Plenarprotokoll 13/119

Deutscher

Stenographischer Bericht

119. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996

Inhalt:

Nachruf auf das ehemalige Mitglied des Dr. Heiner Geißler CDU/CSU 10674 B Deutschen Bundestages Bundesminister SPD 10677 A a. D. Hans Katzer 10655 A Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN 10680 A Nachträgliche Glückwünsche zu den Geburtstagen des Vizepräsidenten Hans Jürgen W. Möllemann F.D.P 10681 C Klein und der Abgeordneten Klaus Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Francke () und Heinrich Graf NEN 10682 D von Einsiedel 10655 D Wolfgang Zöller CDU/CSU ...... 10683 D Eintritt des Abgeordneten Dr. Fritz Witt- Dr. SPD 10685 A mann in den Deutschen Bundestag . . . 10655 D Walter Hirche F.D.P. 10685 C Jürgen W. Möllemann F.D.P. 10686 B Tagesordnungspunkt 1: CDU/CSU 10688 A Vereinbarte Debatte zu den Wachs- Hans-Peter Repnik CDU/CSU 10689 B tums- und Beschäftigungsförderungs- Rudolf Dreßler SPD 10690 C gesetzen, zum Arbeitsrechtlichen Be- schäftigungsförderungsgesetz, zum Ge- Ingrid Matthäus-Maier SPD 10691 B setz zur Begrenzung der Bezügefortzah- Dr. Norbert Blüm CDU/CSU 10692 A lung bei Krankheit, zum Beitragsentla- stungsgesetz, zum Krankenhaus-Neu- Karl Hermann Haack (Extertal) SPD . . . 10693 C ordnungsgesetz 1997, zum GKV-Wei- Dr. Heidi Knake-Werner PDS 10694 B terentwicklungsgesetz und zum Achten Dr. CDU/CSU 10695 D Gesetz zur Änderung des Fünften Bu- ches Sozialgesetzbuch 10656 A Tagesordnungspunkt 2: Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 10656 A Beschlußempfehlung des Ausschusses Rudolf Dreßler SPD 10658 D, 10665 C nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz Dr. F.D.P. 10664 A zur Umsetzung des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung in Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P. 10665 B den Bereichen der Rentenversiche- (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE rung und Arbeitsförderung (Wachs- GRÜNEN 10665 D tums- und Beschäftigungsförderungs- gesetz) (Drucksachen 13/4610, 13/4987, Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 10668 D 13/5088, 13/5108, 13/5147, 13/5327, 13/5445) 10696B Siegmar Mosdorf SPD 10671 B Dr. PDS 10671 D in Verbindung mit II Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996

Tagesordnungspunkt 3: (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz Beschlußempfehlung des Ausschusses zur Neuordnung der Krankenhaus- nach Artikel 77 des Grundgesetzes finanzierung 1997 (Krankenhaus-Neu- (Vermittlungsausschuß) zu dem Ge- ordnungsgesetz 1997) (Drucksachen setz zur Ergänzung des Wachstums- 13/3062, 13/3939, 13/4693, 13/4937, 13/ und Beschäftigungsförderungsgesetzes 5442) 10696 C (Wachstums- und Beschäftigungsförde- rungsgesetz) (Drucksachen 13/4611, in Verbindung mit 13/5089, 13/5108, 13/5327, 13/5446). . . 10696B Tagesordnungspunkt 8: in Verbindung mit Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes Tagesordnungspunkt 4: (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Strukturre- Beschlußempfehlung des Ausschusses form in der gesetzlichen Krankenversi- nach Artikel 77 des Grundgesetzes cherung (GKV-Weiterentwicklungsge- (Vermittlungsausschuß) zu dem Arbeits- setz) (Drucksachen 13/3608, 13/4691, rechtlichen Gesetz zur Förderung von 13/4937, 13/5443) 10696 D Wachstum und Beschäftigung (Arbeits- rechtliches Beschäftigungsförderungs- gesetz) (Drucksachen 13/4612, 13/5107, in Verbindung mit 13/5327, 13/5447) 10696 B Tagesordnungspunkt 9: in Verbindung mit Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes Tagesordnungspunkt 5: (Vermittlungsausschuß) zu dem Achten Gesetz zur Änderung des Fünften Beschlußempfehlung des Ausschusses Buches Sozialgesetzbuch (Achtes SGB nach Artikel 77 des Grundgesetzes V-Änderungsgesetz) (Drucksachen 13/ (Vermittlungsausschuß) zu dem Ge- 3695, 13/4692, 13/4937, 13/5444) . . . 10696 D setz zur Begrenzung der Bezügefort- zahlung bei Krankheit (Drucksachen Nächste Sitzung 10696 D 13/4613, 13/5074, 13/5327, 13/5448). . . 10696 C in Verbindung mit Anlage 1

