stieg zu ihnen in das Schiff (in navim), und der Wind legte sich.’ 5 Bei Lukas: ‘Und er setzte sich und lehrte das Volk (de navicula)

1 Bald nach dem Tode des Gotenkönigs Theodorich des Groszen († 30. August 526) kam die Legende auf, ein frommer Einsiedler habe die Seele des arianischen Theodorich ‘zur Strafe seiner Verfolgungen gegen die Rechtgläubigen in einem Feuerpfuhl unter den liparischen Inseln leiden sehen und jammern hören.’ - von Papst Gregor I. (590-604) sind 4 Bücher ‘Dialoge’ auf uns gekommen (libri IV dialogorum de vita et miraculis patrum Italicorum et de aeternitate animarum). 2 Horaz, Episteln I, 11, 28-29. Im Schiff und im Wagen Jagen dem glücklichen Leben wir nach.’ Das lateinische ‘navibus atque quadrigis’ hat den Sinn: ‘mit allen Mitteln und aus allen Kräften.’ 3 ‘Nicht mehr das Meer wird durchschneiden ein Schiff, das vor Jahren erbaut ist.’ 4 Matthäus XIV, 32-33. 5 Markus VI, 51.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 176 aus dem Schiffe.’ 1 Johannes desgleichen: ‘Sie sahen Jesum auf dem Meere wandeln und ganz nahe ans Schiff (navi) kommen, und sie fürchteten sich.’ 2 - Es mag nun unser Gegner kommen und entgegen so vielen deutlichen und klaren Belegstellen sein ‘olla’ unserm ‘navicula’ vorziehen; er mag seine Ansicht inmitten der Töpfe von Weibspersonen als die zutreffendere mit lautem Geschrei verkünden; er mag sein Geschwätz anbringen im Kreise von seinesgleichen, so viel er will: er mag dabei das alte Sprichwort in seiner Wahrheit bestätigen: ‘Unter den Blinden ist der Einäugige König.’

Kap. 52. Aus der Lamia des Angelus Politianus. 3

Zu den Pflichten der Grammatiker gehört es, dasz sie Schriftsteller jeglicher Art, Dichter, Geschichtsschreiber, Redner, Philosophen, Naturforscher, Rechtsgelehrte prüfend durchforschen und erklären. Unsere Zeit hat zu wenig Erfahrung in den Dingen des Altertums; allzusehr beschränkt sie das Arbeitsfeld des Grammatikers. Bei den Alten genosz ehedem dieser Stand solches Ansehen, dasz lediglich die Grammatiker die Werke der Schriftsteller beurteilen und nach ihrem Werte bestimmten; sie wurden darum auch ‘critici’ genannt. Wie Quintilian 4 berichtet, nahmen sie sich nicht allein das Recht, einzelne Verse mit einem kleinen Striche als Merkmal der Unechtheit zu bezeichnen, 5 sondern sie unternahmen es auch, Bücher, welche ihnen mit falscher Aufschrift versehen zu sein schienen, gleichsam als untergeschobene aus dem ‘Canon’ der Schriften auszustreichen. Wie es ihnen gut dünkte, nahmen sie Schriftsteller in den ‘Canon’ auf oder schlossen sie aus demselben aus. 6 Im Griechischen heiszt ‘grammaticus’ dasselbe

1 Lukas V, 3. 2 Johannes VI, 19. 3 Über Poliziano s. oben Kap. 7. 4 Quintilian. de institut. orator. I. 4, 3. 5 ‘virgula censoria’ oder auch ‘obelus’ hiesz der Strich bei einem Worte zum Zeichen der Unechtheit desselben. 6 Die alten Grammatiker hatten für jede Stilgattung der schriftlichen Darstellung einen ‘Canon’ mustergiltiger Schriftsteller zusammengestellt, je sieben zu einer sogenannten ‘Plejas’ für jede Gattung. Dieselben gelten als die Schriftsteller erster ‘Klasse’ für ihre Gattung (daher unser ‘Klassiker’).

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 177 wie ‘literatus’ im Lateinischen. Wir aber haben diesen Namen in die Trivialschule verwiesen, also gleichsam in die Stampfmühle. 1 So können sich jetzt mit Recht die literati beklagen und sich beängstigt fühlen, gleichwie einstens der Flötenspieler Antigenides. Es ertrug es dieser mit allzuwenig Gleichmut, dasz die bei einem Leichenbegängnis mitwirkenden Hornbläser ‘tibicines’ d. h. Flötenspieler genannt wurden. So können die ‘literati’ darüber unwillig werden, dasz sie jetzt auch ‘grammatici’ genannt werden, die da doch die ersten Grundzüge lehren. Übrigens wurden Leute dieser Art bei den Griechen nicht ‘grammatici’, sondern ‘grammatistae’ genannt, und bei den Römern hieszen sie nicht ‘literati’, sondern ‘literatores’. 2

Kap. 53. Aus dem Briefe des Doktor Johannes Suave, Vicedominus von Kamin, an Johannes Murmellius, den Leiter des Gymnasiums zu Alkmaar. 3

Über welche Fülle geistiger Begabung Du gebietest, habe ich den Aussagen vieler Leute, namentlich aber den glanzvollen

1 Die Stampfmühle wurde bei den Alten durch Pferde bez. Esel in Betrieb gesetzt; zur Strafe wurden auch Sklaven bei dieser Arbeit verwandt. Die obige Bemerkung soll also den Sinn haben: Überträgt man die Bezeichnung ‘literatus’ auf den Lehrer der Anfangsschule, so entwürdigt man den literatus zur Sklavenarbeit. 2 Die Römer unterschieden: a) Grammatistae (literatores) d. i. Lehrer zum Unterricht in Lesen, Schreiben, Rechnen; b) grammatici (literati): Lehrer für Grammatik (im engern Sinne), Rhetorik, Litteratur; c) professores: Lehrer für den höheren Unterricht (professores artium, philosophiae, sapientiae . . .) Bei den Griechen unterschied man je nach Lehrfach und Lehrweise 5 Arten von Lehrern: a) Grammatistes (Elementarlehrer für Lesen, Schreiben, Rechnen); b) didascalus (Sprachlehrer im Gegensatze zum Turnlehrer); c) grammaticus (Sprachlehrer, welcher die wissenschaftlichen Sprachstudien vorbereitet; er wird auch philologus oder criticus genannt): d) exegetes (Erklärer: Litteratur); e) sophistes (Lehrer der Weisheit). 3 Johannes Suave sandte im Jahre 1514 seinen Bruderssohn (Peter Suavenius) nach Alkmaar, damit derselbe dort den Unterricht des Murmellius geniesze; dem Empfehlungsschreiben, welches der neue Zögling abzugeben hatte, ist die obige Anführung entnommen.

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Schöpfungen Deiner Muszestunden entnehmen können. Mit welcher Gewissenhaftigkeit aber und mit welcher Selbstlosigkeit Du Deiner Pflicht gerecht wirst, dies bekunden die Jünglinge, die wir höherer Bildung und feineren Schliffes bar zu Dir schicken und die Du nur dann zurücksendest, wenn Du sie mit Kenntnissen jeglicher Art ausgestattet hast. Meine Meinung nun ist die: ‘Weder der Samier Pythagoras 1 hat in Sicilien helleres Licht verbreiten können, als Du in unserem deutschen Vaterlande es gethan hast, noch ist jener Sokrates, 2 der da zuerst die Sittenlehre vom Himmel gebracht haben soll, ein vollkommenerer Mann gewesen, als Du dastehst, noch hat der göttliche Plato 3 aus seiner Akademie besser unterrichtete Jünglinge entlassen, als Du sie aus Deiner Schule entlässest; noch sind aus dem Lyceum des Aristoteles 4 scharfsinnigere Männer hervorgegangen, als sie aus Deinem Unterrichte erwachsen; noch hat Isokrates 5 mit feinerem Geschmack als Du gelehrt; noch hatte die Schule des Theophrast 6 einen zahlreicheren Besuch aufzuweisen als bis zu dieser Zeit die Deinige. Was soll ich noch mehr Worte verlieren! Du bist für uns ein Aristarch, 7 ein Karneades, 8 ein Demosthenes, 9 ein Archimedes. 10 Glück-

1 Über Pythagoras s. Handbuch Kap. 17. 2 Sokrates aus Athen (469-399), der ‘Weiseste’ unter den Griechen, der Lehrer Platos. 3 Über Plato s. Handbuch Kap. 1. 4 Vergl. Handbuch Kap. 1. 5 Über Isokrates s. Handbuch Kap. 22. 6 Theophrast von Lesbos (368-285 v. Chr.), Leiter der peripatetischen Schule nach dem Tode (322) des Aristoteles. 7 Aristarch aus Samothrake, lebte zu Anfang des II. Jahrhunderts v. Chr. als Grammatiker zu Alexandria; berühmt und verdienstvoll durch seine Forschungen zu den homerischen Dichtungen. - Ein anderer ‘Aristarch’ stammt aus Samos, Astronom, lebte um die Mitte des III. Jahrhunderts v. Chr.; seine Schrift ‘über Grösze und Entfernung der Sonne und des Mondes’ hat sich erhalten. - In dem Sinne der obigen Anführung ist an den ersteren zu denken. 8 Karneades (214-129 v. Chr.) ein Philosoph der akademischen Schule. 9 s. oben Kap. 28. 10 Archimedes (287-212 v. Chr.), der berühmteste Mathematiker und Naturforscher des Altertums.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 179 licher bist Du als Cicero, welcher, wie Apollonius Molon 1 berichtet, die Beredsamkeit von Athen nach Rom gebracht hat. Du aber hast die Beredsamkeit in Deinem Vaterlande erlernt und lehrst sie daselbst mit dem gröszten Eifer. Auch hast Du dieselbe nicht blosz, wie man zu sagen pflegt, an der Schwelle begrüszt, Du hast sie bis in die abgelegensten Winkel erforscht. Aber wozu soll ich am hellen Tage eine Lampe anzünden? Für immer wird Dein Name mit Ehre und Lob genannt werden. Was mich nun anbetrifft - ich schicke Dir meinen Neffen zu, 2 den Sohn meines Bruders. Ich wünsche um so mehr, dasz derselbe unter dem Meiszel, den Deine Hand führt, gebildet werde, je höher Du über anderen Leuten Deines Berufes stehst. Dieser Jüngling ist nicht ohne achtungswerte Anlagen. Aber er ist etwas freigebiger, als es gut ist - daher habe ich ihm bei seinem Scheiden unter anderm den Befehl gegeben, dasz er Dich als seinen Vater verehren soll und dasz er sein Geld Dir anvertrauen soll; wenn er aber Geld gebrauche, so solle er es von Dir erbitten. - Was bleibt mir noch hinzufügen? Ich bitte Dich wieder und wieder: übergieb ihn einem von Deinen klassisch gebildeten Schülern; durch den täglichen Umgang mit demselben kann er besser werden. Ich werde der Meinung leben, dasz Du alle Wohlthaten, die Du ihm hast zukommen lassen, mir erwiesen hast, und ich werde es nicht zulassen, dasz er Dich gereuen sollte, in der Erfüllung Deiner Pflicht Wetteifer an den Tag gelegt zu haben. Lebe in Gesundheit! Stettin, im Jahre des Heils 1514, am 2. September.

Kap. 54. Gegen die sprachunkundigen Wortbildner.

Es ist nicht leicht zu sagen, welche Schädigung der lateinischen Sprache die vielen ungelehrten Worterklärer anthun, die da Wörter deuten und Wörter ableiten und dabei zwischen

1 Über Molon siehe Handbuch Kap. 17. 2 Peter Suavenius, später Lehrer der griechischen Litteratur an der Hochschule zu Leipzig.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 180 dem Lateinischen und dem Barbarischen keinen Unterschied machen und somit die gröszten Geschmacklosigkeiten und geradezu lächerliche Deutungsversuche zu Tage bringen. Diejenigen nun, vor deren Irrtümern man sich hüten soll, habe ich in diesem kurzen Verzeichnis zusammengestellt. Isidorus, 1 ein im übrigen gewissenhafter Schriftsteller, ist nicht ganz zu verachten. Vor allem sollen wir die abscheulichen und barbarischen ‘Briefe der Dunkelmänner,’ 2 die schlieszlich auch von dem Papste verworfen worden sind, wie die Pest fliehen. Dann Papias 3, Eberhard, 4 Hugutio, 5 das

1 Isidor, Bischof von Sevilla, † 636. Sein Hauptwerk erschien unter dem Titel: ‘Zwanzig Bücher Etymologieen oder Ursprünge’ (XX libri etymologiarum sive originum). Dasselbe verbreitet sich über ‘Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Medizin, Rechtwissenschaft, Zeitrechnung (im V. Buche folgt eine kurze Weltchronik bis auf Kaiser Heraklius geb. 575; Regierungsantritt 610; gest. 10. Februar 641), Metrik, Bibelkunde (mit Ostercyklen), das Reich Gottes im Himmel und die Hierarchie auf Erden, die Kirchen und die (68) Sekten, alle Sprachen und alle Völker mit ihren Verfassungen und Ämtern, Anthropologie, Zoologie, Physik, Erdkunde, Beschreibung der Städte, Straszen und Gebäude, Mineralogie, Botanik, Kriegswesen, Waffenkunde, Spiele, Schiffskunde, Architektur, Kleidung, Schmuck, Geräte, Speisen und Getränke.’ 2 Die ‘epistolae obscurorum virorum’ (zusammen 118) erschienen in 2 Abteilungen in den Jahren 1515 und 1517. Die heutzutage gebräuchliche Übersetzung: ‘Briefe der Dunkelmänner’ schlieszt sich nicht eng genug an den Sinn des Lateinischen an. Der Humanist Reuchlin (1455-1522) hatte in einem gelehrten Streite eine Sammlung von Briefen unter der Aufschrift: ‘epistolae illustrium virorum’ (Briefe berühmter Männer an ihn d. i. Reuchlin) herausgegeben. Eine Art Gegenstück hierzu bildet die Sammlung ‘epistolae obscurorum virorum’ d. h. Briefe ‘unbekannter’ Männer. - Nach dem heutigen Stande der Forschung wird Crotus Rubianus (1480-1540), Lehrer zu Fulda, Erfurt, Königsberg und Halle, als Verfasser der Mehrheit dieser Briefe angesehen. Diese Briefe sollten nach Inhalt und Form eine Verspottung von Verhältnissen und Personen jener Zeit sein. Sie sind in einer Sprache geschrieben, welche ‘Küchenlatein’ genannt zu werden verdient. Murmellius läszt sich in seiner Verurteilung derselben in erster Linie durch ihre barbarische Sprache bestimmen. Streng kirchlich gesinnte Männer verurteilten sie ihres Inhaltes wegen. 3 Papias, ein Lombarde, gab als Frucht eines zehnjährigen Studiums im Jahre 1063 ein Lehrbuch heraus: ‘elementarium doctrinae rudimentum’ eine Art von Real-Encyklopädie. Ein Wörterbuch von ihm hiesz: Vocabularius. 4 Evrard von Béthune s. oben Kap. 1. - Neben dem ‘Graecismus’ veröffentlichte er noch andere Schulschriften: Modus latinitatis’; ‘Labyrinthus’. 5 Hugutio (Hugo von Pisa), Bischof von Ferrara bis 1210, verfaszte in Anlehnung an das Werk von Papias ‘einen nach Stammwörtern geordneten liber derivationum, voll der kühnsten und abenteuerlichsten Worterklärungen.’

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Catholicon, 1 der Mammaetractus, 2 Haimo, 3 der Breviloquus, 4 die Gemma gemmarum, 5 der Vocabularius rerum6, Jo-

1 Catholicon, verfaszt von Johannes de Janua oder Januensis d. i. Johannes Balbi aus Genua im Jahre 1286. Johannes Balbi verwertet für seine sachlichen Erörterungen das Werk des Papias und für seine etymologischen Deutungen das Werk des Hugutio. Die eigentümliche Namengebung ‘Catholicon’ (Genitiv: ‘Catholiconis’ oder Catholicontis!) begründet er in der Vorrede durch den Hinweis darauf, dasz sein Werk ein allgemeines und ein allseitiges sei, da es Bedeutung habe für jedwedes Wissen (quod sit communis et universalis, valet quidem ad omnes sere scientias). 2 Mammaetractus (Mammotrectus). - Der Franziskaner Giovanni Marchesini aus Reggio gab zu Anfang des XIV. Jahrhunderts eine Sammlung von grammatischen, orthographischen und exegetischen Glossen heraus zum leichtern Verständnisse der hl. Schrift. Diese Sammlung wird als ‘Mammaetractus’ bezeichnet. Diese Bezeichnung lehnt sich an eine Stelle in der Vorrede an: ‘Qui morem geret talis decursus paedagogi qui gressus dirigit parvulorum, mammotrectus poterit appellari.’ Dieses mammotrectus wird auf ein lombardisches Wort ‘mammo’ ‘der Säugling’ zurückgeführt. - Eine andere Ansicht geht dahin, dasz einem Schulmeister Mamotrectus zu Erfurt aus der Zeit Kaiser Ludwigs des Bayern (1313-1348) diese Schrift zuzuschreiben sei. 3 Haimo, Bischof von Halberstadt (840-853), schrieb Kommentare zu verschiedenen Büchern der hl. Schrift. Walafried Strabo von Reichenau (807-849) führt dieselben als Quelle in seiner Glossa ordinaris an. 4 Der Breviloquus (auch ‘Vocabularius breviloquus’), ein Jugendwerk von Johannes Reuchlin (s. oben). Die erste Ausgabe erschien 1475 oder 1476, die 25. Auflage im Jahre 1504. Das Urteil des Murmellius ist in etwa zu berichtigen. Der Vocabularius breviloquus stützt sich zum Teil freilich auf Papias. In der Auswahl der Belegstellen aus den besten Schriftstellern heidnischer und christlicher Zeit verfährt er durchaus ursprünglich; auch die Einteilung des Stoffes ist eine von der bisherigen Weise abweichende. Diese allseitige Bekanntschaft mit den Werken der klassichen Litteratur ist neu; neu ist gleichfalls die gefällige und geschmackvolle Sprache. Reuchlins breviloquus ‘wurzelt noch in der alten Zeit, aber er ist bereits ausgerüstet mit vielen Waffen der neuen Zeit.’ 5 Die ‘Gemma gemmarum’ ist der Name eines lateinischen Wörterbuches mit deutschen Erklärungen, welches seit dem Jahre 1484 nachweisbar ist; es entnimmt seinen Stoff dem ‘Catholicon’; es hat auch den vocabularius breviloquus des Johannes Reuchlin benutzt. 6 Ein Vocabularius rerum erschien im Jahre 1478 zu Augsbur

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 182 hannes von Garlandia, 1 Nicolaus von Lyra, 2 Accursius, 3 Aurea legenda, 4 die Glossulae decretorum, 5 die Glossa notabilis 6 und andere dieser Art.

1 Johann von Garlandia, wirkte von 1229-1232 als Lehrer zu Toulouse, später zu Paris; er verfaszte ein ‘compendium grammaticae’ in Hexametern, desgleichen ein distigium (Worterklärungen) ebenfalls in Hexameters: beide Bücher erfreuten sich in den Schulen des Mittelalters groszen Ansehens. 2 Nicolaus Lyranus, geb. zu Lyre in der Normandie (daher: Lyranus); Mitglied des Franziskanerordens; lehrte an der Schule des Franziskanerklosters zu Paris: † 1340 (als Ordensprovinzial in Burgund); sein bekanntestes Werk: ‘Postillae perpetuae in universa biblia’ ist unter anderm bei der unter Mitwirkung von Sebastian Brant 1496 herausgegebenen groszen Baseler Bibelkonkordanz (concordantiae partium sive dictionum indeclinabilium totius Bibliae) benutzt worden. 3 Accursius, geb. zu Bagnolo bei Florenz um das Jahr 1182, Lehrer der Rechte, Beisitzer des Podesta von Bologna, gest. 1260 zu Bologna. Er erklärt seinen Namen durch Hinweis auf seine Thätigkeit als Deuter und Erklärer des bürgerlichen Rechts. ‘Nomen meum scilicet Accursium, quod est honestum nomen, dictum quia occurrit et succurrit contra tenebras juris civilis.’ Seine mit eignen Bemerkungen reichlich ausgestattete Sammlung von Glossen (Erklärungen) wurde ‘Glossa ordinaria’ oder auch einfach ‘Glossa’ genannt. Seine Söhne Franz, Cervottus, Wilhelm und Cursinus Accursius haben sich gleichfalls den Ruf bedeutender Rechtsgelehrter erworben. 4 Aurea legenda von Jakob von Boragine, geb. zu Baraggio (heute Barazze) zwischen Genua und Savona um 1225, Mitglied des Dominikanerordens, seit 1292 Erzbischof, gest. zwischen 1296 und 1299. Er hatseine Legendensammlung ‘legenda Sanctorum’ genannt. In der Druckausgabe von 1490 wird sie ‘aurea legenda’ genannt; diese Bezeichnung ist weder handschriftlich noch in älteren Drucken nachweisbar. Er schrieb auch eine Chronik von Genua, welche bis zum Jahre 1296 reicht. 5 Aus den dem Herausgeber zu Gebote stehenden Hilfsmitteln nicht nachweisbar. 6 Die Glossa notabilis erschien 1488 zu Köln; sie ist ein ‘mit den gröszten Abgeschmacktheiten und Lächerlichkeiten in Ableitung und Wortbildung angefüllter Kommentar zu dem Doctrinale des Alexander Gallus.’

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Kap. 55 Aus dem Eingang zu dem zweiten Buche der ‘Elegantiae’ des Laurentius Valla. 1

Jenen drei Triumvirn gleichsam: Donatus, 2 Servius, 3 Priscian, 4 über deren Vorrang die Gelehrten verschiedener Ansicht sind, weise ich immerhin die Bedeutung zu, dasz alle, die nach ihnen über die Sprachrichtigkeit im Lateinischen geschrieben haben, Unklares sich zusammengestammetl zu haben scheinen. Unter ihnen steht an erster Stelle Isidor, welcher von all diesen Unwissenden die gröszte Anmaszung bekundet; wiewohl er nämlich nichts weisz, giebt er dennoch Vorschriften über alles und jedes. Andere, die noch weniger gelernt haben, sind Eberadus, Hugutio, der Verfasser des Catholicon, Haimo und noch andere, die nicht wert sind, dasz man ihren Namen nennt. 5 Gegen groszen Lohn bringen sie durch ihre Belehrung die Schüler dahin, dasz sie nichts wissen; oder sie entlassen ihre Schüler noch thörichter, als sie dieselben empfangen haben.

1 Lorenzo Valla (1407-1457), berühmter italienischer Humanist. In seinem Hauptwerke (libri VI elegantiarum sermonis latini) sammelte er ‘den in den letzten Jahrzehnten aus der eignen Quelle der Alten entnommenen Sprachschatz’, um Musterbeispiele für die Fortbildung der lateinischen Sprache zu bieten. Es war ‘eine Grammatik höherer Art, die nicht den ganz Uneingeweihten die Grundbegriffe der Sprache, sondern dem Kundigen die Feinheiten des Ausdruckes darlegen soll, eine Sammlung von Redesarten, Satzfügungen, stilistischen Regeln unter Mitteilung zahlloser Beispiele aus den klassischen Schriftstellern. Diese ungeheure Materialienmasse, die bei dem Mangel ähnlicher grammatisch-lexikalischer Hilfsmittel nicht durch eine bequem erborgte Lexikonweisheit, sondern durch eine mühsam erworbene Kenntnis aus erster Hand zusammengebracht war, ferner der feine Sprachsinn, die Ahnung des Kunstmäszigen und Harmonischen im Sprachgefüge machen noch heute den Wert des Werkes aus und machten es Jahrzehnte, ja vielleicht Jahrhunderte hindurch zu einer unerschöpflichen Fundgrube für die Gelehrten.’ Vallas Hauptwerk hat in den Jahren 1471 bis 1536 nicht weniger als 59 Auflagen erlebt. Valla wendet sich in seinen Darlegungen mit Schärfe, Spott und Bitterkeit gegen die Theologen, ‘welche sich in Verkennung der klassischen Schriftsteller gefallen.’ Der, welcher ‘die Eleganz der Sprache’ nicht kennt, ist ihm ein Wahnsinniger. In der Bekämpfung der Gleichgültigen und der Gegner kennt er keine Rücksicht, keine Schonung. 2 Über Donat s. Handbuch Kap. 17. 3 Über Servius s. oben Kap. 1. 4 Über Priscian s. ebendort. 5 Über die aufgeführten grammatischen Werke s. oben Kap. 54.

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Kap. 56. Aus dem ‘Apologeticon’ des Baptist von Mantua. 1

Ich sehe manche, welche sich für vollendete Grammatiker halten, nachdem sie die Verslein des Grammatikers Alexander und des Äsop 2 gelernt haben; und wenn sie einiges von der Dialektik und den Gesetzen hinzugelernt haben, so glauben sie Solon 3 und Chrysippus 4 zu sein. Wenn man aber späterhin von Augustinus oder Hieronymus oder Hilarius 5 oder von einem andern aus der Zahl derer, welche an der lateinischen Sprache getreulich festgehalten haben, etwas zum Vortrag bringt, so stocken und schweigen sie und halten mit der Sprache zurück und wollen nicht zugehört haben. Sich belehren zu lassen, erzeugt ihnen Scham; die Unwissenheit wird ihnen zur Qual. Sie behaupten dann, zu damaliger Zeit wäre die Grammatik anders gelehrt worden als jetzt. Aber man musz ihnen dann vorhalten, auch die Unkenntnis der Grammatik der damaligen Zeit sei nicht gestattet, da ja nach der Weise der damaligen Grammatik die Evangelien, die Briefe des hl. Paulus und der andern Apostel und die Schriften groszer Lehrer abgefaszt seien; dieselben würden nicht allenthalben diese Bedeutung gewonnen haben, wenn jene nicht in der Grammatik erfahren gewesen wären. Auf solche Vorhaltungen werden sie antworten, sie hielten sich nur an die Hauptsache; sie werden nach wie vor ihr ‘Catholicon’ in Ehren halten, welches doch mehr Fehler aufzuweisen hat, als der Leopard Flecken auf seinem Fell.

1 Über die Schrift ‘Apologeticon’ s. oben Kap. 47. 2 Über Äsop s. Handbuch Kap. 5. - Äsops Fabeln waren ein im Mittelalter, namentlich für den Anfangsunterricht, vielgebrauchtes Schulbuch. 3 Solon, der berühmte Gesetzgeber der Athener (639-559 v. Chr.). 4 Chrysippus aus Soloi (282-209 v. Chr.), ein Philosoph der stoischen Schule, wegen seiner Verstandesschärfe ‘das Messer der gordischen Knoten’ genannt. 5 Hilarius, Bischof von Poitiers (320-366); berühmter Kirchenschriftsteller; von Pius IX. (1852) der Zahl der Kirchenlehrer beigesellt.

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Kap. 57 Woher sind richtige Wortableitungen und Worterklärungen zu entnehmen?

Wortableitungen und richtige Erklärungen des Wortsinnes sind am besten zu suchen: bei Varro 1 wenn doch sein Werk ‘de lingua latina’ vollständig vorhanden wäre! - bei Nonius Marcellus, 2 Festus Pompejus, 3 diesen Erforschern der lateinischen Sprache; bei Aulus Gellius, 4 Macrobius, 5 Caper, 6 Priscian, 7

1 Über Varro uns sein grammatikalisches Werk s. oben Kap. 1. 2 Nonius Marcellus, der Geburt nach ein Numidier aus Thurbulo (südlich von Karthago), schrieb: ‘de proprietate sermonis’ und ‘compendiosa doctrina per litteras ad filium.’ Ein groszer Teil der früheren Litteratur ist in seinen Anführungen nach bestimmten Gesichtspunkten übersichtlich geordnet. Die Sprachkenntnisse des Nonius Marcellus sind nicht eben bedeutend gewesen. Seine Schriften stützten sich auf das Werk von Aulus Gellius: ‘Noctes atticae’ (s. Handbuch Kap. 5). Die Thatsache, dasz Nonius Marcellus das Werk des Gellius ausschreibt, ohne diese seine Quelle zu nennen, legt den Schlusz nahe, dasz er geraume Zeit nach Gellius (gest. um 175 nach Chr.) gelebt haben musz. 3 Sextus Festus Pompejus, ein Grammatiker des III. oder IV. Jahrhunderts. - Verrius Flaccus, ein berühmter Sprachkenner, dem Kaiser Augustus den Unterricht seiner Enkelkinder anvertraute (gest. unter Kaiser Tiberius 14-37 n. Chr.), schrieb ein lexikalisches Werk: ‘de verborum significatu.’ Von diesem Werke des Verrius Flaccus machte Festus Pompejus einen Auszug, von welchem sich nur der zweite Teil - vom Buchstaben M ab - erhalten hat. Von dem vollständigen Werke des Festus Pompejus hat Paulus Diaconus (gest. um 795) einen Karl dem Groszen gewidmeten Auszug gemacht. Dieser hat sich in zahlreichen Handschriften erhalten: während des Mittelalters wurde gerade dieser Auszug des Paulus Diaconus vornehmlich benutzt; durch ihn wurde das Werk des Festus Pompejus fast verdrängt. Das für das Sprachgeschichtliche Wichtige hat Paulus Diaconus leider aus seiner Vorlage gestrichen, desgleichen die zahlreichen Belegstellen. 4 Über Aulus Gellius s. Handbuch Kap. 5. 5 Macrobius (Ende des IV., Anfang des V. Jahrhunderts) schrieb: Kommentare zu Ciceros Traum des Scipio; 7 Bücher ‘Saturnalien’ (dieselben verbreiteten sich über Litteratur und Kultuswesen in Anlehnung an das Werk von Aulus Gellius ‘Attische Nächte’ (s. Handbuch Kap. 5) und an die Kommentare des Servius zu Virgil (s. oben Kap. 1). 6 Flavius Caper, ein Grammatiker zur Zeit des Kaisers Trajan (98-117 n. Chr.); zwei Schriften: ‘de orthographia’ und ‘de verbis dubiis’ werden ihm zugeschrieben. 7 Über Priscian s. oben Kap. 1.

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Diomedes 1 und bei den alten Rechtsgelehrten, welche vornehmlich die Beredsamkeit pflegten; desgleichen bei Johannes Tortellius 2 = derselbe hat aber, wie dies auch bei einigen andern der Fall ist, hier und da Fehler gemacht. - Dann ist auch eine umsichtige Vergleichung der verschiedenen Lesarten vonnöten und ein auf Scharfsinn gegründetes Urteil. - Ferner bei Jovinianus Parthenopäus, 3 dessen Wörterbuch von seinem Lehrer Chalcidius 4 zusammengestellt sein soll; bei Laurentius Valla, 5 der sich unter allen das höchste Verdienst um die lateinische Sprache erworben hat; bei seinem Schüler Nicolaus Perottes. 6 Geselle diesen zu den Hermolaus Barbarus, 7 welcher zu der Naturgeschichte des Plinius verbesernde Zusätze, die eine Fülle der edelsten Gelehrsamkeit bekunden, herausgegeben hat; den Georg Merula, 8 den Philipp Beroaldus; 9 zu den Schriftstellern über den Landbau: Georg Valla; 10 Budäus 11 zu den

1 Über Diomedes s. oben Kap. 28. 2 Johannes Torellius - Giovanni Tortelle - (1400-1466), päpstlicher Kämmerer und Geheimschreiber am Hofe Nicolaus' V. (1447 bis 1455); er unterstützte den Papst in der Sammlung und Anlage seiner Bibliothek; sein Hauptwerk: ‘de orthographia dictionum a Graecis tractarum’ bietet eine Zusammenstellung der dem Griechischen entlehnten Wörter des Lateinischen nebst sprachlicher und sachlicher Erklärung derselben. 3 Für den Herausgeber nicht nachweisbar. 4 Ein Grammatiker ‘Chalcidius’ wird aus dem VI. Jahrhundert nach Chr. erwähnt. Derselbe hat Platos Timäus übersetzt und erklärt. 5 Über Laurentius Valla s. oben Kap. 55. 6 Über Nicolaus Perottus s. Handbuch Kap. 22. 7 Über Hermolaus Barbarus s. Handbuch Kap. 24. 8 Georg Merula - Giorgio Merlani aus Alessandria (1424-1494) - unterstützte den zu Venedig wirkenden Buchdrucker Nicolaus Jenson bei der Herausgabe lateinischer Schriftsteller. 9 Philipp Beroaldus (1453-1505), wirkte zu Bologna als Arzt, Philosoph, Redner. Über seine Schriftstellerausgaben s. unten Kap. 62. 10 Georg Valla aus Piacenza (Giorgio della Valle, 1440-1499), wirkte als Arzt und als Lehrer des Lateinischen und des Griechischen um die Mitte des XV. Jahrhunderts zu Venedig. 11 Budäus (Guillaume Budé, 1467-1540) königlicher Bibliothekar zu Paris, zu seiner Zeit ‘der gröszte Hellenist’ Frankreichs. Die angeführten Werke heiszen: ‘Annotationes in XXIV libros Pandectarum.’ (Paris 1508.) - ‘Pandekten’ oder ‘Digesten’: eine das ganze geltende Recht umschlieszende Sammlung römischer Rechtsbestimmungen [durch Kaiser Justinian I. (527-565) veranlaszt]; ein Teil des corpus juris. - ‘De asse et partibus ejus’ (1514) - ‘As’: Bezeichnung für eine altrömische Kupfermünze. - Seine ‘commentarii linguae graecae’ sind 1529 (nach dem Tode des Murmellius) erschienen; sie haben dem Studium des Griechischen in Frankreich die Anregung gegeben.

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Pandekten und über das As und seine Teile; des Erasmus ‘flumen aureum’ und Anmerkungen zum Neuen Testamente und die Scholien zu Hieronymus; 1 des Petrus Crinitus 2 Bücher ‘de honesta disciplina.’ Auch ist nicht zu verachten Dionysius Nestor Novariensis, 3 noch die Schrift des Grapaldus: 4 ‘de partibus aedium’. Obwohl Ambrosius Calepinus 5 wenn schon andere, dann besonders den Nicolaus Perottus, den Hermolaus Barbarus und den Philipp Beroald in wenig bescheidener Weise ausgeplündert hat und über den Laurentius Valla ohne Scheu und Scham loszieht, obwohl er weiterhin als ein urteilsloser Mensch manchmal wahnwitziges Zeug faselt, so ist er dennoch solchen Studierenden vonnöten, die selbst nicht viele Bücher zum Eigenbesitz haben, in Rücksicht darauf, dasz er sehr viele Ausdrücke aus guten Schriftstellern zusammengetragen hat und wohl geordnet und deshalb auch leicht auffindbar darbietet. Für die Unterweisung der Knaben wäre vielleicht meine ‘Pappa’ 6 mit dem Verzeichnis der Nomina und einem zweiten der Verba nicht ohne Nutzen; ebenso das ‘Vocabularium’ die Pylades von Brixen, 7 die ‘Flores’ des Antonius Man-

1 Des Erasmus Ausgabe des Neuen Testaments erschien 1516 zu Basel: ‘Novum Intrumentum omne, diligenter ab Erasmo Roterodamo recognitum et emendatum.’ Bei den folgenden Ausgaben ist ‘Instrumentum’ in ‘Testamentum’ abgeändert worden. - Die Erklärungen (Scholien) zu Hieronymus sind in den Jahren 1516 bis 1518 in 9 Bänden erschienen. Murmellius († 1517) hat die Vollendung dieses Werkes nicht erlebt. 2 Petrus Crinitus - Pietro Crinito - (1465-1505), florentinischer Humanist, Schüler des Politianus. 3 Über Dionysius Nestor s. oben Kap. 5. 4 Grapaldus, d. i. Franziscus Marius aus Parma, von Papst Julius II. (1504-1513) zum Dichter gekrönt; sein Hauptwerk: ‘Über die Teile des Hauses’. 5 Ambrosius, genannt Calepinus (Calepino) nach seinem Geburtsorte Calepio am Olgio (1435-1511), gelehrter Augustinermönch; sein Hauptwerk (Wörterbuch) erschien unter der Aufschrift ‘Dictionum interpretamenta’ 1502. 6 Die ‘Pappa’ des Murmellius kommt weiter unten - ihren Hauptstücken nach - zum Abdruck. 7 Über Pylades von Brixen s. Handbuch Kap. 22.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 188 cinellus 1 und die ‘Vocabula’, die von demselben aus verschiedenen Schriftstellern ausgewählt worden sind. Die von mir für die Unterweisung der Knaben veranstaltete Sammlung ‘Composita verborum’ 2 gefällt vielen, wie ich höre; es würde dieselbe noch weit mehr gefallen, wenn nicht infolge der Unachtsamkeit der Setzer an vielen Stellen Fehlerhaftes gelesen würde. Aber mit Gottes gnädigem Beistand werde ich mich dahin bemühen, dasz den Schülern eine verbesserte Auflage in die Hand gegeben wird. Weiterhin ist den Schullehrern das griechische Wörterbuch vonnöten, welches Hieronymus Aleander 3 mit Fleisz zusammengestellt hat. Nicht geringen Nutzen brächte ihnen Julius Pollux, 4 welcher für den Antoninus Commodus ein Wörterbuch verfaszt hat, das nicht nach Buchstaben, sondern nach Gegenständen geordnet ist (freilich des den Gegenstand bezeichnenden Wortes wegen), in dem man bei jedwedem Dinge die verschiedenen Wortbezeichnungen findet. Groszen Nutzen gewährt auch Suidas, 5 dessen Wörterbuch von vielen Schriftstellern erweitert worden ist. Der Redner Eudemus, 6 der ein nach

1 Über Mancinellus s. Handbuch Kap. 22. 2 Die erste Ausgabe dieser Schrift des Murmellius hat die Aufschrift: ‘Opus de compositione verborum’, erschienen um das Jahr 1502; die zweite verbesserte Auflage erschien 1504 unter dem Titel: ‘Opuscula duo, unum de verborum compositis, alterum de verbis communibus ac deponentialibus.’ 3 Hieronymus Aleander (1480-1542), geb. zu Motta bei Treviso; schon in früher Jugend seiner Kenntnisse in den alten Sprachen wegen berühmt; Lehrer zu Venedig; seit 1508 Lehrer der klassischen Sprachen zu Paris; sein Wörterbuch (‘Vocabularium graeco-latinum’) erschien zu Paris 1512; unter Papst Leo X. war Aleander päpstlicher Nuntius in Deutschland; gest. zu Rom. 4 Julius Pollux (Polydeukes), griechischer Grammatiker und Sophist, Lehrer des Kaisers Commodus (Marcus Lucius Älius Aurelius Commodus Antoninus 180-192 n. Chr.); sein Wörterbuch: ‘Onomastikon’ umfaszte 10 Bücher. 5 Suidas, gelehrter Byzantiner, X. Jahrhundert; sein riesenhaftes Wörterbuch umfaszte ‘neben Worterklärungen und Auszügen aus den älteren Grammatikern und Lexikographen auch viele geschichtliche Angaben, namentlich Nachrichten über die berühmtesten Schriftsteller und Auszüge aus den Werken derselben.’ 6 Die Zeit des Rhetors Eudemos ist unbestimmbar; sein Wörterbuch hat die Aufschrift: ‘Συναγωγὴ λέξεων χρησίμων’ - ‘Sammlung brauchbarer Wörter.’

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Buchstaben geordnetes Wörterbuch geschrieben hat; Helliadus, 1 welcher während der Regierung Theodosius' des Jüngeren wirkte; Eugenius aus Augustopolis, 2 einer Stadt Phrygiens, Zosimus von Gaza, 3 Cäcilius aus Sicilien, 4 Longinus Cosimus, 5 Lupercus Berytus, 6 welcher über die Wörter des Attischen schrieb. Der Sophist Justinus Julius, welcher einen Abrisz der Sprachen Pamphyliens verfaszte und über den Sprachgebrauch im Attischen schrieb; Pamphilius, 7 welcher ein ‘pratum dictionum’ herausgab; der Alexandriner Zopyrio Polio, welcher ebenfalls über die Wörter im Attischen nach Ordnung der Buchstaben schrieb.

1 Helliadus aus Alexandria wirkte als Grammatiker zur Zeit des oströmischen Kaisers Theodosius' des Jüngeren (408-450); sein Wörterbuch hat den Namen: ‘Λέξεως παντοίας χρησις.’ 2 Eugenius aus Augustopolis in Phrygien wirkte unter Kaiser Anastasius I. (491-518) als Lehrer an der Hofschule zu Konstantinopel; seine Schriften behandeln: ‘Die Verskunst der tragischen Dichter’; ‘die Aussprache einzelner Wörter und Wortklassen’. Sein alphabetisch geordnetes Wörterbuch ist von Eudemos (s. oben) und durch diesen von Suidas (s. oben) genutzt worden. 3 Der Sophist Zosimos von Gaza, Schüler des Procopius, wurde unter Kaiser Zeno 9474-491) zugleich mit andern Gelehrten des Glaubens wegen hingerichtet. Das Wörterbuch des Zosimus ist späterhin von Photius benutzt worden. 4 Cäcilius aus Kallakte auf Sicilien, ‘einer der ersten Rhetoren des nacharistotelischen Altertums,’ wirkte als Lehrer der Beredsamkeit zu Rom. Sein Wörterbuch ‘Έxλογὴ λέξεων’ 5 Es ist darunter Longinus Cassius - Dionysius Cassius Longinus - zu verstehen; geb. zu Athen um das Jahr 213 n. Chr.; Lehrer der Philosophie und der Rhetorik; ‘der erste Grammatiker und Ästhetiker der Zeit, glänzender Stilist und überaus fruchtbarer Schriftsteller und Kritiker von nahezu kanonischem Ansehen,’ später Ratgeber der Kaiserin Zenobia von Palmyra, wird auf Befehl Aurelians (270-275) als Gegner der Römer hingerichtet (273). Von seinen Schriftwerken haben sich nur Bruchstücke erhalten. 6 Lupercus von Berytus (2. Hälfte des III. Jahrhunderts nach Chr.) schrieb neben seinem Wörterbuch: ‘'Άττιxαί λέξεις’ - ‘attischer Sprachschatz’ - auch eine Grammatik, welcher auch Untersuchungen über ‘Accentuation’ und ‘Interaspiration’ beigegeben waren. 7 Pamphilius aus Alexandria wirkte zur Zeit des römischen Kaisers Tiberius (14037 n. Chr.); von seinen Werken sind nur Bruchstücke auf uns gekommen; seinem Hauptwerke hatte er den Namen: ‘λειμών’ (‘pratum’ Wiese) gegeben.

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Ebenso haben die verschiedenen Lesarten bei guten Schriftstellern eine grosze Bedeutung nicht allein für den Wortlaut, sondern auch für den Wortsinn und die Erklärung, vornehmlich bei Marcus Tullius (Cicero), Quintilian, Plinius, Seneca, Plutarch, Lactantius, Columella, Vitruv, 1 Vegetius, 2 Modestus, 3 Solinus, 4 Hieronymus, Augustinus, Ambrosius, Herodot, Livius, Julius Cäsar, Cornelius Tacitus, Sueton, Platina, 5 Maccus Antonius Sabellicus, Georg Valla, Rafael Volaterranus, 6 Nicolaus Leonicenus und bei andern. Aber keineswegs sollen solche Schriftsteller unberücksichtigt bleiben, die auf Grund ihrer vielseitigen Gelehrsamkeit Erklärungen zu den Dichtern, den Rednern und zu andern Schriftstellern herausgegeben haben. Über solche Erklärungsschriften soll nunmehr im besondern gesprochen werden.

1 Vitruv widmete sein Werk ‘de architectura libri X’ dem Kaiser Augustus (30 v. - 14 n. Chr). 2 Flavius Vegetius Renatus schrieb: ‘Epitoma rei militaris’ in vier Büchern, dem Kaiser Theodosius I. (379-395) gewidmet. 3 Julius Modestus, I. Jahrhundert n. Chr., Grammatiker, Freigelassener des Cajus Julius Hyginus, des Vorstehers der Bücherei im Palaste des römischen Kaisers Augustus. Modestus schrieb Erklärungen zu den Dichtungen des Horatius und verfaszte grammatische Schriften. Bei Martial X 21, 1 heiszt es: ‘Du schreibst, was kaum Modestus selber verstände.’ - Angeblich von einem Modestus ist aus Vegetius ausgeschrieben: ‘Libellus de vocabulis rei militaris ad Tacitum Augustum.’ Über das XV. Jahrhundert reicht keine der vorhandenen Abschriften hinaus. Als Verfasser dieser Schrift gilt der italienische Humanist Julius Pomponius Lätus († 1498) oder einer der Schüler desselben. - Die Vermutung liegt nahe, dasz Murmellius auf diese Schrift habe hinweisen wollen. 4 Cajus Julius Solinus, Grammatiker aus der ersten Hälfte des III. Jahrhunderts n. Chr.; sein Hauptwerk: ‘Collectanea rerum memorabilium’ ist im wesentlichen ein Auszug aus dem geographischen Abschnitt von Plinius' ‘historia naturalis’; in einer Bearbeitung aus dem VI. Jahrhundert hat das Werk die Aufschrift: ‘Polyhistor’. 5 Bartolomeo Sacchi (1421-1480), nach seinem Geburtsorte Piadena bei Cremona nannte er sich ‘Platina’, ein Schüler Victorins von Feltre; von Sixtus IV. (1471-1481) zum Bibliothekar der Vaticana ernannt; seine Sammlung von Urkunden über die weltlichen Rechte des Papstes ist der Vaticana einverleibt worden; seine Geschichte der Päpste (‘vitae summorum Pontificum ad Sixtum IV.’) reicht bis zum Jahre 1481; er verfaszte auch philosophische Abhandlungen. 6 Raphael Volaterranus, d. i. Rafaele Maffei, geb. 1451 zu Volterra in Etrurien; gest. 1505; seine ‘Commentarii urbani’ bieten eine Sammlung alles Wissenswürdigen.

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Kap. 58. Was für Erklärungsschriften sind nicht auszuwählen?

Nicht leicht könnte ich es sagen, welche Förderung der grammatischen Lehrthätigkeit und überhaupt der gesamten Litteraturkunde gewisse hochgelehrte Männer angedeihen lassen, die Erklärungen, Auslegungen, Untersuchungen, Deutungen, Beobachtungen, Anmerkungen und anderes dieser Art zu verschiedenen Schriftstellern herausgegeben haben. Jeder, der die schönen Wissenschaften, wenn auch nur eben mit den Lippen gekostet hat, weisz es wohl, welche Menge von Wörtern, von wenig bekannten Ausdrücken, Sprichwörtern, Sinnsprüchen, Redewendungen aus solchen Schriftwerken entnommen werden kann. Aber zu meiden sind vor allem solche Erklärungsschriften, welche sich von Sprachbarbarei nicht frei gehalten haben. Manche derselben nehmen keine Rücksicht auf die Anordnung des Stoffes, auf die Feinheit der Rede, auf die Vereinfachung der Darstellung; mit überflüssigen Fragen kleinlicher Art, mit Einwendungen, Zergliederungen, spitzsfindigen Schlüssen, die nicht nur keinen Nutzen sondern übermäszigen Schaden bringen, mit ungereimten Abschweifungen und bisweilen mit Anführung von fast wertlosen Belegstellen, die ohne Prüfung und Wahl von jedem beliebigen unklaren Kopf und Dunstmacher hergenommen wurden, stopfen sie die elendigen Schriftchen voll; weiterhin suchen sie angesehene Schriftsteller zu verdunkeln und schaffen durch die Vermischung von Hell und Dunkel ein unentwirrbares Durcheinander. Beiseite zu schieben sind einige - ich will aus Schonung ihre Namen nicht nennen, da sie durch Zusammenstellung von Bücher-Verzeichnissen und durch Abfassung von guten Büchern sich um die Studierenden wohl verdient gemacht haben -, die, um ihren Büchern gröszere Verkäuflichkeit zu sichern, in ihren wortreichen Erklärungen bei dem Zergliedern und dem Aufbau der Sätze und bei der Erklärung von Schwierigkeiten gerade bei solchen Erscheinungen verweilen, die jedem und selbst einem halbwegs Gebildeten geläufig sind; wenn aber vielleicht eine etwas dunkle Stelle vorliegt, über welche nach der Erwartung des Lesers die Erklärung helleres Licht verbreiten sollte, so rücken sie entweder mit der Sprache nicht heraus oder sie entfernen sich in ihrer Deutung weithin

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 192 von der Auffassung des Schriftstellers und bringen Falsches statt Wahres, Ungenaues statt Genaues vor. Wiewohl diese einem leichtgläubigen Leser durch die bestechenden Aufschriften ihrer Bücher nicht weniger als alles versprechen, so ist es gleichwohl wunderbar, wie wenig sie bieten. Aus solchen Quellen entströmt um so gröszeres Unheil für Knaben und Jünglinge, als viele im Vertrauen auf die Zuverlässigkeit solcher Erklärungen ohne Zuhilfenahme anderer Bücher und ohne eignes Urteil aufs Geratewohl sich daran wagen, Vorlesungen über Litteratur zu halten; in ihrer verwerflichen Vermessenheit schaffen sie dann aber von den Dichtern selbst, die sie nicht verstehen, durch ihre falschen Deutungen Zerrbilder und richten nur Verwirrung an; sie überheben sich nicht allein über die wohlunterrichteten Lehrer, sondern sie haben auch die schamlose Stirn, dieselben in der Öffentlichkeit zu verkleinern. Wieviel Unheil erwächst den Jünglingen aus der Menge solcher Ungereimtheiten! Um davon gelegentlich ein kennzeichnendes Beispiel anzuführen, will ich einiges wenige anfügen, am zweckmäszigsten aus Baptist von Mantua.

Kap. 59 Erklärung einer Stelle aus den Idyllen des Baptist von Mantua. 1

Der angeführte Vers ist entnommen dem ‘Candidus’ bei Baptist von Mantua.

‘Non patinam Aesopi fameo clypeumve Minervae.’

Was hierüber die Erklärung, welche meistens zum Verkauf angeboten wird, vorführt, mag jeder, der will, nachlesen. Aber er mag dann im 51. Kapitel des X. Buches der Naturgeschichte des Plinius nachforschen, welcher Art die Schüssel des tragischen Schauspielers Clodius Äsopus gewesen und wieviel dieselbe kostete. 2 Über den Schild der Minerva aber mag er

1 Über Baptist von Mantua s. Handbuch Kap. 13. 2 Nach Plinius a. a. O. ward die Schale des Äsopus auf 600 000 Sesterzien geschätzt, d. h. dem Münzwerte nach auf 130 512 Mark.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 193 diese Stelle aus Sueton kennen lernen: 1 Der durch eine geradezu seltene Üppigkeit berüchtigte Kaiser Vitellius 2 liesz eine Schale um 2000 Sesterzien herstellen, zu deren Gusz, wie Plinius erzählt, auf dem Campus ein Ofen erbaut worden war. Wegen ihrer ungeheuren Grösze pflegte er sie den Schild der Minerva zu nennen. In ihr liesz er eine Mischung anrichten von: Leber von Papageifischen, Gehirn von Fasanen und Pfauen, Jungen von Flamingos, Milch von Muränen, die vom Karpathischen Meere 3 bis zur Strasze von Gibraltar von den Flottenführern und Dreideckern aufgesucht worden waren.’ Diese Stelle des Baptist von Mantua ist offenbar auf jene Schale des Vitellius zu beziehen. Wer dies nicht erkennt, wird fürwahr in der schönen Litteratur zu keiner Erkenntnis gelangen.

Kap. 60. Erklärung einer Stelle aus den Epigrammen des Baptist von Mantua an Falco.

Aber solches könnte vielleicht noch erträglich erscheinen. Lächerlich jedoch ist das, was vorgebracht wird bei dem Verse desselben Baptist von Mantua in den Epigrammen an Falco:

‘Fagina gemmato dactylotheca sinu.’

Diese Erklärung nämlich lautet: ‘Es ist “dactylotheca”, wofür man auch “chirotheca” sagt, benannt von “dactylus” d. i. Finger.’ O, du wackerer Mann, der du solches aus den schriftlichen Überlieferungen ans Tageslicht gebracht hast! Sage uns doch, ich bitte, wo in der Welt du eine aus Buchenholz gefertigte ‘chirotheca’ gesehen hast. Wenn deine Hand mit derselben bekleidet gewesen wäre, so würdest du der Menge

1 Sueton. Vita Vitellii c. 13. - Die Anführung bei Murmellius ist nicht genau der Vorlage bei Sueton entsprechend. Der Preis für die Schale ist bei Plinius lib. XXXV. cap. XVII. zu ermitteln: 1 Million Sesterzien, d. ist 217 521 Mark. 2 Kaiser Aulus Vitellius regierte und starb im Jahre 69 n. Chr. 3 Das ‘Karpathische’ Meer ist ein Teil des ägäischen Meeres, benannt nach der zwischen Kreta und Rhodus gelegenen Insel Karpathus.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 194 derer, die deinen Erklärungen ohne weiteres vertrauen, nicht so viele Irrtümer beigebracht haben. Es bezeichnen nämlich ‘dactylotheca’ und ‘chirotheca’ bei weitem verschiedene Dinge. Denn ‘dactylotheca’ - griechisch δαxτυλοθήxη 1 - bezeichnet ein Behältnis zum Aufbewahren von Ringen; dasz in diesen häufig Edelsteine angebracht sind, ist bekannt. Der eine Teil dieses zusammengesetzten Wortes ist nicht ‘δάxτυλος’ d. i. Finger, sondern ‘δαxτύλος’; dies bezeichnet ‘Ring’, welcher den Finger zu schmücken pflegt. Der andere Teil des zusammengesetzten Wortes ist: θήxη, welcher als ‘repositorium’ (Behältnis zum Aufbewahren von Schmuckgegenständen), ‘loculus’ (Kästchen, Kapsel), ‘vagina’ (Scheide), ‘sepulcrum’ (Grab) erklärt wird. 2 Es lautet dieses Wort nur auf Grund der Zusammeziehung ‘δαxτυλοθήxη’ statt ‘δαxτυλιοθήxη’.

Bei Martial heiszt es im zehnten Buche der Epigramme: 3 ‘Sechs Ring' an jedem Finger trägt Charinus stets Und legt auch nicht des Nachts sie ab, Noch wenn er badet. Wissen wollet ihr den Grund? Ein Ringbehälter fehlet ihm.’ 4

Unter den ‘Saturnaliengeschenken’ 5 desselben wird einem Ringkästchen dieses Distichon in der Mund gelegt:

1 richtiger ‘δαxτυλιοθήxη’; bei Martial wie bei Plinius lautet das lateinische Wort ‘dactyliotheca’. 2 Das griechische ‘θήxη’ bezeichnet das Behältnis für das Schwert: Scheide; für das Geld: Beutel; für den Leichnam: Sarg, Grab; u. s. w. 3 Diese Stelle findet sich lib. XI, 59. 4 Der Sinn ist: Charinus ist nicht Eigentümer der Ringe, er hat sie geliehen. - Über die Sache selbst vergl. Juvenal, Satiren XIII, 128/139: ‘Welche die eigene Schrift und der Stein, der Sardoniche schönster, Anklagt, den man bewahrt im elfenbeinernen Kästchen.’ - Sardonyx: Name eines Edelsteins. - Über das Prunken mit geliebenen Ringen s. Juvenal, Satiren VII, 143-144: ‘Paulus darum trat auf mit geborgtem Sardonix, Und trat teurer darum, als Basilus, auf und als Gallus.’ 5 Das Fest der Saturnalien fiel auf den 19. Dezember; die beiden vorhergehenden Tage und die drei nachfolgenden wurden in die Festfeier hineingezogen. Es waren Tage allgemeiner, ausgelassener Freude; alle Geschäfte ruhten; die Sklaven, nach Art der Herren mit Toga und Hut, dem Abzeichen der Freiheit, bekleidet, enthielten sich jeglicher Arbeit und lieszen sich beim Mahle von ihren Herren bedienen. An diesen Tagen teilten die Römer allerlei Kleinigkeiten als Geschenke einander aus. Solche ‘Saturnaliengeschenke’ hieszen in Rom: ‘Apophorēta.’ Im XIV. Buche seiner Epigramme zielt Martial mit jedem Epigramme auf ein solches Geschenk hin; dieses Buch heiszt daher auch ‘Saturnaliengeschenke’.

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‘Oft entgleitet ein Ring von Gewicht den gesalbeten Fingern; Aber durch mich wird dir sicher die Gemme bewahrt.’ 1

Plinius berichtet im 1. Kapitel des XXXVII. Buches seiner Naturgeschichte: ‘Eine Sammlung geschnittener Edelsteine, wofür man auch ‘dactyliotheca’ 2 sagt, hatte zuerst Scaurus, der Stiefsohn des Sulla.’ ‘Chirotheca’ - griechisch ‘χειροθήxη’ - von χειρός und θήxη d. i. von manus und theca - bezeichnet ‘tegumentum manus’ (Umhüllung der Hand).

Kap. 61. Erklärung einer Stelle aus dem ersten Buch der ‘Not der Zeit’ von Baptist von Mantua.

Um aber von dem übrigen abzusehen, so will ich in Rüchsicht auf die Studierenden jene Verse des feinsinnigen Dichters Baptist von Mantua erklären, welche im ersten Buche seiner Dichtung ‘die Not der Zeit’ stehen:

‘Et qui surripiens auri duo milia pondo Et lateres fulvos fucata subintulit aera.’

(‘Als er entwendet zwei tausend Pfund Gold und als er geraubt die Goldenen Barren, da legte er Erz hin, das golden gefärbt war.’) Ich halte dafür, dasz zu lesen ist, ‘auri tria milia pondo’. Es bezieht sich auf den Diktator Cäsar, 3 welcher, wie dies

1 Die angefürhte Stelle findet sich Martial lib. XIV, 59. 2 ‘dactyliotheca’ wird in übertragenem Sinne auch zur Bezeichnung des Inhaltes eines solchen Schmuckkästchens verwandt. 3 Cajus Julius Cäsar belegte im Jahre 49 v. Chr. den im Tempel des Saturn zu Rom untergebrachten Staatsschatz mit Beschlag, um Geldmittel zur Fortführung des Krieges gegen Pompejus und seinen Anhang zu gewinnen. Cäsar bekleidete das Konsulat zum ersten Male im Jahre 59 v. Chr. - Orosius giebt in seinem Werke: ‘Historiarum libri VII adversus paganos’ die Menge des aus dem Staatsschatz durch Cäsar entnommenen Geldes auf 4135 Pfund Gold und auf 9000 Pfund Silber an. - Wird das römische Pfund Gold fein auf den 15 ½ sachen Wert des Silbers angesetzt - vergl. Hultsch: Griechische und römische Metrologie, Seite 239 - so haben 3000 Pfund Gold einen Münzwert von 2,741 700 Mark. - Neuere Forscher berechnen die Gelder, welche Cäsar dem Staatsschatze entnahm, auf 69 Millionen Mark. Vergl. Hertzberg: Geschichte von Hellas und Rom II, 607.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 196 von Sueton 1 überliefert worden ist, in dem ersten Konsulate dreitausend Pfund Gold aus dem Kapitol entwendet und eine gleiche Gewichtsmenge vergoldeten Kupfers als Ersatz hingelegt hat. Plinius berichtet hierüber im dritten Kapitel des XXXIII. Buches folgendes: ‘Während des Bürgerkrieges nahm Cäsar gleich nach seinem Einzuge in die Stadt aus dem Staatsschatze 26 000 Goldbarren und in barer Münze 300 Pfund. 2 Zu anderen Zeiten war der römische Staat nicht reicher.’ Derselbe sagt im ersten Kapitel dieses Buches: ‘Ich weisz wohl, dasz Crassus in dem Jahre, woselbst er zum ersten Male und Pompejus zum dritten Mal Konsul war, aus dem Tempel des Jupiter Capitolinus zweitausend Pfund Gold, die von Camillus dort niedergelegt worden, geraubt hat.’ Nach der Weise, wie die Verfasser solcher Erklärungen sich diese Stelle zurecht legen, kann man sich mit leichter Mühe durch den Augenschein davon überzeugen, was sie in ihren Erklärungen vorbringen werden. Wer aber ihren Ungereimtheiten in den Erläuterungen zu Baptist von Mantua und zu andern Dichtern nachgehen wollte, der möchte wohl damit ein wenig bedeutsames Unternehmen in Angriff nehmen, welches mit schwerer Arbeit verbunden ist, die in der That noch um so lästiger sein wird, als zuvor alle ihre unnützen Schwätzereien durchzulesen wären.

1 Sueton: Leben des Cajus Julius Cäsar. 2 Dem Wortlaut bei Murmellius: ‘et nuẽro põdo CCC’ ist vorzuziehen die Fassung bei Plinius (XXXIII, 3): ‘et in numerato pondo CCC.’ - Budäus (‘de arte et partibus ejus’) - s. oben Kap. 56 - will die Stelle bei Plinius dahin abgeändert wissen: ‘Laterum aureorum quindecim (milia) argenteorum triginta quinque milia et in numerato sestertium quadringenties.’ (15000 Goldbarren, 35000 Silberbarren und an gemünztem Gelde 40 Millionene Sesterzien.)

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Kap. 62. Welche Erklärungsschriften eignen sich am besten für die der schönen Künste Beflissenen?

Diejenigen, welche sich die heiligen Schriften zum Gegenstand ihres Studiums machen, sollen vor allem die Erklärungen der besten Schriftsteller durcharbeiten, wie da sind: Origenes, 1 Basilius, 2 Gregor von Nazianz, 3 Athanasius, 4 Cyrillus, 5 Chrysostomus, 6 Hieronymus, Ambrosius, Hilarius, Augustinus, 7 Gregorius, 8 Cassiodorus, 9 Thomas van Aquin, 10

1 Origenes (Adamantius) 185-253, ‘der gelehrteste Mann seines Jahrhunderts’, Lehrer an der Katechetenschule zu Alexandria. 2 Basilius der Grosze, berühmter Kirchenlehrer, geb. 330, Erzbischof von Cäsarea (370-379). 3 Über Gregor von Nazianz s. Handbuch Kap. 17. 4 Athanasius der Grosze, geb. 296 zu Alexandrien, seit 328 Bischof von Alexandria, gest. 2. Mai 373; einer der gröszten Kirchenlehrer; ‘Vater der wahren christlichen Lehre’ im Kampfe der Kirche gegen den Arianismus. 5 Der hl. Cyrillus, Patriarch von Alexandrien (412-444); seine Werke: dogmatisch-polemische, exegetische Schriften und Homilieen bekunden seinen Ruf als eines der eifrigsten griechischen Kirchenschriftsteller; von Papst Leo XIII. ist er als ‘doctor ecclesiae’ der Zahl der Kirchenlehrer beigesellt worden. 6 Johannes Chrysostomus (347-407), Patriarch von Konstantinopel; seiner glänzenden Beredsamkeit wegen ward er ‘Goldmund’ (Chrysostomus) genannt; unter anderem verfaszte er Erklärungen zu einzelnen Teilen der hl. Schrift und ‘viele hundert’ Homilieen über einzelne Abschnitte aus dem Neuen Testamente. 7 Über Hieronymus, Ambrosius, Hilarius, Augustinus s. Handbuch Kap. 1 und Kap. 21, Scoparius Kap. 55, Handbuch Kap. 3. 8 Papst Gregor (I) der Grosze (590-604), schrieb eine Erklärung zum Buche Hiob (Expositio in Job sive moralium libri XXXV); dieselbe ward in der Folge mustergültig für Erklärungsschriften zur Bibel; verfaszt 40 Homilieen über die Evangelien und 22 über den Propheten Ezechiel. 9 Magnus Aurelius Cassiodorus Senator, geb. 477, gest. 570; hervorragender Staatsman im Reiche des Ostgotenkönigs Theodorich und seiner Nachfolger; trat im Jahre 540 in das von ihm auf seinem väterlichen Erbgute gegründete Benediktiner-Kloster Vivarium ein; er stand demselben in der Folge als Abt vor. Von Erklärungsschriften verfaszte er: ‘Expositio in omnes Psalmos.’ Seine Erklärungen zu den Briefen, der Apostelgeschichte und der Apokalypse (Complexiones in Epistolas et Acta Apostolorum et Apocalypsim) waren im Mittelalter unbekannt; dieselben sind von Maffei 1702 (Verona) veröffentlicht worden. 10 Thomas, Sohn des Grafen Landolf von Aquino (in Unteritalien), geb. 1227; trat 1243 in den Dominikanerorden ein; seit 1248 lehrte er an der Schule zu Köln; von 1252 ab hielt er Vorlesungen an der Hochschule zu Paris, 1261 wurde er von Urban IV. (1261-1264) nach Italien berufen, woselbst er in Rom, Bologna, Pisa lehrte und für die Erweckung des christlichen Lebens wirkte; auf dem Wege zu dem Konzil zu Lyon ist er im Cistercienser Kloster Fossa nuova bei Terracina am 7. März 1274 gestorben; seine Heiligsprechung erfolgte am 18. Juli 1323. Sein nicht vollendetes Hauptwerk: ‘Summa theologiae’, welches als eine der gröszten Geistesschöpfungen gepriesen zu werden verdient, gab auf Jahrhunderte hinaus der christlichen Philosophie und Theologie den Inhalt und die Form. Auch seine Erklärungen zur hl. Schrift (Expositio continua sive catena aurea in quattuor Evangelia) werden ehedem wie heute sehr gerühmt.

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Picus von Mirandula, 1 Jakob Faber von Estaples, 2 Erasmus von Rotterdam. 3 In gleicher Weise sollen diejenigen, welche ihre Kraft auf das Studium der weltlichen Litteratur verwenden, die bewährtesten Erklärungen zu den Schriftstellern durcharbeiten. Ein Verzeichnis dieser Erklärungen habe ich, so gut es zur Zeit anging, zusammengestellt und im folgenden angefügt. Ich habe mich dabei in der Anordnung an die Zeit, in welcher diese Schriftsteller lebten, gehalten und an erster Stelle die Philosophen, dann die Redner, an dritter Stelle die Dichter und zuletzt die Geschichtschreiber aufgeführt; die übrigen Schriftsteller habe ich auszer acht gelassen. Zu den ‘goldenen Sprüchen’ des Pythagoras 4 giebt es eine Erklärung von dem stoischen Philosophen Hierokles, 5 die von Aurispa 6 ins Lateinische übersetzt worden ist.

1 Über Picus von Mirandula s. Handbuch Kap. 3. 2 Jakob Faber Stapulensis, d. i. Jaques Fabre (Lefèvre) d'Estaples, geb. zu Estaples in der Picardie um 1450, Lehrer an der Sorbonne zu Paris, später Groszvikar beim Bischof von Meaux, gest. 1536 zu Nèrac an der Baise. Von seinen Erklärungsschriften kann dem Murmellius nur die 1512 erschienene Erklärung zu den Briefen des hl. Paulus (S. Pauli Epistolae cum commentariis) bekannt gewesen sein. Fabers Erklärungen zu den Evangelien (Commentarii initiatorii in quattuor Evangelia) sind 1522 erschienen. Im Jahre 1523 gab Faber eine von Anmerkungen begleitete französische Übersetzung des Neuen Testamentes heraus. - Das Konzil von Trient hat die exegetischen Schriften Fabers auf den Index gesetzt; es erachtet dieselben indes für verbesserungsfähig, wie dies der Zusatz: ‘donec corrigantur’ erkennen läszt. 3 Über Erasmus s. Scoparius Kap. 27. 4 Über Pythagoras s. Handbuch Kap. 17. 5 Der eklektische Philosoph Hierokles lebte um das Jahr 450 v. Chr. zu Alexandria; es wird ihm eine Erklärungsschrift zu den goldenen Sprüchen des Pythagoras zugeschrieben. 6 Giovanni Aurispa (1370-1459), italienischer Humanist, berühmt durch seine Kenntnis der griechischen Sprache; mit groszen Anstrengungen sammelte er 238 Handschriften klassischer Werke; trotz seines Ruhmes lebte er in hohem Alter in groszer Armut; seinen Sammlungen hat er sein ganzes Vermögen zum Opfer gebracht.

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Zu bestimmten Gesprächen Platos: 1 Erklärungen des Marsilius Ficinus, 2 welcher die Werke Platos und einige Schriften der Platoniker Plotinus, 3 Jamblichus, 4 Porphyrius 5 ins Lateinische übersetzt hat. Über Aristoteles 6 haben viele in griechischer Sprache geschrieben; 7 gleichwohl will ich diejenigen unter ihnen erwähnen,

1 Über Plato s. Handbuch Kap. 1. 2 Marsilio Ficinio (1433-1499), der Freund und Lehrer des Lorenzo von Medici, das Haupt der Platonischen Akademie, welche Cosimo von Medici auf Betreiben des Griechen Georg Gemisthus (1355-1450), der wegen seiner begeisterten Vorliebe für Plato auch ‘Plethon’ genannt wurde, gestiftet hatte. Über sein Verhältnis zu Cosimo von Medici spricht sich Ficino dahin aus: ‘Andere Menschen kennen kaum ihren Vater; ich besasz und besitze zwei Väter: meinen leiblichen, dem ich meine Geburt, und Cosimo von Medici, dem ich meine Wiedergeburt verdanke; jener wollte mich dem Galenus bestimmen, dieser weihte mich dem göttlichen Plato.’ Sein Hauptwerk über Plato ist die ‘Platonische Theologie’ (Theologia platonica seu de immortalitate animorum ac aeterna felicitate libri XVIII); auch seine Schrift ‘Über die Erlangung des himmlischen Lebens’ (de vita coelitus comparanda) läszt platonische Anschauungen und Lehrmeinungen erkennen. Sämtliche Werke Platos und Plotins (s. unten) hat er ins Lateinische übersetzt und mit Erläuterungen versehen. Auszerdem hat er einzelne Werke der Philosophen Porphyrius, Jamblichus, Proklus, Dionysius Areopagita, Hermes Trismegistus, Alkinous, Xenokrates, Speusippus ins Lateinische übertragen. Vergl. Erdmann: Grundrisz der Geschichte der Philosophie I § 237, 1 Seite 494 s. Villari: Geschichte Girolamo Savonarolas und seiner Zeit I 47 ff. 3 Plotinus 205-270 n. Chr., lehrte vom Jahre 245 ab in Rom, Begründer des römischen Neuplatonismus. - Die (lateinische) Übersetzung des Ficino erschien 1492: die erste griechische Ausgabe wurde von P. Perua besorgt (Basel 1580). 4 Jamblichus aus Chalkis in Cölesyrien, gest. um 330 n. Chr., Vertreter des syrischen Neuplatonismus; von seinen 10 Büchern haben sich 5 erhalten; Ficins (lateinische) Übersetzung erschien 1483 zu Venedig. 5 Porphyrius von Tyrus; ursprünglich Malchus geheiszen, geb. 233 n. Chr., lehrte bis zum Jahre 304 zu Rom; Schüler und Biograph des Plotinus. 6 Über Aristoteles s. Handbuch Kap. 1. 7 z. B.: Ammonius, Sohn des Hermeias, lehrte um das Jahr 500 n. Chr. zu Alexandria aristotelische Philosophie; er verfaszte Erläuterungen über die Kategorieen (Categoriae) des Aristoteles; auch wird ihm eine Lebensbeschreibung des Aristoteles (Άριστοτέλους βlος xατ' Άμμόνιον - Ammonii vita Aristotelis) zugeschrieben. - Michael Psellus der Jüngere (1020-1105), Lehrer der Philosophie und Theologie zu Konstantinopel; verfaszte Erläuterungen zu den aristotelischen Schriften: ‘de interpretatione’ - ‘Von der Rede als Ausdruck der Gedanken’ - und ‘physica auscultatio’ ‘Physik’. -

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 200 die in die lateinische Sprache übersetzt worden sind. Den Themistius 1 hat Hermolaus Barbarus 2 erklärt, den Alexander Aphrodisius 3 hat Hieronymus Donatus erklärt. Von den Lateinern, die Erklärungsschriften zu Aristoteles verfaszt haben, schätzen wir am höchsten den Severinus Boëthius, 4 von welchem sich einige Erklärungen bis heute in Gebrauch erhalten haben, dann den Leonardus Aretinus, 5 den Jakob Faber, 6 den Johannes Franziscus Picus. 7 Zu Plautus 8 haben Petrus Valla, Bernardus Sarra-

1 Themistius wirkte als Redner und Philosoph im IV. Jahrhundert n. Chr.; er schrieb unter anderm eine Erklärung zu des Aristoteles Schrift ‘de anima (περì ψυχης)’ - ‘Von der Seele.’ 2 Über Hermolaus Barbarus s. Handbuch Kap. 24. 3 Alexander aus Aphrodisias (auf der Grenze von Phrygien und Karien, heute Gheira), Philosoph der peripatetischen Schule, lebte im Anfang des III. Jahrhunders n. Chr. 4 Anicius Manlius Severinus Boëthius (478-525), ein wegen seiner Gelehrsamkeit und seiner edlen Gesinnung hochberühmter Redner und Philosoph. Sein Hauptwerk: ‘Tröstungen der Philosophie’ (de consolatione philosophiae) verfaszte er im Gefängnis; es verbreitet sich dasselbe, in seiner Darstellungsweise Prosa und Poesie vereinigend, ‘in edel volkstümlicher Sprache über Philosophie, Liebe, Glück, Seligkeit, das Böse und seine Strafe, die Tugend und deren Lohn, Zufall, Freiheit, Notwendigkeit, Allwissenheit Gottes.’ Seine Übersetzungen und Erklärungen von Schriften des Aristoteles (z. B. Commentarii in librum Aristotelis (περì ερμηνείας - de interpretatione - ), des Euklid, des Ptolemäus und anderer machten ihn zu einem der wichtigsten Lehrer des Mittelalters. 5 Leonardo Bruni (1369-1444) aus Arezzo (daher Aretinus), bedeutend durch seine politische Wirksamkeit als päpstlicher Geheimschreiber, als Gesandter, als Staatskanzler von Florenz; ebenso bedeutend durch seine schriftstellerische Thätigkeit (Briefe, Reden; philosophische Abhandlungen, geschichtliche Darstellungen). Den gröszten Ruhm weit über sein Grab hinaus brachten ihm seine Geschichtswerke: Geschichte von Florenz (12 B.), Zeitgeschichte (2 B.), die Biographieen von Dante und von Petrarca. 6 Über Jakob Faber s. oben Kap. 62. 7 Über Johannes Franziscus Picus s. oben Kap. 39. 8 Über Plautus s. Handbuch Kap. 10. - Die editio princeps ward von Georg Merula (s. oben Kap. 57) veranstaltet, Venedig 1472.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 201 cenus, 1 Johannes Baptista Pius, 2 Pylades von Brescia 3 Erläuterungen, Thaddäus Ugoletus, 4 Grapaldus 5 und Georg Anselmus Scholien 6 herausgegeben. Zu Terenz: 7 Donatus, 8 Calpurnius, 9 Guido Juvenalis, Petrus Marsus. 10 Zu Lucretius: 11 Johannes Baptista Pius aus Bologna. Zu Catull: 12 Parthenius aus Verona und Palladius aus Padua. Zu Cicero: 13 a ) ‘Epistolae familiares’: Hubertinus Clericus und Martinus Phileticus. b ) ‘de oratore’: Omnibonus Leonicenus. 14 c ) ‘de inventione libri duo’: Der Redner Marius Fabius Victorinus. 15

1 Die Ausgabe des Plautus von Bernardus Sarracenus erschien zu Venedig 1499. 2 Johannes Baptista Pius, italienischer Humanist aus Bologna; seine Plautus-Ausgabe ist 1500 zu Mailand erschienen; von ihm rührt die Einteilung der Lustspiele des Plautus in Aufzüge her. 3 Gian-Francesco Boccardo von Brescia (Pylades Brixianus) veranstaltete eine Ausgabe des Plautus 1506, Brescia. 4 Taddeo Ugoletti, gest. nach dem Jahre 1510. 5 Über Grapaldus s. oben Kap. 57. 6 ‘Scholien’: ursprünglich erklärende (verbessernde) Randbemerkungen der Grammatiker zu den Schriftwerken der Alten (daher: Scholiasten); später: Erklärungsschriften. 7 Über Terenz s. Handbuch Kap. 5. 8 Über Donatus s. Handbuch Kap. 17. 9 Johannes Calpurnius geb. zu Brixen, Zeitgenosse des Konrad Celtes (1459-1508), wirkte als Lehrer der griechischen und der lateinischen Sprache zu Venedig und zu Padua. 10 Petrus Marsus, Kanonikus zu Rom, gest. 1512. 11 Titus Lucretius Carus (98-55 v. Chr.) verfaszte ein Lehrgedicht (de rerum natura’ - ‘Von der Natur der Dinge’) in sechs Büchern zur Verherrlichung der Philosophie des Epikur. 12 Über Catull s. oben Kap 43. 13 Über Cicero s. oben Kap. 28. 14 d. i. Ognibene de' Bonisoli aus Lanigo, gest. 1493. 15 Ciceros ‘Rhetorica’ 2 B. sind eine unreife Jugendarbeit; da sie auch über Stoffwahl und Stoffsammlung handeln, werden sie auch ‘de inventione’ genannt. Nach den ältesten Handschriften heiszt der Verfasser der oben erwähnten Erklärungsschrift: Quintus Laurentius Fabius Victorinus Marius; in jüngeren Handschriften (aus dem XI. Jahrhundert) wird er Fabius Marius Victorinus genannt. Man hat als den Verfasser dieser Erläuterungen den Redner Cajus Marius Victorinus (Mitte des IV. Jahrhunderts) angesehen. Diese Ansicht ist der heutigen Forschung gegenüber nicht haltbar.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 202

d ) Zu den ‘libri rhetoricum ad Herennium’, 1 welche einige dem Cornificius zuweisen und welche viele dem Cicero absprechen: Franziscus Maturantius, Antonius Mancinellus 2 und Jodocus Badius Anscensius. 3

Zu den ‘Topica’: 4 Severinus Boëthius und Georg Valla. 5 Zu den ‘Orationes’: Asconius Pedianus; 6 Georg Trapezuntius, Philipp Beroald; Franziscus Maturantius. Zu den ‘Tuskulanen’: Domitius Calderinus und Philipp Beroald. Zu den ‘Officien’: Petrus Marsus und Franziscus Maturantius. Zu ‘Laelius’: 7 Omnibonus Leonicenus. Zu ‘Cato major’: 8 Martinus Phileticus und Johannes Murmellius. 9 Zu den ‘Paradoxa’: 10 Franziscus Maturantius.

1 Die ‘Rhetorica ad Herennium’ 4 B. enthalten eine vollständige Lehre der Beredsamkeit nach griechischen Quellen und Mustern. Das Werk ist nicht von Cicero verfaszt, es ist abgefaszt bezw. vollendet worden zur Zeit der Diktatur Sullas (82-79 v. Chr.). Nach Quintilian soll ein gewisser Cornificius der Verfasser sein. 2 Über Antonius Mancinellus s. Handbuch Kap. 22. 3 Jodokus Badius aus Aasche bei Brüssel, Zögling des Fraterhauses zu Gent, wirkte unter anderm als Korrektor bei dem Buchdrucker Johannes Troschel zu Lyon. 4 Ciceros Schrift: ‘Topica ad Cajum Trebatium’ ist eine Erklärung zu der Schrift des Aristoteles: ‘Τα Τοπιxά’ - ‘Die Kunst zu disputieren.’ 5 Über Boëthius und Valla s. oben Kap. 62 und Kap. 57. 6 Der durch seine Erklärungen zu Cicero, Sallust und Virgil berühmt gewordene Quintus Asconius Pedianus (3 ?-88 n. Chr.); es haben sich Erklärungen zu fünf Reden Ciceros erhalten; dieselben ‘haben hohen sachlichen Wert und sind auch trefflich geschrieben.’ 7 Laelius sive de amicitia, - eine in dialogischer Form abgefaszte Abhandlung über die Freundschaft. 8 Cato major sive de senectute, ein Gespräch über das Greisen-alter. - 9 Die Ausgabe des Murmellius: ‘Ciceronis Cato major cum commentario’ ist 1505 zu Köln im Druck erschienen. 10 Der Name ‘Paradoxa’ ist daher zu erklaren, dasz in dieser philosophischen Schrift Ciceros einige (6) Sätze der stoischen Lehre, welche der gewöhnlichen Lebensanschauung der Menschen zuwiderlaufen, ihre Erklärung finden.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 203

Zu ‘Somnium Scipionis’ hat Macrobius zwei Bücher, die von vielseitiger Gelehrsamkeit zeugen, herausgegeben. 1 Die Erklärungsschriften zu Sallust: ‘Bellum Catilinarium’2 - Geschichte der catalinarischen Verschwörung, - welche gewöhnlich unter den Namen des Laurentius Valla und des Omnibonus Leonicenus angeführt werden, sind nach meinem Dafürhalten nicht von diesen herausgegeben; sie sind untergeschoben. Vielleicht hat einer der Zuhörer Vorträge des Lehrers mit wenig Sorgfalt niedergeschrieben und diese dann drucken lassen und sie des Gewinnes wegen an Studenten verkauft. Zu dem ‘bellum Jugurthinum’ - Krieg gegen Jugurtha - hat Johannes Chrysostomus Soldus von Brixen eine Erläuterung geschrieben. Zu Virgil: Probus Donatus; Servius; Christophorus Landinus; 3 Antonius Mancinellus; Domitius Calderinus; Hermannus Torrentinus; Servatius Ädicollius 4 und andere; vornehmlich aber erwiesen sich nützlich die ‘Saturnalien’ des Macrobius. Zu Horatius: Der hochgelehrte Porphyrio 5 und der Nach-

1 ‘Somnium Scipionis’ - ‘Traum des Scipio’ bildet ursprünglich einen Teil des sechsten Buches von Ciceros Werke: ‘de republica’, ‘Über den Staat’. Dieses Werk ist nur sehr lückenhaft auf uns gekommen. Der Teil: ‘Somnium Scipionis’ hat sich uns in der Erklärungsschrift des Macrobius: ‘Commentariorum in Somnium Scipionis libri duo’ erhalten. - Macrobius Theodosius lebte um das Jahr 400 n. Chr. In den sieben Büchern ‘Saturnalien’ desselben werden in der Weise des Gespräches Fragen aus dem Gebiete der Litteratur und der altrömischen gottesdienstlichen Verfassung besprochen. Die Quellen, aus denen Macrobius schöpft, sind vornehmlich Aulus Gellius (s. oben Handbuch Kap. 5) und Servius zu Virgil (s. Scoparius Kap. 1). 2 Die Schrift des Sallust ist auch unter dem Namen: ‘Bellum Catilinae’, ‘de conjuratione Catilinae’, ‘Catilina’ bekannt. 3 Christoph Landinus, geb. 1424 zu Florenz, Lehrer der Söhne und Enkel des Cosimo Medici, - seit 1457 Lehrer der Poesie und der Beredsamkeit zu Florenz; Geheimschreiber der Signoria zu Florenz, gest. 1504. 4 Servatius Ädicollius aus Köln. 5 Pomponius Porphyrio, wahrscheinlich 200-250 n. Chr.; sein Kommentar zu Horaz beschäftigt sich vornehmlich mit logischen, rhetorischen und grammatischen Erklärungen; Sacherklärungen sind selten.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 204

äffer desselben Acron: 1 dann Christophorus Landinus und Antonius Mancinellus. Zu Tibull: Bernardinus Cyllenius aus Verona 2 und Junius Parrhasius 3. Zu Propertius: Domitius Calderinus, Johannes Cotta aus Verona, Philipp Beroald und Antonius Volscus. Zu Ovid: Rafael Regius; Bartholomäus Merula; 4 Antonius Fanensis; 5 Paulus Marsus; Antonius Volscus; Ubertinus, der Kleriker; Domitius Calderinus; Georg Alexandrinus. Zu Valerius Maximus: Oliverius Arzignanensis 6 und Antonius Länas. Zu dem Tragödiendichter Seneca: Bernardinus Marmita aus Parma, Daniel Cajetan aus Cremona und Jodocus Badius Ascensius. Zu Persius: Cornutus; Bartholomäus Fontius; 7 Johannes Britannicus; 8 Curius Lancillottus; Johannes Murmellius. 9 Zu der Spottschrift Senecas auf den Tod des Kaisers

1 Helenius Acron, Ende des II. Jahrhunderts, schrieb seinen Kommentar zu Horaz noch vor dem des Porphyrio. - Eine etwa im VII. Jahrhundert entstandene Sammlung von Erklärungen zu Horaz wurde diesem Acron beigelegt. Dieser Pseudo-Acron wurde im Mittelalter sehr viel benutzt; auf diese Sammlung scheint Murmellius (mit dem Ausdruck ‘Nachäffer’ des Porphyrio) hinzuweisen. 2 Die Erklärungsschrift des Bernardinus Cyllenius: ‘Notae in Tibullum’ erschien 1475 zu Rom. 3 Parrhasius aus Cosenza in Italien, lebte um 1500. 4 Bartholomäus Merula aus Mantua, Protonotarius Apostolicus; seine Erläuterungen zu Ovid sind 1499 erschienen. 5 Antonius Constantinus aus Fano (an der Ostküste Mittelitaliens); seine Erklärung zu den ‘Fasten’ des Ovid sind 1502 zu Venedig erschienen. 6 Die Ausgabe des Oliverius Arzignanensis erschien 1508 zu Mailand. 7 Bartholomäus Fontius, ein florentinischer Gelehrter, wurde von Sixtus IV. (1471-1484) als Lehrer nach Rom berufen. Der Kommentar des Bartholomäus Fontius ist 1480 zu Venedig erschienen. 8 Johannes Britannicus aus Brescia, gest. 1510 zu Brescia; seine Persius-Ausgabe erschien 1486 zu Brescia. 9 Die Ausgabe des Murmellius; ‘Persius cum ecphrasi et scholiis’ ist in erster Auflage 1516 zu Deventer erschienen.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 205

Claudius hat Beatus Rhenanus mit Bedacht und Geschmack Scholien verfaszt. 1 Zu Lucanus: Omnibonus; Johannes Sulpitius; Philipp Beroald. Zu Columella: Philipp Beroald. Zu Papinius Statius: Der Grammatiker Lactantius, 2 welcher von einigen Lutatius genannt wird; Domitius Calderinus; Franziscus Maturantius; Johannes Britannicus. Zu Silius Italicus: 3 Petrus Marsus; Domitius Calderinus hat die in Angriff genommenen Erklärungen wegen frühzeitigen Todes nicht vollenden können. Zu Juvenal: Angelus Sabinus, welchen Calderinus ‘Fidentius’ nennt; Domitius Calderinus; 4 Georg Merula; Georg Valla; 5 Johannes Britannicus; 6 Antonius Mancinellus. 7 Zu Martial: Nicolaus Perottus; Domitius Calderinus; 8 Georg Merula; 9 Hermann Busch. Zur Naturgeschichte des Plinius: Hermolaus Barbarus; 10 Marinus Becichemius aus Scodra; 11 Henricus Johannes Bathanus; Rafael Regius.