Tagesordnungspunkt 6: Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 10697 *A Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes Anlage 2 (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz zur Entlastung der Beiträge in der ge- Erklärung des Abgeordneten Wolfgang setzlichen Krankenversicherung (Bei- Bosbach (CDU/CSU) zur namentlichen tragsentlastungsgesetz) (Drucksachen Abstimmung über den Entwurf eines Ge- 13/4615, 13/5099, 13/5327, 13/5449). . . 10696 C setzes zur Entlastung der Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung (Bei- tragsentlastungsgesetz) 10697*C Tagesordnungspunkt 7: Beschlußempfehlung des Ausschusses Anlage 3 nach Artikel 77 des Grundgesetzes Amtliche Mitteilungen 10697 *D Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10655

119. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996

Beginn: 12.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen und für die Lohnfortzahlung der Arbeitnehmer. Er und Kollegen! Ich eröffne die Sitzung und bitte Sie war ein Streiter für soziale Gerechtigkeit. zunächst, sich zu erheben, weil wir des verstorbenen Bundesministers Hans Katzer gedenken wollen. Die Bundesrepublik Deutschland hat bereits am 29. Juli in einem Staatsakt in Köln von Hans Katzer Am 18. Juli 1996 starb im Alter von 77 Jahren der Abschied genommen. Der Deutsche Bundestag wür- frühere Bundesminister für Arbeit und Sozialord- digt die Lebensleistung dieses bedeutenden Politi- nung, Bundestags- und Europaabgeordnete Hans kers, der ein Stück deutscher Sozialgeschichte mitge- Katzer. schrieben hat, und gedenkt dieser großen Persönlich- keit in Dankbarkeit und Respekt. Hans Katzer wurde am 31. Januar 1919 in Köln ge- Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen erho- boren, der Stadt, die ihn geprägt hat und der er sein ben. Ich danke Ihnen. Leben lang verbunden blieb. Früh und besonders in der Zeit nach 1933 gaben ihm der christliche Glaube Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe die und sein soziales Gewissen die Kraft, der menschen- heutige Sitzung gemäß Art. 39 Abs. 3 Satz 3 des verachtenden Ideologie des Nationalsozialismus zu Grundgesetzes in Verbindung mit § 21 Abs. 2 der Ge- widerstehen. Früh machte er mit Widerstandskämp- schäftsordnung auf Verlangen der Fraktionen der fern wie Johannes Albers Bekanntschaft, wurde von CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. einberufen. ihnen für die Politik motiviert und lernte von ihnen, daß kein politisches System von Dauer sein kann, das Bevor ich Tagesordnungspunkt 1 aufrufe, über- nicht auf Sitte und Moral aufbaut. mittle ich Ihnen, Herr Bundeswirtschaftsminister Rexrodt, die Freude des ganzen Hauses darüber, daß Aus dem Scheitern der Weimarer Republik zog Sie nach einer so schweren Erkrankung heute wie- Hans Katzer nach dem Ende des Krieges die Lehre, der gesund unter uns sein können. die alten Richtungsgewerkschaften durch die Ein- (Beifall) heitsgewerkschaft zu ersetzen und die engen Gren- zen der Konfessionsparteien zu überwinden. Folgenden Kollegen möchte ich nachträglich zum Geburtstag gratulieren: Unser Vizepräsident Hans 1957 wurde Hans Katzer in den Deutschen Bun- Klein feierte am 11. Juli seinen 65. Geburtstag. Im destag gewählt, dem er dann ununterbrochen bis Namen unseres Hauses noch einmal ganz herzlichen 1980 angehörte. Hier profilierte er sich schnell als so- Glückwunsch und danke für das Mitwirken! zialpolitischer Sprecher seiner Fraktion. Als Haupt- geschäftsführer und seit 1963 als Vorsitzender der (Beifall) CDU-Sozialausschüsse, als stellvertretender Partei- Der Kollege (Hamburg) feierte am und Fraktionsvorsitzender sowie als Bundesminister 17. Juli seinen 60. Geburtstag. Auch von hier aus für Arbeit und Sozialordnung unter den Bundeskanz- noch einmal nachträglich herzlichen Glückwunsch! lern Erhard und Kiesinger hat sich Hans Katzer mit seiner ganzen Kraft und viel Phantasie der Ausfor- (Beifall) mung des modernen Sozialstaats gewidmet. Mit sei- Der Kollege Heinrich Graf von Einsiedel feierte nem Namen bleiben richtungsweisende Gesetzes- am 26. Juli seinen 75. Geburtstag. Herzlichen Glück- werke auf sozialpolitischem Gebiet verbunden, die wunsch! bis heute nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt ha- (Beifall) ben. Genannt seien hier das Arbeitsförderungsgesetz und das Berufsbildungsgesetz. Der Abgeordnete Simon Wittmann (Tännesberg) hat am 21. August 1996 auf die