1 Bei Murmellius heiszt diese Schrift: ‘ludus Senecae de morte Claudii Caesaris.’ Die Schrift führte ursprünglich den Titel: ‘Divi Claudii apotheosis Annaei Senecae per saturam.’ Es ist eine Spottschrift auf Kaiser Claudius (41-54 n. Chr.), ‘eine giftige politische Satire, im frischen Eindrucke von Claudius' Persönlichkeit und Regierungsweise und mit tief gewurzeltem Hasse gegen ihn geschrieben.’ Sie giebt Zeugnis von häszlicher Denkweise ihres Verfassers. Die Schrift ist das Muster einer ‘satira menippea’, bei welcher die sprachliche Darstellung sich in buntem Wechsel bald in gebundener bald in ungebundener Rede bewegt. 2 Luctatius Placidus (auch ‘Grammaticus Christianus’ genannt) lebte vor Sedulius und Boëthius, s. oben Seite 200. 3 Tiberius Catius Silius Italicus (25-101 n. Chr.) verfaszte ein episches Gedicht über den zweiten punischen Krieg - 17 Bücher Punica. Das Werk war während des Mittelalters verschollen; es wurde durch Politianus (s. oben Kap. 7) in einer Handschrift zu St. Gallen wieder aufgefunden. 4 Venedig 1475 und 1495. 5 Venedig 1486. 6 Brescia 1501. 7 Venedig 1492. 8 Venedig 1474. 9 Venedig 1475. 10 Mehr als 5000 Fehler hat Hermolaus Barbarus in seinen ‘Castigationes Plinianae’ - Rom 1492 - verbessert. 11 Marinus Becichemius aus Scodra (heute: Scodar - Scutari - im macedonischen Illyrien) lehrte zu Brescia um das Jahr 1500.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 206

Zu Quintilian: Laurentius Valla; Georg Merula; Rafael Regius; Jodocus Badius. Zu Plinius dem Jüngeren: Johannes Maria 1 und Hadrian Barlandus. 2 Zu Porphyrius: Ammonius; Boëthius; Pomponius Gauricus; Jakob Faber von Estaples. Zu Apulejus hat Philipp Beroald sehr erfreuliche Erläutungen geschrieben. Zu Claudian: Junius Parrhasius 3 und einige andere. 4 Zu Cyprians Dichtung: ‘Das Kreuz der Erlösung’: Johannes Murmellius. 5 Zu Hieronymus hat, wie ich vernehme, Erasmus prächtige Scholien verfaszt, 6 die aber noch nicht in meine Hände gekommen sind. Zu dem Briefe des Hieronymus an Nepotianus habe ich eine kleine Erklärungsschrift verfaszt. 7 Zu dem Gedichte des Lactantius: ‘Salva festa dies’ 8 hat Hermann Busch eine gelehrte Erläuterung geschrieben.

1 Johannes Maria Catanäus Novariensis, Schüler des Gaudentius Merula und des Demetrius Chalcondylas; die Erklärung erschien 1500 zu Venedig. 2 Adrian von Barlandt (1487-1542), lehrte zu Löwen. 3 J. Parrhasii commentarii in Claudianum. Basel. 4 z. B. Thaddäus Ugoletus (Taddeo Ugoletti) Venedig 1495. 5 ‘St. Cypriani De ligno salutiferae crucis.’ - Die Buchaufschrift bei Murmellius lautet: ‘Tacii Caecilii Cypriani Carthaginiensis episcopi eloquentia simul et martyrio gloriosi de ligno salutiferae crucis carmen heroicum.’ Die Dichtung umfaszt 10 Verse. Die Erklärung des Murmellius ist wahrscheinlich zu Köln im Jahre 1506 erschienen. 6 Die Gesamtausgabe der Werke des Hieronymus durch Erasmus erschien in den Jahren 1516 bis 1520. 7 Der Brief an Nepotianus handelt über die dem geistlichen Stande obliegenden Pflichten. Die Ausgabe des Murmellius (Köln 1505) hat die Aufschrift: ‘Divi Hieronymi presbyteri et doctoris christianae ecclesiae clarissimi ad Nepotianum sacerdotem de clericorum et sacerdotum officiis liber aureolus cum Johannis Murmellii commentariolis.’ 8 Die 14 Distichen umfassende Dichtung: ‘Salve festa dies, toto venerabilis aevo’:

‘Festtag, sei uns gegrüszt, von allen Völkern zu feiern. Heut' hat die Hölle besiegt, der die Gestirne beherrscht.’

ist dem Bischof von Poitiers Venantius Honorius Clementianus Fortunatus (530-609?) -zuzuschreiben.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 207

Zu Ausonius: Franziscus Sylvius. 1 Zu Martianus Capella: 2 Johannes Pius Baptista aus Bologna. 3 Zu Prudentius: Rudolf Agricola; Hermann Busch; Hadrian Barlandus, Johannes Murmellius. 4 Zu Fulgentius 5 und Sidonius Apollinaris: 6 Johannes Baptista Pius aus Bologna. Denen indes, welche die lateinische Sprache in ihrer Reinheit und Feinheit zu erlernen sich bemühen, gebe ich den Rat, von dem Lesen dieser Schriften und ihrer Erklärungen wegen ihrer gezierten und ungelenkigen Darstellungsweise abzusehen. Zu der ‘Tröstung der Philosophie’ von Severinus Boëthius habe ich Erklärungen geschrieben, welche zu Deventer in einer wenig sorgfältigen Ausgabe im Drucke erschienen sind: Dieselben sind indes zu Köln von den beiden hochgelehrten Männern Johannes Cäsarius 7 und Ortuin Gratius 8 - wie dies die Aufschrift des Buches und der am Schlusse angefügte Brief

1 Franziscus Sylvius lehrte im Anfang des XV. Jahrhunderts an dem Collège de Tournai zu Paris. Neben seinen Erläuterungen zu Ausonius (s. Handbuch Kap. 23) ist auch eine ‘ars poetica’ von ihm vorhanden. 2 Martianus Mineus Felix Capella aus Madaura in Nordafrika verfaszte vor der Eroberung Nordafrikas durch die Vandalen (429 n. Chr.) eine Encyklopädie der sieben freien Künste in neun Büchern; dieselbe wurde während des Mittelalters vielfach als Schulbuch benutzt. 3 Johannes Baptista Pius lebte als Humanist zu Bologna um 1400. 4 Zwei Dichtungen des Prudentius (s. Seite 170) hat Murmellius herausgeben. ‘St. Romani adversus gentiles certamen ab Aurelio Prudentio carmine compositum cum commentario.’ Köln 1507. - ‘Prudentii carmen de martyrio divi Cassiani.’ Köln 1508 (zusammengedruckt mit anderen Veröffentlichungen). 5 Fabius Planciades Fulgentius (480-350) wirkte als Grammatiker in Afrika; seine Schriften: ‘Mythologiarum libri III,’ ‘Virgiliana continentia’, ‘De aetatibus mundi’, ‘Expositio sermonum antiquorum’ sind reich an ‘gezierten, bombastischen, abgeschmackten Phrasen’. 6 C. Sollius Apollinaris Sidonius (430-488), seit 472 Bischof von Clermont, hat Gedichte (24) und Briefe (9 Bücher) hinterlassen, ‘die uns das weiche, gutmütige und eitle Wesen ihres Verfassers sowie seine überladene verschrobene Schreibweise vergegenwärtigen.’. 7 Johannes Cäsarius (1460-1551) Humanist, lehrte zu Köln. 8 Ortuin Gratius (1491-1545), Lehrer an der Hochschule zu Köln.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 208 bezeugen, - mit groszer Sorgfalt in ihrer ursprünglichen Richtigkeit wieder hergestellt worden. 1 Zu Cato 2 oder Probus - wie dies die Ansicht des Galeoto Narniensis ist -: Platina, Antonius Mancinellus; Erasmus; Jodocus Badius. Zu den ‘Bucolica’ des Franzesco Petrarca: Servatius Ädicollius aus Köln. Zu den Elegieen des Marcus Antonius Sabellicus: Hermann Torrentinus aus Zwolle. Zu dem ‘Rusticus’ des Angelus Politianus: Johannes Murmellius 3 und Nicolaus Beraldus. 4 Zu den ‘Einführungen in die Philosophie’ von Jakob Faber: 5 Jodocus Clichtoväus, 6 welcher auch zu Augustinus Dathus 7 nicht zu verachtende Erklärungen geschrieben hat. Zu Baptist von Mantua: Sebastian Murro; 8 Sebastian Brant; 9 Jodocus Badius. Mein Wunsch wäre, dasz dieser letztere weniger, aber solgfältiger geschrieben hätte.

1 ‘Severini Boëthii de philosophiae consolatione libri quinque cum Johannis Murmellii commentariis.’ Deventer o. J. erschienen 1514; Köln 1516. 2 Eine Sammlung von je 2 Hexameter umfassenden Sprüchen in 4 Büchern war während des Mittelalters unter dem Namen: ‘Proverbia Catonis’ oder ‘Dionysii Catonis disticha de moribus ad filium’ im Gebrauch. Der Verfasser ist nicht bekannt. Der Sprache nach stammt die Sammlung aus dem III. oder IV. Jahrhundert n. Chr. Christliche und heidnische Anschauungen gehen in derselben neben einander her. 3 Angeli Politiani Silva cui titulus est Rusticus cum Johannis Murmellii Ruremundensis commentario. Münster 1510. - Der ‘Rusticus’ schildert ‘in klangvoller Sprache die Bestrebungen des Landlebens und dessen Vorzüge nach dem Vorbilde von Hesiod und Virgil.’ Über den ‘Rusticus’ und andere Dichtungen des Politianus (s. oben Kap. 7) wurden zu damaliger Zeit an den Hochschulen Vorlesungen gehalten. 4 Nicolaus Beraldus aus Orleans lebte um 1500. 5 s. oben Kap. 62. 6 Clichtoväus Neoportuensis, geb. zu Nieupoort in Flandern, lehrte an der Sorbonne zu Paris, gest. 1543 als Kanonikus zu Chartres. Er verfaszte: ‘Scholia in paraphrases Jacobi Fabri super Aristotelis philosophia naturali;’ ‘In politica Aristotelis introductio ejusdem Fabri adjecto commentario declarato per Clichtovaeum.’ 7 Augustinus Dathus (Agostino Dati) schrieb unter anderm eine Geschichte von Siena. 8 Sebastian Murrher (Murrer, Murrho) aus Kolmar, gest. 1492 als Kanonikus zu Kolmar, Verfasser von Schulbüchern. 9 Sebastian Brant (1457-1521), gest. zu Straszburg, Professor der Rechte zu Basel, lehrte indes auch die alten Sprachen und die freien Künste, seit 1500 Stadtschreiber, d. h. Kanzler von Straszburg. In seinem ‘Narrenschiff’ (1494) weisz er die Thorheiten und Laster der Menschen in der Weise scherzheften Spottes anschaulich packend zu schildern und herb und streng zu geiszeln. Auch in dieser Dichtung kennzeichnet er sich als Jünger des Humanismus.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 209

Johannes Franziscus Picus 1 hat selbst zu seinen ‘heroici hymni’ sehr nutzbare Erläuterungen geschrieben, in welchen sich mannigfache und vielseitige Gelehrsamkeit bekundet. Zu dem Staurostichon desselben hat Jakob Spiegel eine Erklärung geschrieben. Klüglicherweise lasse ich viele unerwähnt, welche Erklärungsschriften zum Gebrauch für Studierende verfaszt haben. Ich zweifle nicht daran, dasz bei einer solchen Fülle vortrefflicher Werke von Tag zu Tag noch mehr solcher Erklärungsschriften erscheinen werden. Einen jedoch darf ich nicht unerwähnt lassen; es ist dies Gerard Listrius aus Rheine, 2 der in den drei Hauptsprachen wohl erfahren und zudem ein nicht gewöhnlicher Arzt ist. Dieser hat zu dem goldenen Büchlein des Erasmus: ‘Encomium Moriae’, 3 welches freilich gewissen Theologisten nicht gefällt, köstliche Erklärungen geschrieben. O dasz dieser auch an anderer Stelle, wenn auch zum Unwillen der Vorkämpfer des Alexander, und zwar zunächst aus dem berühmten Gymnasium, welches er zu Zwolle leitet, jegliche Sprachbarbarei hinausweisen möge! Dies wird er um so eher thun müssen, als er zur Durchführung dieses Vorhabens sich mit Waffen mancherlei Art ausgerüstet sieht.

Kap. 63. Es werden einige Verse des Virgil abweichend von der gewöhnlichen Deutung erklärt.

Folgende Verse des Virgilius Maro aus dem VI. Buche der Äneide: 4

‘Ille ait: neque te Phoebi cortina fefellit Dux Anchisiade nec me deus aequore mersit.’

1 s. oben Kap. 39. 2 s. oben Scoparius, Vorrede. 3 s. unten Kap. 81. Anmerkung. 4 Virgil, Äneis VI. 347-348. - Über Virgil und die Äneide s. oben Kap. 28.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 210

(‘Jener drauf: Nicht hat dich getäuscht das Orakel des Phöbus, Held, von Anchises gezeugt, noch ein Gott in das Meer mich versenket.’) werden von den meisten so erklärt: ‘O dux Anchisiade, cortina Phoebi neque fefellit te nec me; deus in somno mersit aequore’ (O Held, von Anchises gezeugt, das Orakel hat weder dich noch mich getäuscht; ein Gott hat mich im Schlafe ins Meer versenkt), wie es geschrieben steht am Ende des V. Buches. 1 Doch diese Erklärung ist mehr scharfsinnig als wahr. Daher geht meine Ansicht dahin, dasz diese Verse in folgender Weise zu erklären sind: O dux Anchisiade, cortina Phoebi neque fefellit me nec deus d. h. irgend einer der Götter - mersit me aequore. Vorher nämlich sagt Äneas:

‘Was war's für ein Gott, Palinurus, Der dich uns entrissen und mitten im Meere versenkt hat? Sage doch an! denn er, der noch nie mich getäuschet, Apollo, Hat allein durch diese Verkündung das Herz mir gebrochen, Weil er verhiesz: Du sollest, vom Meer unverletzet, gelangen Zum ausonischen Ziel.’

2

1 Äneis V. 847-861: Kaum aufschlagend den Blick, antwortete jetzt Palinurus:

‘Was, du verlangst, ich solle des Meers sanft scheinendes Antlitz, Soll die geheuchelte Ruhe verkennen und glauben dem Unhold? Soll den Äneas vertraun der verrätrischen Tücke des Südwinds, Da mich so oft schon täuschte die lügende Heitre des Himmels?’ Solches erwidert' er drauf, und fester ans Steuer sich klammernd Lässet er nimmer davon und richtet den Blick zu den Sternen. Siehe, da schüttelt den Zweig, im Taue der Lethe getränket Und in der Styx einschläfernde Kraft, ihm über die beiden Schläfe der Gott und dem Sträubenden löst er die schwimmenden Augen.

Als ungeahnete Ruh' kaum erst die Gelenke gelöset, Lehnt er sich über ihn her mit dem knackenden Teil des Verdeckes Und mit dem Steuer zugleich, und häuptlings hinab in der Wogen Strömungen stürzet er ihn, der umsonst oft rief nach den Freunden. Leicht dann schwingt er sich selbst, wie ein Vogel, empor in die Lüfte.

(Übersetzung von Binder.) Palinurus ist der Steuermann des Äneas. 2 Virgil, Äneis VI. 341-346. - Die Verse sind wörtlich angeführt, während Murmellius an der bez. Stelle nur den Inhalt derselben angiebt. - Ausonien d. i. Italien.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 211

Hierauf antwortet Palinurus: ‘O Äneas, weder hat Apollos Orakel dich getäuscht, noch hat mir irgend einer der Götter das Leben entrissen dadurch, dasz er mich ins Meer stürtzte. Denn als ich vom Schiffe herabstürtzte, zog ich das Steuer mir nach ins Meer, und mich anklammernd an dasselbe bin ich unversehrt bis ans Gestade gelangt. Aber das wilde Volk der Lukaner stürtzte sich mit dem Schwert mir entgegen und litt es nicht, dasz ich am sicheren Orte verblieb.’ 1 Einige verwundern sich darüber, dasz Virgil gesagt hat: 2

‘Sedet aeternumque sedebit Infelix Theseus’

(‘Es sitzt und ewiglich fort sitzt Theseus kummerversenkt’), während er doch vorher gesagt habe, dasz Theseus wieder zum Tageslicht zurüchgekehrt sei. Und es hat - wie es in der Mythologie heiszt - Theseus zu seinen Lebzeiten den Herkules in die Unterwelt begleitet, und durch seinen Beistand ist Herkules aus der Unterwelt entronnen. 3 Als aber nach dem Tode seine Seele in die Unterwelt versetzt wurde, kehrte sie nimmer zu den Lebenden zurück, sondern sitzt daselbst wegen der ungerechten Tötung seines Sohnes und wird ewig dort sitzen, den unbilligen Tod des Hippolyt kummervoll beweinend. Mit Recht sagt also Virgil vorher, dasz er (Thesus) lebend aus der Unterwelt zurückgekommen sei. An diese Thatsache lehnt Virgil seine Behauptung an und nachher zählt er ihn auf unter denjenigen, die gestorben sind. Diese beiden

1 Vergl. Virgil, Äneis VI. 350 ff. - Das Steuerruder an den Schiffen der Alten war nicht am Hinterteil in der Kiellinie des Schiffes angebracht; auch drehte es sich nicht um Angeln oder Zapfen; es war seitlich des Hinterteils (für gewöhnlich nach der rechten Seite hin) angebracht, lose in einer Schlinge oder einer Holzöffnung. - Lukaner hieszen die Bewohner desjenigen Teiles von Süditalien, welcher der Insel Sicilien gegenüber liegt. 2 Virgil, Äneis VI. 617-618. 3 Vergl. Virgil, Äneis VI. 391-393 die Worte des Charon:

‘Lebendes ist mir verwehrt im stygischen Nachen zu führen. Mir bracht's wenige Lust, dasz den Herkules ich, als er ankam, Hier aufnahm in dem See, den Pirithous auch und den Theseus.’

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 212

Behauptungen widersprechen sich also nicht. - Folgende Verse desselben Dichters aber aus demselben Buche:

‘Der wirft Argos dahin und Mycene, das Reich Agamemnons, Selbst auch Ääcus' Enkel, Achills, des gewaltigen, Abstamm, Trojas Ahnen zur Sühn' und entweiheten Tempeln Minervas’ 1 sind nicht von Curius ze verstehen, welcher gegen Pyrrhus das Heer anführte, sondern von Ämilius Paulus, welcher den König Perseus von Macedonien besiegte und im Triumphe aufführte; mit der Gefangennahme desselben und seiner Enthronung wurde dem Reiche des Aäciden das Ende bereitet. 2 Von ihm singt auch Properz:

‘Du, der Perseus, den Äffer des anmutigen Ahnen Achilles - Mein Ahn'! - ihn und des Achills Haus der Vernichtung geweiht.’ 3

Mit der Besiegung des Perseus und mit der Auflösung des Aäcidenreiches dürfte das römische Volk sich dem Glauben hingeben, Rache genommen zu haben für die Zerstörung Trojas. Freilich hat Ämilius Paulus weder Argos noch Mycene zerstört, doch er stammt von Äneas, dem Sohne des Anchises, ab, deren Nachkommen Argos zerstören sollten, die Vaterstadt des Agamemnon, welcher der Anführer der Griechen war im Kampfe gegen Troja.

1 Virgil, Äneis VI. 839-841. 2 Manius Curius Dentatus besiegte den König Pyrrhus in der Schlacht bei Beneventum 275 v. Chr. - König Pyrrhus von Epirus leitete sein Geschlecht auf Achill zurück. - Ämilius Paulus, der Sieger von Pydna (168 v. Chr.), führte den macedonischen König Perseus (reg. von 179-168, gest. 166) im Triumph auf. Auch die macedonischen Könige führten ihren Ursprung auf Achill zurück. - Das Geschlecht nannte sich die Äaciden nach dem Groszvater Achills, dem sagenhaften Könige Äacus von Ägina. - Die Römer sahen als Nachkommen des aus Troja geflüchteten Äneas in der Eroberung Griechenlands eine Genugthuung für die Zerstörung Trojas durch die Griechen. 3 Properz, Elegieen IV, 11, 39-40.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 213

Kap. 64. Erklärung einer Stelle aus den Episteln des Horaz.

Bei Horaz finden sich im ersten Buche der Episteln diese Verse: ‘Thust du Verzicht auf die Glieder des nie überwundenen Glykon, Hieltest den Körper du doch nicht frei von verknöchernder Handgicht.’ 1 In der Erklärung hierzu erwähnt Akron, 2 dasz Glykon ein ungemein starker Ringkämpfer gewesen. Über denselben werden indes weder von Akron noch von andern weitere Nachrichten aufgebracht. Wir lesen nun aber im fünften Buche des Laërtius, 3 dasz Lykon, 4 der Sohn des Astyanax aus Troja, ein ausgezeichneter Philosoph gewesen. Da die Sprechweise desselben eine sehr liebliche war, so wurde er von einigen ‘Glykon’, was soviel wie ‘der Liebliche’ bedeutet, genannt. 5 Derselbe besasz gewaltige Körperkraft, welche er wacker übte; er gab sich dabei ganz und gar den Anschein eines Ringkämpfers. So soll er in seiner Vaterstadt nach hergebrachter Weise als Ringkämpfer aufgetreten sein und seine Kraft im Ballspiel bekundet haben. Er starb im Alter von 74 Jahren an der Fuszgicht. Auf diesen nun weist Horaz hin. Wenn du auch, sagt er, durch körperliche Übung dir nicht eine solche Körperkraft zu erwerben imstande bist, wie sie Glykon erlangt hat, wiewohl er vorher schwächlichen und zierlichen Körpers war - wie dies Antigonus Caryster bestätigt - so unterlasse es doch nicht, Heilmittel gegen die Handgicht und Fuszgicht, jene zwei sehr

1 Horaz, Episteln I, 1, 30-31. 2 Akron einer der ältesten Horazerklärer, s. oben Kap. 62. 3 d. i. Diogenes Laërtius, s. Handbuch Kap. 1. 4 Der von Diogenes Laërtius (V, 65) erwähnte Philosoph Lykon war ein Schüler des Straton aus Lampsakus; dieser gehörte zur Schule des Theophrast († 285 v. Chr.), s. oben Kap. 53. 5 Das griechische Glykon (γλύxω) galt als Kosewort. Vergl.: Aristophanes: Ekklesiazusen 985: ‘So war es unter der früheren Herrschaft, süszer Schatz’ (ω γλύxων); desgleichen ebendort V. 1046: ‘Bei Zeus, dem Retter, du hast mir einen Liebesdienst erwiesen, süszes Herz!’ (ω γλυxύτατον.) Dieses γλύxω wurde vielfach in der Bedeutung ‘süszer Freund’ mit dem Nebenbegriff der Einfalt gebraucht.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 214 lästigen Krankheiten, in Anwendung zu bringen. Es ermahnt damit aber Horaz in feiner und sinniger Weise zum Studium der Weisheit. Er weist auf das Beispiel des Glykon hin, welcher ein Ringkämpfer war und zugleich ein weithin berühmter Philosoph, welcher aber, trotzdem er über sehr grosze körperliche Kraft verfügte, gleichwohl in seinem Alter an Hand- und Fuszgicht litt. Im Hinweis auf dieses Beispiel liegt für uns die Mahnung verborgen, dasz niemand auf die Kräfte des Körpers sein Vertrauen setzen soll, dasz wir uns mehr um die Kräfte der Seele als um die Stärke des Körpers bemühen sollen. 1

Kap. 65. Über die Bedeutung von ‘en unquam’.

Allgemein bekannt sind die Verse aus den Idyllen Virgils:

‘En unquam patrios longo post tempore fines Pauperis et tuguri congestum cespite culmen Post aliquot mea regna videns mirabor aristas?’ (‘Werd' ich der Heimat Flur jemals nach Jahren erblicken Und, aus Rasen geschichtet, den Giebel der ärmlichen Hütte? Dann auch, schauend mein Reich, anstaunen die wenigen Ähren?’)2

Hierbei erwägen die meisten mit allzuwenig Umsicht die Worte des Servius 3 und nehmen ‘en’ für ‘ecce’, während es doch in einem ganz anderen Sinne aufzufassen ist. ‘En’ bezeichnet nicht lediglich ‘ecce’, z. B. weiter unten: 4

1 Der Grundgedanke dieser Epistel des Horaz spiegelt sich in den Schluszzeilen wieder

‘Summa: der Weis' ist minder als Jupiter nur, da er reich ist, Eigener Herr und geehrt und schön, ja, der Könige König, Sonderlich aber gesund, wenn nur - ihn der Schnupfen nicht plaget.’

(Binder.) 2 Virgil, Idylle I, 68-70. Übersetzung von Binder. - 3 Über Servius s. oben Kap. 1. 4 Virgil a a. O. 72-73. - ēn wird sowohl in der Bedeutung von ecce (‘sieh’ ‘da ist’ u. s. w.) - auch in der Verbindung ‘en ecce’ - als auch in dem von Murmellius hervorgehobenen Sinne gebraucht.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 215

‘En quae discordia cives Perduxit miseros? en quos consevimus agros?’ (‘Wohin doch führte die Zwietracht Uns unglückliche Bürger? Für wen, ach! sä'ten wir Feld an?’)

‘En’ wird nämlich in der gewählten Sprechweise statt ‘num’ oder statt ‘ne’ gesetzt und ist eine Fragepartikel. Servius erklärt ‘en’ durch ‘ecce’ und ‘unquam’ durch ‘aliquando’. ‘En unquam’ wendet Virgil an einer andern Stelle getrennt durch ein eingeschobenes Wort an: ‘En erit unquam dies?’ (‘Wird je kommen der Tag?’.) 1 Dies besagt soviel als ‘unquam ne?’ ‘aliquando ne?’ Nach dem Zeugnis von Priscian setzt Festus 2 ‘en unquam’ statt ‘ecquando?’ ‘Ecquis’ ist zusammengesetzt aus ec und quis und bedeutet dasselbe als numquis d. i. num aliquis. Es scheint Servius ‘enunquam’ als zusammengesetzte Form, d. h. als eine stilistische Figur aufzufassen. Auch Terentius gebraucht diesen Ausdruck, z. B. im Phormio: 3

‘Und sag mir doch, hast du wohl je (en unquam) gehört, Dasz man injuriarum 4 mich belangt?’ und in derselben Dichtung: 5

‘Sagt, habt ihr je (en unquam) gehört, dasz man so schändlich’ Mit jemand umgegangen, wie mit mir?’

Und bei Livius heiszt es im X. Buche: 6 ‘En unquam fando audistis patritios primo esse factos non de caelo demissos?’ - ‘Habt ihr wohl je sagen hören, dasz zuerst zu Patriciern gemacht worden seien, nicht etwa Leute, die vom Himmel gefallen . . . . ?’

1 Virgil, Idylle VIII, 8. - 2 Über Priscian und Festus s. oben Kap. 1 und Kap. 57. 3 Terenz, Phormio III, 1. 4 Gleichbedeutend mit der heutigen ‘Injurienklage’. 5 Terenz, Phormio III, 2. 6 Livius, Römische Geschichte X, cap. 8, 10. Vergl. Livius IV, cap. 3, 10: ‘En unquam creditis hoc fando auditum esse? Meinet ihr, man habe niemals sagen hören . . . ?’

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Kap. 66. Gegen diejenigen Verächter der humanistischen Studien, die da mit Unrecht die Kunst des Aristoteles ihr eigen nennen.

Mit Verachtung und Spott soll man vielen entgegentreten, welche sich aus dem Grunde für Aristoteliker halten, weil sie die Humanitätsstudien und die Beredsamkeit hassen; sie lassen sich durch Bücher täuschen, welche gemeiniglich in manchen Schulen zur Behandlung kommen. Über diese Bücher hat der in der griechischen Sprache hochgelehrte Guarino von Verona 1 in seiner Lebensbeschreibung des Aristoteles sich dahin geäuszert: ‘Es sind dies keine Bücher des Aristoteles, noch würde er, wofern er noch lebte, sie als die seinigen bezeichnet wissen wollen. Es sind dieselben voll von Abgeschmacktheiten. Jener aber wollte der geschmackvollste Schriftsteller sein, und er bemühte sich auch, das zu sein, was er sein wollte, und er erreichte auch das, um was er sich bemühte.’ Und kurz darauf fügt Guarino hinzu: ‘Jene mögen doch aufhören, nach ihrem eignen Unvermögen in der Redekunst die Beredsamkeit des Aristoteles zu bemessen. Wer nämlich von denen, die in unserer Zeit für Philosophen gehalten werden wollen, beherrscht auch nur die Anfänge der gelehrten Bildung? Von den Sprachlehrern wurden sie frühzeitig weggenommen, als sie noch wenig gelernt und den Kopf voll von knabhaften Unklarheiten hatten. Dann beeilten sie sich solches zu hören, was sie weder dem Wortlaut noch dem Sinne nach verstehen; von den Dingen selbst haben sie kaum einen Schatten von Verständnis.’ Dies und anderes findet sich bei Guarino. Trapezuntius 2 aber hat in seiner Rhetorik diese mit seinem Verständnis niedergeschriebenen Worte uns zurückgelassen, deren

1 s. Handbuch Kap. 22. 2 Georgios Trapezuntius (Georg von Trapezunt aus Kreta) 1396-1486, ‘der bissigste und streitsüchtigste aller griechischen Flüchtlinge’ hat etwa 40 Jahre lang bis zu seinem Tode an verschiedenen Orten Italiens (Venedig, Padua, Florenz, Rom) die griechische Sprache gelehrt. Er war ein begeisterter Anhänger des Aristoteles. In seiner Schrift: ‘Comparatio Aristotelis et Platonis’ (Vergleich zwischen Aristoteles und Plato) verherrlicht er seinen Liebling Aristoteles in ungebührlicher Weise auf Kosten Platos.

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Anführung gestattet sein dürfte: ‘Alles Wissen und alle Gelehrsamkeit ist ohne den Glanz der Beredsamkeit gewissermaszen etwas Unansehnliches und Sprödes; es entbehrt jeglicher Würde und wird nicht durch die Wucht einer Persönlichkeit gehoben; es gelangt nicht zur Darstellung und entbehrt des Schmuckes derselben; es wird nicht ans Tageslicht gebracht, sondern liegt verborgen in der Dunkelheit. Diese Erkenntnis blieb der Schule des Sokrates in all ihren Vertretern nicht unbemerkt; sie blieb weder der stoischen Schule noch der akademischen verborgen. 1 Und es würde nicht leicht sein, unter unsern Vorfahren - seien es Römer oder Griechen - einen ausfindig zu machen, welcher in der Handhabung geschmackvoller Rede unerfahren gewesen. Unerwähnt will ich lassen Karneades, Aristipp, Theophrast, Diogenes, 2 nach dessen Ansicht beredte Menschen ebenso hoch über andern stehen als Menschen ohne jegliche Bildung über dem Tiere. Unerwähnt sollen die unzähligen andern bleiben, selbst Plato, die Quelle der Beredsamkeit, und die übrigen, welche mit Umsicht und Bedacht seinen Spuren folgten. Auf Aristoteles, diesen in Wahrheit groszen Lehrer der Philosophie, den jene ihren Meister genannt wissen wollen, dem sie unter Aufbietung all ihrer Kräfte nacheifern, den sie schätzen, bewundern, lieben: auf Aristoteles, sage ich, wollen wir unser Augenmerk richten. Ist es nun wahr, dasz Aristoteles, den man das Haupt und das Auge der Philosophie nennt, die Vorschriften der Beredsamkeit verächtlich beiseite schiebt? Niemand hat nach meinem Urteil mit gröszerer Fülle des Ausdrucks und mit ungetrübterer Klarheit des Gedankens, niemand hat mit gefälliger abgemessenem Wohlklang 3 und mit Worten wuchtigeren Inhaltes gesprochen. Wenn jemand sich vorstellte, dasz Gott in menschlicher Weise spräche, so möchte ich behaupten, dasz Gott keine bessere und schönere Form der

1 Über diese philosophischen Schulen s. Handbuch Kap. 1. 2 Vergl. über die genannten Philosophen oben Kap. 53 und Handbuch Kap. 5 und Kap. 15. 3 Im Texte steht ‘numerosius’. - Numerus bedeutet in der Rhetorik: ‘Harmonie’, und zwar Harmonie in dem Wechsel von Vokalen und Konsonanten, in der Anwendung von ein- und mehrsilbigen Wörtern und in der Zusammenstellung kürzerer und längerer Sätze. Vergl. Schleiniger, Grundzüge der Beredsamkeit S. 192.

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Sprache wählen würde. Aristoteles war von dem Wunsche beseelt, nicht dasz er allein, sondern dasz auch wir der Gewalt der Rede teilhaftig würden. Daher hat er uns an köstlichen Denkmälern dieser Kunst mehr zurückgelassen als diejenigen, welche sich ‘Redner’ nannten. 1 Daher könnte man ihm eher die Philosophie absprechen, als dasz man ihm nicht Beredsamkeit einräumte. Es wird nämlich erzählt, dasz er im Lyceum 2 vor dem Frühmahl beim Umherwandeln die Geheimnisse der Natur, welche er ‘acroamatica’ 3 nannte, erklärt habe. Nach dem Frühmahl habe er dann, bei Gott, einen gröszeren Teil des Tages hindurch Lehrvorträge über die Redekunst und ihre Gesetze gehalten. 4 Sein Urteil ging nämlich dahin, dasz ein Philosoph, der nicht beredt sei, sich wenig oder gar nicht von einem Menschen unterscheide, der sich für reich ausgiebt, aber selbst an all demjenigen, das unserer Natur notwendig ist, in nicht geringem Masze Mangel leidet. Und dies mit Recht. Denn wer sich als reich aufspielt, aber weder Grund und Boden in ansehnlicher Ausdehnung, noch prächtige Häuser im Besitz hat, wer zudem seine Zehen durch die Stiefel lugen sieht und seinen Leib in schmutziges, durchlöchertes Gewand hüllt: der ist nicht nur arm, der wird vielmehr als hilfsbedürftig und notleidend verhöhnt. Die da nun vorgeben, sie hätten Einsicht in den Lauf der Welt, in den Urgrund der Dinge, in das Wesen der Himmelskörper nach ihrem Ursprunge und ihrer Bestimmung, die sollen, wofern sie nicht imstande sind, ihr Wissen auch durch die Fülle der Rede gleichsam mit Gold und Edelgestein zu schmücken, aller Wissenschaft bar erscheinen.’ Soweit Trapezuntius.

1 Aristoteles hat uns eine Schrift ‘über die Redekunst’ in drei Büchern hinterlassen. 2 Über ‘Lyceum’ s. Handbuch Kap. 1. Anmerkung zu ‘Aristoteles’. 3 ‘Acroamatica’ werden Lehren genannt, welche die Schüler nur durch ‘Hören’ kennen lernten, da dieselben lediglich durch mündlichen Vortrag, nicht auch durch Schriften mitgeteilt wurden. So heiszt denn auch eine der naturkundlichen Schriften des Aristoteles griechisch: ‘Physike acróasis’, lateinisch: ‘Physica auscultatio’ d. i. etwa: ‘Naturkunde zum Anhören’. 4 Die ersten Lehrvorträge, welche Aristoteles während seines erstmaligen Aufenthaltes zu Athen (367-348 v. Chr.) im Lyceum daselbst hielt, hatten die ‘Redekunst’ zum Gegenstande.

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Kap. 67. Was bezeichnet ‘alabandicus’ oder ‘alabandiacus’?

Der Mathematiker Licinius sagte, dasz die Alabandeer, 1 welche eine in Ionien gelegene Stadt bewohnen, für genugsam gewitzigt in allen bürgerlichen Angelegenheiten gehalten werden; aber wegen der ihnen eigenen nicht geringfügigen Verstösze gegen die Schicklichkeit seien dieselben für Thoren gehalten worden. So waren die im Gymnasium 2 daselbst aufgestellten Bildsäulen alle so dargestellt, als ob sie eine Ansprache halten wollten; die auf dem Forum 3 stehenden waren entweder mit dem Diskus 4 in der Hand, oder im Wettlauf, oder beim Ballspiel dargestellt. So war die Darstellung der Bildsäulen der besonderen Bestimmung des Ortes nicht angemessen. Dieser Umstand schädigte den Ruf der Bürgerschaft in ihrer Gesamtheit. So kam es, dasz die Griechen das Wort ‘alabandiacus’ oder ‘alabandicus’ zur Bezeichnung von ‘ungebildet’ und ‘albern’ gebrauchten, wie dies Hermolaus in den Erklärungen zu Plinius bezeugt. 5

Kap. 68 Erklärung des altertümlichen Ausdruckes ‘insubidus’.

Ein sehr alter Ausdruck ist ‘insubidus’, dessen Deutung ich bis heute noch bei keinem der Grammatiker gefunden habe. So viel ich nun durch Vermutung erreichen konnte, bezeichnet er dasselbe wie ‘indecorus’ (unziemlich), invenustus (unschön),

1 Murmellius hat die Form ‘Alabandes’. Dies ist eine nur selten vorkommende Form dieses Eigennamens; gebräuchlich sind: Alabandeni, Alabandenses, Alabandei. - Der Heros Alabandus, Sohn des Euippus und der Kallirrhoe, wurde als Erbauer der Stadt Alabanda in Karien (heute Karpusley) verehrt. - Albanda war verrufen wegen des üppigen Lebens seiner Bewohner. 2 ‘Gymnasium’ ist im griechischen Sinne als Bezeichnung für den ‘gymnastischen’ Übungen zu verstehen. 3 Das Forum, ‘der Markt’, der Tummelplatz des öffentlichen Lebens, ist auch der Ort, welcher für Volksversammlungen und bei Ansprachen an das Volk benutzt wird. 4 d. i. Wurfscheibe. 5 s. oben Kap. 62.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 220 inelegans (geschmacklos), insipiens (unverständig), stolidus (albern), brutus (unvernünftig). Bei Lampridius 1 heiszt es im Leben des Commodus Antoninus: ‘Sein Körper war wohl gebildet; sein Blick einfältig blöde (vultu insubido), wie dies bei Trunksüchtigen der Fall ist; seine Sprechweise kunstlos.’ Symmachus 2 schreibt in seinen Briefen: ‘Ich fühle mich zu groszem Danke verpflichtet, da ich die Wahrnehmung mache, dasz mein Brief dir nicht albern erschienen ist (litteras meas tibi insubidas non videri).’ Dieses Wort hat auch Angelus Politianus 3 in seinen Schriften vermischten Inhalts angewandt; es heiszt daselbst: ‘Allzu abgeschmackt würde ein Dichter sein (nimis enim foret insubidus poeta).’ Von diesem Worte ist das Adverbium ‘insubide’ abgeleitet. So heiszt es in den Saturnalien (VII) des Macrobius: 4 ‘Nicht unverständig (non insubide introspexit) ist die Ansicht des Epikur über das Wesen der Wahrnehmung.’ ‘Non insubide’ heiszt also ‘non insipienter’ ‘nicht unverständig’. Es scheint dieses Wort abgeleitet zu sein von dem Nomen ‘sus’ - Schwein -, so dasz insubidus sowiel heiszt als ‘in suibus’ - bei (unter) den Schweinen. - Für Bezeichnung der Geringschätzung und Verachtung kam dann ‘insubidus’ in Gebrauch. 5

1 Älius Lampridius ist einer der sog. ‘scriptores historiae Augustae’. Hiermit bezeichnet man eine Sammlung von Lebensbeschreibungen der Kaiser und der Gegenkaiser (de vitis diversorum principum et tyrannorum) von Hadrian abwärts. Dieselbe ist zustande gekommen in den Zeiten Diokletians und Konstantins I. - Die Urheberschaft für die einzelnen Lebensbeschreibungen ist nicht immer nachweisbar. Als sicher wird angenommen, dasz Lampridius der Verfasser der Lebensbeschreibung von Elagabal (218-222) und Alexander Severus (222-235) ist; beide Schriften werden als ‘unsäglich armselig’ bezeichnet. - Commodus Antoninus (180-102). 2 Quintus Aurelius Symmachus (350-420?) heidnischer Gelehrter zu Rom. 3 Über Angelus Politianus s. oben Kap. 7. 4 Über Macrobius s. oben Kap. 57. 5 Worterklärungen solcher Art waren in jenen Zeiten nicht selten.

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Kap. 69. Was heiszt ‘pedestris oratio’?

‘Pedestris’, sagt man, wird eine ‘numeröse’ 1 Sprache genannt, welche die Vorschriften der Silbenzählung und der Silbenmessung berücksichtigt und welche zu diesem Zwecke des Fuszes (pes), d. h. des Versfuszes, bedarf. Allein ‘oratio pedestris’ wird von jedem wirklich Gebildeten nie im Sinne von ‘numerosa’, sondern im Sinne von ‘soluta’ verstanden. 2 Auch wird ‘pedestris’ nicht von ‘Versfüszen’ - pedes metrici - hergeleitet, sondern im übertragenen Sinne von ‘Fuszgänger’ - pedites -, welche im Vergleich zu den Reitern und zu denjenigen, welche im Wagen fahren, niedrig und gering erscheinen. Strabo sagt im ersten Buche: ‘Auch selbst der Umstand, dasz man die Rede ohne Versmasz die zu Fusze gehende nennt, bezeichnet die gleichsam von einer Höhe und von einem Wagen auf den Fuszboden herabgestiegene Rede.’ 3 Daher gebraucht Horaz im zweiten Buche der Satiren zur näheren Kennzeichnung der Muse das Wort ‘pedestris’, nicht aus dem Grunde, weil die Muse sich der Füsze zum Stehen bedient, wie dies Akron vermutet - denn dies wäre ein überflüssiges Beiwort, sondern es bezeichnet ‘pedestris’ hier den Stil, der jeglichen Aufschwungs entbehrt, der von der ungebundenen und tagtäglichen Redeweise wenig abweicht, wie dies den Satiren eigen ist: 4 deshalb nennt er sie auch teils ‘sermones’ - Gespräche - teils ‘epistolae’ - Episteln. 5 An

1 Über ‘numerosus’ und ‘numerus’ in dem Kunstausdruck der Rhetorik s. oben Seite 217, Anmerkung. 2 oratio numerosa und oratio soluta im Sinne von ‘gebundene’ und ‘ungebundene’ Rede. 3 Strabo, Erdbeschreibung I. c. 2, § 6. 4 Vergl. Horaz, Satir. II, 6, 17: ‘Quid prius illustrem satiris Musaque pedestri?’ ‘Was wohl preis ich zuerst im ‘bescheidenen’ Ton der Satire?’ - Über Akron vergl. oben Kap. 62. 5 Satiren und Episteln werden ‘sermones’ - Gespräche - genannt, weil sie in ihrer Darstellungsweise sich dem gewöhnlichen Gesprächston anpassen im Gegensatz zu dichterischen Darstellungen erhabenen, schwungvollen Ausdrucks.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 222 einer anderen Stelle hebt er dies deutlich hervor; er sagt daselbst: 1

‘Ich selbst nicht würde Gesprächston, Der auf der Erd' hinkreucht, vor Heldengesang mir erwählen, Würde der Länder Gestalt und Ströme besingen und Burgen, Auf Bergrücken getürmt, und feindliche Reich' und mit deiner Obhut rings auf der Erd' Umkreis vollendete Kriege, Und das Vorschlosz, das Janus, den Wächter des Krieges, gebannt hält, Oder, da du obwaltest, die Parthern furchtbare Roma: Könnt' ich dem eigenen Wunsche Entsprechendes leisten.’ -

Kap. 70 Über die Betonung verkürzter Wörter.

Bei der Betonung der Wörter machen die meisten gewöhnlich Fehler, vornehmlich bei denjenigen Wörtern, bei deren Aussprache entweder die Synkope 2 oder die Apokope 3 in Anwendung gebracht wird. So sprechen sie ‘audiit’ mit dem Ton auf der ersten Silbe aus, während gemäsz Vorschrift berühmter Grammatiker die mittlere Silbe lang ausgesprochen werden soll. ‘Arpinas’ 4 sprechen sie mit dem Ton auf der mittleren Silbe aus, während die letzte Silbe lang ausgesprochen werden soll. Servius 5 schreibt in seinen Erklärungen zum X. Buche der Äneide in Bezug hierauf: Es steht fest, dasz die Wörter bei einer Verkürzung den Ton auf derselben Silbe behalten, auf welcher sie ihn in unverkürztem Zustande tragen. Priscian 6 sagt im VII. Buche seiner Grammatik:

1 Horaz, Episteln I, 250-256. - Die Verse 251-255 fehlen in der Anführung des Murmellius. - Übersetzung von Binder. 2 ‘Synkope’ bezeichnet die Verkürzung des Lautbestandes eines Wortes durch Weglassung eines Lautes oder einer Silbe in der Mitte des Wortes. 3 ‘Apokope’ bezeichnet die Verkürzung des Lautbestandes eines Wortes durch Weglassung eines Lautes oder einer Silbe am Ende des Wortes. 4 Aprinas: der Bewohner von Arpinum (Geburtsstadt Ciceros) unweit des Liris (heute Garigliano). 5 Über Servius s. oben Kap. 1. 6 Über Priscian s. oben Kap. 1.

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Wenn bei Kürzungen der Vokal, auf welchem der Ton ruht, unversehrt bleibt, so behält er auch den Ton unversehrt, wie audīvit, und audīt, illīcce und illīc, tantóne und tantón.

Kap. 71. Erklärung des Wortes ‘popa’.

Calepinus und andere haben berichtet, dasz ‘popa’ gleichbedeutend sei mit ‘pinguedo’. 1 Dies ist unzweifelhaft eine irrige Ansicht. Nach dem Zeugnis des Hermolaus Barbarus 2 nämlich heiszen die Opferdiener: ‘popae’ d. h. die Opferer (Schlächter) der Opfertiere. Helius Spartanus 3 sagt in der Lebensbeschreibung des Geta: 4 ‘Es gab ein Opferdiener mit Namen Antonius dem Opfertiere den tödlichen Schlag.’ Servius 5 sagt in seinen Erklärungen zum XII. Buche der Äneide: ‘Limus (Schurz) aber heiszt das Gewand, welches die Opferdiener vom Nabel bis zu den Füszen bedeckt.’ Und Sueton erzählt: ‘Einmal stand das Opfertier bereits am Altar, als Caligula, wie ein “Opferdiener” geschürzt, die Axt hochaufschwang und den Opferschlächter (cultrarius) erschlug’ 6 - wiewohl gewöhnlich in den Suetonhandschriften ‘pomparum’ statt ‘poparum’ gelesen wird. Bei Propertius heiszt es im 4. Buche: 7

‘Succinctique calent ad nova sacra popae’ oder wie es in einigen Ausgaben heiszt: ‘ad nova lucra

1 besser ‘pinguetudo’ und ‘pinguitia’ - ‘Fettigkeit’ 2 Über Hermolaus Barbarus s. Handbuch Kap. 24 und oben Kap. 62. 3 soll heiszen ‘Älius Spartianus’ d. i. einer der scriptores historiae Augustae, s. oben Kap. 68. 4 Publius Septimius Geta, ein römischer Mitkaiser, gest. 212. 5 Über Servius s. oben Kap. 1. - Vergl. Virgil, Äneide XII. 110-120: ‘Quellwasser und Feuer beschaffen Andere, den “Schurz” umgürtend und heiliges Laub um die Schläfen.’ 6 Sueton, Leben des Caligula. 7 Propertius IV, 3, 62. Die Lesart ‘ad nova lucra’ hat heute den Vorzug. - Die Stelle lautet (mit Hinzufügung von B. 61) in der Übersetzung: ‘Das ist der Tag, der Mord ankündet den heurigen Lämmern Und zum Gewinste geschürzt eilen die “Schlächter” herbei.’

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popae’.

- Hüte dich, an dieser Stelle ‘succincte’ zu lesen, wie gewöhnlich gelesen wird. - So sagt auch Persius 1 ‘ventrem popam’ nicht statt ‘pinguis’ (fett) oder ‘obesus’ (aufgedunsen), wie einige annehmen, sondern für ‘heluo’ (Prasser), vorator (Schlinger), ‘phago’ (Fresser).

Kap. 72 Berichtigung einer Stelle aus dem ersten Buche der Schrift Ciceros ‘Von den Pflichten’.

Es nimmt mich wunder, dasz diese Stelle von den Erklärern, und selbst von sonst wohl unterrichteten Männern nicht richtig gestellt worden ist. Gewöhnlich wird nämlich diese Stelle Ciceros im ersten Buche der Offizien falsch gelesen in dieser Weise: ‘omnis autem animadversio et castigatio contumelia vacare debet neque ad ejus, qui puniet aliquem aut verbis castigat, sed ad utilitatem rei publicae referri’. 2 Es darf nämlich nicht ‘puniet’ sondern es musz ‘punitur’ gelesen werden. So lehren berufene Grammatiker. Marcellus 3 sagt: ‘punitur’ wird sonst auch statt ‘punit’ gesetzt. Als Beispiel führte er dann die Stelle aus Cicero de officiis an: ‘neque ad ejus qui punitur aliquem aut verbis castigat sed ad rei publicae utilitatem referri.’ - Servius 4 hat in seinen Erklärungen zu dem XI. Buche der Äneide bei dem Verse:

1 Persius, Satiren VI, 73-74: ‘Ich soll ein Gerippe nur Bleiben und jener einher wie der Schlachtpfaff watscheln im Fettwanst?’ - An dem Opferfleisch thaten sich die Opferdiener gütlich. 2 Cicero, de officiis I, c. XXV, 88. - Zwei dem Herausgeber vorliegende Ausgaben der Offizien (von Joh. Aug. Ernesti 1776 und von Reinh. Klotz 1866) haben ‘punitur’. Die Stelle lautet in der Übersetzung: ‘Jede Ahndung und jede Zurechtweisung soll aber von Beschimpfung frei sein, und sie soll sich nicht auf den Nutzen dessen, welcher einen anderen straft oder mit Worten zurechtweist, beziehen, sondern auf den Vorteil des Staates.’ - punior (Deponens) in der Bedeutung: strafen, rächen. 3 d. i. Nonius Marcellus, s. oben Kap. 57. 4 Servius s. oben Kap. 1. - Die Stelle findet sich bei Virgil, Äneis XI, 660: ‘Und zum Krieg Amazonen in farbigen Rüstungen ausziehn.’ - ‘bellari’ (Deponens) Nebenform zu ‘bellare’.

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‘Et pictis bellantur Amazones armis’ folgende Bemerkung: ‘bellantur’ steht statt ‘bellant’. Denn man pflegt die Zeitwörter im Wechsel und in Vertretung mit einander zu gebrauchen; daher ist denn hier die Passivform in der Bedeutung der Aktivform gesetzt worden. Ähnlich heiszt in den ‘Georgica’: 1

‘Et placidam paci nutritor olivam’.

Denn hier hat der Dichter das Futurum des Passivums statt des Präsens des Aktivums gesetzt; er setzt nämlich ‘nutritor’ statt ‘nutri’. So heiszt es auch bei Cicero in den Offizien: ‘neque ad ejus, qui punitur aliquem aut verbis castigat sed ad rei publicae utilitatem referri’; hier steht ‘punitur’ für ‘punit’. - Quintilian 2 bezeugt es im X. Buche, dasz sich bei den Zeitwörtern neue Wortformen bilden, so: ‘fabricatus est gladium’ (er hat ein Schwert geschmiedet) und ‘inimicos punitus est’ 3 (er hat Rache genommen an den Feinden). Auch Gellius 4 hebt im VIII. Buche hervor, dasz man in fast allen Schriften der Alten Zeitwörter in Passivform statt derselben Zeitwörter in Aktivform gebraucht finden könne. Wenn wir dem Marcellus 5 Glauben schenken, so hat bei Cicero auch im ersten Buche der Tuskulanen ‘puniuntur’ statt ‘puniunt’ gestanden, und zwar in folgendem Zusammenhange: ‘Tenendum est igitur nihil curandum esse post mortem, quum multi inimicos etiam mortuos poeniuntur.’ 6 Gleichwohl findet sich in den Ausgaben: ‘puniant’. Ich wundere mich, dasz Beroald 7 dies nicht richtig gestellt hat.

1 Virgil., Georgica II, 425: ‘Drum pflanze den fetten dem Frieden geweiheten Ölbaum.’ ‘Nutriri’ )Deponens) Nebenform zu ‘nutrire’ - ‘Nutritor’ würde nach der heutigen Weile als Imperativform des Passivums erklärt werden. 2 Quintilian (s. Handbuch Kap. 2) de institutione oratoria. 3 Das gebräuchlichere ‘fabricari’ (Deponens) hat die Nebenform ‘fabricare’. 4 Über Aulus Gellius s. Handbuch Kap. 5. 5 d. i. Nonius Marcellus, s. oben Kap. 57. 6 Cicero, Tuskulan. V. I, c. 44 § 107: ‘Man musz also daran festhalten, dasz wir uns um das nach dem Tode Folgende nicht zu kümmern haben, auch wenn wir sehen, dasz viele an ihren Feinden sogar im Tode noch Rache nehmen.’ Die heutigen Ausgaben schreiben ‘poeniuntur’. 7 Über Philipp Beroald s. oben Kap. 57.

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Kap. 73. Was bedeutet ‘labarum’? - Berichtigung einer Stelle des hl. Hieronymus.

Es liegen unter den Werken des Prudentius zwei Bücher gegen Symmachus vor, reich an trefflichem Inhalt. 1 In dem ersten derselben finden sich diese Verse:

‘Göttlicher Namen des Heilands, du zierst im Gefunkel von Gold und Edelgestein das Labarums purpurne Fahne; den Heerschild Schmückt nun der Name des Herrn und es funkelt das Kreuz von der Helmzier.’

Was in diesen Versen ‘labarum’ bedeutet, sieht nicht jeder Einfältige ein, wie man zu sagen pflegt. Es überliefert nun Sozomenus 2 in der Geschichte, dasz Kaiser Konstantin 3 während des Krieges mit Maxentius 4 im Traume das Zeichen des Kreuzes am Himmel in strahlendem Glanze gesehen habe; Engel hätten, diese Erscheinung bewundernd, dabeigestanden und gesprochen: ‘Konstantin, in diesem wirst du singen.’ Er berichtet weiter, dasz Christus selbst ihm (dem Konstantin) erschienen sei und ihm das Zeichen des Kreuzes gezeigt habe mit dem Befehle, ein ähnliches Zeichen herstellen zu lassen und

1 Der christliche Dichter Prudentius (s. oben Kap. 50) verfaszte eine poetische Abwehr in 2 Büchern gegen den heidnischen Gelehrten Symmachus (s. oben Kap. 68), welcher in einer Rede (de pace) für die Wiedereinführung des öffentlichen Gottesdienstes nach der Weise der Heiden eingetreten war. Symmachus, Senator und Stadtpräfekt von Rom, ward geachtet wegen seines Lebenswandels und gepriesen als Redner und Schriftsteller (Briefe); er war der Führer der heidnischen Senatoren, die sich um die Wiederaufstellung der Bildsäule der Göttin Viktoria bemühten, welche Kaiser Gratian (375-383) aus dem Sitzungssaal hatte entfernen lassen. Seine an Kaiser Valentinian II. (383-392) gerichtete Denkschrift (‘Relatio’) in dieser Angelegenheit ward vom hl. Ambrosius erwidert und widerlegt. 2 Über Sozomenus und sein Geschichtswerk s. oben Kap. 50. 3 Flavius Valerius Constantinus geb. 273; regierte seit 307; gestorben 337. 4 Maxentius, Gegenkaiser 306-312. - Am 27. Oktober 312 wurde er von Konstantin bei Saxa Rubra (9 römische Meilen nordwärts von Rom) ‘an der Milvischen Brücke’ besiegt. Auf der Flucht ertrank er im Tiber.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 227 dasselbe zum Schutze in der Schlacht bei sich zu führen, um durch dasselbe sich den Sieg zuzuwenden. Darauf habe Konstantin auf den Rat der christlichen Priester von geschickten Männern aus Gold und Edelgestein auf einem ‘Vexillum’ 1 das Zeichen des Kreuzes anbringen lassen und habe dieses Feldzeichen ‘labarum’ 2 genannt. Dieses kriegerische Zeichen war vor den anderen besonders dadurch ausgezeichnet, dasz es dem Kaiser vorangetragen wurde, desgleichen dadurch, dasz es bei den Kaisern Brauch wurde, demselben Ehrerbietung zu erweisen. Es soll dann Konstantin das ansehnlichste Feldzeichen des römischen Reiches vornehmlich aus dem Grunde in das Kreuz umgewandelt haben, dasz die Unterthanen sich durch den häufigen Anblick desselben der alten Sitte entwöhnen und an denjenigen als einzigen Gott glauben sollten, dem der Kaiser Verehrung zollte, oder unter dessen Führung und Hilfe er gegen die Feinde stritt. Dieses Zeichen wurde immer den Reihen vorangetragen, da er den Befehl gegeben hatte, dasz dasselbe in den Schlachten an der Stelle des Schlachtfeldes verweilen sollte, wo der Kampf am heiszesten entbrannt war. Er traf daher die Einrichtung, dasz bestimmte Fahnenträger diese Fahne abwechselnd trugen und mit demselben die Reihen

1 Nach altrömischer Weise war das ‘vexillum’ das Feldzeichen für einen aus dem Verbande der Legion zum Zwecke einer besonderen Verwendung losgelösten Truppenteil. Bei einem Truppenteile, welcher Fuszvolk und Reiterei umfaszte, war das ‘vexillum’ das Feldzeichen der Reiter. Das ‘vexillum’ bestand aus einem Fähnlein, das an einem Querholze unter der Lanzenspitze befestigt wurde. Es wurde auch wohl an einzelne Manipeln zur besonderen Auszeichnung verliehen und dann unter der Spitze des Feldzeichens der Manipel befestigt. Vergl. Baumeister: Denkmäler des klassischen Altertums, Seite 2063-2065. 2 ‘labarum’ stammt (nach Adelung, Mithridates II, 62) von einer keltischen Wortwurzel ‘lab’ mit der Bedeutung ‘erheben’; auch wird es mit dem baskischen ‘labarva’ d. i. Fahne in Beziehung gebracht. Konstantin wird während seines Aufenthaltes in Gallien dieses Wort kennen gelernt haben. - In seiner Lebensgeschichte des Kaisers Konstantin giebt Eusebius (s. oben Kap. 44) eine etwas abweichende Beschreibung des ‘Labarums’: ‘Ein langer Schaft mit Goldblech bekleidet, der ein Querholz in Gestalt eines Kreuzes hatte, trug auf seiner Spitze in einem Kranze von Gold und Edelsteinen den Namenszug Christi; an dem Querholz darunter hing die Tabella, ein Stück Purpurstoff, ebenso breit wie lang, mit reichster Stickerei verziert und in der oberen Hälfte die Brustbilder des Kaisers und seiner beiden Söhne tragend.’

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 228 der Kämpfer durchschritten. Es wird berichtet, dasz einstmals einer der Träger dieses Feldzeichens beim Ansturm der Feinde von Furcht ergriffen worden sei und das Feldzeichen einem andern zum Tragen gegeben hätte. Als er aber vom Kampfplatze und aus dem Bereich der Wurfgeschosse sich fortschlich, wurde er plötzlich tödlich getroffen. Jener aber, welcher das heilige Feldzeichen in die Hand genommen hatte, blieb unverletzt inmitten der Geschosse, die auf ihn geschleudert wurden. In wunderbarer Weise nämlich hatte es die Macht des Herrn gefügt, dasz die Pfeile der Feinde alle an dem Feldzeichen haften blieben, dasz sie indes von dem Fahnträger selbst inmitten der Gefahr fern blieben. Man sagt, dasz auch kein anderer von den Trägern dieses Zeichens im Kriege an einer Wunde verstorben sei oder das Los der Gefangenschaft erlitten habe. Aus all diesem geht nach meinem Dafürhalten deutlich hervor, was ‘labarum’ bedeutet. Wie aber Menschen, welche wissenschaftlich in unzuriechendem Masze geschult sind, nur zu vieles andere unrichtig zu lesen pflegen, so weisen bei dem Sermon des hl. Hieronymus ‘Über den Geburtstag des Herrn’ die Handschriften das Wort ‘lavarum’ auf. Die nach Wahrheit Strebenden sind daher zu ermahnen, dieses untergeschobene und in den Zusammenhang nicht passende Wort zu streichen und an seine Stelle ‘labarum’ zu setzen. - Mit Freude aber wollen wir dieses Zeichen auf unsere Schultern nehmen. Die Fahne des Sieges wollen wir erheben, das unterbliche ‘labarum’ wollen wir auf der Stirn tragen. Wenn der Teufel dieses Zeichen auf unserer Stirn erblickt, erzittert er. - Die Bemerkungen unseres Erasmus hierüber habe ich noch nicht vor Augen gehabt. Seine Ausgabe der Werke des Hieronymus ist noch nicht in meine Hand gekommen. 1

1 Erasmus (s. oben Kap. 27) hat die Werke des Hieronymus (9 Bände) in den Jahren 1516-1520 herausgegeben.

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Kap. 74. Gegen diejenigen, welche mit allerlei unnützem Zeug ihre Erklärungen vollstopfen, auf dasz dieselben umfangreicher werden.

Quintilian sagt im ersten Buche seiner Unterweisung: ‘Dem nachzugehen, was irgend ein unbedeutender Mensch gesagt hat, zeugt entweder von übergroszer Ängstlichkeit oder von leerer Prahlerei, es überladet den Geist und hält ihn ab, sich mit Besserem zu beschäftigen; denn wer alles Niedergeschriebene prüft und sogar das, was nicht wert ist gelesen zu werden, kann seine Mühe auch den Schwätzereien zuwenden, an welchen die alten Weiber Gefallen finden.’ Bei Raphael Regius lesen wir: ‘Hieraus erhellt einerseits, wie das Gebaren der Grammatiker verurteilt werden musz, welche immer neue oder auch schon abgethane Geschichten durchstöbern und, auf dasz es nicht den Anschein gewinne, als erstrecke sich ihr Wissen nicht über hinreichend viele Gebiete, solcherlei in ihre Erklärungen aufnehmen, was, wie jedermann weisz, für die Klarlegung der Gedanken bei den Schriftstellern, die sie erklären, keine Geltung hat, oder mit dem Hauptgedanken, den sie entwickeln, nicht in Bezug steht. Anderseits sind auch die Gesetzeskrämer und Philosophaster zu tadeln, welche etwas Groszes zu leisten vermeinen, wenn sie bei ihren Vorlesungen die albernen Ansichten jedes beliebigen faden und unklaren Kopfes ihren Zuhörern einprägen. Durch solcherlei Tändeleien wird thatsächlich erreicht, dasz solches, was anderwärts wissenswert und wissensleicht erscheint, in ihrem Munde über und über abgeschmackt und ungemein schwierig erscheint.’

Kap. 75 Budäus in den Anmerkungen zu den Pandekten.

Es giebt Leute, welche die Lehrmeinungen des Baldus, des Bartolus 1 und anderer bis in ihre kleinsten Teile zergliedern,

1 Bartolus Severus (gest. 1355) und Petrus Baldus (gest. 1400) wirkten als Lehrer der Rechtswissenschaft an verschiedenen Universitäten Italiens.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 230 gleichsam als hätten sie Lehrsätze der Philosophie vor sich. Um ein erstaunliches Aufsehen zu erregen, führen sie dabei Namen von Gewährsmännern an, welche nicht einmal solchen, welche die Namenkunde zu ihrem Berufsgeschäfte gemacht haben, bekannt sind. Es gilt ihnen nämlich als ein Hauptverdienst, unter diesen Gewährsmännern gerade solche anzuführen, die wenig von sich reden gemacht haben und die allen selbst dem Namen nach unbekannt sind. Die Erwähnung der alten Gewährsmänner dünkt ihnen gewöhnlich und verbraucht, wiewohl gerade diese alten die besten unter den Gewährsmännern sind und auch allen zur Hand stehen und unter ihren Händen gleichsam abgegriffen worden sind. Unter solchen Verhältnissen haben für jeden gerade seine eignen Worte einen wunderbaren Klang; die Worte aller andern erscheinen ihm misztönig. In diesem einen Punkte nämlich stimmen sie alle vornehmlich überein.

Kap. 76. Die Gesetzeskundigen unserer Tage bedienen sich der ‘gotischen’ Sprache; die alten Rechtsgelehrten handhabten die feinste und schmuckvollste Sprechweise.

Laurentius Valla sagt im Eingange des dritten Buches der ‘Eleganz’: 1 Wohin ist es mit der römischen Litteratur gekommen! Die Alten nahmen griechische Ausdrücke in ihre Sprache auf, diese ‘gotische.’ Ich sage dies nicht, um die Rechtsbeflissenen zu verkleinern. Im Gegenteil, ich möchte sie davon überzeugen, dasz sie ohne Humanitätsstudien die Befähigung, die sie anstreben, nicht erreichen; ich möchte sie dahin ermahnen, dasz sie lieber den Rechtsgelehrten als den Gesetzeskrämern ähnlich werden wollen. Denn um mit Virgil zu sprechen: ‘Allzu beglückt fürwahr, wenn nur sein Wohl es erkennte, Wäre das ländliche Volk!’ 2 So möchte ich auch die Rechtsbeflissenen ‘beglückt’ heiszen, wofern sie ihre Güter erkannt haben. - Welcher Unterrichts-

1 Über Laurentius Valla und das Hauptwerk desselben: ‘liber elegantiarum sermonis latini’ s. oben Kap. 55. 2 Virgil, Georgica II 458-459.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 231 gegenstand - angenommen dasz derselbe in öffentlicher Vorlesung behandelt wird, - ist so ansehnlich und - um mich dieses Ausdruckes zu bedienen - so goldig als das bürgerliche Recht?

Kap. 77. Gegen den Stolz der Gesetzeskrämer. (Eine Stelle aus den Anmerkungen des Budäus zu den Pandekten.) 1

Unerträglich in Wahrheit ist der Stolz jener, die von dem Rechtsstudium mit Karren voll Bücher zurückkehren, gleichsam als wären sie mit den Schätzen Ägyptens vollgepfropft. Die andern, welche sich mit sprachwissenschaftlichen Studien beschäftigen, verachten sie, gleich als wären dieselben mittellos und ohnmächtig, gleich als sammelten dieselben aus einem groszen Haufen Streu wenige Fruchtkörner oder auch gar keine. Wenn sie doch einmal bedenken wollten, dasz ihr eigener Reichtum nichts anders als Töpferware ist, die durch einen einzigen Erlasz des Landesherrn in Scherben geht, - was, wie wir hoffen, bald eintreten wird zur ungemein groszen Beglückung des ganzen Menschengeschlechtes - so würden sie ohne Zweifel auf diese hochfliegenden Gedanken, wie der Kastengeist sie eingiebt, verzichten.

Kap. 78. Franziscus Philelphus im zweiten Hekatostichon der zweiten Dekade seiner Satiren. 2

‘Rechtsgelehrte, so nennst du vielleicht mit Recht jene Männer, Welche wohl kundig des Rechtes zu heiszen verdienen, jedoch auch Jungendrescher, so mein' ich; den Handel mit nutzlosem Worttand Lernten allein sie, doch treffliches Wissen ist fremd ihnen gänzlich.’

1 s. oben Kap. 57. 2 Franzesco Filelfo, geb. 1398 zu Tolentino, gest. 1481 (31. Juli) zu Florenz, kennzeichnet in seinem Leben und Treiben den italienischen Humanismus nach seinen weniger anziehenden Seiten. Die Lehren, wie er sie in seinen Schriftwerken - es sind dies Gedichte, Briefe, Reden, Abhandlungen über Erziehung, Fabeln für die Jugend - niederlegte, hat er durch sein Leben nicht bewahrheitet, am allerwenigsten seinen Ausspruch: ‘Nur die Tugend giebt und nimmt den Adel und schmückt einen jeden mit verdienten Ehren.’ Er war allzeit ‘ein Selbstverherrlicher, ein Bettelpoet, ein Streithengst’. - Filelfo verfaszte unter anderm 10 Bücher Satiren, die er ‘Hekatostichen’ nannte, weil jede derselben aus 100 Verszeilen bestand (‘satirarum hecatostichon decades decem’, Mailand 1476); jedes Buch enthielt 10 Satiren. - Die erste Satire des sechsten Buches hat Jakob Wimpheling in seine ‘Jugend’ aufgenommen. Vergl. Jakob Wimphelings pädagogische Schriften, XIII. Band der vorliegenden Sammlung 258-260.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 232

Kap. 79. Georg Valla im achten Buch der Politik. 1

Ulpian sagt: ‘Die Vorschriften des Rechtes sind diese: in Ehren leben, den Nächsten nicht schädigen, jedem sein Recht zukommen lassen. Die Rechtswissenschaft ist die Kenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge, das Wissen um Recht und Unrecht.’ Nach Ulpians 2 Ansicht kann derjenige nicht rechtskundig genannt werden, welcher nicht einen Inbegriff aller Erkenntnis und nicht alle Wissenschaften und Künste, die im Gymnasium gelehrt werden, sich zu eigen gemacht hat. Mein Urteil geht nun dahin - und die Richtigkeit desselben erhellt leicht, wofern wir nicht Trägheit und Schwierigkeit behufs unserer Verteidigung zum Vorwand nehmen wollen -, dasz alle diese Unterrichtsgegenstände von demjenigen, welcher einen derselben vollkommen zu beherrschen trachtet, in Angriff genommen werden müssen. Aber wir besitzen keine Liebe zur Wissenschaft. Die Erkenntnis der Dinge, so die des Rechtes, wird nicht erstrebt um der Würde dieser Erkenntnis wegen; hastig und übereilt werden wir zu einem tagtäglichen Beruf und zu einem gemeinen Gelderwerb abgerichtet und ausgerüstet. Jene Rechtskundigen wachen die Nächte hindurch und arbeiten im Schweisze ihres Angesichtes, wenn sich nur ein reicher Käufer für ihre schmutzige Ware finden läszt. - Warum soll einer nicht hoffen dürfen, alle Künste zu beherrschen

1 Giorgio della Valle (1430-1499) s. oben Kap. 57. 2 Domitius Ulpianus (170?-228), berühmter römischer Rechtsgelehrter, das Haupt des Regentschaftsrates und der Vormund des Kaisers Alexander Severus (222-235).

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 233 und seinem Namen ein ewiges Angedenken zu verschaffen, der da berechnet, dasz das Studium aller Unterrichtsgegenstände, die es giebt, ihm von Nutzen sein wird?

Kap. 80. Aus derselben Schrift.

Wiewohl vieles durch Gesetze in trefflicher Weise angeordnet ist, so ist dasselbe meist durch den Scharfsinn der Rechtsgelehrten verderbt und entstellt worden. Wie es auch heute in Wahrheit behauptet werden kann, dasz im ganzen bürgerlichen Rechte die aus Anerkennung der Rechtsgleichheit hervorgehende Gerechtigkeit und Billigkeit im Rechtsverfahren auszer acht bleibt, dasz dagegen dem Worte nach diese Rechtsgleichheit beibehalten ist. Denn die des bürgerlichen Rechts Beflissenen reden und sprechen gar viel über Wortbezeichnungen und über die der Idee nach vorhandenen Rechtsverhältnisse. Daher werden denn auch die Gesetze von Ovid ‘wortreich’ genannt. So kömmt es denn, dasz die Behauptung zu Recht zu bestehen scheint, diese Art von Gesetzeskunde mache einen nicht zu einem erfahrenen Manne, sondern sie mache übermütig, hochfahrend, unbarmherzig, aufgeblasen und entfremde einen jeder Regung der Menschlichkeit, es sei denn, dasz man unter Zahllosen vielleicht irgend einen antreffe, der auf Grund angeborner Anlage so billig und rechtschaffen denkt, dasz ihn jenes Austüfteln von Listen und Kniffen nicht zu verderben und nicht zu der trotzigen Habsucht und ungewöhnlichen Härte der übrigen zu erniedrigen vermocht hat. Haftet diesen wohl ein anderes Gebrechen an als eine zum Verderben des Geistes ausgeklügelte Schlauheit und eine um Worte nie verlegene Entstellung der Klugheit? Da nun kaum irgend einmal ein Satz von allgemeinerem Inhalt sich ausfindig machen läszt, der nicht nach einer Seite hin angegriffen und widerlegt werden kann, so mag diese Kenntnis mit Recht eine ‘sophistische’ genannt werden.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 234

Kap. 81. Aus demselben Buche.

Allein jenes römische Recht kann nicht mehr in einem Kämmerlein aufbewahrt werden, da von Tag zu Tag durch die Wortklaubereien der Erklärer die Zahl der Bände gröszer wird und der Haufen solcher Werke höher anschwillt. Und - was das Verderbliche ist für die Bürger und für alle, welche diesen Gesetzen nachzukommen genötigt werden - es wird ihre Gefühllosigkeit für jeden Fall eines Vergehens, wo sich nur eine Handhabe dazu darbietet, so dasz ich von vielen mit Recht habe sagen hören, dies seien nicht Lehrer der Gerechtigkeit, sondern der Ungerechtigkeit, und es seien nicht Lehrer der Menschlichkeit, sondern der Gefühllosigkeit. Denn je mehr Worte sie machen, um so mehr Stoff bieten sie dar, das Vergehen, die Zurechtweisung, den Rechtsstreit und den Verlust bedeutsamer werden zu lassen. Wer hat nicht gehört, dasz hochfahrende aufgeblasene Menschen am häufigsten Vorträge halten, gleich als hätten sie etwas ausfindig gemacht, was den übrigen verborgen und unauffindbar gewesen? Achtet darauf, ihr Jünglinge, welchen Wert dies hat für die Erwerbung des Lebensunterhaltes! Dies, sage ich, geht darauf hinaus, die Wahrheit zu vertreiben. Das heiszt nicht: Gerechtigkeit lehren; das heiszt: Gerechtigkeit in ihr Gegenteil verkehren. - Aber wenn sie nun einmal von diesem strotzenden Übel ergriffen sind und durch Räubereien mancherlei Art auch Schätze für sich anhäufen, so erlangen sie in ihrem Leben doch niemals den Namen guter, gerechter, schuldloser Menschen. Nach dem Tode aber büszen sie die verdienten Strafen, wenn sie von jenem ewigen Richter, dem allmächtigen Schöpfer der Welt, ganz und gar werden verworfen werden. Sie werden freilich von keinerlei Schamgefühl erschüttert; während diejenigen, welche man Wegelagerer und Meuchelmörder nennt, sich für gewöhnlich in den Wäldern versteckt halten, treiben sie sich im Herzen der Stadt mitten auf dem Markte umher; sie treten mit schamloser Stirn nicht nur öffentlich auf mit einer Kühnheit, die menschliches Begreifen übersteigt; sondern sie machen sich auch breit und drängen sich andern auf, um dieselben zu

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 235 belehren, und gebärden sich, als wenn sie über jedwede Unthat auszer sich wären. - Soll man dies eine Wissenschaft des Rechts nennen, während es doch ein Verderben für den Staat ist, welches von Tag zu Tag fortwuchernd mehr und mehr an Kraft gewinnt? - Aber auf dasz der ‘Scoparius’ nicht zu grosz werde an Umfang, will ich, da mir bei meiner Absicht, auf einen andern Gedanken überzugehen, sehr vieles, das auf die Widerlegung der Gesetzeskrämer und Rechtsverdreher Bezug hat, begegnet, von diesen Stellen einige anführen. Es giebt einen Brief des Äneas Silvius, 1 in welchem er die Dichtkunst der Rechtswissenschaft vorzieht. Die unbilligen Rechtsanwälte und Rechtsverdreher werden sehr gut hergenommen in dem Gespräche: ‘Philalethes’ von Mapheus Vegius. 2 Bei Johannes Franziscus Picus 3 finden sich folgende Stellen: ‘Dasz doch jene Gesetzeskrämer, die der schönen Künste unkundig sind, aufhören möchten, sich allzuviel auf die Irrtümer der Glossen, der Dekrete, der Dekretalien 4 und der bürgerlichen Gesetze einzubilden!’ ‘Viele Irrtümer und Unrichtigkeiten sind durch die Sorglosigkeit der Abschreiber in die Bücher der Dekrete hineingekommen, welche an vielen Stellen verderbt und entstellt waren.’ ‘Man spottet über die Irrtümer derer, welche der Meinung sind, dasz eine Abweichung

1 d. i. Papst Pius II. (1458-1464). 2 Über Mapheus Vegius s. oben Kap. 12. - Im Texte bei Murmellius heiszt es: ‘in dialogo veritatis et Philaletha apud Mapheum Vegium.’ Es liegt bei dieser Fassung ein Versehen des Verfassers oder des Druckers vor. Die vollständige Aufschrift des Werkes lautet: ‘Philalethes seu veritas invisa exulans, dialogus ad Eustachium fratrem.’ Diese Schrift ‘ist eine Allegorie in Form eines Dialoges zwischen der Aletheia (Wahrheit) und Philalethes (Freund der Wahrheit). Aletheia erzählt ihre herben Schicksale, die sie bei den verschiedenen Ständen der menschlichen Gesellschaft erfahren, bis sie, überall verstoszen und blutig geschlagen, bei Philalethes gastliche Aufnahme und liebevolle Pflege findet.’ Vergl. Kopp: Mapheus Vegius' Erziehungslehre S. 14 f. 3 s. oben Kap. 39. 4 Für die kirchliche Gesetzgebung ist ‘Dekret’ gleichbedeutend mit ‘päpstlicher Erlasz’; in dem kirchlichen Rechtsverfahren bezeichnet Dekret ‘richterliche Verfügung’. - ‘Dekretalien’ heiszen die päpstlichen Verordnungen, so weit dieselben in die Sammlung des Kirchenrechtes aufgenommen wurden.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 236 von den Satzungen der Dekrete kein geringeres Unrecht sei als eine Abweichung von den Evangelien. Dieser Meinung scheint auch Gratian, 1 der Zusammensteller der Dekrete, gewesen zu sein, welcher wegen eines nichtverstandenen Ausspruches des Augustinus wunderliche Faseleien vorgebracht hat.’ Man lese bei Thomas Morus ‘Schilderung der neuen Insel Utopia’. 2 Daselbst lautet die Aufschrift eines Abschnittes: ‘Von den äuszerst wenigen Gesetzen für die Bewohner Utopias und von der Menge der Rechtsanwälte’. Erasmus 3 läszt im ‘Lob der Narrheit’ einen also sprechen: ‘Unter den Gebildeten nehmen die Rechtsgelehrten für sich selbst den ersten Rang in Anspruch, und kein anderer Stand hat in gleicher Weise Wohlgefallen an sich selber. Indem sie den Felsblock des Sisyphus 4 beständig wälzen und sechshundert Gesetze in ein und demselben Atemzuge hersagen, gleichviel worauf sich dieselben beziehen; indem sie Erklärungen zu Er-

1 Der Kamaldulensermönch zu St. Felix, Gratian, hat (wahrscheinlich um die Mitte des XII. Jahrhunderts) zu Bologna Vorlesungen über die kirchlichen Rechtssatzungen gehalten. Aus diesen Vorträgen ist ein Lehrbuch entstanden, welches er ‘Concordia discordantium canonum’ nannte. Dieses Lehrbuch bildet unter der Bezeichnung ‘’ den ersten Teil des Corpus juris canonici. 2 Thomas Morus (1480?-1535), Kanzler des Königs Heinrich VIII. von England, zeichnete in den zwei Büchern: De optimo reipublicae statu deque nova insula Utopia - erschienen 1515 - ein Idealbild der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung. 3 Über Erasmus s. oben Kap. 27. - Das Lob der Narrheit (Encomium Moriae - erschienen 1509) ist eine satirische Schrift, in welcher die Thorheiten der Jugend und des Alters, der Männer und der Frauen, der verschiedenen Stände und Berufsarten gegeiszelt werden. Als treue Anhänger der Thorheit werden auch Schulmeister aufgeführt, ‘die stolz darauf sind, den Knaben das ABC beizubringen, beim Funde eines alten Steines oder Gedichtes ein ähnliches Triumphgefühl besitzen, als hätten sie Afrika und Babylon erobert, und wie jener Sechzigjährige, der bereits zwanzig Jahre über der Grammatik gebrütet, keine gröszere Sehnsucht kennen, als die, so lange zu leben, bis sie wirklich die acht Redeteile sorgsam unterschieden hätten.’ 4 Sisyphus, Sohn des Äolus, König von Korinth, ward der Mythe nach in der Unterwelt wegen seines gottlosen Erdenlebens dazu verurteilt, auf die Höhe eines Berges einen gewaltigen Felsblock zu wälzen, der indes von der Höhe des Berges durch unsichtbare Gewalt wieder an den Fusz des Berges geschleudert wurde; so kam es, dasz: ‘Sisyphus holt und drängt das immer entrollende Felsstück.’ Vergl. Ovid: Verwandlungen IV. 459.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 237 klärungen, Ansichten zu Ansichten häufen, erzielen sie es, dasz jenes Studium das schwierigste von allen zu sein scheint, wie sie selbst es auch für das mühevollste und in der Folge auch für das rühmlichste ansehen.

Kap. 82. Verzeichnis einiger barbarischer Ausdrücke, die von den Gesetzeskrämern in Aufnahme gebracht worden sind.