Mitgliedschaft im Hans Katzer war ein engagierter Verfechter der Deutschen Bundestag verzichtet. Als sein Nachfolger dynamischen Rente und der Mitbestimmung. Er stritt hat der Kollege Dr. - uns allen ver- für eine angemessene Versorgung der Kriegsopfer traut - am 22. August 1996 die Mitgliedschaft im 10656 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Deutschen Bundestag wieder erworben. Ich begrüße und Bürger erwarten Entscheidungen, keine Fortset- den uns bereits gut bekannten Kollegen herzlich und zung der Diskussion. wünsche gute Zusammenarbeit. Der Beschluß des Vermittlungsausschusses, die (Beifall) Spargesetze aufzuheben, bedeutet keine Entschei- dung. Er bedeutet Fortsetzung der Debatte ohne Ent- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf: scheidung. Wir können uns vieles leisten; nur eines können wir uns nicht leisten: Vertagung von Ent- Vereinbarte Debatte scheidungen. zu den Wachstums- und Beschäftigungsförde- rungsgesetzen, zum Arbeitsrechtlichen Be- Der Deutsche Bundestag ist ein Entscheidungsgre- schäftigungsförderungsgesetz, zum Gesetz zur mium, keine Vertagungsanstalt. Ohne Entscheidung, Begrenzung der Bezügefortzahlung bei meine Damen und Herren, heißt nicht: ohne Folgen. Krankheit, zum Beitragsentlastungsgesetz, Das ist ein Irrtum. Ohne Entscheidung, das heißt, die zum Krankenhaus-Neuordnungesetz 1997, Kosten für die Beitragszahler steigen weiter. Ohne zum GKV-Weiterentwicklungsgesetz und zum Entscheidung, das heißt, die Arbeitsplätze werden Achten Gesetz zur Änderung des Fünften Bu- teurer. Ohne Entscheidung, das heißt, die Arbeitslo- ches Sozialgesetzbuch sigkeit steigt. Ohne Entscheidung, das heißt, die Ver- schuldung steigt. Wir können den Teufelskreis Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind „mehr Kosten - mehr Arbeitslosigkeit; mehr Arbeits- für die Aussprache drei Stunden vorgesehen. - Ich losigkeit - mehr Kosten" nur durch eine Entschei- sehe dazu keinen Widerspruch. Wir verfahren so. dung zur Entlastung der Wirtschaft und zur Entla- Es beginnt der Bundesminister für Arbeit und So- stung der Arbeitsplätze durchbrechen. zialordnung, Dr. Norbert Blüm. Meine Damen und Herren, auch wenn es sich viele vormachen: Sparen ohne Einschränkungen - das Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und gibt es nur in Märchen; sparen ohne Einbußen - das Sozialordnung: Frau Präsidentin! Meine Damen und gibt es nicht. Deshalb muß der Antrag des Vermitt- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Worte lungsausschusses abgelehnt werden. Der Antrag ist sind genug gewechselt. eine Hilfe zur Flucht aus der Verantwortung. Wir ha- ben die Verantwortung für unseren Staat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. - Lachen beim BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU) DIE GRÜNEN) Ich kann die Debatte schreiben, die jetzt gleich ge- Die Nachfrage nach Diskussion ist gesättigt; Ent- führt wird. Ich weiß, was der Kollege Dreßler sagt; scheidungsangebote werden verlangt. ich weiß, was der Kollege Schreiner schreit. Und die Opposition? Gute Vorsätze, aber keine (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P. Vorschläge. Ankündigungen sind noch keine Aus- - Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ führungen. Die Zahl der Absichtserklärungen der DIE GRÜNEN und der PDS) Sozialdemokratischen Partei steht im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu ihrer Konkretisierung. Und wenn Sie wissen wollen, was ich zu sagen Man kann den Satz aufstellen: Je wortreicher, um so habe: Es muß entschieden werden. Die Diskussion ist handlungsärmer. zu Ende. Ich habe hier eine Liste Ihrer Ankündigungen: vor (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- der Sommerpause, nach der Sommerpause, bei der ordneten der F.D.P. - Widerspruch bei der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz, nach der SPD) nächsten Ministerpräsidentenkonferenz. Ich kann Es gibt kein neues Argument; es gibt nur Flucht vor die Liste auch schriftlich verteilen. Es werden Ver- der Entscheidung oder Entscheidung. Davor stehen handlungskommissionen gebildet und drei Wochen wir heute. Mut zur Entscheidung ist gefragt, nicht später wieder außer Betrieb gesetzt. So kommen wir Vorliebe für Wortgeklingel. nicht weiter. Es langt nicht, zu sagen, die Lohnne- benkosten müssen sinken. Das ist ja wie ein Refrain (Lachen bei der SPD) der SPD, aber es gibt keinen Text für die Strophen.