‘Guerra’ statt ‘bellum’ (Krieg). ‘Treuga’ statt ‘induciae’ (Waffenstillstand). ‘Laudum’ statt ‘arbitrium’ (Schiedsrichterspruch). ‘Bannum’ statt ‘proscriptio’ (Ächtung). ‘Bannire’ statt ’proscribere’ (ächten), ‘Bannitus’ statt ‘proscriptus’ (geächtet) oder ‘praeconio citatus’. ‘Retorquatio’ statt ‘repercussio’, ‘relatio’ oder ‘retortio’ (Zurückschiebung des Eides auf den, welcher ihn angetragen hat). ‘Exemplare’ statt ‘exscribere’, ‘describere’ oder ‘exemplum sumere’ (Abschrift nehmen). ‘Exemplatum collationatum’ statt ‘exemplum recognitum’ (beglaubigte Abschrift). ‘Conditio potestativa’ statt ‘conditio arbitraria’ (schiedsrichterlicher Vorschlag) oder ‘conditio in potestate nostra’ oder ‘conditio in nobis sita’. ‘Necessitas causativa’ statt ‘necessitas conditionalis’ (eine an Bedingungen gebundene Verpflichtung). ‘Stipulatio alternativa’ statt ‘stipulatio disjunctiva’ (wechselseitiges Handgelöbnis). ‘Putativum’ statt ‘opinabile’ (vermutlich). ‘Dispensare’ statt ‘legibus vel canonibus solvere’ (von der Befolgung der bürgerlichen oder kirchlichen Gesetze entbinden). ‘Casus legis’ statt ‘species legis’ (Rechtsfall), wofür bei Cicero und Quintilian auch ‘thema’ oder ‘propositum’ gesetzt wird. ‘Insinuare donationem’ statt ‘donationem profiteri’ (eine Schenkung bekannt machen). ‘Miles’ statt ‘eques’ (Ritter). ‘Recusare judicem’ statt ‘judicem rejicere’ oder ‘ejurare’ (einen Richter verwerfen). 1 ‘Judex suspectus’ oder ‘judex favorabilis’ statt ‘judex iniquus’ (ein parteiischer Richter). ‘Non suspectus judex’ statt ‘judex aequus’ (ein unparteiischer Richter). ‘Vasallus’ statt ‘cliens’

1 Nach altrömischem Rechte war es dem Beklagten wie dem Kläger gestattet, die durch das Los bestimmten Richter bis zu einer bestimmten Anzahl zu verwerfen.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 238

(Höriger, Schützling). ‘Homagium’ statt ‘clientela’ (Schutzgenossenschaft). ‘Feudum tenere ab aliquo’ statt ‘in fide alicui esse’ (sich in jemandes Schutz begeben). ‘Assecurantia’ statt ‘fides’ (Schutz). ‘Lesire feudum’ statt ‘injicere manum praesidio clientario’ (einen ohne richterlichen Entscheid der Schutzgenossenschaft berauben). ‘Tolerantia’ statt ‘precarium’ (ein auf Widerruf gewährtes Besitzverhältnis). ‘Alaudiale praedium’ statt ‘praedium immune’ (ein steuerfreies Besitztum). ‘Rapportum’ statt ‘renuntiatio’ (Bericht, Bekanntmachung). ‘Processio’ statt ‘supplicatio’ (Busz-, Bettag; Bittgang). ‘Cessum tollere’ statt ‘sacrorum cessationem remittere’ oder ‘interdictum remittere’ (das Interdikt aufheben), wofür man auch, ohne abgeschmackt zu sein, sagen darf: ‘sacrificium remittere’, wenn z. B. einer sagte: ‘Sycophanta sacristitium Alcmariae indixit’ statt ‘interdictum indixit’. Hiervon aber ist es nun genug und übergenug!

Kap. 83. Gegen die Sophisten und die barbarischen Entsteller der Dialektik. Alcinous 1 in seinem Buche über die Lehre Platos cap. XXXIII.

‘Der Sophist unterscheidet sich von dem Philosophen ebenso sehr in der Weise seines Auftretens wie in dem Gegenstande des Wissens. In der Weise, insofern als er den Einkünften, die ihm von den Jünglingen zu teil werden, nachgeht und es vorzieht, gut und rühmlich zu scheinen als zu sein; in dem Gegenstande des Wissens, insofern sich der Philosoph mit dem beschäftigt, was immer dasselbe ist und sich immer in derselben Weise verhält, insofern der Sophist sich aber um das bemüht, was ganz und gar nicht in Wirklichkeit vorhanden ist, und sich mit seinen Arbeiten auf ein Gebiet zurückzieht, welches wegen der sich dort lagernden Finsternis nur schwer durchmustert werden kann.’

1 Alcinous war ein Philosoph der platonischen Schule; seine Werke sind von dem italienischen Humanisten Marsilius Ficinus (1433-1499) ins Lateinische übersetzt worden.

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Kap. 84. Aus dem Buche des Aristoteles ‘Über die sophistischen Beweise’.

1

‘Da es aber für manche wertvoller ist, weise zu scheinen als zu sein, ohne es zu scheinen - es ist nämlich die Weisheit der Sophisten eine solche, die zu sein scheint, ohne dasz sie wirklich ist, und der Sophist ist ein Mensch, welcher auf Grund von scheinbarer, aber nicht wirklicher Weisheit Geld zusammenhäuft - so liegt es fürwahr klar zu Tage, dasz diese mit Notwendigkeit den Anforderungen, welche man an Weise zu stellen pflegt, zu entsprechen scheinen, anstatt denselben zu entsprechen, ohne es zu scheinen.’

Kap. 85 Eine Stelle aus Faustus. 2

Mächtig erschallet die Stimme des redegewandten Sophisten; Doch über leeres Gezänk schwindet zwecklos die Zeit.

Kap. Erasmus im ‘Lob der Narrheit’. 3

Diesen möchte ich zugesellen die Dialektiker und Sophisten, eine Gattung von Menschen, gesprächiger als alles Erz zu Dodona, 4 so dasz jeder von ihnen mit je zwanzig auserlesenen Weibern in der Zungenfertigkeit wetteifern könnte. Beglückter gleichwohl würden sie sein, wenn sie wohl so zungengewandt wären; aber sie sind auch so zänkisch, dasz sie sich mit der gröszten Hartnäckigkeit um des Kaisers Bart streiten und in der Hitze des Wortgefechtes meistens die Wahrheit aus den

1 Aristoteles, Topik d. i. Dialektik: ‘die Kunst zu disputieren’, Buch IX: Von den sophistischen Beweisen, Kap. 1. 2 Ein römischer Tragödiendichter Faustus lebte um das Jahr 100 n. Chr. 3 s. oben Kap. 81. 4 In dem Zeus geheiligten Eichenhaine zu Dodona in Epirus waren cherne Becken aufgehängt; aus dem Schalle der vom Winde bewegten Becken fanden die Priester des Zeus ihre Orakelsprüche.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 240

Augen verlieren. Ausgerüstet mit drei Syllogismen wagen sie es unverzüglich, mit jedwedem über jedwede Sache anzubinden. In ihrer Rechthaberei dünken sie sich übrigens unbesiegt, auch wenn ihnen ‘Stentor’ 1 als Gegner gegenüber träte.

Kap. 87. Aus einer Schrift des Johannes Picus von Mirandula. 2

Es ist schon dahin gekommen, dasz nur diejenigen für weise gelten, welche das Studium der Weisheit wie Mietlinge betreiben. So kann man es beobachten, wie die schamhaft züchtige Philosophie, welche dank den Göttern unter den Menschen weilt, ausgewiesen, ausgezischt und ausgepfiffen wird; man kann es beobachten, dasz sie keinen findet, der sie liebt, keinen, der sie hegt und pflegt, es sei denn dasz sie sich selbst gleichsam darbietet und für die Miszachtung und Verspottung ihrer hoheitsvollen Würde elendigen Lohn annimmt. Schmerzerfüllt hebe ich dies hervor und fühle mich dabei von Unwillen ergriffen nicht sowohl gegen die Fürsten als vielmehr gegen die Philosophen unserer Zeit. Denn gerade sie vermemen und verkünden, man soll aus dem Grunde nicht philosophieren, weil den Philosophen kein Lohn gewährt und keine Gunstbezeugung bereitet würde: gleich als bekundeten sie es nicht selbst durch diesen einen Vorwand, dasz sie keine Philosophen sind; denn ihr ganzes Leben ist entweder auf Gewinn und Erwerb oder auf Befriedigung des Ehrgeizes gerichtet; sie streben zwar nach Erkenntnis der Wahrheit, aber nicht um der Wahrheit selbst willen.

Kap. 88. Johannes Franziscus Picus an Thomas Wolf. 3

Über die Dialektik habe ich fünf Bücher an meinen Sohn geschrieben. Aber ich hatte auch einmal die Absicht, ein

1 Stentor war einer der Griechen, die vor Troja zogen; seine Stimme war so gewaltig, dasz sie die Stimmen von fünfzig seiner Genossen übertönte. 2 s. Handbuch Kap. 3. 3 Thomas Wolf, Kanonikus in Straszburg und Propst zu Kolmar, um 1500. ‘Sein Haus war der Sammelplatz klassisch gebildeter Männer, ein Symposion von Weisen, er selbst der Wirt von Philosophen.’ (Pico von Mirandula.) Vergl. Hagen, Deutschlands litterarische und religiöse Verhältnisse im Reformationszeitalter I, 201.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 241

Sammelwerk der gesamten Philosophie zu schreiben. Da ich indes wuszte, dasz diese Aufgabe von griechischen wie von lateinischen Schriftstellern vielerorts in Angriff genommen worden, so habe ich mich bis auf diesen Tag der Ausführung meines Vorhabens enthalten und beschränkte mich auf das Gebiet der Dialektik. Viele haben sich darnach gesehnt, dasz dieser Stoff in angemessener Weise und in lateinischer Sprache zur Darstellung gelange. Diese Last habe ich gern übernommen, einerseits weil diejenigen, welche des Griechischen unkundig sind, bei der Handhabung des Lateinischen etwas Barbarisches und Verkehrtes, von dessen Knarren die Bänke der Schulen brechen, nicht ertragen können und den Fusz da zurückziehen würden, wo sie ihn voran setzen sollten; anderseits um meinem Sohne für dieses Studium eine nicht geringe Hilfe zu bieten.

Kap. 89. Derselbe an Johannes, den Sohn des Thomas Wolf.

Als ich sah, dasz du, mein liebwerter Sohn, schon über die Ziele der Grammatik hinaus bist, und dasz du durch die höheren Studien der Humanitätswissenschaften gleichwie durch blütenreiche Fluren umherschweifest, um von hieraus den Hügel der Dialektik mit seinen jähen, dornenbewachsenen Abhängen zu ersteigen, so habe ich es für vernunftgemäsz gehalten, dir hierüber einige Vorschriften zu geben. Und es dürften umsichtige Eltern es niemals für unangebracht erachtet haben, dasz ich einen Teil der Last übernehmen zu sollen glaubte, auf dasz du nicht allein bedeutsam erleichtert werdest in dieser Last, sondern auf dasz du auch durch Irrwege voller Krümmungen dich nicht abschrecken lassest, auf geradem Wege und ohne Aufenthalt jenen Hügel zu ersteigen und zum Gipfel der hochedlen Beredsamkeit geleitet zu werden. Gar schwere Irrtümer entspringen in unseren Tagen aus fehlerhafter Gewöhnung. Die unbrauchbarsten Menschen stehen in dem Rufe, brauchbare Führer zu sein. Anders finden sich keine, welche jene an Dornen

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 242 und Schlangen reichen Fuszpfade zu säubern unternehmen. Wie wenige nämlich giebt es, die nicht in Furcht und Schrecken versetzt werden und davon fliehen. Und giebt es nicht solche, die freilich die Behauptung aufstellen, jene Wissenschaft sei die Lehrerin fast aller andern Wissenschaften, die aber beim ersten Schritt in den Hörsaal und beim Anhören auch nur eines Lehrsatzes aus dem Gebiete der Dialektik stutzen und in ihrem Vorhaben innehalten! Und mancher, welcher zuvor stärker ausgeschritten ist, hemmt nicht nur seinen Schritt, sondern zieht den Fusz zurück, wenn er die ersten wirklichen Schwierigkeiten auch nur in ihrem Herannahen verspürt. Aber auch sonst stellen sich dem Lernenden übergrosze Schwierigkeiten entgegen. Wenn sie das ‘Organon’ 1 des Aristoteles in Angriff nehmen wollen, so stoszen sie auf der Schwelle schon auf ausgeklügelte und für Neulinge unlösbare Fragen oder - besser gesagt - auf Irrwege. Wenn dieselben auch im übrigen den Geist zur Regsamkeit anspornen können, so sind sie gleichwohl den Jünglingen in einem andern Zusammenhange vorzulegen, nachdem sie die naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles kennen gelernt haben und bevor sie sich die Metaphysik desselben vertiefen. Wiewohl Porphyrius 2 in seiner Einleitung zur Dialektik diese Fragen nicht berührt hat, so drängen sich dieselben gleichsam mit Fleisz und schon gleich an der Schwelle auf. Es werden aber Trugschlüsse den wohlbegründeten und zuverlässigen Vorschriften des Aristoteles vorgezogen. Es zeugte von bedachtsamer Überzeugung, wenn sie an Stelle derselben das zur Besprechung wählten, was jener grosze Lehrer der Denkkunst über ‘die sophistischen Beweise’ 3 mit ebenso viel Scharfsinn wie Gründlichkeit auseinander gesetzt hat. An der Hand seiner Vorschriften läszt sich alles entkräften und enträtseln. An diesen Schwierigkeiten liegt es gar oft, dasz Jünglinge

1 Mit ‘Organon’ bezeichnet man eine Zusammenstellung von mehreren Schriften des Aritstoteles über einzelne Teile der Dialektik (Logik). Diese Benennung stammt nicht von Aristoteles her; sie ist auf die Ausleger des Aristoteles zurückzuführen, die mit ‘Organon’ d. i. ‘Werkzeug’ es zum Ausdruck bringen wollten, dasz die Logik in ihren verschiedenen Teilen das Werkzeug sei, ‘dessen sich die Philosophie zur Erkenntnis der Wahrheit bedient.’ - Über Aristoteles s. Handbuch Kap. 1. 2 Über Porphyrius s. oben Kap. 62. 3 Über diese Schrift des Aristoteles s. oben Kap. 84.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 243 einen Zeitverlust von vielen Jahren erleiden und die Frucht ihrer Arbeit entweder gar nicht oder nur spät einheimsen; diese Frucht müszte dann eher eine kraft- und gehaltlose als eine vollreife genannt werden. Der Weg, den Anfänger einschlagen - so sagt jener nämlich -, soll eben sein, auf dasz sie ihn beschreiten können; er soll frei von Hindernissen sein, auf dasz sie auf demselben unterwiesen werden können. Daher habe ich den Entschlusz gefaszt, fünf Bücher über die Kunst der Dialektik zu schreiben, welche an dich gerichtet und für dich bestimmt sind. Das erste handelt über das, was einem Jünger dieser Kunst nach meinem Dafürhalten zu wissen nötig ist: über den Namen, die Bedeutung, den Erfinder, die Schriftsteller dieser Kunst, über ihre Anwendung und über einiges andere, was gleichsam als einleitend erachtet werden kann und wodurch der Geist ergötzt und gleichsam wie mit Honig erquickt wird, damit er nicht sofort den mit herbem und bitterem Trank gefüllten Becher der Dialektik koste. In den andern vier Büchern kommt die Kunst selbst in einer ihrem Wesen entsprechenden Anordnung zur Behandlung. Da nämlich unser Geist bei seinem Erkennen gleichsam drei Thätigkeiten vollzieht, so wird jeder dieser drei Thätigkeiten ein besonderes Buch gewidmet. Im ersten Buche soll nämlich von dem bloszen Erkennen der Dinge und von den Wörtern, durch welche jene bezeichnet werden, gehandelt werden; im zweiten von der Verbindung derselben und von dem sprachlichen Ausdruck für diese Verbindungen. 1 Das dritte

1 Diese Unterscheidung und Anordnung des Stoffes lehnt sich an die Darstellung bei Aristoteles an. Organon I cap. 2: ‘Alles, was ausgesprochen wird, wird entweder in einer gewissen Verbindung ausgesprochen oder ohne Verbindung. Das erstere findet statt, wenn ich sage: Ein Mensch läuft, ein Mensch singt; unverbunden dagegen ist die Aussage, wenn ich nur sage: Mensch, Stier, läuft, singt.’ Das zweite Buch des Franziscus Picus wird demgemäsz nach dem Vorgange des ersten Teiles des aristotelischen ‘Organon’ von den ‘Kategorieen’ handeln. Vergl. bei Aristoteles I c. 4. ‘Das, was nicht in irgend einer Verbindung ausgesagt wird, bezeichnet immer entweder eine Substanz oder eine Quantität oder eine Qualität oder eine Relation (Verhältnis) oder ein Wo (Ort) oder ein Wann (Zeit) oder eine Lage oder ein Haben oder ein Thun oder ein Leiden. Substanz - um nur eine ganz allgemeine Vorstellung davon zu geben - ist z. B. Mensch, Pferd; quantitativ ist z. B. zweiellig, dreiellig; qualitativ ist z. B. weisz, sprachgelehrt; eine Verhältnisbestimmung, relativ, ist z. B. doppelt, halb, gröszer; ein Wo ist, wenn ich z. B. sage, auf dem Markte, im Lyceum; ein Wann z. B. gestern, im vorigen Jahr; Lage ist z. B. in der Aussage: er liegt, er sitzt; Haben z. B. er ist beschuht, er ist bewaffnet; ein Thun z. B. er schneidet, er brennt; ein Leiden, wenn ich sage: er wird geschnitten, er wird gebrannt.’ Dieser erste Teil des Organon hat denn auch die besondere Aufschrift: ‘Von den Kategorieen’. Das dritte Buch des Franziscus Picus würde im wesentlichen dem zweiten Teil des Organon: der ‘Hermeneutik’ d. i. der Lehre vom sprachlichen Ausdruck entsprechen. Das vierte Buch würde in der Lehre von den Schlüssen dem dritten Teile des Organon: ‘Die ersten Analytika’ entsprechen.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 244

Buch wird angeben, auf welche Weise Urteile und richtige Schlüsse gebildet werden. Da wir und nun aber bei den Darlegungen häufig täuschen lassen und in dieser Täuschung Unrichtiges als richtig annehmen, so werde ich im fünften Buche von den Trugschlüssen sprechen und über die Mittel, die Wahrheit zu erkennen und Wahres von Irrtümlichem zu unterscheiden, so weit eben meine Kraft reicht. Lebe in Gesundheit.

Kap. 90. Rudolf Agricola an Jakob Barbirianus. 1

Gar viele, die da redselig sind und groszes Geschrei machen, nehmen die sogenannten Künste für sich in Anspruch und verbringen ihre Zeit mit den verworrenen und dunklen Redereien oder, besser gesagt, mit den rätselhaften Aussprüchen öffentlicher Redestreitigkeiten. Diese Rätsel haben in vielen Jahren noch keinen Ödipus 2 gefunden, der sie zu lösen imstande gewesen, und sie werden auch niemals einen solchen finden. Mit diesen Rätselreden belästigen sie die Ohren der bedauernswerten Jünglinge. Und Ähnliches prägen und trichtern sie ihnen dann ein. Bei den meisten ertöten sie damit Keime, die eine herrliche Geistesentfaltung versprechen: sie zerstören die Frucht, welche in diesen Jahren des zarten Alters gleichsam noch in der Knopfe schlummert. Allen diesen Künsten wird man gleichwohl hohes Lob spenden, wenn sie in richtiger Weise und in angemessener Reihenfolge betrieben werden.

1 Über Agricola und Barbirianus s. oben Kap. 26 und 27. 2 Nach der griechischen Sage löst Ödipus das berühmte Rätsel der Sphinx. - Der Eigenname ‘Ödipus’ wird in der Folge gewissermaszen zu einem Gattungsnamen in dem Sinne: ‘Rätsellöser’.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 245

Kap.91. Derselbe an Alexander Hegius. 1

Du kennst meinen Geschmack und weiszt, dasz ich der barbarischen Sprechweise nicht nachzugehen vermag, diesem Entsetzen derer, die sich jetzt mit allem und jedem beschäftigen. Du kennst dagegen auch den Geschmack jener und weiszt, dasz sie schreien, toben und es als Schimpf ansehen, wenn jemand es wagen sollte, ihre Beschlüsse umzustoszen und die Knaben dahin zu belehren, dasz sie Überflüssiges und Verkehrtes gelernt haben, was sie in ihren alten Jahren wieder verlernen müssen.

Kap. 92. Rudolf Agricola im dritten Buche seines Werkes: ‘Dialektische Erfindungskunst. 2

Wenn man den Philosophen unserer Zeit Ausdrücke wie ‘quaeritur’ (es fragt sich; die Untersuchung geht dahin, dasz), ‘arguitur primo et secundo’ (es wird behauptet erstens und zweitens), ‘notandum quarto aut quinto’ (es ist zu bemerken an vierter oder fünfter Stelle), ‘consequentia tenet’ (die Folgerichtigkeit hält daran fest, dasz . . . ) und andere formelhafte Wendungen ähnlicher Art nehmen würde, so würden sie sich ganz und gar verlassen und beraubt fühlen und sie würden, wie man sich überzeugen könnte, nichts zu sagen wissen.

Kap. 93. Aus dem Buche ‘Ekklesiasticus.’

‘Wer verfängliche Reden führt, ist verhaszt; er wird allenthalben zu kurz kommen.’ 3

1 Über Alexander Hegius s. Einleitung I und II. 2 Über Agricolas Schrift ‘de dialectica inventione’ s. oben Kap. 26. 3 Buch Jesus Sirach XXVII, 23.

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Kap. 94. Seneca an Lucilius. 1

‘Das heiszt verständig sein, nicht an gehaltlosen Untersuchungen in unnütz eitler Weise Scharfsinn zeigen wollen.’ - ‘Auch wenn noch so viel der Lebenszeit übrig wäre, so wäre es doch sparsam einzuteilen, um für das Notwendige auszureichen; nun aber, welcher Wahnsinn ist es, Unnötiges zu lernen bei dieser Armut der Zeit!’ - ‘Warum quälst du dich und magerst dich ab mit einer Aufgabe, die zu verachten gescheiter ist als sie zu lösen?’

Kap. 95. Aus der Erklärung des Hieronymus zu dem Briefe des Paulus an Titus.

Die Dialektiker, deren König Aristoteles ist, pflegen die Netze ihrer Beweisführungen auszuspannen und die ungebundene Freiheit der Redekunst in das Dorngehege der Schluszformen einzuschlieszen. Diejenigen nun, welche Tag und Nacht damit zubringen, dasz sie entweder Fragen stellen oder Fragen beantworten, oder einen Vordersatz aufstellen oder entgegennehmen, oder einem Vordersatz den Untersatz hinzufügen, denselben durch Gründe bekräftigen und die Schluszfolgerungen ziehen, nennen andere streitfüchtig, weil dieselben nicht nach den Regeln der Beweisführung, sondern in unmutiger Erregung, wie es ihnen eben beliebt, ihre Meinung kundgeben. Wenn nun solche so verfahren, deren besondere Kunst eben der Redestreit ist, was soll dann ein Christ anders thun, als dasz er überhaupt jedweden Redestreit meidet? - Was nützt es nämlich, mit schäumenden Lippen und gleich dem Bellen der Hunde zu schwatzen, wenn eine einfache und maszvoll gehaltene Antwort dich zu beruhigen vermag, wofern sie der Wahrheit entspricht; oder wenn eine solche Antwort, wofern sie falsch ist, von dir ohne Mühe und in friedlicher Weise berichtet werden kann.

1 Über Seneca und seine Briefe an Lucilius s. Handbuch Kap. 8. - Bezüglich der angeführten Stellen vergl. Briefe an Lucilius XLVIII, 11; XLIX, 6.

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Kap. 96. Aus dem zweiten Buche des Augustinus ‘Über die christliche Lehre’. 1

Die Kunst, Gründe und Gegengründe zu erwägen und auseinanderzusetzen, hat für alle Art von Fragen, welche bei den heiligen Schriften zu ergründen sind, hohe Bedeutung. Gleichwohl sollst du dich vor der Lust an Wortgezänk hüten; ebenso sollst du es vermeiden, dich der Täuschung deines Gegners in knabenhafter Weise zu rühmen. Es giebt nämlich viele falsche Schlüsse, Trugschlüsse genannt, welche den richtigen Schlüssen so ähnlich sind, dasz sie nicht allein Menschen langsamen Geistes täuschen, sondern selbst solche von hoher Begabung, wofern dieselben sich weniger achtsam erwiesen haben.

Kap. 97. Aus dem Eingang zu der Dichtung ‘Über die Dreieinigkeit’ von Prudentius. 2

Was stellt nicht an des Menschengeistes Lustgefühl! Nach allem Übel lüstert's ihn. Des Allvermögers göttlich Recht bestreiten sie Mit ränkevollem Truggespinst. Die Wahrheit wird in seinem Winkelzug zerstückt, Und jeder ist der gröszte Schelm. Bald lösen, bald verwirren sie den Meinungsstreit Durch wandelbarer Schlüsse Trug. Doch weh! der Ränkeschmiede trügerischer List! Und weh! der Schlauheit Wechselbalg!

1 Über Augustinus s. Handbuch Kap. 3. - Augustins um das Jahr 397 entstandene Schrift: ‘de doctrina christiana’ sollte in ihren vier Büchern eine Anleitung zum Studium der hl. Schrift geben. 2 Über Prudentius s. oben Kap. 50. - Die als ‘liber de trinitate’ von Murmellius aufgeführte Dichtung des Prudentius erscheint zumeist unter der Aufschrift ‘Apotheosis’, s. oben Kap. 49. - Die im Text angeführte Stelle aus dieser Dichtung bewegt sich im sogenannten zweiten jambischen Versmasz, welches aus der Verbindung eines sechsfüszigen und eines vierfüszigen jambischen Verses besteht.

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Kap. 98. Aus der Schrift des Raphael Volaterranus gegen die dialektischen Bücher. 1

Der Eleat Zeno 2 hat zuerst diesen Teil der Philosophie zum bloszen Wortstreit herabgewürdigt, um nicht zu sagen: er hat ihn entweiht, da offenbar nach dem Auspruch des Epikur 3 die Dinge der Natur der Dialektik nicht bedürfen und viel weniger noch die Gottesgelehrtheit, wie Hieronymus sagt. Alles dieses sind Erdichtungen des Ehrgeizes, auf dasz die Meinung aufkommen sollte, die Wissenschaft sei um so schwieriger zu erfassen. Es ist genugsam bekannt, dasz Aristoteles selbst sich vor Alexander gerühmt habe, niemand habe seine ‘Physik’ 4 zur Genüge verstanden. Die ‘Neueren’ aber haben weit ehrgeiziger dieselbe später ihrer verbergenden Hüllen entkleidet und ihrer

1 Über Raphael Volaterranus s. oben Kap. 57. 2 Zeno aus Elea in Unteritalien lebte im V. Jahrhundert vor Chr. In seinen Schriften wandte er eine dem Zwiegespräch sich annähernde Form der Darstellung an. Dieser Umstand und die Thatsache, dasz er sich bei seinen Beweisführungen mit Vorliebe der Form des Dilemma bediente, haben es veranlaszt, dasz man ihn ‘den Erfinder der Dialektik’ hiesz. ‘Diese Dialektik ist negativ, weil seine Absicht nur war, den Gegnern der eleatischen Lehre den Vorwurf der Widersprüche zurückzugeben.’ 3 Epikur aus Gargettos in Attila (342-270 v. Chr.) hat von den einzelnen Teilen der Philosophie am wenigsten die Dialektik (Logik) ausgebildet. Im Gegensatz zu der Weise der meisten griechischen Philosophen seiner Zeit, welche durch befremdliche und selbst widersinnige Behauptungen zu glänzen und durch Kunstgriffe und Spitzfindigkeiten zu blenden und zu täuschen suchten, vermied er alle Ausdrücke und Wendungen von fremdartigem Klange und bewegte sich in seiner nach allseitiger Deutlichkeit strebenden Darstellung in der hergebrachten Sprechweise des Lebens. Gleichwohl hielt er die Dialektik - von ihm und seinen Schülern ‘Kanonik’ genannt - nicht für geradezu unentbehrlich. ‘Da die Philosophie nach Epikur nichts anders sein soll, als die Fähigkeit und die Kunst, glückselig zu leben, so würde, wenn nicht der Aberglaube die Menschen ängstigte und quälte, es keiner “Physik”, und wenn nicht Irrtümer den Menschen Leid brächten, es keiner Anweisung zum richtigen Denken (Dialektik, Logik) bedürfen. Jetzt aber ist beides dem eigentlichen Hauptteil “der Ethik” voranzuschicken’. Vergl. Lange, Geschichte des Materialismus, Seite 21-35, und Erdmann, Grundrisz der Geschichte der Philosophie I § 96. Seite 155 f. 4 Die Physik des Aristoteles (φυσιxὴ αxρόασις) bietet in ihren Untersuchungen die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 249 rätselhaften Andeutungen entledigt, so dasz bei der Kunst des Raimund 1 eine Syhinx vonnöten wäre. Dieser, ein Franzose von hoher Gelehrsamkeit, welcher zur Zeit des Papstes Johann XXIII 2 lebte, hinterliesz auch andere dunkle Schriften, von denen es heiszt, dasz sie in den Geheimfächern der Pariser aufbewahrt würden. Aber diese Krankheit hat auch bei uns die Geistlichkeit bereits so angesteckt, dasz sie auf ihren Zusammenkünften und bei ihren wissenschaftlichen Gesprächen gerade diesen Raimund am meisten im Munde führen. Einer, der stimmkräftiger und anmaszender ist als die übrigen, verbreitet dann den Schein besonders reichen Wissens um sich, wenn er aus dem Wuste des zur Nachweisung und Erinnerung Niedergeschriebenen Namen von auszerordentlichem Klange hervorzieht, ohne dabei von den andern verstanden zu werden. Und ist nicht diese Kunst zu tadeln, welche den Geist durch vernünftige Vorschriften schärfen, welche denselben aber auch in demselben Gerade verwirren kann, wenn sie ihn lange Zeit sich mehr mit Worten als mit Sachen, mehr mit dem Siege im Redestreite als mit der Wahrheit sich beschäftigen läszt. Dieser Fehler verstöszt, wie Cicero sagt, am meisten gegen die Klugheit. Bei der Kürze unserer Zeit hienieden soll man nur das Nützliche und das für das Leben Brauchbare lernen.

Kap. 99. Aus des Erasmus Erklärung zum ersten Psalm Davids. 3

Und nun verwenden wir ein gutes Stück des Lebens auf die sophistischen Deutungen zu den Werken des Aristoteles, ja sogar zu unsern eignen ‘Possen’, 4 so dasz selbst hervorragenden

1 Raimund von Sabande, geb. zu Barcelona, lebte als Doktor der Philosophie und Medizin und als Professor der Theologie zu Toulouse. Sein Hauptwerk: ‘Theologia naturalis sive liber creatum’ gab er 1436 heraus. Ein von ihm selbst verfaszter Auszug dieses Werkes erschien unter der Aufschrift: ‘Sex dialogi de natura hominis’; ein siebenter Dialog ‘Viola animi’ wird für untergeschoben gehalten. Raimunds Einleitung zur ‘natürlichen Theologie’ ist von dem Konzil von Trient auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt worden. 2 Johann XXIII. 1410-1415; gest. 1419. 3 Über Erasmus s. oben Kap. 27. 4 Mit diesem absprechend geringschätzenden Ausdruck soll auf die im Vergleich zu den aristotelischen Schriften unbedeutenden Werke der Zeitgenossen hingewiesen werden.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 250

Theologen kaum Zeit bleibt, aus den Quellen zu schöpfen. Wenn eine Belegstelle nachzuweisen ist, so greift man zu den Richtern und zu den Canones. Ohne die Kenntnis dreier Sprachen kann die hl. Schrift nicht verstanden werden, wohl aber kann sie ohne die Physik und die Metaphysik des Aristoteles verstanden werden. Das, was not thut, unterlassen wir; nur auf das, was auch Schaden bringen kann, sind wir bedacht. Wer in Wahrheit ein Gottesgelehrter sein will, musz mit den Quellen vertraut sein.

Kap. 100. Aus dem ‘Abrisz’ des Erasmus. 1

Ein weniger guter Sophist zu sein ist besser als weniger bewandert zu sein in den Evangelien und den Paulinischen Briefen. Einige Lehrmeinungen des Aristoteles nicht wissen, ist besser, als die Gebote des Herrn nicht wissen. Schlieszlich möchte ich lieber mit Hieronymus ein frommer Gottesgelehrter sein als mit Scotus 2 ein ‘unbesiegter’.

Kap. 101 Aus der ‘Ermunterung’ des Erasmus. 3

Der ist mir in Wahrheit ein Gottesgelehrter, welcher nicht mit kunstreichen und schwungvollen Schlüssen, sondern durch die eigne Gemütsstimmung, durch Mienen und Blick und durch sein Leben selbst lehrt, dasz die Reichtümer zu verachten sind; dasz der Schrift nicht auf die trügerischen Versprechungen dieser Welt vertrauen dürfe; dasz man vielmehr alles vom Himmel

1 Im Text steht ‘Methodus’; es ist darunter die Schrift ‘ratio sive compendium verae theologiae’ zu verstehen. Vergl. über diese Schrift des Erasmus: oben Kap. 42. 2 Duns Scotus 1274 (1266)-1308, Mitglied des Franziskanerordens, ‘der spitzfindigste unter den Scholastikern’, ‘doctor subtilis’ genannt, unter anderm berühmt wegen seiner Erklärungen zu Aristoteles. 3 Über die ‘Ermunterung zum Studium der christlichen Weltweisheit’. (Paraclesis sive exhortatio ad christianae philosophiae studium) s. oben Kap. 42.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 251 abhängig sein lassen müsse; dasz Unrecht nicht vergolten werden dürfe; dasz man beten müsse für die, so einen verfluchen; dasz man sich um diejenigen wohl verdient machen müsse, welche sich um uns selbst schlimmes Verdienst erwerben; dasz alle Guten wie Glieder ein und desselben Körpers zu lieben und gleichmäszig zu unterstützen seien; dasz die Schlechten ertragen werden müssen, wenn sie nicht gebessert werden können; dasz diejenigen, welche ihrer Güter beraubt werden, welche von ihrem Besitze vertrieben werden, welche in Trauer versunken sind, glücklich und nicht zu beklagen seien; dasz der Tod auch von den Guten gewünscht werden dürfe, da er ja nichts anderes sei als der Übergang zur Unsterblichkeit. Und ich sage nun dieses: Wenn einer unter der Eingebung des Geistes Christi solches verkündigt und einschärft, wenn einer hierzu ermahnt, antreibt, ermuntert, der ist in Wahrheit ein Gottesgelehrter, auch wenn es ein Ackersmann oder ein Weber wäre. Und wenn einer solches durch seine eignen Sitten bestätigt, der ist dazu auch ein groszer Lehrer.

Kap. 102. Aus einem Briefe des Erasmus an Martinus Dorpius. 1

Diese Art von Menschen hat nun, wie es offenkundig ist, einige in ihrer Mitte, die in Bezug auf Geist und Urteilskraft so unglücklich begabt sind, dasz sie zu keinerlei Wissenschaft geschweige denn zur theologischen sich geeignet erweisen. Wenn sie dann einige Regeln des Alexander Gallus 2 gelernt und diesen ein Stückchen alberner Sophistik hinzugefügt haben, wenn sie darauf zehn ‘Lehrsätze’ des Aristoteles, die sie nicht verstehen, dem Gedächtnisse eingeprägt haben, wenn sie weiterhin eben soviele ‘Lehrmeinungen’ des Scotus 3 oder des Occam 4

1 Martinus Dorpius war Professor der Theologie zu Löwen. 2 Über Alexander Gallus s. Handbuch Kap. 16. 3 Über Duns Scotus s. oben Kap. 100. 4 Wilhelm, nach seinem Geburtsort Occam (Grafschaft Surrey, England) Wilhelm von Occam genannt, lehrte zu Paris, starb zu München um das Jahr 1347. Der neuen Ansichten und Aufschlüsse wegen, wie er sie in den philosophischen und theologischen Wissenschaften vorbrachte, ward er von den Zeitgenossen ‘venerabilis inceptor’ genannt; Scharfsinn und Redegewandtheit brachten ihm den Beinamen: ‘doctor singularis ac invincibilis’ ein.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 252 auswendig gelernt haben - was dann noch fehlt, werden sie dem Katholikon oder dem Mammotrectus und ähnlichen Wörterbüchern, z. B. der Cornucopia entnehmen 1 - so schwillt ihnen der Kamm wunders wie hoch. Nichts ist anmaszender nämlich als Unwissenheit. Sie sind es, welche den hl. Hieronymus als Sprachkundigen verachten, weil sie ihn nicht verstehen. Sie sind es, welche über Kenntnisse im Griechischen, im Hebräischen und gar im Lateinischen lachen. Wiewohl sie jedwede Sau an Dummheit übertreffen, wiewohl sie nicht die allergewöhnlichste Begabung zeigen so glauben sie doch die Weisheit gepachtet zu haben. Sie beurteilen, verurteilen und verwerfen die Meinungen aller andern; nichts bringt sie ins Schwanken oder ins Stocken; nichts ist ihrer Erkenntnis entzogen. Und gleichwohl erinnern jene an das eine oder andere Trauerspiel! Was ist nämlich unverschämter oder jäher als Unverstand? Es verschwören sich diese mit groszem Eifer gegen die schönen Wissenschaften. Sie haben den Ehrgeiz, unter den Gottesgelehrten eine Rolle zu spielen, und sie fürchten, wenn die schönen Wissenschaften wieder zur Blüte kämen und wenn die Menschheit zur richtigen Einsicht gelangt, würden sie, die bis dahin alle wohl zu wissen schienen, als Nichtwisser erkannt werden. Sie erheben solches Geschrei; sie erregen jene Unruhe; sie haben die Verschwörung angezettelt gegen diejenigen Männer, welche sich der Pflege der schönen Wissenschaften gewidmet haben. - Was haben Christus und Aristoteles mit einander gemein, oder die Verfänglichkeiten der Sophisten mit den Geheimnissen der ewigen Weisheit? Wozu ein solches Labyrinth von Streitfragen und Untersuchungen? Wieviel müszige giebt es unter ihnen! Wie viele werden verderblich dadurch, dasz sie Wortwechsel und Zwistigkeiten erzeugen!

1 Über die angeführten grammatischen Lehrbücher vergl. Kap. 54 und Kap. 5.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 253

Kap. 103. Aus eben diesem wunderschönen Briefe des Erasmus, den du von Anfang bis zu Ende sorgfältig durchlesen mögest.

Es giebt eine alte Vorschrift der höchsten geistlichen Obrigkeit über die Berufung von Lehrern, welche öffentliche Vorlesungen über etwelche Sprachen halten sollen. Bezüglich des Erlernens der Sophistik und der aristotelischen Philosophie giebt es bestimmte Vorschriften nicht, abgesehen davon, dasz es in den Dekreten in Zweifel gezogen wird, ob es Recht sei oder nicht, jenes zu erlernen. Und das Erlernen dieser Dinge wird von vielen und selbst von bedeutenden Gewährsmännern miszbilligt. - Aber ich möchte nicht, dasz in dieser Beratung fälschlich sogenannte Gottesgelehrte Sitz und Stimme hätten, welche einzig und allein das für wertvoll erachten, was sie selber gelernt haben. Haben aber solche etwas gelernt, was nicht läppisches und verworrenes Zeug ist? Wenn diese die bestimmenden Herren würden, so würde es dahin kommen, dasz alle Welt genötigt werden würde, die in die besten Schriften des Altertums eingepfropften Dummheiten und Possen jener Leute als ‘Götteraussprüche’ anzusehen. Dieselben tragen so gar keine Spur höherer Bildung an sich, so dasz ich fürwahr lieber ein mittelmäsziger Handwerker sein wollte als der beste unter Leuten dieser Art, wofern sich sie nicht etwas, das von höherer Bildung zeugt, zu eigen machen. Sie wollen es aber nicht, dasz irgend eine Wissenschaft nach der alten Weise wieder hergestellt werde, auf dasz nicht der Schein erweckt werde, als hätten sie etwas nicht gewuszt. Sie halten uns Entscheidungen von Synoden entgegen, welche sie sich nach ihrem Sinne zurecht gelegt haben. Auf Kosten der Wahrheit lassen sie die grosze Gefahr, in welcher der christliche Glaube schwebt, noch gröszer erscheinen. Sie reden von der Bedrängnis der Kirche, welcher sie selbst eine Stütze sein sollen, und verbreiten andere haltlose Ansichten bei der ungebildeten und abergläubischen Menge, in deren Augen sie, da sie nun einmal für Gottesgelehrte gehalten werden, keinerlei Schädigung ihres Ansehens erleiden wollen. Sie hegen die Befürchtung, es möchte, wenn sie die hl. Schrift anführen - wie dies häufig geschieht -, ihnen die in dem Wortlaut

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 254 des Griechischen oder des Hebräischen enthaltene Wahrheit vorgehalten werden und es möchte damit offenkundig werden, dasz das, was sie als einen göttlichen Ausspruch angeführt haben, nur eine leere Einbildung ihrerseits gewesen. Der heil. Augustinus, welcher ein so hervorragender Mensch und dazu ein Bischof war, liesz es sich nicht verdrieszen, von einem einjährigen Knäblein zu lernen. Leute von jenem Schlage aber wollen lieber alles kunterbunt durcheinander werfen als zugeben, dasz sie irgend etwas nicht zu wissen scheinen, was zu einer abgeschlossenen Bildung gehört.

Kap. 104. Aus dem Buche des Johannes Franziscus Picus über das Studium der menschlichen und der göttlichen Weisheit. 1

Ich möchte alle diejenigen Theologen nennen, welche sich mit der hl. Schrift beschäftigen, um Gott zu erkennen, zu ehren und zu lieben, um seine Gebote zu befolgen und um andern hilfreich zur Seite zu stehen.

Kap. 105. Aus dem Briefe des hl. Hieronymus an den Mönch Rusticus.

Niemals lege dies Buch aus der Hand; niemals komme es dir aus den Augen. Der Psalter soll wörtlich auswendig gelernt werden. 2 - Sei ein Liebhaber der Erkenntnis der Schriften, dann wirst du kein Liebhaber der Laster des Fleisches sein.