Die Alternativen sind klar: Die Koalition handelt, die sagte im „Spiegel" vom Opposition redet. 26. Februar dieses Jahres: „Dringend erforderlich ist (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU eine Verständigung über Senkung der Lohnneben- und der F.D.P.) kosten. " Über ein Null-Angebot kann man sich aber nicht verständigen. Es gibt von Ihnen keine Vor- Wir sind uns einig: Neue Arbeitsplätze braucht un- schläge. sagte im „Stern" vom ser Land. Wir sind uns einig: Unsere Wirtschaft - ob 3. April 1996: „Wir müssen runter von den Lohnne- kleines Unternehmen, ob großes Unternehmen - benkosten." Wo, Herr Scharping, ist Ihr konkreter braucht Kostenentlastung. Es gibt niemanden, der Vorschlag? dem widerspricht. Wir sind uns einig: Die Beitrags- zahler brauchen Entlastung - ob Arbeitnehmer oder (Ottmar Schreiner [SPD]: Er hegt im Parla- Arbeitgeber. Wir sind uns einig: Die Bürgerinnen ment!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10657

Bundesminister Dr. Norbert Blüm Von „Umbau" und von „Wegfall der Fremdleistun- Zu den Fremdleistungen - ich habe sie ja mit pro- gen" - darauf komme ich noch zu sprechen - einmal blematisiert - nur so viel: So, wie die Diskussion ge- abgesehen, wo sind die konkreten beitragsentlasten- führt wird, hat sie eine Schlagseite. Es ist entgegen den Vorschläge der SPD? Sie werden bis heute ge- anderslautenden Meldungen nicht so, als würde der sucht. Staat die Rentenversicherung im Stich lassen. 76 Milliarden DM, fast jede fünfte Mark des Bundes- Gerhard Schröder wiederholt seinen kraftvollen haushaltes, geht als Bundeszuschuß oder in Form ei- Ausspruch „tief ins soziale Netz einschneiden" - das ner Erstattung an die Rentenversicherung. Die Bun- Bild ist aus dem Wörterbuch eines Unmenschen. Ich desanstalt für Arbeit hat in den letzten vier Jahren sehe außer markigen Sprüchen nichts. Die SPD 55 Milliarden DM an Bundeszuschuß erhalten. Ange- kommt mir vor wie ein Schmied: In der Esse keine sichts dieser Tatsachen kann doch niemand sagen, Glut, in der Zange kein Eisen, aber mit dem Hammer der Bund würde die Sozialversicherung im Stich las- immer auf den Amboß schlagen. Der Schmied hat sen. gar kein Werkstück in der Hand, er haut nur auf den Amboß. Wir brauchen einen Umbau. Dies heißt aber nicht - dieser Auffassung möchte ich mich ausdrücklich an- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU schließen -, daß das Haus eingerissen wird. Es heißt und der F.D.P.) allerdings auch nicht, nur die Tapeten zu wechseln und den Vorgarten herzurichten. Statt dessen gibt es tausend höchst unterschiedliche Vorschläge. Ein gackernder Hühnerhaufen ist eine Andere sind weiter als die SPD. Ich zitiere: Parademarschkompanie im Vergleich zum heutigen Zustand der SPD. Der Ruf, der Staat bzw. der Gesetzgeber wird's schon richten, ist in der Umsetzungsphase neuer (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Strukturen ebenso unangebracht wie hartnäcki- ges Festhalten. Es muß entschieden