Kap. 106. Rudolf Agricola an Barbirianus. 3

Auf diesem Wege soll man zur Erkenntnis der hl. Schrift hinanschreiten, und nach den Vorschriften der hl. Schrift soll

1 Über Johannes Franziscus Picus s. oben Kap. 39. 2 s. oben Kap. 34. 3 Vergl. oben Kap. 26 und 27.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 255 sich uns die Ordnung des Lebens gestalten. Der hl. Schrift sollen wir als der wirksamsten Führerin zum Heile in Sachen unseres Heiles Glauben und Vertrauen entgegenbringen. Alles übrige, was uns über anderes überliefert wird, trägt mehr oder weniger Spuren des Irrtums an sich. Manchen konnte es nicht zu teil werden, ihr Leben richtig zu gestalten oder doch so, dasz es in keinerlei Weise vom richtigen Wege abwich. Welches Ziel und Ende ihrem Leben gesetzt sei, muszten sie nämlich entweder nicht oder sie vermuteten es nur, indem sie den Nebel, der vor ihren Augen lag, zu durchdringen suchten, und gröszer war dann bei ihnen die Beharrlichkeit, mit welcher sie diese Vermutungen aussprachen, als diejenige, mit welcher sie ihren Vermutungen Glauben schenkten. Die hl. Schrift ist nun über jeden Irrtum ebenso hoch erhaben wie Gott selbst, der sie hat aufzeichnen lassen. Lediglich die hl. Schriften vermögen uns einen sicheren, zuverlässigen, richtigen Weg zu führen; sie verscheuden jeglichen Nebel und lassen es nicht zu, dasz einer, welcher ihrer Weisung folgt, getäuscht wird, zu Grunde geht, oder jemals auf Abwege gerät.

Kap. 107. Johannes Picus an seinen Neffen Johanne Franziscus. 1

Du kannst Gott keinen gröszeren Gefallen anthun und keine gröszere Freude bereiten, als wenn du nicht ablässest, Tag und Nacht dich mit der hl. Schrift zu beschäftigen. Es ist in derselben eine gewisse göttliche Kraft verborgen, die sich lebendig und wirksam erweist, die den Sinn des Lesers mit wunderbarer Gewalt zur Liebe Gottes umgestaltet, sofern der Leser mit reinem und demütigem Herzen diese Lesung vorgenommen hat.

Kap. 108. Ein Epigramm des Murmellius.

Jünglinge, lernet, sofern es vergönnt euch, verschiedene Sprachen; Unverdrossen durchforscht eifrigst die Bücher der Schrift. Kleinigkeits-Wissen laszt fahren und zungenfertigen Wortstreit; Gottes Geheimnisse faszt nie ein sophistischer Sinn.

1 Vergl. oben Kap. 39.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 256

Kap. 109. Aus den Erklärungen des Philipp Beroald zu den Tuskulanen. 1

Es ist darauf hinzuweisen, dasz derjenige, welcher einen Ungelehrten zu den geistlichen Weihen zuläszt, Gott gewissermaszen ein blindes Opfertier darbringt. Nichts ist schmählicher als ein solcher Fehler, namentlich bei Geistlichen und bei solchen, die da die Gottesgelehrsamkeit hüten und pflegen sollen. Wenn Unwissenheit bei Laien unerträglich erscheint, sagt Leo, um wie viel weniger darf sie dann bei solchen, die den Laien als Geistliche vorgesetzt sind, entschuldigt oder verziehen werden! Die Priester unserer Tage singen jetzt statt der Psalmen Davids Liebeslieder; statt der Blätter des Evangeliums schlagen sie mit groszem Eifer Spielkarten um; statt in der Lehre der Apostel sind sie im Würfelspiel bewandert. Wenn man sie lateinisch sprechen hört, so sollte man glauben, sie ‘sprächen’ nicht lateinisch, sondern sie ‘rülpsten’ lateinisch. 2 Sind die Unseligen doch kaum imstande, drei Wörter mit einander zu verbinden. Ihre Lippen flieszen über von Barbarismen und Solöcismen. 3 Es berührt mich schmerzlich, wenn ich anhören musz, wie einige die lateinischen Wörter so verkehrt aussprechen, dasz man annehmen sollte, sie sprächen unter Knarren und Dröhnen barbarische Wörter.

1 s. oben Kap. 62. 2 Die ganze Grobheit der Ausdrucksweise erhellt aus dem lateinischen Wortlaut: ‘Quos si latine loqui audias, non latialiter loqui sed pedere dijudicabis.’ 3 Mit ‘Barbarismen’ bezeichnete man Fehler gegen die richtige Aussprache der Wörter und gegen die Wahl des Ausdruckes; ‘Solöcismen’ wurden Fehler gegen die Richtigkeit der grammatischen Verbindung der Wörter genannt. - Die Solöcismen hatten ihren Namen von der kleinasiatischen Stadt Soloi (in Cilicien), deren Bewohner ihres schlechten Griechisch wegen berüchtigt waren, vornehmlich seit Pompejus nach Beendigung des Seeräuberkrieges (67 v. Chr.) gerade in Soloi viele der gefangenen Seeräuber angesiedelt hatte.

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Kap. 110. Aus den Erklärungen zum ‘goldenen Esel’. 1

Das Wort ‘videris’ wird mit dem Tone auf der ersten Silbe ausgesprochen, so dasz man ‘vidĕris’ 2 statt ‘videbis’ setzt. Diese Anwendung ist feinen Kennern der Sprache sehr geläufig. So soll denn auch im Evangelium gelesen werden: ‘Quid ad nos? tu videris!’ 3 Mangelhaft unterrichtete Geistliche, welche von der Reinheit der lateinischen Sprache keine Ahnung haben, deren Lippen von Solöcismen und Barbarismen triefen, sprechen dieses Wort fälschlicher Weise mit langer Mittelsilbe (vidēris) aus und zwar öffentlich in der Kirche. Wenn ich nun das widerwärtige und barbarische Stottern derselben anhören musz, pflege ich bei mir selbst zu sagen: Tu vidēris scilicet bestia et insensatus. (Du erweckst freilich den Anschein eines vernunftlosen Tieres.) Aber - so lautet die Mahnung in den kanonischen Dekreten 4 und so fordert es die

1 Lucius Apulejus aus Madaura in Afrika (II. Jahrhundert nach Chr.), anfänglich Rechtsanwalt in Rom, später Lehrer der Beredsamkeit (Wanderlehrer) in Afrika, schrieb unter anderm ein Werk: ‘Metamorphoseon libri XI’ (Elf Bücher Verwandlungen); es wird dasselbe auch unter der Bezeichnung: ‘Fabularum Milesiarum de asino libri XI’ aufgeführt; am bekanntesten ist dasselbe geworden unter der Aufschrift: ‘asinus aureus’, (der goldene Esel). Es ist eine wenig selbständige Nachahmung der Schrift von Lucian (s. oben Kap. 27): ‘Lukios’ (Λουxιος η Όνος). Die ehedem viel verbreitete Annahme, dasz ein Lucius aus Paträ (Lucius Patrensis) der Verfasser dieses Werkes, welches seine erste Umarbeitung durch Lucian und eine zweite durch Apulejus erfahren habe, gewesen sei, hat sich nicht als stichhaltig erwiesen. Ein Mensch, welcher durch Zauberei in einen Esel verwandelt worden, erzählt in diesem Werke seine Schicksale. Eine Reihe von Erzählungen, Schwänken, Fabeln, Märchen sind in die Darstellung eingeflochten. Auch unsinnige Spuk- und widerliche Schmutzgeschichten finden daselbst ihre Stelle zur Kennzeichnung des Aberglaubens und der Sittenverwilderung des absterbenden Heidentums. Diesem Werke verdankt die Nachwelt dann auch ‘die Aufzeichnung der Fabel von Amor und Psyche, einer der zartesten Dichtungen des Altertums, welche in jenen Schmutzroman als Perle eingesenkt ist.’ Vergl. Ferdinand Gregorovius: Kaiser Hadrian, Seite 370. - Die Erzählung von Amor und Psyche findet sich in Apulejus' Metamorphosen IV, 28 - VI, 24. 2 ‘vidĕris’: 2. Person Sing. Futur II bez. Perfekt Konjunkt. - ‘ vidēris’: 2. Person Singul. Indikat. Präs. Pass. 3 Matthäus XXVII, 4: ‘Was geht das uns an? Sieh du zu!’ - Im Griechischen ist das Futurum gesetzt: τί πρòς ημας; σ̀υ οψει. 4 s. oben Kap. 51.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 258

Vorschrift des Augustinus - wir sollen einen Geistlichen lieber mehr als beredt sprechen hören; wir sollen Geistliche nicht verlachen, wenn wir hören, dasz sie bei ihren Anrufungen Gottes Barbarismen oder Solöcismen unterschlüpfen lassen, oder dasz sie die Worte, die sie beten, nicht verstehen und durch falsche Verknüpfungen derselben den Wortsinn zerstören.

Kap. 111. Aus der Apologie des Erasmus. 1

Durch Solöcismen wird Gott nicht beleidigt; aber er wird dadurch auch nicht ergötzt. Er haszt Beredsamkeit, welche hochfahrig sich brüstet; aber noch weit mehr haszt er denjenigen, der unberedt ist und sich gleichwohl anmaszend und hochfahrend gebärdet.

Kap. 112. Gegen die ungelehrten Geistlichen.

Wenn die im Nachstehenden Gekennzeichneten nicht den wissenschaftlich ungebildeten Menschen beizuzählen sind, so weisz ich in der That nicht, wer denselben beigezählt werden soll. Der erste unter ihnen hat in einem an mich gerichteten Brieflein, das nicht länger als drei Zeilen war, sechs auffallende Fehler gemacht, wenn ich geringfügige Schnitzer übersehen will; dasz er nämlich ‘recommendatio’ 2 statt ‘commendatio’ (Empfehlung) gebraucht, ist ein Fehler, den auch viele andere machen. Dasz er aber ‘conquerasse’ setzt statt ‘conquestum esse’, ist auffallend. Ich bin neugierig, an welchen Vorlagen er die Abwandlung ‘conquero, conqueras, conquerare’ gelernt hat. 3 Wenn ein Schüler der unstersten Abteilung im Gymnasium diese Abwandlungsweise angewandt hätte, so würde

1 Unter der ‘Apologie’ ist der Brief (epistola apologetica) zu verstehen, welchen Erasmus in Sachen seines ‘Lob der Narrheit’ (s. oben Kap. 81) an Martin Dorpius richtete. 2 ‘recommendatio’ ist in der mustergültigen Sprache nicht gebräuchlich. 3 ‘conqueror, conqueri’ ist ein verb. deponens. Die Herleitung der angeführten Formen von ‘conqueror’ ist unmöglich.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 259 er sicherlich seine Rutenstreiche vom Lehrer erhalten haben. Weiterhin hat er ‘abstraxissent’ statt ‘abstraxerint’ gesetzt unter unstatthafter Verwechslung der Zeitformen, deren regelrechte Unterscheidung er niemals gelernt zu haben scheint. Ferner schrieb er ’cedula’ ohne s im Anlaut, während es doch von wohl Unterrichten ‘scedula’ geschrieben wird, oder nach der Meinung anderer ‘scheda’ mit ch nach s; von diesem Worte wird dann vermöge der Verkleinerungssilbe ‘schedula’ oder ‘schidula’ hergeleitet. 1 Auszerdem hat er ‘talis qualis’ geschrieben - nach der Weise der Gesetzeskrämer - statt qualiscunque. Schlieszlich hat er hiis mit doppeltem i statt his geschrieben. Doch diesen Geistlichen will ich nicht einmal mit Namen anführen. Der zweite unter jenen Geistlichen hat in Gegenwart einiger wohl unterrichteten Männer diese Worte gesprochen: ‘Unus stuferus habebit magister Gerardus.’ 2 Priscian hätte ihm dafür die Rute gegeben, und heute kann derselbe für würdig erachtet werden, dasz ihm die Obhut kirchlicher Dinge anvertraut werde! Auch der Dritte hat seine Unwissenheit nicht weniger offenkundig werden lassen. Bei einer Zusammenkunst mit vielen andern, die sämtlich lateinisch mit einander sprechen, verhielt er allein sich schweigend oder er sprach deutsch. Schlieszlich liesz er sich unter der Macht des Weines bestimmen, in unserer Gegenwart davon Zeugnis abzulegen, dasz auch er ehedem das Gymnasium besucht habe, und er sagte: ‘Quis est se ipsum?’ statt ‘quis est sui ipsius?’ oder ‘quis est sui juris?’ (Wer ist sein eigener Herr?) Aber der Tag würde zu Ende gehen, ehe ich noch den kleinsten Teil der Solöcismen und Barbarismen, welche die Geistlichen gewöhnlich im Munde führen, besprochen hätte. Deshalb wollen wir auf Philipp Beroald zurückkommen.

1 Nach dem griechischen ‘σχίδη’ sind die Formen ‘Schedula’ und ‘schidula’ die ursprünglichen. 2 Dieser Satz erinnert an die Sprechweise der ‘epistolae virorum obscurorum’; s. oben Kap. 54.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 260

Kap. 113. Aus den Erklärungen des Philipp Beroald zum ‘goldenen Esel.’ 1

‘Videris’ ist mit dem Ton auf der ersten Silbe und mit verkürzter Mittelsilbe auszusprechen als abgeleitet von ‘vidĕro’. ‘Vidĕris’ besagt in der Form des Konjunktivs etwa ebenso viel als ‘videbis’. So setzt Terenz: ‘invenerit’ statt ‘inveniet’; er gebraucht den Konjunktiv statt des Indikativs, und dies ist, wie Donat sagt, eine schöne Redeweise. So heiszt es auch im Evangelium: ‘Quid ad nos? ipse videris!’ 2 Mangelhaft unterrichtete Geistliche sprechen dies falsch aus, indem sie die Mittelsilbe lang aussprechen und damit einen abgeschmackten und läppischen Sinn hineinbringen. Daher sollen sich die geistlichen Oberen und Vorsteher hüten, wissenschaftlich Ungeschulte und Ungelehrte in die gottesdienstlichen Gebräuche einzuweihen. Denn, wie Hieronymus richtig sagt, ein blindes Opfertier bringt dem Herrn, wer einen Ungebildeten zu den Weihen zuläszt. Es bot sich hier die Gelegenheit dar, gegen Geistliche von mangelhafter Zucht und Bildung loszuziehen und vorzugehen, die von den Anfängen wissenschaftlicher Bildung kaum gekostet haben; deren Lippen triefen von abscheulichen Solöcismen und Barbarismen; die bei der Feier der gottesdienstlichen Geheimnisse mit Barbarismen um sich werfen und die hochheiligen Worte so verworren und so verderbt aussprechen, dasz sie viele zum Lachen bringen und bei vielen Unmut und Verdrusz erzeugen. Aber die Schüler sollen, wie Augustinus sagt, stetig dahin ermahnt werden, dasz sie die Diener der Kirche weder verachten noch verlachen, wenn sie es anhören, dasz dieselben bei ihren Anrufungen Gottes sich Solöcismen zu schulden kommen lassen, oder dasz sie die Worte, welche sie sprechen, nicht verstehen und durch falsche Verknüpfung derselben den Wortsinn zerstören. Denn sie sollen lieber wahrheitsvolle Worte als beredte hören, gleichwie man kluge Freunde solchen, die schön von

1 Über Philipp Beroald s. oben Fap. 57. Die von Philipp Beroald besorgte und mit Erläuterungen versehene Ausgabe des ‘goldenen Esels’ erschien im Jahre 1500 zu Bologna. - Vergl. oben Kap. 110. 2 Matthäus XXVII, 4. Vergl. oben Kap. 110.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 261

Gestalt sind, vorzieht. Sie sollen es wissen, dasz man auf den Wortsinn mehr Gewicht zu legen hat als auf die Wortform, ebenso wie man die Seele für wertvoller erachtet als den Leib. Wir wollen also der Mahnung des Augustinus Folge geben und von Verunglimpfung und Verhöhnung der Geistlichen Abstand nehmen. Man würde ihre Schwäche ertragen müssen, wenn sie lediglich Verstösze gegen die Richtigkeit der Sprache sich zu schulden kommen lieszen. Aber tagtäglich kann man solche beobachten, die in eigener Verschuldung mit verderbten Sitten behaftet sind, die sich mit Gebrechen aller Art befleckt haben, die an Kopf und Herz nicht weniger Fehler an sich tragen als an Mund und Zunge. Statt des Psalters halten solche Priester Spielkarten und Würfel in ihren Händen; statt des Namens Gottes führen sie Verwünschungen im Munde; statt mit dem Schilde des Glaubens und mit dem Panzer der Gerechtigkeit rüsten sie sich mit kriegerischem Harnisch und Fechterschild; sie lieben Zank, Aufruhr, Krieg; Gottesfurcht ist ihnen fremd; nichts Geistliches tragen sie an sich als die geistliche Gewandung, die ihnen der Deckmantel für schändliche Vergehen sein soll. In den Gemächern mancher Geistlichen - ich spreche von verderbten - findet man weder kanonische Schriften, noch die Evangelien, noch überhaupt Bücher irgend einer Art, - wozu sollten Bücher solchen, die sie nicht verstehen, von nöten sein! - sonders Speere, Schwerter, Wurfgeschosse, Lanzen. 1

Kap. 114. Aus den kanonischen Dekreten.

Diejenigen, welche zu den Weihen zugelassen zu werden begehren, sollen drei Tage hindurch geprüft werden; darauf sollen sie, wofern sie für geeignet befunden werden, am Sonntage dem Bischof vorgestellt werden. - Es soll es niemand unternehmen, solche, die wissenschaftlich ungebildet sind oder die irgendwie körperliche Fehler und Gebrechen an sich tragen,

1 Der Abschnitt geht aus mit den Worten: ‘Noctu dum fortassis nocturna terriculamenta larvasque formidant, dormiunt implicati conplexibus concubinarum, tubantes in Venerem, colentes ventrem et quae sub ventre sunt, concinentes illud voluptuosorum: Edamus, bibamus, concubamus cras enim moriemur.’

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 262 in den geistlichen Stand aufzunehmen. Denn einer, welcher wissenschaftlicher Kenntnisse bar ist, kann nicht für den heiligen Dienst geeignet sein, und die gesetzmäszigen Vorschriften verbieten es, körperlich Fehlerhaftes Gott dem Herrn zum Opfer zu bringen. - Für solche, die sich dem Dienste des Herrn weihen, genügt nicht guter Umgang und Ehrbarkeit der Sitten, wenn nicht gelehrte Bildung sich zugesellt.

Kap. 115. Mahnung an den Leser.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich den verehrlichen Leser daran erinnern, dasz nach der Meinung des Hieronymus die Lesung des Terenz und des Virgil unerläszlich sei, auf dasz man an der Hand derselben die lateinische Sprache nach ihrer grammatischen Richtigkeit wie nach der dem Lateinischen eigentümlichen Schönheit des Ausdruckes erlerne. Hieronymus hat dies in dem ersten Buche der Verteidigung gegen Rufinus 1 zur Darstellung gebracht. ‘Meine Meinung, sagt er, geht dahin, dasz du, o Knabe, die Erklärungen des Asper 2 zu Virgil und zu Sallust lesen mögest, die des Vulcatius 3 zu den Reden des Cicero, die des Victorinus 4 zu den Gesprächen desselben, die meines Lehrers Donatus 5 zu den Lustspielen des Terenz und zu Virgil, die Erklärungsschriften anderer zu andern Dichtern, und zwar zu Plautus, Lucretius, Horaz, Persius und Lucanus.’ Soweit Hieronymus. Hieraus erhellt offenkundig, dasz nach seiner Ansicht die Knaben nicht nur die Dichtwerke selbst, sondern auch die von Sprachkennern herausgegebenen Erklärungen zu denselben lesen sollen. In dem Briefe an Furia über die Wahrung des Witwenstandes hat er sich des

1 Die Schrift des hl. Hieronymus: ‘Apologiae adversus libros Rufini libri II’ (aus dem Jahre 402; kürzere Zeit darauf erschien eine Fortsetzung derselben: ‘liber tertius sive ultima responsio adversus scripta Rufini’) wendet sich gegen Ansichten des Origenes. 2 Über Asper s. oben Kap. 1. 3 Wahrscheinlich Vulcatius (Volcacius) Gallicanus, der Verfasser einer Lebensbeschreibung des Gegenkaisers Avidius Cassius († 175). 4 Über Victorinus s. Handbuch Kap. 17. 5 Über Donatus s. ebendaselbst.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 263

Zeugnisses des Lustspieldichters bedient, um zur Enthaltsamkeit zu ermahnen mit diesen Worten: ‘Hat doch schon der Lustspieldichter, dessen Aufgabe es ist, menschliche Sitte und Art zu erkennen und zur Darstellung zu bringen, gesagt:

Wenn Ceres fehlt und Bacchus, Bläst Venus Trübsal.’ 1

Es mögen also gewisse Theologisten von dem Verbote Abstand nehmen, dasz die Knaben auf dem Gymnasium Terenz und Virgil lesen; sie mögen sich nicht bemühen, uns die Worte in den Mund zu legen, sie hätten vielleicht die Worte des Augustinus nicht gründlich erfaszt und verstanden. Es ist nämlich nicht unsere Weise und auch nicht unsere Absicht, in Jupiter gleichsam einen Gott den Knaben als Beispiel eines Ehebrechers vorzuführen. Die Verblendung eines Heiden wird von uns vielmehr als verwerflich und verabscheuungswert hingestellt; die Sitten der Menschen werden gleichsam in einem Spiegelbilde vorgeführt; die Personen, welche sprechend auftreten, und die Folgen ihres Handelns lassen wir sorgfältig betrachten und dem Werte nach abschätzen; und indem wir mit den kräftigsten Ausdrücken des Abscheus die Laster an den Pranger stellen, weisen wir die Zöglinge mit Eifer und Bedacht auf den Glanz der Tugend hin. Hierbei folgen wir dem Rat hochbedeutender Männer; solche sind: Hieronymus, Quintilianus, Papst Pius II., Mapheus Vegius, Angelus Politianus, Baptista Guarino, Erasmus und andere. Gleichwohl wollen wir diejenigen nicht verurteilen, welche den Terenz mit den Knaben nicht behandeln, in der Befürchtung, es möchte damit den Anschein gewinnen, als streuten sie die Saat des Lasters in die Herzen der Unerfahrenen oder als führten sie durch ihren Rat dieselben auf die Wege des Lasters; sie lesen dann andere Schriftsteller an Stelle des Terenz. Aber solch strenge Sittenrichter, welche durch Herabsetzung anderer sich selbst erhöhen wollen, können wir kaum mit Gleichmut ertragen. Wir lesen mit den Knaben Terenz, auf dasz sie an der Hand eines vorzüglichen lateinischen Schriftstellers die Reinheit der lateinischen Sprache kennen lernen. Und nicht sind es allein Terenz und Virgil, die wir behandeln, -

1 Terenz: Eunuch IV, 5, 9-10.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 264 wie dies gewisse Klässer uns zur Schuld geben, - sondern es kommen auch zur Behandlung Ambrosius, Hieronymus, Cyprian, Augustinus, Lactantius, Boëthius, Prudentius, Juvencus, Sedulius, Prosper, Leo, Arator, Franziscus Picus, Baptist von Mantua, Erasmus und die übrigen Leuchten unseres Glaubens. In kurzem hoffen wir auch mit Gottes Hilfe den ganzen Psalter unsern Schülern mit Sorgfalt und Bedacht zu erklären. Ob aber Terenz an anderm Orte vor den Knaben eingehender zu behandeln ist oder nicht, das werde ich in einem dieser Frage eigens gewidmeten Büchlein - so Gott mir das Leben läszt - unter Berücksichtigung der Gründe für und wider erwägen und auseinandersetzen.

Kap. 116. Aus den kanonischen Dekreten.

Die Geistlichen haben sich dahin zu bemühen, dasz sie Unwissenheit gleich wie eine Pest von sich fernhalten. - Unwissenheit, die Mutter aller Irrtümer, soll vornehmlich bei den Priestern Gottes vermieden werden, die da im Volke Gottes das Lehramt übernommen haben. Die Geistlichen sind anzuhalten, die hl. Schrift zu lesen, da ja der Apostel Paulus im Briefe an Timotheus sagt: ‘Halte aus im Vorlesen, Ermahnen und Lehren und verharre immer dabei.’ 1 Es sollen also die Priester die Schrift und die Canones kennen; ihre ganze Thätigkeit besteht in Predigen und Lehren; sie sollen alle sowohl durch die Kenntnis des Glaubens wie durch die Unterweisung im Handeln nach dem Glauben stärken und festigen. - Wenn Unwissenheit bei Laien unerträglich zu sein scheint, um wie viel weniger ist dann Unwissenheit bei solchen, die andern vorgesetzt sind, zu entschuldigen oder zu verzeihen. - Kein Geistlicher darf in Unkenntnis der kanonischen Bestimmungen leben, noch darf er irgend etwas thun, was den Anordnungen der Väter zuwiderlaufen könnte. - Diejenigen, welche das, was sich auf Gott bezieht, kennen, werden auch von Gott gekannt werden; diejenigen, welche das, was sich auf Gott bezieht, nicht kennen, werden auch von Gott nicht gekannt werden. Paulus bezeugt

1 Paul. I. Timotheus IV, 13 und 16.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 265 dies mit den Worten: ‘Wer nicht kennt, wird nicht gekannt werden.’ - Ein blindes Opfertier bringt dar, wer einen Ungelehrten an Stelle eines Gelehrten zu den Weihen zuläszt und einen zum Lehrer macht, der kaum Schüler sein könnte. - Wenn Priester oder Bischöfe aus Unkenntnis der Grammatik einen Fehler machen, so dürfen sie deswegen gleichwohl nicht von Schülern verächtlich angesehen werden, da man sich vor sittlichen Fehlern mehr als vor sprachlichen zu hüten hat.

Kap. 117. Aus dem ersten Buche der Bekenntnisse des Augustinus.

Sieh an, Herr Gott, und sieh es an in Geduld, wie die Söhne der Menschen die Vorschriften, welche sie von denen, die da zuerst sprachen, über Buchstaben und Silben erhalten haben, sorgfältig beobachten und wie sie die ewig währenden Vorschriften, die sie von dir ihres Heiles wegen empfangen haben, miszachten. Wenn einer, der an jenen alten Lautvorschriften festhält oder dieselben lehrt, gegen die Forderung der Grammatik das Wort ‘homo’ ohne h im Anlaut der ersten Silbe gesprochen hat, so wird er damit den Menschen mehr miszfallen, als wenn er im Widerspruch mit deinen Geboten die Menschen haszte, während er doch selbst ein Mensch ist.

Kap. 118. Aus einem Briefe des Augustinus an Licentius.

Wenn Dein Vers an unregelmäsziger Bewegung litte, wenn er den Gesetzen der Verskunst nicht entspräche, wenn er durch ungleiche Silbenmessung die Ohren der Hörer verletzte, so würdest Du Dich dessen schämen, und Du würdest nicht ablassen und nicht aufhören, bis Du ihn geordnet, verbessert, geregelt hättest, bis Du die Unebenheiten Deines Verses ausgeglichen hättest; mit dem gröszten Eifer und unter Nichtachtung aller Mühe würdest Du die Gesetze der Verskunst erlernen und dieselben zur Verwendung bringen. Wenn Du durch eigne Unordnung verdorben bist, wenn Du die Gebote Gottes nicht beobachtest, wenn Du in Deiner Lebensführung weder den frommen Wünschen der Deinigen noch den Weisungen des

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 266

Erziehers gerecht wirst, so glaubst Du dies abschütteln und unbeachtet lassen zu dürfen, gleich als wäre es etwas Geringfügigeres, dasz Du durch ungeregelte Sitten Gott beleidigst als dasz Du durch regellose Sprache den Forderungen der Grammatik zuwider handelst.

Kap. 119. An die, welche sich höherer Kunst und feiner Sitte beflissen zeigen.

Zöglinge, lieblich und hold, fürs erste erstrebet die Tugend; Ehrfurcht vor Gottes Gebot schwelle vorab euch die Brust. Bald dann die Pflege der Sprache erlernet und ehrbares Wissen; Leset, belehrt und geschult, heilige Bücher der Schrift. Lehrer, die sich an barbarischem Wissen gesättigt, verachtet, Diese cimmerische 1 Brut, bar aller Kunde des Lichts. Brennend Verlangen beherrscht sie nach gelblich blinkendem Golde, Oder auch maszlose Gier geizet nach eitelem Ruhm. Lehrer von solcher Geartung behalten in schnöder Gewinnsucht Schüler, gelehrig an Geist, lang auf dem unstersten Platz; Dehnt sich die Lernzeit aus, so mehrt sich dem Lehrer das Lehrgeld; Wenig nur weisz er, und doch lehrt er darüber so viel. ‘Nichts kömmt der Zeit an Kostbarkeit gleich’, so lehrt Theophrast 2 uns; Keinen der Tage verbring tändelnd, in fruchtloser Ruh!

1 Nach der Ansicht der Alten herrscht bei den Cimmeriern (im äuszersten Westen am Ocean) beständige Finsternis. Vergl. Homer, Odyssee XI, 14-19:

‘Jetzo erreichten wir des tiefen Oceans Ende. Allda lieget das Land und die Stadt der cimmerischen Männer. Diese tappen beständig in Nacht und Nebel, und niemals Schauet strahlend auf sie der Gott der leuchtenden Sonne; Weder wenn er die Bahn des sternichten Himmels hinansteigt, Noch wenn er wieder hinab vom Himmel zur Erde sich wendet: Sondern schreckliche Nacht umhüllt die elenden Menschen.’

2 Über Theophrast vergl. oben Kap. 54.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 267

Sättigt euch an der Frucht, wie lateinische Rede sie einschlieszt; Auserlesenes Mahl liegt in der Schale von Gold; Unter der Hülle des Wortes verborgen bleibt es dem Auge; Geistige Arbeit indes dringt bis zum innersten Kern. Meidet die Künste der Lüge wie Schlangen und bissige Hunde; Meidet auch jegliches Thun, dem es an Offenheit fehlt. Vorteil laszt fahren und nichtige Sorgen und stolzes Gebaren; Forscht nach der Quelle, woher strömet den Frommen das Heil. Lernet im Leben verstehen, was nach dem Leben bevorsteht; Lernt für euch selbst und erschlieszt bald dann auch andern den Weg. Glücklich, wer rechtlich gelebt! Doch glücklicher preisen wir den Mann, Der durch rechtliches Thun andre zur Rechtlichkeit führt.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 268

Pappa. 1

Ein hocherwünschtes Buch des Johannes Murmellius aus Roermund, welches den Namen ‘Pappa’ führt und nachbezeichneten Inhalt hat: Die lateinischen Namen für mancherlei Dinge; die Sammlung derselben ist jüngst durch mehr als elfhundert neuhinzugefügte Wörter vermehrt worden; die deutsche Übersetzung ist beigefügt. Verschiedene Redensarten, deren Zahl um mehr als die Hälfte vermehrt worden ist, zum Gebrauch für die Knaben. Sittenvorschriften mit deutscher Übersetzung. Mancherlei Sprichwörter in lateinischer und deutscher Sprache. Diesem Büchlein sind dann in knapper Übersicht Musterbeispiele der Deklination und Konjugation beigegeben - unter Weglassung der Wechselrede, wie es üblich ist, - für Anfänger werden dieselben nicht ohne Nutzen sein. Die deutsche Übersetzung der Kasus- und Zeitwortformen ist jedesmal beigefügt. - Desgleichen eine Anleitung zur Prüfung und Beurteilung von Gedichten in Gestalt von vierzehn Fragen. Diese Anleitung wird denen, die sich des grammatischen Studiums befleiszigen, sehr von Nutzen sein.

1 ‘Pappa’ (auch Papa) ist ursprünglich ein Naturlaut, ‘mit lallende Kinder die Speisen zu benennen pflegten.’ - Der vollständige Buchtitel lautet: ‘Johannis Murmellii Ruremundensis, cui titulus Pappa, in quo haec insunt: Variarum rerum dictiones latinae cum germanica interpretatione; oratiunculae variae puerorum usui expositae; praecepta moralia adjecta interpretatione germanica; potrita item quaedam proverbia et latino et vernaculo sermone conscripta.’ Die erste Ausgabe ist zu Köln im Jahre 1513 erschienen. Der Übersetzung liegt eine Baseler-Ausgabe aus dem Jahre 1517 (Königliche Paulinische Bibliothek zu Münster) zu Grunde

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 269

An einen Anfänger im Sprachstudium.1 Epigramm von Johannes Murmellius.

Hier trifft du ein, du Neuling, zur lieblichen Schulung des Geistes; Ich reich' die ‘Pappa’ dir dar; heilsam wie Milch wird sie sein. Allgemach wird sich dir mehren die Stärke, dann steigest du rühmlich Bis zu den Höhen der Kunst dank deiner eigenen Kraft.

Vorrede. Gervasius Sopher 2 aus dem Breisgau, Lehrer zu Freiburg im Breisgau, an die studierende Jugend.

In der Einleitung zu seiner Unterweisung in der Grammatik schreibt Älius Antonius Nebrissensis, 3 der erste unter den Grammatikern unserer Zeit, ein auf allen Gebieten hochgelehrter und in jeder Beziehung wohlberedter Mann, man müsse darauf Bedacht nehmen, dasz das, was zur Belehrung der Jugend geschrieben werde, ungekünstelt und schlicht sei, damit nicht die Mannigfaltigkeit jener Vorschriften in ähnlicher Weise dem Geiste Störung bereite, wie die Überfülling mit

1 Dieses Epigramm steht in der dem Herausgeber vorliegenden Ausgabe auf der Rückseite des Titelblattes. 2 Gervasius Sopher (ein Freund Wimphelings), Leiter der Schule zu Offenburg. 3 Elio Antonio aus Lebrija, geb. zu Lebrixia in Andalusien im Jahre 1444; er gründete 1473 zu Sevilla eine Schule, an welcher vornehmlich klassische Studien gepflegt werden sollten. Seit 1476 wirkte er als Professor der Grammatik zu Salamanca. Seine scholastischen Gegner erwirkten seine Amtsniederlegung (1488); später (1513) wurde er dank den Bemühungen des Kardinals Ximenez Professor an der Hochschule zu Alcala des Hanares. Seiner grammatischen, theologischen, historischen, juristischen und medizinischen Schriften wegen wurde er auch der ‘Aristarch Spaniens’ genannt. Seine wichtigsten grammatischen Schriften sind: Introductiones in latinam grammaticam (Einleitung in die lateinische Grammatik), libri quinque de institutione linguae latinae (Unterweisung in der lateinischen Sprache in 5 Büchern) 1481; dem letzteren Werke wird nachgerühmt, dasz er gründlich aufgeräumt habe mit den unfähigen und würdelosen Grammatikern.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 270

Speisen dem Magen. Wenn sie indes in der Wissenschaft schon einige Fortschritte gemacht hätten, dann wären ihnen gewissermaszen kräftigere und reichhaltigere Speisen zu reichen, auf dasz sie nicht nur Milch und Fleisch kosteten, sondern auch Sehnen und Knochen benagen könnten. Johannes Murmellius aus Roermund, welcher unter den Lehrern der humanistischen Wissenschaften nicht die letzte Stelle einnimmt, der da berufen ist, eine Zierde der schönen Wissenschaften und der lernenden Jugend ein Helfer zu sein, hat diesem ungemein feinsinnigen Satze seine Zustimmung nicht versagt und dieses ebenso brauchbare, wie schöne Werkchen verfaszt, dem er die passende Aufschrift: ‘Pappa’ gegeben. Hiermit möchte er den Knaben und allen, die im Sprachstudium noch unerfahren sind, eine einfache, unverfälschte, richtige und dem thatsächlichen Sprachgebrauch des Lateinischen entsprechende Belehrung über die Wörter bieten, durch welche die einzelnen Dinge, soweit es thunlich ist, gemäsz ihrer Benennung im Lateinischen und nach Begriffsreihen geordnet erklärt werden; er möchte damit gewissermaszen, wie der Apostel sagt, Milch den Knaben darbieten, er möchte ihnen damit eine Vorübung zum Erlangen des Schmuckes der römischen Beredsamkeit darbieten, die da wie Honig so lieblich ist. Zuerst nun sollen die Jünglinge, welche gleichsam mit Milchspeisen passend ernährt und gewissermaszen mit Naschwerk gefüttert worden sind, barbarische und unlateinische Wörter verachten lernen. Solche Wörter werden durch gewisse läppische Wörterbücher verbreitet, die da selten in einer ‘lateinischen Küche’ zubereitet worden sind. Dasz aber Anfänger im Lateinischen mit ihrem empfänglichen Sinne vor solchen Büchern gleichsam wie vor Schirling zu bewahren sind, weisz jeder, ausgenommen ein Schwachsinniger. Denn gerade die Erfahrungen, die wir in einem Alter sammeln, woselbst wir an Erfahrungen arm sind, haften um so unzerstörbarer in uns. Dies geht so weit, dasz man solchen, die von früh auf entweder an der Hand des Catholicon 1 oder bei irgend einem andern Dunstmacher niedrigster Art sich Fehlerhaftes zu eigen gemacht haben, mit geringerer Mühe des Fell über die Ohren ziehen als sie dazu

1 s. Scoparius Kap. 54.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 271 bestimmen könnte, ihren ausländischen und fremdartigen Faseleien, welche im römischen Reiche zu keiner Zeit Geltung gefunden haben würden, den Laufpasz zu geben, wie man zu sagen pflegt. So viel fehlt noch daran, dasz diejenigen, welche auf anderm Gebieten dank ihrer vielseitigen Bildung nicht Unbedeutendes leisten, nicht mit zäher Hartnäckigkeit dabei verharren wollten, diese Seuche im Schutz zu nehmen. Alles, was seinem Wesen untreu wird - um mich der hochweisen Worte des dreimal groszen Erasmus, dieser Zierde der Wissenschaft, zu bedienen -, entartet und wird weit schlechter, als wenn sein Wesen von vornherein mit schlechten Eigenschaften behaftet gewesen wäre. Du arglos glückliche Jugend, die du dich um die lateinische Sprache bemühst! Du bist deinem Lehrer Murmellius zu groszem Danke verpflichtet; er läszt sich deine Fortschritte in den Sprachen eifrigst angelegen sein; ihm ist es Tag und Nacht ein Gegenstand der Sorge und der Überlegung, was er für deinen Gebrauch als zweckdienlich erachten soll. Viele seiner von Gelehrsamkeit zeugenden Schriften bekunden dies, insonderheit aber dieses herrliche Büchlein, das da in sorgfältiger Auslege mannigfache Bezeichnungen für vielerlei Dinge, zierliche und feine Redensarten in nicht geringer Anzahl gewissermaszen als Musterbeispiele der lateinischen Sprache, Sittenlehren und allerlei Sprichwörter nebst deutscher Übersetzung darbietet. Dieses Werkchen, welches jüngst dank unserer Bemühung um mehr als elfhundert edle und allgemein gebräuchliche Wörter vermehrt und mit einigen andern nicht verächtlichen Zugaben ausgestattet worden ist, übergebe ich mit ausdrücklichen Worten dir, du studierende Jugend, die du bei deinen reichen Anlagen unserer Liebe gewisz bist. Lies dasselbe, lies es immer wieder, lies es mit Ausdauer von Anfang bis zu Ende: Du wirst deine Freude daran haben. Lebe in Gesundheit und wende deine Gedanken dem Sopher, der Deiner in Liebe gedenkt, in wechselseitiger Liebe stetig zu!

Freiburg, am 5. August, im Jahre des Herrn 1517.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 272

Erstes Kapitel.1

Variarum rerum dictiones latinae cum Lateinische Namen für mancherlei Dinge germanica interpretatione mit deutscher Bedeutung oder Auslegung.

De deo et rebus coelestis Von Gott und himmlischen Dingen. De temporibus Von den Zeiten. De quattuor elementis et eis quae in aëre Von den vier Elementen und den Dingen, generantur so in der Luft generiert oder gemacht werden. Terrae, aquarum et locorum vocabula Der Erde, der Gewässer, der Örlichkeiten Namen. Terrarum,gentium et civitatum nomina Der Länder, der Völker und der Staaten Namen. De animalium generibus Von den Arten der Tiere. De aetatibus et partibus hominis Von den Alterstufen und den Teilen des Menschen. De habitudinibus corporis Von den Gestaltungen des Leibes. De variis morborum generibus Von mancherlei Krankheiten. De avibus Von den Vögeln. De piscibus Von den Fischen. De serpentibus Von den Schlangen De vermibus Von den Mürmern. De arboribus Von den Bäumen. De fructibus arborum Von den Früchten der Bäume.

1 Von dem ersten Kapitel der ‘Pappa’ werden in die vorliegende Ausgabe nur die beiden ersten Stücke aufgenommen. Das erste von diesen beitet eine Übersicht über die im ersten Kapitel zur Behandlung kommenden Stoffe; das zweite enthält die der Aufschrift: ‘Von Gott und himmlischen Dingen’ entsprechende Ausführung. Die hier gegebene deutsche Übersetzung schlieszt sich, soweit wie thunlich, an die des Murmellius an. Als eine Probe der deutschen Sprache bei Murmellius diene die Aufschrift dieses ersten Kapitels: Mengerlei dingen latinische vocabulen mit dütscher betütünge oder usselegunge.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 273

De fructicibus. Von den kleinen Bäumen oder Zweigen. De herbis Von den Kräutern. De floribus Von den Blumen. De aromatibus Von den wohlriechenden Kräutern oder Gewürzen. De frumentis et leguminibus Von den Korn und Gemüse. De lapidibus et gemmis Von Steinen und edelen Steinen. De metallis Von den Metallen. De ecclesia et rebus ecclesiasticis Von der Kirche den Dingen in der Kirche. Sacramenta ecclesiae Die Sakramente der heiligen Kirche. De domo et ejus partibus Von dem Hause und seinen Teilen. De varia suppellectile Von allerhand Hausrat. De vestibus Von den Kleidern. De cibi generibus Von mancherlei Speisen. De potus generibus Von mancherlei Trank. Vocabula cognationis Namen für verwandtschaftliche Verhältnisse. Conjugii et affinitatis nomina Namen aus Ehestand und Verschwägerung. Nomina dignitatum ecclesiasticarum Namen für geistliche Würden. Dignitatum saecularium vocabula Namen für weltliche Würden. De bonarum artium professoribus Von den Lehrern der schönen Künste. Artificum et mechanicorum nomina Namen für Künstler und Handwerksleute. De libris Von den Büchern. De ponderibus et mensuris Von Gewichten und Maszen. De pecuniis Vom Geld. Nomina numeralia cardinalia Vornehmlich gegräuchliche Zahlwörter. Numeralia distributiva Verteilungszahlwörter. Ordinalia nomina Ordnungszahlwörter.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 274

Numeralia in ‘arius’ multiplicationem Zahlwörter auf die Endung ‘arius’, rerum quae non numerantur indicans welche eine Vervielfältigung von Dingen andeuten, die nicht angeführt und aufgezählt werden. 1 Numeralia multiplicativa quae ad pondus Vervielfältigungszahlwörter, welche mit vel numerum dicuntur Bezug auf Gewicht und Zahl gebraucht werden. Numeralia formae multiplicativa Vervielfältigungszahlwörter.2 Numeralia in anus Zahlwörter auf die Endung ‘anus’. 3 Adverbia numeralia Zahlumstandswörter. Tres virtutes theologicae Drei Tugenden, von welchen die Gottesgelehrten sprechen. Quattuor virtutes cardinales Die vier Haupttugenden, Septem vitia capitalia Die sieben Todsünden. Quattuor novissima Die vier letzten Dinge.

De deo et rebus coelestibus. Von Gott und himmlischen Dingen

Deus, Gott, gen. mascul. declin. II. Deus pater, Gott der Vater, g. m. Deus filius, Gott der Sohn, g. m. Deus spiritus sanctus, Gott der heilige Geist, g. m. Dei mater, die Mutter Gottes. Deipara virgo, (die gottgeberig junckfrow) die jungfräuliche Gottesgebärerin g. f.

1 z. B. lapis centenarius ein Stein von 100 Pfund Gewicht; ballista centenaria ein Wurfgeschütz, welches Steine von 100 Pfund Gewicht schleudert. 2 d. i. Numeralia proportonalia, die auf die Frage ‘wie vielmal soviel?’ antworten, während die numeralia multiplicativa im engeren Sinne auf die Frage ‘wie vielfach?’ antworten. Z. B. duplex (wie vielfach?): doppelt (zusammengelegt); duplus (wie vielmal soviel?) noch einmal so viel, - so grosz - so lang u. s. w. 3 z. B. decanus (decem zehn): der Vorgesetzte von zehn Mann.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 275

Divinitas, Gottheit, g. f. declin. III. Numen, die göttliche Gewalt, g. n. decl. III. Sancta trinitas, die heilige Dreieinigkeit (‘dryheit’), g. f. Angelus, ein Engel, g. m. decl. II. Archangelus, ein Erzengel, g. m. d. II. Apostolus, ein ‘Zwölfbote’, g. m. d. II. Evangelista, ein Evangelist, g. m. d. II. Propheta, ein Prophet, g. m. d. II. Prophetis, itidis, eine Prophetin, g. f. d. III. Prophetina: ebendasselbe, g. f. d. I. Vates, ein Prophet oder Weissager, eine Prophetin oder Weissagerin, g. com. d. III. Prophetia, Weissagung, g. f. d. I. Vaticinium, ebendasselbe, g. n. d. II. Martyr, ein Martyrer oder eine Martyrin, g. com. m. d. II. Confessor, ein Beichtiger, 1 g. m. d. III. Diva virgo, eine heilige Jungfrau, g. f. Patronus, ein Patron, ein Schirmherr, g. m. d. II. Deus tutelaris, ebendasselbe, g. m. Patrona, eine Schirmherrin, g. f. d. I. Dea tutelaris, ebendasselbe, g. f. Divus tutelaris, ebendasselbe wie patrones, g. m. Mundus, die Welt, g. m. d. II. Coelum, der Himmel, nomen heterogenium, 2 in singulari g. n. in plurali numero g. m. d. II. Planeta, 3 ein Planet, g. m. Sol, die Sonne, g. m. d. III. Titan, 4 ebendasselbe, g. m. d. III. Phoebus, 5 ebendasselbe, g. m. d. II. Solarium, ein Quadrant, an welchem man ersieht, um welche Stunde es ist bei der Sonne, g. n. d. II.

1 Beichte, mhd, bîht, ahd. bijiht; Zeitwort: mhd. bejëhen, ahd. bijéhan, d. i. bekennen. Beichtiger: Bekenner. 2 Verba heterogenea wechseln in Ein- und Mehrzahl das Geschlecht. 3 Das Lateinische kennt nur die Mehrzahlform: ‘Planetae’; abgeleitet von einem griechischen Worte ‘planēs’, Mehrzahl ‘planētes’. 4 Der Sonnengott Helios wird nach seiner Abstammung auch ‘Titan’ genannt. Hier gilt ‘Titan’ als Personifizierung der Sonne. 5 Phöbus (d. i. der Reine, der Strahlende), der Sonnengott.

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Solarium etiam locum significat ubi lintea ad solem candescunt: eine Bleiche, woselbst man Linnentücher an der Sonne bleichet, g. n. d. III. Colibium, ebendasselbe. Solarium 1 praeterea appellant juris consulti vectigal, quod pro solo penditur titulo ne quid in loco publico fiat: Bodenzins. Eclipsis solis, Finsternis der Sonne. Luna, der Mond, (der mon) g. f. d. I. Phoebe, 2 ebendasselbe. Plenilunium, Vollmond, g. n. d. II. Interlunium, Neumond, g. n. d. II., cum apparere luna desierit et nova fit. Novilunium, ebendasselbe, g. n. d. II. Neomenia, ebendasselbe, g. f. d. I. Lunula ist die Verkleinerungsform zu luna, g. f. d. I. Eclipsis lunae, Finsternis des Mondes. Stella, ein Stern, g. f. d. I. Sidus, ein Gestirn, g n. d. III. quod ad aliquod signum complurium stellarium compositum est, ut aries, taurus (welches aus mehreren Sternen zu einem Bilde zusammengesetzt ist, wie der Widder, der Stier). Astrum, ebendasselbe, g. n. d. II. Duodecim signa zodiaci, die zwölf Zeichen (des Tierkreises). Aries, der Widder, g. m. d. III. Taurus, der Stier, g. m. d. II. Gemini, die Zwillinge, g. m. d. II. Leo, der Löwe (lew), g. m. d. III. Sagittarius, der Schütze, g. m. d. II. Chyron, 3 ebendasselbe, g. m. d. III. Virgo, die Jungfrau, g. m. d. III. Cancer, der Krebs, g. m. d. II. Libra, die Wage, g. f. d. I.

1 Dieses ‘Solarium’ ist abzuleiten von ‘solum’: Grund und Boden; in der vorher angegebenen Bedeutung ist ‘solarium’ von ‘sol’ Sonne abzuleiten. 2 Phöbe (s. vorher) als Personifikation des Mondes aufzufassen. 3 Der Centaur ‘Chiron’ ward nach seinem Tode von Jupiter unter die Sternbilder versetzt.

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Erigone, 1 ebendasselbe, g. f. Capricornus, der Steinbock, g. m. d. II. Aegoceros, ebendasselbe (dieses ist ein griechisches, jenes ein lateinisches Wort). Aquarius, der Wasserman, g. m. d. II. Scorpio, der Skorpion, g. m. d. III. Pisces, die Fische. Dieses Wort kömmt in dieser Bedeutung (d. i. als Bezeichnung des Sternbildes) nur in der Mehrzahl vor. Canicula, der Hundsstern, g. f. d. I. Vergl. Persius: ‘Insana canicula messes jam dudum coquit’ (Ausdörrt die verschmachtenden Saaten Längst ja des Hundssterns Wut) 2 Caniculares dies, die Hundstage. Arctos, lateinisch ursa (Bär), weil sich dieses Sternbild in der Gestalt eines Wagens darstellt, nennen unsere Landsleute dieses Siebengestirn: den Heerwagen, g. f. d. II. Major ursa, ebendasselbe, g. f. Elice, 3 bezeichnet dasselbe wie major arctos (der grosze Bär) und Calisto 4 g. f. Cynosura: minor arctos (der kleine Bär), vergl. Ovid: 5 Esse duas arctos, quarum Cynosura petatur Sidoniis Elicen graja carina notet. (‘Wer hat gehört von den Bären, wovon Cynosura als Leitstern Tyrischen Schiffen gedient, Helice Griechen geführt?’) Arctophylax, arctoae sivi ursae phylax i. custos, qui dicitur Bootes (der Hüter oder Wächter des Bären,

1 Erigone nahm sich aus Verzweiflung über den Tod ihres Vaters Scarus das Leben; sie wurde unter die Sternbilder (virgo) versetzt. 2 Canicula d. i. Sirius. - Die Stelle bei Persius findet sich Satire III 4-5. - Übersetzung von Binder. 3 Helice, d. i. der grosze Bär. 4 Kallisto, die Tochter des Königs Lykaon in Arkadien, ward von der eifersüchtigen Juno in eine Bärin verwandelt und von Jupiter als ‘Helice’ unter die Sternbilder versetzt. 5 Ovid, Fasten III 107-108. - Cynosura (im Griechischen wörtlich: der Hundeschwanz); ‘Der kleine Bär.’

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Bootes 1 mit Namen). hic plaustrum vehit: der Wagenmann, g. m. d. III. Vergiliae, die Henne mit den Küchlein (die henn mit den hienlin) oder das Siebengestirn, g. f. d. II. Plejades, ebendasselbe, g. f. d. III. Lucifer, der Morgenstern, g. m. d. II. Hesperus, der Abendstern, g. m. d. II. Vesper, ebendasselbe, g. m. d. II.

Zweites Kapitel.

Oratiunculae variae puerorum usui Mancherlei Redensarten für den expositae. Gebrauch der Knaben zusammengestellt.

Salve Sei gegrüszt, oder: Gott grüsz' dich! Salus tibi Möge dir Heil widerfahren! Salvus sis in Christo Sei selig in Christo! Salve, praeceptor Gott grüsz' dich, Meister! Salvete, condiscipuli Gott grüsz' euch, ihr Mitschüler! Gratulor tibi adventum Ich heisze dich willkommen. Salvus sit adventus tuus Selig sei deine Ankunft! Salvum te advenisse gaudeo Ich freue mich, dasz du gesund angekommen bist. Gratulor tibi reditum Ich wünsche dir Glück zu deiner Heimfahrt. Ut vales? Wie geht's dir? Quomodo res habent? Wie stehen die Dinge? Gratias tibi ago Ich danke dir. Dei gratia bene valebo Mit Gottes Gnade bin ich gesund und munter. Ut tibi successit in itinere? Wie ist es dir auf dem Wege ergangen? Bene Wohl. Feliciter Glücklich.

1 Bootes (im Griechischen: der Ochsentreiber), Namen eines Sternbildes der nördlichen Halbkugel.

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Male Übel. Infeliciter Unglücklich. Quod est tibi nomen? Wie heiszet du, oder: wie ist dein Name? Johannes Hans. Quid rerum agis hic? Was schaffst du hier? Quid tu insolens te huc contulisti? Weshalb bist du seltsamer Weise hierhergekommen? Nescio qui me casus huc impulerit. Ich weisz nicht, welcher Zufall mich hierher geführt hat. Fortuito huc me recepi Ich bin von ungefähr hierher gekommen. Paternos lares revisurus huc iter habui Weil ich wiederum heim in meines Vaters Haus ziehen wollte, habe ich hierselbst durchreisen müssen. Cujas es? Wes Landes bist du? Frisius Ein Friese Saxo Ein Sachse. Batavus Ein Bataver oder Holländer Helvetius Ein Schweizer. Suevus Ein Schwabe. Cur huc advenisti? Warum bist du hierher gekommen? Quid te huc iter facere coegit? Was hat dich veranlaszt, hierher zu kommen? Liberalium studiorum gratia huc Um der freien Künste willen bin ich concessi. hierher gekommen. In cujus domo habitabis? In welches Mannes Haus willst du wohnen? Cujus hospitio uteris? Wo willst du Herberge nehmen? Sarcinatoris apud divi Lamberti Bei einem Schneider, der bei Sankt habitantis, cujus nomen mihi nondum Lambert wohnt, dessen Name mir noch notum est. nicht bekannt ist. Frater meus et ego in sex menses Mein Brüder und ich haben für ein halbes duodecim solidis luculentum cubiculum Jahr eine schöne lustige Kammer um conduximus. zwölf Schillinge gemietet.

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Magno locantur hic domus Die Häuser werden hier teuer vermietet. Nemo minoris locat domum quam Niemand vermietet sein Haus billiger als Petronius. Petronius. Caupones gratis locant domus suas Die Wirte vermieten ihre Häuser den advenis sed eo carius cibant. Gästen umsonst, aber sie rechnen ihnen dafür die Bespeisung um so höher an. Duc me ad ludi magistrum Führ' mich zum Schulmeister! Ubi est ludus literatorius? Wo ist die Schule? Quem ludum literatorium frequentabis, In welche Schule willst du gehen, da es nam hac in urbe tres sunt. in dieser Stadt drei Schulen giebt? Parentes mihi jusserunt, ut tradam me in Meine Eltern haben mir befohlen, dasz disciplinam ei magistro, qui et literis me ich mich in die Zucht eines Meisters bene erudiat et bonis moribus recte begebe, der mich wohl unterrichte und instituat. der mich recht in den Tugenden unterweise. Timannus ludi magister non doctrinae Der Schulmeister Timann wird allgemein solum sed severitatis etiam et vitiorum gelobt nicht nur um seiner Lehre willen, castigationis vulgo laudatur. sondern auch wegen seiner Strenge uns seiner Züchtigung der Laster. Praeceptor discipulis suis indulgens Ein Lehrmeister, der seinen Jüngern oder pecuniae gratia est diaboli mancipium et Schülern den Willen läszt um Geldes corruptor juventutis. willen, der ist ein leibeigener Knecht des Teufels und ein Verderber der Jugend. Omnes deteriores sumus licentia. Wir sind alle schlechter in unserm Mutwillen. Joannes mihi a te cavere volo, ne pugno Johannes, ich will mich vor dir hüten, caput meum ferias. dasz du mich nicht mit der Faust an den Kopf schlägst. Si vel minimo digitulo me attigeris, Wirst du mich auch nur mit dem kleinen talibus te modis Finger anrühren,

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 281 tractabo, ut mei quoad vixeris semper so will ich dich dermaszen zurichten, dasz memineris du dein Lebtag wirst an mich denken. Qui minis moritur, asininis sepelitur Wer auf Grund von Drohungen stirbt, den crepitibus begräbt man mit Esels Gestank. Verberibus soleo non verbis certare Ich bin gewohnt mit Streichen, nicht mit Worten zu hadern. Quae te mala crux exagitat? Welch ein Henker plagt dich? 1 Quid tibi vis cum tuis scommatis? Was meinst du mit deinen Stichelreden? Qui quae vult cuiquam dicit, saepe quae Wer einem jeglichen sagt, was er will, non vult audit der hört oft das, was er nicht gern hört. Qui nihil nisi barbariem novit, is doctis Wer nichts versteht als Barbarei, der ist omnibus adversatur allen Gelehrten widerwärtig. Periculo literationis meae facto, ludi Nachdem der Schulmeister mich geprüft magister tertiae scholasticorum classi me hatte, hat er mich in die dritte Klasse adscripsit. gesetzt. Mercedulam praeceptoribus meis Ich habe mein Schulgeld meinen liberaliter exsolvi Schulmeistern wohl bezahlt. Qui cito dat, bis dat Wer bald giebt, der giebt doppelt. Tarda gratia facit ingratum Langsame Wohlthat machet einen zum undankbaren Menschen. Si cui bene quid facies, facias cito Willst du jemanden etwas Gutes erweisen, so thu es bald. Ludi magister fecit nobis potestatem Der Schulmeister hat uns heute Urlaub hodie lusitandi zum Spielen gegeben. Improbi sunt discipuli, qui non exorato Das sind keine wackeren Schüler, die a praecep- ohne Urlaub von seiten

1 Plautus.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 282 tore commeatu in patriam revertuntur ihres Schulmeisters heimziehen. Insalutato hospite alicunde discedere Ohne Grusz oder Segen für den Hauswirt contra officium est von dannen ziehen, ist wider die Ehrbarkeit gehandelt. Vale Gott behüte dich! Vale bene, prospera fortuna comite Gott behüte dich wohl, Glück zu! Utinam auspicata tibi sit peregrinatio Gott wolle, dasz du zu glückhafter Stunde wandelst. Facundus comes in itinere pro vehiculo Ein gesprächiger Gefährte auf einem est Wege kömmt einem gut wie ein Fuhrwerk. Venerabilis praeceptor, liceat mihi pace Ehrwürdiger Meister! wollest mir Urlaub tua hodie duabus horis abesse schola geben, dasz ich heute auf zwei Stunden aus der Schule bleiben kann. Sit venia facto Das sei mit Urlaub gethan. Sit venia dicto Das sei mit Urlaub gesagt. Paulus absentiae delatus bis a magistro Paul, welcher seines Ausbleibens wegen ferula vapulavit angezeigt worden, ist zweimal von dem Lehrer mit Ruten gestrichen worden. Si mihi pugnam incusseris, magister nates Wenn du mich mit der Faust schlägst, tuas betulaceis virgis caesurus est wird der Meister dein Gesäsz mit Birkenruten hauen. Accepi a praeceptore commeatum; cras Ich habe Urlaub von dem Meister hinc sum discessurus genommen, morgen will ich hinnen ziehen. Notavi Antonium vernaculae lectionis Ich habe den Anton angemerkt, dieweil er deutsch geredet hat. Si barbarismi me notas, ego te soloecismi Zeigst du mich wegen eines Barbarismus 1 an, so zeige

1 Mit ‘Barbarismus’ bezeichnete man Fehler gegen die Richtigkeit der Aussprache im Lateinischen.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 283

ich dich an wegen eines Solöcismis.1 Notavi Petrum irreverentiae, quod Ich habe den Peter wegen sacerdotem quendam tecto capite Unehrerbieitigkeit angezeigt, weil er mit praeterivit. bedecktem Haupte an einem Priester vorbeigegangen ist. Iste nebulo dei atque hominum irreverens Der Filz thut weder Gott noch den est Menschen die Ehre an. Frontem perfricuit hic verterator Dieser alte Fuchs hat es verlernt schamrot zu werden. Boni consulas necne, susque deque fero Ob du es gut heiszest oder nicht, gilt mir gleich. Capillus tuus nimium est lixus Dein Haar ist viel zu lang. Tu habes promissam barbam Du hast einen langen Bart. Joannes calceos meos comminxit Johann hat mir meine Schuhe besudelt. Cur librum meum conpuisti? Warum hast du mir mein Buch bespuckt? Ne tu est magnus nebulo quod mihi ita Du bist wahrlich ein groszer Unflat, dasz scriptum meum cancellaveris? du mir also meine Schrift durchgestrichen hast. Carnifex iste vitam usque agit in lustris Der henkermäszige Bube weilt stets an der Stätte der Ausscheifung. Cave tibi ne tantum potes ut lectum Hüte dich, nicht so viel zu trinken, dasz nostrum convomas du dich erbrichst und unser Bett besudelst. Eamus auditum missam Laszt uns die Messe hören gehen. Nondum rem divinam audivi Ich habe noch nicht die Messe gehört. Plerosque brevius sacrum, prandium vero Viele Menschen belustigt eine kurze longius delectat Messe, mehr aber noch ein langes Frühmahl. Brevibus concionibus at longis Kurze Predigten, aber lange Bratwürste farciminibus gaudent rustici haben die Bauern gern.

1 Über ‘Solöcismen’ s. Scoparius Kap. 109 Anmerkung 3.

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Eamus jam cubitum, ut cras tempore Laszt uns nun schlafen oder zu Bett surgamus gehen, damit wir morgen beizeiten aufstehen. Quota hora pulsata est? Was hat es geschlagen? Sexta, nona, duodecima, prima Sechs, neun, zwölf, eins. Propino tibi dimidiatum poculum Ich bringe dir einen halben Becher. Nolo tecum certare poculis Ich will nicht mit dir zutrinken. Ne me probiberis quicquam, quod tibi Du sollst mir nichts bringen, da ich dir respondere non possim nicht Gleiches thun könnte. Bibendi palman temperans nihili faciat Des Trinkens Preis achtet der Mäszige für nichts. Si qua bibendi gloria est bobus debetur Giebt es irgend eine Ehre im Trinken, so gebührt sie den Ochsen. Multi mali causa est ebrietas Manches Übels Ursach ist die Trunkenheit. Uxor formosa et vinum sunt dulcia Ein hübsches Weib und der Wein sind venena süszes Gift. Cave ne ad eundem lapidem bis offendas Hüte dich, dasz du dich nicht an ein und denselben Stein zweimal stöszest. Nisi tantumdem potaris, hunc calicem in Wenn du mir nicht Bescheid thust, so os tibi impingam werde ich dir den Becher an den Kopf schlagen. Lardum cum butyro peresum est, nec Mein Speck ist nebst der Butter pecuniae quicquam superest mihi aufgezehrt; auch habe ich kein Geld mehr. Bono sis animo brevi pecuniam accipies Sei guten Mutes; bald wirst du Geld erhalten. Petrus despondit sapientiam Peter hat die Hoffnung, Weisheit zu erlangen, aufgegeben. Hic homo virtuti nuntium remisit Dieser Mensch hat der Tugend entsagt. Accesse mihi Antonium Ruf mir den Anton herbei.

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Evoca Joannem, ut veniat foras Ruf den Johannes, auf dasz er herauskomme. Peto te secretum Ich will allein mit dir sein. Colloquamur amotis arbitris Laszt uns ohne Zeugen zusammen reden. Quid me vis? Was willst du von mir? Modo audies, quid te velim Du wirst jetzt hören, was ich von dir will. Nullum tibi unquam in me commodum Es wird dir an mir nimmer ein Nutzen claudetur vorenthalten sein. Faciam tui causa, quicquid in rem tuam Um deinewillen werde ich das thun, was erit dir von Nutzen sein wird. Da mihi paululum opere Thu mir einen kleinen Dienst. Haec mihi res magis ac magis adlubescit Das Ding da gelüstet mich immer mehr und mehr. Primus pueritiae stipendiis hic merui Ich bin zum erstenmal hier in die Schule gegangen. Quis hic jam ludum aperiet? Wer wird jetzt hier Schule halten? Inter coenandum varia confabulati sumus Während des Nachtessens haben wir von mancherlei mit einander geredet. Vadam ad levandum ventrem post dumeta Ich will hinter die Brombeeren gehen, um meinen Leib zu erleichtern. Tu es ardelico Du bist Hans in allen Gassen. Bene vertat tibi balneum Das Bad möge dir wohl thun. Binas hodie literas accepi, alteras quidem Ich habe heute zwei Briefe empfangen, a matre, alteras autem a sorore mea den einen von meiner Mutter, den andern von meiner Schwester. Pater meus huc me misit rogatum te ut Mein Vater hat mich hierher gesandt, dich vesperi cum eo coenaveris zu bitten, dasz du diesen Abend mit ihm zur Nacht essest. Dii bene vertant Gott wolle, dasz es wohl gerate.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 286

Dii coepta secundent Gott geb' dir Glück zum Anfang. Vivitur parvo bene Mit wenig lebt man wohl. Salva res est, erubuit puer Es steht noch wohl um ihn; der Knabe ist schamrot geworden. Nitimur in vetitum1 Was man uns verbietet, das beliebt uns. Lupus insidiatur ovibus Der Wolf lauert auf die Schafe. Dentes instar canis exeris Du zeigst die Zähne wie ein Hund. Fac mihi taleam Mach mir ein Kerbholz! Frater meus nudius tertius ex hac vita Mein Bruder ist vorgestern gestorben und migravit et soror laborat adversa meine Schwester ist krank. valetudine. Quot annos natus es? Wie viel Jahre bist du alt? Quotum aetatis annum agis? Wie alt bist du? Decem annos natus sum Ich bin zehn Jahre alt. Decimum aetatis annum ago Ich bin zehn Jahre alt. Opportune mihi factus es obviam Du bist mir zur guten Stunde begegnet. In tempore venisti, quod omnium rerum Du bist zu rechter Zeit gekommen; das est primum ist unter allen Dingen das vornehmlichste. Timeo ne hoc praeceptor rescicat Ich fürchte, dasz dies der Lehrer erfahre oder vernehme. Prius audite paucis, quod cum dixero, si Hört zuvor mit wenig Worten; wenn ich placuit, facitote euch das Wort gesagt habe, so thut es, sofern es euch gefällt. Hoc munusculum boni consule Nimm mit dieser kleinen Gabe fürlieb. Rogo ne aegre feras verba mea Ich bitte, du wollest meine Worte nicht übel nehmen.

1 Vergl. Ovid. Amores III, 4, 17: Nitimur in vetitum semper cupimusque negata. (‘Immer neigen wir zu dem Verbotenen und begehren Versagtes.’)

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 287

Stultus aliorum vitia cernit, suorum Ein Narr sieht anderer Leute Gebresten obliviscitur und vergiszt darüber der seinigen. Non videmus nauticae quod a tergo est1 Wir sehen nicht, was dahinter im Ouersack ist. Verecundari neminem apud mensam Es soll niemand bei Tisch Scheu decet bekunden. Quod audivi accipite et quod sit facto Vernehmt, was ich gehört habe, und opus decernite erkennt, was zu thun ist. Priusquam incipias consulto, ubi Ehe dasz einer etwas anfängt, thut es not consulueris, mature facto opus est um Rat zu fragen; wenn einer sich Rat erfragt hat, thut es not, dasz er beizeiten handele. Aliena exempla me commonent, ne temere Die Dinge, so andern Leuten begegnet quicquam inceptem sind, warnen mich, etwas planlos zu beginnen. Scitum est periculum facere ex aliis tibi Es steht wohl an und es ist hübsch, dasz ut ex usu sit du an andern Leuten erfährst, was dir von Nutzen sei. Honestum est laudari a laudato viro Es ist ehrenvoll, von einem Manne, der selbst Lob erfahren hat, gelobt zu werden. Principibus placuisse viris non ultima Es ist kein geringes Lob, das laus est. Wohlgefallen der vorzüglichsten Männer gewonnen zu haben.2

1 Ein Vers Catulls; vergl. Gedichte XXII 20-21: ‘Ein jeder hat sein Teilchen Narrheit abgekriegt, Nur sehen wir nicht den Sack, der uns vom Rücken hängt. (Übersetzt von Pressel.) Vergl. auch Persius, Satir. IV 23-24: ‘Dasz niemand doch es wagt, niemand, in sich selber zu steigen, Stets nur den Sack wahrnimmt auf des vor ihm Wandelnden Rücken.’ (Übersetzt von Binder.) 2 Vergl. Schiller, Wallenstein, Prolog: ‘Denn wer den Besten seiner Zeit genug Gethan, der hat gelebt für alle Zeiten.’

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 288

Gaudeo quidem a viro et quidem Ich freue mich von einem laudatissimo laudari hochgepriesenen Manne gepriesen zu werden. Dux noster cras recensebit exercitum Unser Herzog wird morgen Heerschau halten. Regis Francorum legatus cras mille Der Gesandte des Königs von Frankreich pedites Germanicos auctorabit. wird morgen tausend deutsche Fuszknechte mustern. Centum milites sunt exauctorati Es sind hundert Krieger ausgemustert worden. Carnes suntparum elixatae Das Fleisch ist nicht gar gesotten. Carnes sunt multum adustae Das Fleisch ist fast angebrannt. Tute quod intristi tibi totum exedendum Was du dir selbst hast eingebrockt, musz est du ganz und gar ausessen. Commoda mihi Vergilium tuum quem Leih mir deinen Vergil; ich will ihn dir intra paucos dies tibi reddam in wenigen Tagen wiedergeben. Da mihi mutuos novem solidos, me non Leih mir neun Schilling, du wirst mich ingratum experieris dankbar finden. Pogillus latinitatem grammaticamque Pogillus zerbricht den lateinischen tanquam ollas frangit, quem nisi Sprachgebrauch und die Grammatik wie prohibeamus actum est de lingua latina. irdene Töpfe; wehren wir es ihm nicht, so ist es geschehen um die lateinische Sprache. Quam tibi mutuam dedi pecuniam, fac Sieh, dasz du mir das Geld wieder giebst, reddas das ich dir geliehen habe. Grande aes aleinum quod contraxit Die grosze Schuld, die Bernhard gemacht Bernardus ad calendas Graecas 1 exsolvet hat, wird er am St. Nimmersmehrtage bezahlen.

1 Die Römer nannten den ersten Tag im Monat die ‘Kalendae’; bei den Griechen war diese Benennung ungebräuchlich. An den griechischen Kalenden würde also dasselbe heiszen wie unser ‘am 30. Februar’.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 289

Faciamus periculum in musicis uter Wir wollen uns im Singen versuchen, wer nostrum sit doctior von uns beiden der geschicktere ist. Bernardus loquitur ut qui latinissime Bernhard redet wie einer, der ausgezeichnet lateinisch spricht. Pauli soror adeo formosa est ut nihil Die Schwester des Paul ist so fein supra säuberlich, dasz nichts darüber geht. Desine maledicere, malefacta ne noscas Höre auf böse Worte zu geben, auf dasz tua du nicht hörest deine bösen Werke. Provoco te in dialecticum certamen Ich lade dich zu einem Redestreit, quovis pignore worüber du willst. Quid audes deponere? Was wagst du zu setzen? Nolo tecum certare Ich will nicht mit dir wetten. Libet iterum certaminis aleam subire Mich gelüstet noch einmal eine Wette zu wagen. Quo tu abis, qui vulcanum in cornu Wohin gehst du, mit dem Licht in der conclusum geris? Laterne? Petrus quam ego majusculus est Der Peter ist ein wenig älter (oder gröszer) als ich. Johannes est me habitior Johannes ist rüstiger (oder beleibter) als ich. Nollem habitiores esse corporis Ich möchte nicht, dasz ich stärkeren Leibes wäre. Ne me longius opprobriis lacessas, ni Du sollst mich nicht länger mit cupias a me gladio perfodi capulotenus Scheltworten reizen; du begehrest denn von mir mit dem Degen bis ans Heft durchstoszen zu werden. Tu stertis noctes atque dies Du schnarchest Tag und Nacht. Surge, jam clarum mane fenestras intrat Steh auf, der helle Morgen scheint zum Fenster hinein. Tibi luditur mihi istic neque seritur neque Dich betrifft es, mich geht es nichts an. metitur1

1 Plautus, Epidicus (die drei Sklavinnen) II, 2, 80-81: ‘Für mich ist da Nicht Saat, nicht Ernte: deinem Willen leb' ich nur.’ (Übersetzt von Binder.)

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 290

Atramentum vanescit infusa aqua Die Tinte verwässert (oder zerflieszt), wenn Wasser hinzugegossen wird. Fistula dissidet 1 Die Feder klafft. Calamus non valet Die Feder taugt nichts. Dicte mihi hanc cantilenam Gieb mir dies Lied an. Hic orando digitos pectinatim jungit Beim Beten schlieszt man die Finger in einander. Quem vidi te mutuo insertis brachiis Wen habe ich dich Arm in Arm circumducere? umherführen sehen? Vix me contineo, quin involem tibi in Kaum bezwinge ich mich, dasz ich dir capillos. nicht in die Haare fahre. Cave ne te humi prosternam Sieh zu, dasz ich dich nicht auf die Erde darniederwerfe. Si velis, redibo tecum in gratiam Willst du, so will ich wieder eins werden mit dir. Nemo me est profecto facilior Niemand ist schicklicher als ich. Nihil tam difficile est quin diligenter Nichts ist so schwer, dasz es nicht rimando investigari possit ausfindig gemacht werden könnte, wofern man mit Eifer darnach sucht. Nihil tam facile est quin fiat difficile si Nichts ist so leicht, dasz es nicht schwer invitus facias wird, sofern du es ungern thust. Doleo tantum bolum mihi ereptum e Es schmerzt mich, dasz mir ein solcher faucibus Bissen aus dem Munde gerissen worden ist. Detineo te fortasse tu profecturus alio Ich halte dich auf, vielleicht wolltest du fueras. anderswohin gehen. Valete sodales Gott behüte euch, ihr Gesellen. In hanc noctem bene vale Gott behüte dich wohl für diese Nacht. Est ne quid alius quod me velis? Ist es nicht etwas anders, dasz du mein begehrst?

1 Persius, Satire III, 14: ‘Es entlässet das Rohr zwiefach die verdünneten Tropfen.’

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 291

Nihil, aliud quod sciam, si quid erit statim Nichts anderes, als ich weisz; sollte es significabo etwas anderes sein, werde ich es dir sogleich kund thun. Tua mihi opera non est ingrata Mir ist dein Dienst nicht unangenehm. Tu mihi hujus audendi auctor es Du machst, dasz ich dies zu thun wage. Persuasum habeo, te impulsore, nihil me Ich bin überzeugt, wenn du mich inhonestum facturum antreibst, werde ich nichts Unehrenhaftes thun. Si feliciter cadet quod institui, faciam te Wird es mir wohl gelingen, was ich mir certiorem vorgenommen habe, so will ich es dich wissen lassen. In emporio latini sermonis vobiscum In dem Kaufhaus der lateinischen Sprache latius colloquar will ich mehr mit euch reden.

Drittes Kapitel. Lebensregeln und Sittenlehren.

Bete Gott an und ehre ihn aus allen deinen Kräften. - Du sollst den Namen deines Gottes nicht vergeblich führen. - Du sollst an Feiertagen nichts thun, was verboten ist. - Ehre deinen Vater und deine Mutter, auf dasz du langlebig seiest auf Erden. - Hüte dich jemanden zu töten. - Du sollst nicht unkeusch sein. - Du sollst nicht stehlen. - Du sollst kein falsches Zeugnis geben. - Deines Nächsten Hausfrau sollst du nicht begehren. - Anderer Leute Gut sollst du nicht begehren. - Steh beizeiten von deinem Lager auf. - Bewahre dich mit dem Zeichen des heiligen Kreuzes im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. - Lege deine Kleider an. - Strähle dein Haupthaar. - Wasche dir Hände, Gesicht und Zähne mit kaltem Wasser. - Sprich in der Kirche mit gebogenen Knieen drei ‘Vater unser’ und drei ‘Gegrüszest seist du Maria’. - Bete zu deinem Schutzengel: Engel Gottes, bewahre mich, der ich deinem Schutze anbefohlen

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 292 bin, und führe mich auf den Weg der Seligkeit. - Ehre deinen Lehrmeister als den Vater deines Geistes. - Zu Hause bedenke und überlege im voraus die Stoffe, welche in der Schule behandelt werden sollen. - Zu Hause sollst du mit deinen Mitschülern das wiederholen, was ihr von seiten des Lehrers gehört oder unter seiner Anleitung niedergeschrieben habt. - Du sollst deinen Lehrmeister gerne anhören. - Du sollst häufig lateinisch sprechen. - Du sollst dich nicht schämen, das zu lernen, was du nicht weiszt. - An einem Feiertage sollst du mit Andacht die Messe hören. - Du sollst deinen Mund nicht aus Schwören gewöhnen. - Wer häufig schwört, schwört leicht falsch. - Lüge nicht, sondern liebe allezeit die Wahrheit. - In allen Dingen sollst du Masz haben. - Stemme die Hände nicht in die Seite. - Anderer Leute Briefe, Säckel und Tisch sollst du nicht beschauen. - Bist du zu Gast geladen, so sollst du zeitig erscheinen und dich dahin setzen, woselbst der Gastgeber dir den Platz anweist. - Du sollst mit dem Brote, welches du mit deinen Zähnen berührt hast, nicht in die Schüssel fahren. 1 - Mit Eisen (mit dem Messer) sollst du deine Zähne nicht berühren. - Geistliche, Bürgermeister, edelgeborne und gelehrte Leute sollst du ehren. - Du sollst an der linken Seite dessen gehen, welcher würdevoller ist als du. - Nicht wissen ist besser als mit Schuld lernen. - Lerne dich selbst kennen. - Der abwesenden Freunde sollst du ebenso eingedenk sein als der anwesenden. - Wenn du den Tisch gedeckt hast, sollst du das Salz darau setzen. - Reinheit sollst du lieb haben. - Du sollst nicht mit ungewaschenen Händen essen. 2 - Lobe den Herrn, ehe du issest. - Nach dem Essen sollst du Gott danken. - Du sollst nicht wegnehmen, was du nicht hingelegt hast. - Mit rechtschaffenen Leuten sollst du Verkehr pflegen.

1 Um die damalige Zeit waren Gabeln noch nicht im Gebrauch. Mehreren Tischgenossen wurde eine gemeinsame Schüssel vorgesetzt, in welcher die Bissen mundgerecht zerkleinert lagen; man führte diese Bissen mit den Fingern oder auch wohl mit Zuhilfenahme eines Stückes Brot zum Munde. 2 Die Weise des Zulangens aus einer gemeinschaftlichen Schüssel (s. vorhergehende Anmerkung) erforderte sorgliche Säuberung der Hände. Waschbecken und Handtücher standen daher zum beliebigen Gebrauch (meist vor der Mahlzeit) bereit. Bei festliche Tafeln (an fürstlichen Höfen) wurden Becken und Tuch von Edelknaben umhergereicht.

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- Du sollst nicht mit schlechten Menschen umgehen. - Dann erst leite andere, wenn du zuvor gelernt hast, dich von andern leiten zu lassen. - Verschweige heimliche Dinge. - Bezwinge allezeit deine Zunge, vornehmlich indes beim Gelage. - Du sollst von Toten nicht Übeles reden. - Alte Leute sollst du ehren. - Wähle lieber Schaden als unehrenhaften Gewinn. - Du sollst nicht Unmögliches begehren. - Während du sprichst, sollst du die Hände nicht hin und her bewegen. - Sei gehorsam den geschriebenen Rechten. - Was du dir zu thun vornimmst, sollst du nicht im voraus sagen; denn wenn du dasselbe nicht ausführen kannst oder magst, so wirst du von andern verlacht und verspottet. - Du sollst niemanden sein Unglück zum Vorwurf machen. - Was man dir zum Aufbewahren anvertraut hat, sollst du getreulich wiedergeben. - Du sollst mäszig sein. - Habe die Keuschheit lieb. - Befleiszige dich der Wahrheit. - Erkenne den Wert der Zeit. - Sei nicht hoffärtig. - Du sollst nichts ohne Rat und Überlegung thun. - Hab die Weisheit lieb. - Du sollst nicht um des Reichtums willen einen Menschen loben, der des Lobes nicht wert ist. - Was du Gutes thust, das schreib Gott zu. - Erwirb dir Weisheit als Zehrgeld von der Jugend bis zum Alter, denn sie allein ist ein sicherer und wahrer Besitz. - Sei nicht undankbar. - Du sollst mehr begehren zu hören als zu reden. - Bezwinge die Wollust. - Lerne die Wandlungen des Glückes mit Starkmut ertragen. - Halt, was du versprochen hast. - Beschau dich häufig im Spiegel. - Frauenhäuser, Garküchen, Weinschenken sollst du nicht betreten. - Du sollst nicht mit Würfeln spielen. - Du sollst deine Hand nicht mit Blut beflecken. - Bereichere dich nicht mit unrechtem Gut, sondern lebe von dem, was du rechtlich erworben hast. - Du sollst keine Lüge aussprechen, sonder sprich in allem die Wahrheit. - Bewahre deine Unschuld. - Halt Glauben in allen Dingen. - Gieb richtiges Masz. - Gieb dem Arbeiter seinen Lohn. - Gieb dem Bettler sogleich und sage keinem: komm morgen zu mir. - Bezwing den Zorn. - Isz und trink und sprich nach Masz. - Halt dich fern von unehrenhaften Werken. - Spare keine Reichtümer zusammen: bedenk, dasz du sterblich bist. - Warte das Ende ab. - Du sollst dich selbst nicht loben. -

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Viertes Kapitel. Mancherlei Sprichwörter.

Die Wahrheit ist dem gemeinen Volke immer verhaszt. - Nachgiebigkeit erwirbt Freunde, Wahrheit schafft Hasz. 1 - Der Mensch gleicht einer Wasserblase. - Freunden ist alles gemeinsam. - Niemand ist ein guter Herr, er sei denn zuvor ein Knecht gewesen. - Wie du grüszest, so wirst du gegrüszt werden. - Die Thoren erkennen den Wert einer That erst dann, wenn sie begangen ist. - Ein alter Hund kann sich nicht mehr an die Kette gewöhnen. - Wem ein Ding leid ist, der gedenket sein; wem ein Ding gefällt, der vergisset sein. - Die Menschen werden gewitzigter durch Schaden und Beschämung. - Schädliche Dinge unterweisen den Menschen. - Masz ist unter allen Dingen das nützlichste. - Mit demselben Masze, mit dem du andern zumissest, werden dir die andern wieder messen. - Er ist in die Grube gefallen, die er selber gegraben hat. - Er hat sich in seinen eigenen Stricken gefangen. - Was du an die Kunkel gelegt hast, muszt du selber ausessen. - Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil. - Ein jeglicher findet das Seinige schön. - Jeder Königin gefällt ihr König, dem Bräutigam gefällt seine Braut. - Eigenlob ist verächtliche Prahlerei. - Das gesprochene Wort wirst mehr als das geschriebene. - Des Herren Auge macht die Pferde fett. - Ein Töpfer haszt den andern, ein Schmied den andern. - Dem Gelde ist alles unterthänig. - Einem listigen Fuchs gegenüber sollst du auch listig sein. - Der Anfang ist die Hälfte des ganzen Geschäftes. 2 - Es ist besser, am Anfang als am Ende Rat zu suchen. - Den Wackern hilft das Glück. 3 - Wo Furcht ist, da ist auch Scham. - Wer die Weise des Spieles nicht kennt, der bleibe fern vom Spiele. -

1 Terenz, Andria (Mädchen von Andros) I, 1, 41: ‘Nachgiebigkeit Bringt Freude, Wahrheit Hasz.’ 2 Vergl. Horaz, Episteln I, 2, 40: ‘Halb hat gewonnen das Werk, wer frisch wagt: wag's mit der Weisheit.’ 3 Terenz, Phormio II, 2.

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Vom Ansehen kommt die Liebe. - Du hast die Füsze nicht im Dreck. 1 Wo viel geplappert wird, da bleibt die Sünde nicht aus. - Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. - Jedermann geht mit seiner Beschäftigung um. - Die Augen sind sichere Führer in der Liebe. - Liebe ist Leid. - Die Flamme ist dem Rauch am nächsten. 2 - So viel Menschen, so viel Sinne. 3 - Jeder hat seinen eignen Willen. - Es giebt niemanden, der nicht einmal eine Thorheit begangen hätte. - Das Süszeste ist Gaben empfangen. - Der ist kein Weiser, der für sich selbst nicht weise ist. - Ein alter Fuchs läszt sich nicht im Netz fangen. - Wohnst du bei einem Lahmen, so wirst du schon hinken lernen. - Böse Reden verderben gute Sitten. 4 - Du wirst selbst schlecht werden, wenn du mit Schlechten umgehst. 5 -

1 Sinnverwandt mit dem heutigen: ‘Du sitzest nicht in der Tinte.’ Plautus, Pseudulus III, 2: ‘Nun steckt er im Morast, er weisz den Namen nicht, Die Sache stockt.’ 2 Plautus, Curculio (der Kornwurm) I, 1: ‘Denk an den Spruch stets: Wo es raucht, da brennt's auch bald; Der Rauch verbrennt zwar nichts, allein die Flamme thut's.’ 3 Horaz, Satiren II, 1, 27: ‘Wie viel der Köpfe, so viel auch giebt es der Sinne’ 4 Paulus I. Korinther XV, 33. 5 Vergl. Salomon Sprüche XIII, 20: ‘Der Freund der Thoren wird ihnen gleich werden.’

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Anhang.

I. Lob der Vaterstadt Roermond. 1

Dichtern ist eigen die Sitte, der Vaterstadt Mauern zu preisen, Hoch zu erheben die Flur, wo sie erblickten das Licht. Mag auch derselben mich gleich Apollo nicht würdig erachten, Zwingt es des Vaterlandes Lob doch mich zu feiern im Lied. Doch wer wird nach Verdienst die herrliche Stadt uns verkünden, Deren Namen nunmehr fliegt durch die sämtliche Welt? Ihr hat redliche Treu' so Groszes und tapferer Kriegsmut, Tugend, mit Vorsicht gepaart, und Überlegung verlieh'n. Dort, wo die Roer in die Maas, die klare, mit strudelnder Windung, Mündet, da wohnet ein Volk, mächtig durch Ehren des Mars, Mächtig durch Ehren des Mars und gefürchtet in schimmernden Waffen, Dennoch ein frommes und das Gott und Gerechtigkeit ehrt; Nimmer ein harmloses Volk mit Krieg zu befallen gewohnet, Noch zu beflecken mit Blut je der Gerechten die Händ', Doch für den tapferen König zu züchtigen wilde Tyrannen Und an ihnen Gericht, wie sie verdient, zu vollzieh'n. Oft hat trotzige Feinde zurück von der Stadt es geschlagen, Und mit grausamen Blute schrecklich gerötet den Grund. Wie viel Burgen und Türme mit viel Scharen besetzt' es Unter dem Jauchzen des Volkes und der Drommeten Gedröhn! Oft mit winziger Schar unzählige Krieger im Lager Schlug es darnieder und bracht' feindliche Beute nach Haus.

1 Das Gedicht ist der Sammlung: ‘Elegiarum moralium libri quattuor’ (lib. II, 15) entnommen; es ist einem Jugendfreunde: Heinrich Cellarius aus Roermond gewidmet. Die Übersetzung rührt von Christoph Schlüter in Münster her; sie ist dem Buche von Reichling: ‘Ausgewählte Gedichte von Johannes Murmellius’ entnommen.

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Wer aufzählte, der Burgen wie viel mit Gewalt es genommen, Wie viel Städt' es befreit, wenn die Besatzung verjagt? Nicht verdiente solch' Lob durch Vernichtung des Crassus der Parther, 1 Griechenland nicht, da es einst Xerxes, den wilden, bezwang, Als sich die einzige Stadt durch Niederwerfung so vieler Stolzer Könige, Herzöge und Grafen verdient. Doch nicht strebt es nach Ruhm durch Kriege allein und durch Waffen, Auch durch friedliche Künst' strebt es zu Sternen empor. Christ anbetet die Stadt, und die Himmlischen all' sie verehret, Rechte der Gastfreundschaft weigert sie Würdigen nie. Höheren leistet sie Folge, erquickt mit Speise die Armen, Decket mit Kleidern, die nackt, jeglichen thut sie, was recht. Zu den Gestirnen hinan auch führt sie der Himmlischen Tempel, Und die Priester ernährt, Frömmigkeit übend, sie gern. Hoch hält Männer sie, die in der Wissenschaft Gaben erglänzen, Und aus den Mauern sie fern jedes, was schändlich, verbannt. Tüchtig erziehet die Sorge der zärtlichen Eltern den Nachwuchs Und schafft, dasz er in Zucht edeler Künste gedeih'. Weise nach altem Gebrauch ratschlagen ob allem die Ratsherrn, Nicht schnell lassen sie ab, blind nicht sie schreiten zur That. Wahnwitzig ist es fürwahr, zu preisen das weiche Tarentum, 2 Und wer rühmet Milet, 3 mangelt des richtigen Sinns. Stadt, die uns hat erzeugt, sie begehrt nicht glänzenden Aufwand. Doch nicht bäurischen Sinns weiset sie selben zurück; Sondern, was Herzen ergötzt, so mäsziget alles sie, dasz nicht Schaden die Tugend erleid', edele Bildung und Geist. Wiesen von Grase bedeckt, fischwimmelnde Flüsse besitzt sie, Wälder, mit Eicheln erfüllt, hegt sie und fettes Gefild.

1 Die Schlacht bei Karrhae (53 vor Chr.), welche dem Triumvir Marcus Licinius Crassus den Tod und seinem Heere die Vernichtung brachte, galt als einer der Unglückstage des römischen Volkes. 2 Die süditalische Stadt Tarent war wegen der Üppigkeit und Verweichlichung ihrer Bewohner berüchtigt. 3 Milet galt lange Zeit als die reichste unter den jonischen Städten an der Westküste Kleinasiens.

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Hier zeigt lebenerfüllt vielästig der Hirsch das Geweihe, Dort wird der Eber durchbohrt, furchtbar mit drohendem Zahn. Tausend der Stier' abrupsen sich Gras auf den lieblichen Weiden, Tausend der Schafe umher schimmern mit wolligem Vliesz. Auch viele Kiele erscheinen ringsum, durchfurchend die Flüsse, Die da bringen herbei Fülle des herrlichen Guts. O, wie glücklich wir sind, mein Heinrich, o wie beseligt, Da so herrliche Stadt beid' uns geboren ans Licht! Wären doch, wie in der Heimat allhier, wir verbunden in jener, Wo herrscht sicherer Fried', Heil, auch Ehre für stets; Wo den allmächtigen Vater im Glanz auf erhabenstem Sitze Alle die Heiligen und Himmelsbewohner erschau'n!

II. An die deutsche Jugend. 1

Gieb ein willig Gehör der Ermahnung, germanische Jugend, Dasz ich dir jetzt vorschreib', was, wirst du vollführen es einstmals, Dir hochherrlichen Ruhms gefeierten Namen gebieret Und in der Tugend Gefolg' dir Ehre und Lohn für die Arbeit. Lerne die edelen Künst'; lasz nichtigen Spieles Getändel; Wie das Leben so kurz, wie wechselnd die Jahre der Jugend. Wohl dir erwäg' es im Geist; denn so wie des reiszenden Flusses Welle, vorübergeronnen bereits, man nimmer zurüchruft, So auch die Stund', einmal entschwunden, nie kehrt sie zurück dir. Dies doch betrachte zuerst, wie schmeichelnde Wollust verschieden, Flüchtig ergötzend allein, sich erzeigt von der Strenge der Tugend.

1 Aus der Sammlung: ‘Liber eclogarum’ Nr. 8. Die Sammlung ist 1506 während des Aufenthaltes zu Hamm (s. Einleitung II) entstanden. - Die von Christoph Schlüter herrührende Übersetzung findet sich bei Reichling a. a. O. S. 54-61.

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Eilends ihr Süszes entflieht, und es bleiben der Schmerz und die Angst nur. Ist es der Schuld sich bewuszt, nagt schrecklicher Wurm das Gewissen; Doch langwierig nicht ist die Mühe, verwendet beim Rechtthun; Ewige Früchte sich sammelt die Frömmigkeit, reich an Genusse. Jetzt unmäszige Hitze es gilt und Frost zu ertragen, Ziemt's den Ruten, die reich an Schlägen, die Rechte zu strecken, Dasz in gelehriger Brust du bergest den Nektar der Musen. Traun, nicht sangen von ihnen gebildete Dichter mit Unrecht, Dasz sie den steilesten Gipfel des ragenden Berges bewohnen, Wohin rauh nur der Weg dich führet aus steinigem Thalgrund; Denn es erlanget sie keiner durch schwelgende Musze und Trägheit, Noch ward dauernder Ruhm je Ungeweihtem zum Anteil, Der auf offenen Gassen und Markt nur immer einhergeht. Hoch auf ragendem Berg regt tönender Leier Gesait der Schöne Apoll, und dem Mann von Verdienst reicht Lorbeergeflecht er. Aber den besseren Weg will jetzt im Gesang ich verkünden. Einigermaszen zuerst muszt du der Grammatik Gesetze Fassen im innersten Sinne, aus klaren Autoren sie schöpfend. Tullius 1 leihet alsdann den Schmuck der gebildeten Rede Und mit diesem Virgil, er, Latiums wahrer Homerus, Der, so heiszt es, den Gipfel ausonischer 2 Ehren berührte Andere Dichter sodann und Redner folgen der Reih' nach. Aber du triff bei der Fülle der Sachen die sorglichste Auswahl, Und die vortrefflichsten nur mit wachsamen Busen behandle; Denn auf der Schriften zu viele zerstreuend die Seele zu wenden, Nicht zuträglich dir ist's; mehr fördert die sichere Lesung. Nicht verschmähe die Sprache der Griechen, wofern es vergönnt dir; Sind viel römische Wörter geflossen aus griechischem Quell doch, So nicht minder von Werken der heiligen Weisheit die Mehrzahl.

1 d. i. Marcus Tullius Cicero. 2 ‘Ausonien’, ein altertümlicher Name für Italien. Der Sinn obiger Stelle ist: Virgil steht unter den Dichtern Italiens am höchsten da.

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Lies die Geschichte sodann; das Altertum, reichlich durchforschet, Leihet des Rates dir viel und lehret beim Handeln dich Vorsicht. Doch unterdes nicht magst du die edelen Künste versäumen, Welche noch sonst; doch auf sie nur mäszige Mühe verwende; Dasz, wie viel da genüget, du lernst; auch immer gedenk sei, Vorzuziehen den andern die sittlichen Teile der Weisheit. Denn wenn einer nicht recht vollführet die Wege des Lebens, Wie viel immer er hab', doch nichts wird sicher ihm frommen All sein Wissen; und drob ich heisze die Dichter dich scheiden. Grosze Verschiedenheit, traun, dir zeigen die lieblichen Verse, Weder du wolle sie lesen gesamt, noch sämtlich verachten; Nicht sie kennen jedoch ist besser, als lesen mit Schuld sie. Unter den Dichtern ein Teil, nicht gering, singt zärtliche Lieb' in Zuchtlosen Weisen allein, in üppig verwegenen Versen. Lehrte mit reichlichem Bacchus Cythera1 zu mengen die Muse Tejischen Greises 2 vordem, so lehrte die lesbische Sappho 3 Mägdlein sündige Liebe; dich, Lyde, blendenden Reizes, Feiert von Battus der Sprosz; 4 es rühmte die Battis der Koer. 5 Voll auch der Cypria 6 ist das Schauspiel des feinen Menander, 7 Aristides 8 verfaszte milesische Schmach in Gesängen Schändlicher Art, und beschmutzt ist der Sybaritis Verfasser. 9 Wage verschämten Gesichtes doch keiner das Werk Elephantis' 10

1 Venus ward nach der Insel Cythera, die sie den Wellen des Meeres entsteigend zuerst betrat, ‘Cythera’ (Cytheria) genannt. 2 Anakreon, von Teos (559-474) ‘ der Sänger der Rosen, des Weines und der Liebe’. 3 s. Scoparius Kap. 44. 4 Callimachus, der Battiade (so benannt nach dem Gründer der Stadt Cyrene, dem Lacedämonier Battus), besang in seinen Elegieen seine Geliebte ‘Lyde’. 5 Philetas aus Kos. 6 d. i. Venus. 7 s. Scoparius Kap. 28. 8 Aristides von Milet, Verfasser der ‘milesischen Märchen’ erotischen Inhaltes. 9 Hemitheon aus Sybaris gilt als Verfasser dieses Schmutzgedichtes. 10 Die griechische Dichterin Elephantis war berüchtigt wegen ihrer schamlosen Gesänge.

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Je zu lesen und nur in die züchtigen Hände zu nehmen. Lesbia preiset Catulls 1 süsz klingender, aber nicht minder Loser Gesang; auch Lieder, der Zucht bar, stellte der kleine Calvus 2 ans Licht; es lehrt' der pelignische Dichter 3 ‘die Kunst zu Lieben;’ des Ticidas 4 wie des Memmius 5 Verse sind schamlos. Anser, 6 Cinna 7 und Cato, 8 der weiche Tibullus 9 und Gallus 10 Sangen Getändel der Lieb' und Properz 11 ihr schreckliches Feuer Spielend; und er, den ragend an Kunst, einst Bilbilis sandte, 12 Schrieb Epigramme gar schnöd' in süsz einschmeichelnden Schriften. Fern denn halte dir die und die übrigen, welche Cupidos Waffen behandeln, dasz nicht auch dich er feindlich verwunde, Nicht in argloser Brust du die grausigen Flammen empfahest. Wirf auch Mimen 13 hinweg, die voll von schmutzigen Scherzen,

1 s. Scoparius Kap. 43. 2 Cajus Licinius Macer Calvus (82-47 v. Chr.), Freund des Catull, hat gedichtet in der Weise Catulls. Ovid, Klagelieder II 431-432: ‘Ähnliche Freiheit hat sich der kleine Calvus gestattet,

Welcher in mancherlei Versen sein Buhlen verriet.’ 3 d. i. Ovid, geb. zu Sulmo, einer Stadt im Gebiet der ‘Peligner’. 4 Ticidas (lebte zur Zeit Cäsars) besang in seinen Liebesliedern seine ‘Perilla’. 5 Cajus Memmius, gest. 49 v. Chr. (in der Verbannung). 6 Anser, ein Anhänger des Triumvirs Marcus Antonius. 7 Cajus Helvius Cinna, Verfasser eines mythologischen Epos ‘Zmyrna’, gest. um das Jahr 39 v. Chr. 8 Valerius Cato, geb. um das Jahr 90 v. Chr., Verfasser von erotischen und mythologischen Dichtungen. 9 Albius Tibullus (54-19 v. Chr.): seine 4 Bücher Elegieen (erotischen Inhaltes) wurden ihrer Lieblichkeit wegen gerühmt. 10 Cornelius Gallus (69-26 v. Chr.), Dichter von Elegieen. 11 Sextus Aurelius Propertius (52-16 v. Chr.) hat in seinen Dichtungen ‘den Genusz und die Qual leidenschaftlicher Verhältnisse dargelegt’. 12 d. i. Marcus Valerius Martialis (45-102 n. Chr.) aus Bilbilis in Spanien; seine Dichtungen lehnen sich an Beobachtung und Erfahrung im Leben an und greifen dabei mit Vorliebe die weniger sauberen Verhältnisse und Geschehnisse des Lebens auf. Martial selbst ‘lebte anständiger als er zu schreiben beliebte’. 13 ‘Mimus’ d. i. die Posse, als Nachspiel, doch auch selbständig auf der Bühne aufgeführt.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 302

Und priapeische Possen in unehrbarem Gedichte. Was von dem Soccus 1 dir nun künd' ich und dem schwülst'gen Cothurnus? Hör' sie, wofern die Mitte sie halten, und weise ein Lehrer Sie mit Vorsicht erklärt, das Ausgelassene meidend. Lern' vielfältige Sitten der Menschen, und Latiums Sprache Mehre dir und, wenn Blumen du sammelst, verschmähe das Gift drin. Von den Dichtern ein Teil, für gröszere Stoffe geeignet, Singt Kriegszüge der Fürsten und schmücket die Thaten der Helden Mächtig mit Lob und erhebt zu Sternen verdiente Heroen; Oder entartete Sitten der Menschen im bissigen Liede Reiszt er herunter und rupft die Gesellen von Bacchus und Venus, Und Trägheit er verjagt und verscheuchet die Luft nach der Habe. Wer der Beredsamkeit Born, den unsterblichen, kennt den Homer nicht? Er erzählet der Fürsten und Völker thörichte Wallung; Was da Tugend vermag und Weisheit, lehret derselbe, Und dasz trefflicher Rat sei besser als stattlichen Körpers Mächtige Kraft, er zeigt, und dasz dem Erfahrnen und Weisen Nicht zu schaden vermöge die Vielzahl schwerer Gefahren. Herrlichen Ruhmes beschreibt die Muse des göttlichen Maro2 Einen Heroen, 3 so weis' als tapfer, vollendet an Tugend, Dem nicht tausend Gefahren den Mut zu brechen vermochten. Und den halten nicht konnte der glänzenden tyrischen Fürstin 4 Zaubergewalt, den selbst nicht schaurige Kriege besiegten. Die und ähnliche Dichter dir ziemt es in Händen zu führen; Deren Verse sogar nicht Weise sich schämten zu brauchen, Und wer nützliche Lehr' mit lieblichen Worten verwebet. Auch der Römer Satiren, von denen Lucilius 5 Schöpfer,

1 Soccus und Cothurn, d. i. Komödie und Tragödie. 2 d. i. Publius Virgilius Maro, s. Scoparius Kap. 28. 3 Äneas, der Held der Äneide. 4 Dido, die Gründerin Karthagos, entstammte dem phönizischen Tyrus. 5 Cajus, Lucilius, gest. 103 v. Chr., ist der erste, welcher für die Satire die Form des Hexameters anwandte. Die uns erhaltenen Bruchstücke seiner Dichtungen bekunden ‘vielseitige Bildung, scharfen Verstand, sittliche Tüchtigkeit, heitere Laune und treffenden Witz’.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 303

Greifen gar heftig an die Verbrechen des menschlichen Lebens; Mancherlei Lehren zugleich nutzbringender Weisheit sie bieten; Dennoch einige meid', ich rate dir, weil zu verwegen Scheuszliche Sitten der Menschen hervor sie ziehen ans Tagslicht. Nichts geht vor Juvenal, 1 nichts würdiger könnest du lesen, Wenn unsagbare Flecken der Laster er hätte umgangen. Einige Lieder auch giebt es des venusinischen Flaccus, 2 Die zu erwähnen den Knaben, nicht förderlich Fabius 3 achtet, Weil sie in lyrischen Versen den Sinnengenusz Aristippus' 4 Hätten gepriesen, als jener im zarteren Alter noch blühte.

III. Man soll freudigen Geistes an die Arbeit gehen. 5

Dasz du fassest die Lehr', arbeite gerne; Wenn Minerva dir bietet die Hilfe, Nicht ermüde alsdann, die Hand zu regen; Alles schenket uns Gott allein um Arbeit. Leg' das Eisen in Ruh', so friszt der Rost es, Reibst du es in der Furche, blitzt hervor es. So ein Geist, der in mancher Kunst sich mühet, Schöner glänzet alsbald er durch Polierung.

1 Decimus Junius Juvenalis aus Aquinum (47-130 n. Chr.). In seinen Dichtungen (5 Bücher Satiren) spricht sich seine strenge Sittlichkeit, sein Zorn über die Entartung der Zeit aus. Die 16 Satiren entrollen in Wahrheit furchtbare Bilder sittlicher Verkommenheit und menschlichen Elends. Für die Schule eignen sich diese Dichtungen nicht. 2 d. i. Horatius Flaccus aus Venusia, s. Scoparius Kap. 28. 3 d. i. Fabius Quintilianus, s. Handbuch Kap. 2. 4 Über Aristipp vergl. Handbuch Kap. 5. 5 ‘Laborem libenti animo capessendum esse’. Aus der Sammlung: ‘J. Murmellii Ruremundensis ad scholasticos politiorum literarum studiosos epigrammata paraenetica Deventriae composita.’ Die in diese Sammlung aufgenommenen Gedichte hat Murmellius kurz vor seinem Tode an seine Schüler zu Deventer gerichtet. Das angeführte Gedicht - übersetzt von Christoph Schlüter - ist der Sammlung von D. Reichling: ‘Ausgewählte Gedichte des Johannes Murmellius’ (Nr. XXXV) entnommen.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 304

Doch durch Üppigkeit stirbt und träge Musz' er: Nicht ist ohne die Kunst noch Leben Leben. Pegasäischen Quells vereinte Schwestern 1 Reichen edele Künste nur für Arbeit; Zu des Helikons 2 Felsenhöhen mühlos Aufzusteigen verweigern sie dem Wandrer. Wenn mit schwerem Gewicht du drückst die Palme, Widerstrebet sie nur und hebt aufs neu sich, Nie nachgebend der Last. Mit Freuden schaffe; Herb ist Wurzel der Kunst, doch desto süszer Sind die Früchte: dem Menschen ohne Arbeit, Nimmer wird ihm zu teil der Krone Ehre.

IV. An die heilige Jungfrau. 3

Heil dir, heilige Mutter, hehre Jungfrau, Du Erretterin menschlichen Geschlechtes, Mit freigebigem Geist mild immer segnend Menschenkinder und liebevollen Herzens, Zu erleichtern ihr Elend, froh bereit stets, O du süsze und liebenswürd'ge Mutter!

Nicht entrinnet ein Tag und keine Nachtruh', Welche müszig in deiner Huld und Liebe, Milde Jungfrau, sich zeigt; nicht kurze Stunde, Ja, nicht einen Moment dein Helfen zaudert, Und zu Lande wie zu Meer, von allen Seiten Die Gefahren verscheuchend, stets beschützest Du und tröstest die Menschen, die zu dir flehn.

1 d. i. die Musen. - Das geflügelte Musenrosz Pegasus hat durch seinen Hufschlag die Quelle ‘Hippokrene’ hervorgelockt, deren Wasser zu Gesang und Dichtung begeisterte. 2 Der Helikon in Böotien galt als Sitz der Musen. 3 Aus der Sammlung ‘Florea divae Virginis matris serta’ (In florea B. Virginis serta paean triplex cum nonnullis aliis carminibus). Übersetzt von Christoph Schlüter, s. Reichling a. a. O. Seite 60-65. - Über besonderartige dichterische Wendungen und Bilder in dieser Dichtung s. oben Einleitung III.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 305

Du, gewaltige Fürstin heil'gen Himmels, 1 Reichst die segnende Hand des Heiles allen, Du ziehst mächtig die Fäden des Geschickes Rückwärts, welche du Knoten stark verschlungen, Und entwirrest gewaltig die verstrickten Schlingen in dem beständ'gen Flusz der Dinge; Auch die Stürme beschwichtigend Fortunas, Hemmst vielfältige Kreisung du der Sterne.

Alle Himmlischen huld'gen dir, dich ehrend Und sich neigend vor dir in tiefster Ehrfurcht; Dich auch scheuen gesamt die Unterird'schen, Vor dir zagen sie, zittern und erschrecken.

Durch dich kreiset die Welt in schneller Kreisung, Du erleuchtest die Sonn' und lenkst das Weltall; Du hinwandelest ob dem Schlund der Tiefe; Dir gehorchen die schimmernden Gestirne; Dir rückkehren im Lauf die Jahreszeiten; Geister freuen sich, und dir dienen selber Elemente, geeint in manchen Formen.

Wie du, Himmlische, winkst, des Donn'rers Mutter, Wehen Düfte, und aus den Lüften nähret Sich des Himmels Gewölk, auf Äckern sprieszet In den Furchen der Same, wächst der Reichtum.

Deiner Majestät zittert und erbebet Schar der Vögel, die hohe Luft durchschneidend, Und Bergtiere, durchwandelnd steile Schluchten, Ungeheuer, hinschwimmend durch die Meerflut, Schlangen selber, versteckt im Erdenmoore.

Doch wie könnt' ich dein Lob, o Jungfrau, singen Du der Jungfrauen gröszte und der Mütter,

1 Im Text: ‘Tu, regina sacripotens Olympi’, s. Einleitung III.

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 306

Alle Nymphen an Schönheit überragend, Du der Sterblichen Hoffnung, Glut der Engel, Höchste Ehre der Erd' und Zier der Welt du, Ruhm des Himmels und Braut dreiein'gen Gottes, Der verworfen ich bin und also elend, So geringe an Geist und Künstlerbildung Und durch kärgliche Übung kaum geschliffen!

Wie dir würd'ge Opfer könnt' ich bringen, Nicht gesegnet an Gütern und den Säckel Stets geleeret und allzeit arm an Gelde; Dem Fortuna, wie Winde leicht und flüchtig, Nie als freundliche Mutter sich erweiset; Nein, stiefmütterlich schwingend stets die Geiszel, Wütet wider mich sie und drohend bitt're Sorgen häufet sie mir mit zorn'gem Antlitz!

Doch stets rinnet die Fülle deiner Güte, Auf der Sterblichen Volk, o milde Jungfrau; Der Freigebigkeit, welche niemals feiert, Übersprudelnde Quelle, spendend allen, Die, wie immer auch, rühmen deinen Namen Und erwähnen die Thaten deines Sohnes, Ist dem Elenden Trost und wärmt die Brust ihm.

Dich gewinnen nicht Schätze von Tyrannen, Nicht der Kön'ge Gefäsz im Glanz der Steine, Hehren Stolzes du blickest auf den Hochmut; Doch der Tugend Geruch und frommer Seele Lieblich duftende Würze dich versöhnet.

Darum, was der geringen Zunge fehlend Ich erkenn' und bekenn', froh will ich streben, Wie ich nur es vermag, mit höchstem Eifer Zu ersetzen in frommer Herzensandacht, Und, o Heilige, stets im tiefsten Innern Meiner Seele lebendig nah dich bringen;

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften 307

Rosen auch dir zu heil'gen Kränzen pflück' ich, Nicht von niederer Liebe Blut gerötet, Sondern rot von dem Blute deines Sohnes; Veilchen füg' ich hinzu, auch wird der Schimmer Weiszer Lilien deine Kränze zieren.

Du, von leisester Makel nicht verunziert, Jungfrau, glänzend von dreifach hoher Ehre, Beste Mutter des Schöpfers weiten Weltalls, Mutter, blicke auf mich denn, deinen Schützling, Fleh' ich, dasz ich nicht mächt'gem Feind verfalle, Da der Waffen und Wehr ich bar mich finde; Lasz als Sieger an deiner Hand mich rüstig Himmelskreise auf lichtem Pfade finden.

V. Verzeichnis der vornehmlich benutzten Werke.

Cramer: Geschichte der Erziehung und des Unterrichtes in den Niederlanden (mit Zurückführung auf die allgemeinen litterarischen und pädagogischen Verhältnisse jener Zeit). Erhard: Geschichte des Wiederaufblühens wissenschaftlicher Bildung vornehmlich in Deutschland bis zum Anfang der I-III. Fabricius: Bibliotheca latinae mediae et infimae aetatis I-III. Geiger: Renaissance und Humanismus in Italien und Deutschland. Hagen: Deutschlands litterarische und religiöse Verhältnisse im Reformationszeitalter. Band I. Kämmel: Geschichte des deutschen Schulwesens im Übergange vom Mittelalter zur Neuzeit. Nordhoff: Denkwürdigkeiten aus dem Münsterischen Humanismus. v. Raumer: Geschichte der Pädagogik vom Wiederaufblühen klassischer Studien bis auf unsere Zeit. Band I. Reichling: Johannes Murmellius. Sein Leben und seine Werke. Reichling: Ausgewählte Gedichte von Johannes Murmellius. Schmid, K. A.: Encyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens. Wetzer und Welte: Kirchenlexikon.

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Inhaltsverzeichnis.

Seite Einleitung 3

Handbuch für Schüler.

Widmung und Vorrede 52 Kap. 1. Es ist die Pflicht der Eltern, 56 die Kinder mit Umsicht und in Ehren zu erziehen und zu guten Sitten hinzuführen Kap. 2. Die Kinder sollen der 59 Schule übergeben und vom zarten Alter an unterrichtet werden Kap. 3. Was einem Studierenden 61 not thut Kap. 4. Wie Lernbegierde zu 63 mehren sei Kap. 5. Die Menschen jedweder 65 Lebensstellung sind zum Lernen verpflichtet Kap. 6. Über die Verschiedenheit 70 der geistigen Anlagen Kap. 7. Von der Stärke des 73 Gedächtnisses Kap. 8. Dem Studierenden ist eine 73 feste Gesundheit vonnöten Kap. 9. Ein mäsziges Vermögen ist 75 für den Schüler am zuträglichsten Kap. 10. In welcher Weise der 78 reiche, der wenig bemittelte, der mittellose Schüler leben soll Kap. 11. Über den zweifachen Ort 80 des Studiums

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften Kap. 12. Über die Ausnutzung der 83 Zeit Kap. 13. Über die zweifache Art der 86 Musze Kap. 14. Der Studierende soll sich 88 Ruhe und Heiterkeit des Gemütes wahren Kap. 15. Es ist geboten einen 89 wohlerprobten Lehrer auszuwählen Kap. 16. Über die Eigenschaften 91 und Pflichten eines guten Lehrers Kap. 17. Erprobte Lehrer soll man 94 selbst unter Mühen und Beschwerden aufsuchen Kap. 18. Es ist irrig, Kinder, die in 102 einer volkreichen Stadt, woselbst die Pflege der Wissenschaften in Blüte steht, geboren sind, anderswohin gröszerer Vervollkommnung wegen zu schicken Kap. 19. Welches sind die Pflichten 103 des Schülers gegen den Lehrer? Kap. 20. Welche Bücher soll der 105 Schüler besitzen?

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Kap. 21. Welchen Vorteil der 109 Verkehr mit Studierenden mit sich bringt Kap. 22. Über Gang und Ziel der 111 Studien Kap. 23. Bisweilen soll mit 115 Unterbrechung der Studien dem Geiste in ehrbaren Spielen Erholung gegönnt werden Kap. 24. Die Studien dürfen 117 unterbrochen, aber nicht aufgegeben werden; sie sind während des ganzen Lebens zu betreiben.

Scoparius.

Vorrede 119 Widmungsgedicht: An den 120 verehrlichen Leser Kap. 1. Vorrede zu dem 121 Schriftchen des Sulpitius Verulanus über das Geschlecht der Dingwörter Kap. 2. Briefe des Aldus Manutius 126 an die Lehrer der Grammatik Kap. 3. Aus einem Werke des 130 Jakob Wimpheling Kap. 4. Aus einem Briefe des 131 Antonius Illuminatus Kap. 5. Über die Irrtümer des 132 Alexander Kap. 6. Gegen die Erklärer des 132 Alexander Kap. 7. An dieselben über die 133 Frage, was im eigentlichen Sinne ‘curtum’ heiszt

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften Kap. 8. Sehr viele kommen zu 134 irrigen Ansichten aus Unkenntnis der griechischen Sprache Kap. 9. Gegen zu wenig 134 vorgebildete Erzieher und Sprachlehrer (nach dem ersten Buche der Unterweisung in der Redekunst von Quintilian) Kap. 10. Nach demselben 135 Kap. 11. Nach demselben 135 Kap. 12. Von dem tüchtigsten 136 Lehrer sollen den Knaben die besten Vorschriften gegeben werden (nach Mapheus Vegius) Kap. 13. Nach demselben 137 Kap. 14. Nach demselben 138 Kap. 15. Aus dem Briefe des hl. 138 Hieronymus an Läta Kap. 16. Aus Juvenal 139 Kap. 17. Aus dem ersten Buche des 140 Angustinus über den Gottesstaat Kap. 18. Aus Paul Vergerius 140 Kap. 19. Aus einer 141 Gedichtsammlung des Johannes Murmellius Kap. 20. Ein Distichon des 142 Murmellius Kap. 21. Ein Epigramm des 142 Murmellius zur Mahnung an die Lehrer Kap. 22. Aus des Murmellius 142 Anleitung zur Verskunst Kap. 23. Aus des Murmellius 143 Sammlung von Epigrammen über die Pflichten der Lehrer und Schüler Kap. 24. Aus derselben Sammlung 144

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften Kap. 25. Aus derselben Sammlung 145 Kap. 26. Aus einem Briefe des 145 Rudolf Agricola Kap. 27. Aus dem ersten Tausend 146 der Sprichwörter des Erasmus

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Kap. 28. Aus der Schrift des 148 Erasmus: ‘Über die Weise des Studiums’ Kap. 29. Aus des Erasmus Buch der 153 Sinnsprüche Kap. 30. Aus den Briefen des 154 Marcus Antonius Sabellicus Kap. 31. Aus einem anderen Briefe 155 des Sabellicus Kap. 32. Der Psalter, die Sprüche 155 Salomonis, das Buch Ecclesiasticus, die Evangelien sollen von den Knaben gelesen werden Kap. 33. Aus dem Briefe des hl. 156 Hieronymus an Läta über die Erziehung der Tochter Kap. 34. Aus dem Briefe des 157 Hieronymus an den Mönch Rusticus Kap. 35. Aus dem Vorrede des 157 Hieronymus zu den Büchern Salomonis Kap. 36. Aus den Erklärungen des 158 Hieronymus zu dem Briefe des hl. Paulus an Titus Kap. 37. Aus dem zwölften Buch 158 der ‘Evangelischen Vorbereitung’ des Eusebius Kap. 38. Aus dem zweiten Buche 158 ‘Über die Erziehung der Kinder’ von Mapheus Vegius Kap. 39. Aus einem Briefe des 160 Johannes Picus von Mirandula an seinen Neffen Kap. 40. Aus einem andern Briefe 160 des Johannes Picus von Mirandula

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften Kap. 41. Aus dem zweiten Buche 160 des Johannes Franziscus Picus ‘Über das Studium der göttlichen und menschlichen Weisheit’ Kap. 42. Aus der ‘Paraclesis’ des 161 Erasmus von Rotterdam Kap. 43. Gegen die Verächter der 162 Dichtung. Entnommen dem Briefe des hl. Hieronymus an Paulinus über die Bücher der heiligen Geschichte Kap. 44. Aus der Vorrede des hl. 163 Hieronymus zum Buche Job Kap. 45. Aus der Vorrede des hl. 164 Hieronymus zu der Chronik des Eusebius Kap. 46. Aus Arator 165 Kap. 47. Aus dem ‘Apologeticon’ 165 des Baptist von Mantua Kap. 48. Aus demselben Werke 166 Kap. 49. Aus einem Briefe des 166 Johannes Franziscus Picus an Kaiser Maximilian Kap. 50. Aus den Erklärungen 168 desselben zu dem Hymnus auf die hochheilige Dreieinigkeit Kap. 51. Gegen diejenigen, welche 172 sich für sehr erfahren halten, nachdem sie zehn Kanones oder Gesetze kennen gelernt haben, und sich über das Ansehen der Grammatiker in ungeziemender Weise erheben Kap. 52. Aus der Lamia des Angelus 176 Politianus Kap. 53. Aus dem Briefe des 177 Johannes Suave an Johannes Murmellius

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften Kap. 54. Gegen die 179 sprachunkundigen Wortbildner

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Kap. 55. Aus dem Eingang zu dem 183 zweiten Buche ‘Elegantiae’ des Laurentius Valla Kap. 56. Aus dem ‘Apologeticon’ 184 des Baptist von Mantua Kap. 57. Woher sind richtige 185 Wortableitungen und Worerklärungen zu entnehmen? Kap. 58. Was für 191 Erklärungsschriften sind auszuwählen? Kap. 59. Erklärung einer Stelle aus 192 den Idyllen des Baptist von Mantua Kap. 60. Erklärung einer Stelle aus 193 den Epigrammen des Baptist von Mantua an Falco Kap. 61. Erklärung einer Stelle aus 195 dem ersten Buche der ‘Not der Zeit’ von Baptist von Mantua Kap. 62. Welche Erklärungen 197 eignen sich am besten für die der schönen Künste Beflissenen? Kap. 63. Es werden einige Verse des 209 Virgil abweichend von der gewöhnlichen Deutung erklärt Kap. 64. Erklärung einer Stelle aus 213 den Episteln des Horaz Kap. 65. Über die Bedeutung von 214 ‘en unquam’ Kap. 66. Gegen diejenigen 216 Verächter der humanistischen Studien, die da mit Unrecht die Kunst des Aristoteles ihr eigen nennen

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften Kap. 67. Was bezeichnet 219 ‘alabandicus’ oder ‘alabandiacus’? Kap. 68. Erklärung des 219 altertümlichen Ausdruckes ‘insubidus’ Kap. 69. Was heiszt ‘pedestris 221 oratio’? Kap. 70. Über die Betonung der 222 verkürzten Wörter Kap. 71. Erklärung des Wortes 223 ‘popa’ Kap. 72. Berichtigung einer Stelle 224 aus dem ersten Buche der Schrift Ciceros: ‘Über die Pflichten’ Kap. 73. Was bedeutet ‘labarum’? - 226 Berichtigung einer Stelle des hl. Hieronymus Kap. 74. Gegen diejenigen, welche 229 mit allerlei unnützen Zeug ihre Erklärungen vollstopfen, auf dasz dieselben umfangreicher werden Kap. 75. Budäus in den 229 Anmerkungen zu den Pandekten Kap. 76. Die Gesetzeskundigen 230 unserer Tage bedienen sich der ‘gotischen’ Sprache; die alten Rechtsgelehrten handhabten die feinste und schmuckvollste Sprechweise Kap. 77. Gegen den Stolz der 231 Gesetzeskrämer Kap. 78. Franziscus Philelphus im 231 zweiten Hekatostichon der zweiten Dekade seiner Satiren Kap. 79. Georg Valla im ersten 232 Buche der Politik

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften Kap. 80. Aus derselben Schrift 233 Kap. 81. Aus demselben Buche 234 Kap. 82. Verzeichnis einiger 237 barbarischer Ausdrücke, die von den Gesetzeskrämern in Aufnahme gebracht worden sind Kap. 83. Gegen die Sophisten und 238 die barbarischen Entsteller der Dialektik

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Kap. 84. Aus dem Buche des 239 Aristoteles ‘Über die sophistischen Beweise’ Kap. 85. Eine Stelle aus Faustus 239 Kap. 86. Erasmus in ‘Lob der 239 Narrheit’ Kap. 87. Aus einer Schrift des 240 Johannes Picus von Mirandula Kap. 88. Johannes Franziscus Picus 240 an Thomas Wolf Kap. 89. Derselbe an Johannes, den 241 Sohn des Thomas Wolf Kap. 90. Rudolf Agricola an Jakob 244 Babirianus Kap. 91. Derselbe an Alexander 245 Hegius Kap. 92. Rudolf Agricola im dritten 245 Buche seines Werkes: ‘Dialektische Erfindungskunst’ Kap. 93. Aus dem Buche 245 Ecclesiasticus Kap. 94. Seneca an Lucilius 246 Kap. 95. Aus der Erklärung des 246 Hieronymus zu dem Briefe des Paulus an Titus Kap. 96. Aus dem zweiten Buche 247 des Augustinus ‘Über die christliche Lehre’ Kap. 97. Aus dem Eingang der 247 Dichtung: ‘Über die Dreieinigkeit’ von Prudentius Kap. 98. Aus der Schrift des 248 Raphael Volaterranus gegen die dialektischen Bücher

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften Kap. 99. Aus des Erasmus 249 Erklärung zum ersten Psalm Davids Kap. 100. Aus dem ‘Abrisz’ des 250 Erasmus Kap. 101. Aus der Ermunterung des 250 Erasmus Kap. 102. Aus einem Briefe des 251 Erasmus an Martinus Dorpius Kap. 103. Aus eben diesem 253 wunderschönen Briefe des Erasmus Kap. 104. Aus dem Buche des 254 Johannes Franziscus Picus ‘Über das Studium der menschlichen und der göttlichen Weisheit.’ Kap. 105. Aus dem Briefe des 254 Hieronymus an den Mönch Rusticus Kap. 106. Rudolf Agricola an 254 Babirianus Kap. 107. Johannes Picus an seinen 255 Neffen Johannes Franziscus Kap. 108. Ein Epigramm des 255 Murmellius Kap. 109. Aus den Erklärungen des 256 Philipp Beroald zu den Tuskulanen Kap. 110. Aus den Erklärungen zum 257 ‘Goldenen Esel’ Kap. 111. Aus der Apologie des 258 Erasmus Kap. 112. Gegen die ungelehrten 258 Geistlichen Kap. 113. Aus den Erklärungen des 260 Philipp Beroald zum ‘Goldenen Esel’ Kap. 114. Aus den kanonischen 261 Dekreten

Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften Kap. 115. Mahnung an den Leser 262 Kap. 116. Aus den kanonischen 264 Dekreten Kap. 117. Aus dem ersten Buche der 265 Bekenntnisse des Augustinus Kap. 118. Aus einem Briefe des 265 Augustinus an Licentius Kap. 119. An die, welche sich 266 höherer Kunst und seiner Sitte beflissen zeigen

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Pappa.

An einen Anfänger im 269 Sprachstudium. Epigramm von Johannes Murmellius Vorrede. Gervasius Sopher an die 269 studierende Jugend Kap. 1. Lateinische Namen für 272 mancherlei Dinge mit deutscher Bedeutung oder Auslegung Kap. 2. Mancherlei Redensarten 278 für den Gebrauch der Knaben zusammengestellt Kap. 3. Lebensregeln und 291 Sittenlehren Kap. 4. Mancherlei Sprichwörter 294

Anhang

1. Lob der Vaterstadt 296 Roermond 2. An die deutsche Jugend 298 3. Man soll freudigen Geistes 303 an die Arbeit gehen 4. An die heilige Jungfrau 304 5. Verzeichnis der 307 vornehmlich benutzten Werke

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