werden, und zwar zugunsten der Arbeitnehmer, zugunsten von neuen Arbeitsplät- Das entnehme ich einer beachtenswerten Schrift, ei- zen und zugunsten der Unternehmer. Wir brauchen ner von der Hans-Böckler-Stiftung mitfinanzierten Kostenentlastung. Wir sparen doch nicht aus Lust Studie. So weit ist die SPD noch nicht. Der Ruf nach und Laune. Wir sparen, um das größte soziale Übel, dem Staat ist noch immer der erste Ruf. die größte soziale Ungerechtigkeit zu bekämpfen: Andere sind viel weiter. Man braucht sich nur um- die Arbeitslosigkeit. zusehen. Dabei muß man nicht die ganze Welt im (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Blick haben, Europa reicht aus. Wo ich auch hinsehe, ordneten der F.D.P.) überall gibt es einen Umbau: in Schweden, in Finn- land, in den Niederlanden, in Portugal und in Grie- Ihr Vorschlag Abbau von Fremdleistungen ist rich- chenland - überall mit Regierungen, an deren Spitze tig. Ich möchte ausdrücklich sagen, daß ich mich Sozialdemokraten stehen. dem anschließe. In Österreich wird es in den Jahren 1996 und 1997 (Zuruf von der SPD: Aber?) eine Entlastung der öffentlichen Haushalte von 100 Milliarden Schilling geben. Auf unser Sozialpro- Wir müssen besser zwischen Leistungen, die von Bei- dukt und unsere Bevölkerung umgerechnet, wäre tragszahlern finanziert werden, und Leistungen der das mit einer Einsparung von 140 Milliarden DM ver- Allgemeinheit unterscheiden. Das ist aus zwei Grün- gleichbar. Das ist zweieinhalbmal soviel, als wir auf den notwendig: erstens zur Entlastung der Arbeits- die Waage bringen. Wo ist der Vranitzky der SPD in plätze, zweitens aus Gründen der Gerechtigkeit. Deutschland? Wo ist derjenige, der so viel Mut hat Wenn allgemeine Aufgaben von den Beitragszahlern wie die Sozialdemokraten um uns herum? bezahlt werden, ist das eine ungerechte Lastenver- teilung, weil an dieser allgemeinen Finanzierung ein Zur Altersgrenze. In Schweden wird sie auf bis Teil der Bevölkerung gar nicht und ein anderer Teil 70 Jahre angehoben; auch in Finnland, in Österreich, nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze beteiligt ist. in Portugal und in Griechenland ist sie höher - alles sozialdemokratisch geführte Regierungen. Ich unterstreiche ausdrücklich die Notwendigkeit, hier umzufinanzieren. Die Fahrtrichtung der Umfi- Zu den Kuren. Hierzu kann ich wiederum aus der nanzierung geht weg von der Belastung der Arbeits- beachtenswerten, von der Hans-Böckler-Stiftung - plätze hin zur Belastung des Verbrauchs, und zwar das ist ein ehrenhafter Name - mitfinanzierten Studie wegen der Arbeitsplätze, aber auch wegen des Um- zitieren: Kuren für alle werden abgeschafft. Weiter- weltschutzes. Aber Umfinanzierung heißt doch nicht hin Anspruch haben sollen Schichtarbeiter, Beschäf- weniger Finanzierung; Umfinanzierung heißt doch tigte mit hohem arbeitsbedingten Gesundheitsrisiko noch nicht Gesamtentlastung. Sie haben doch nicht und Monatseinkommen von bis zu 6 000 DM. - Das weniger Druck auf der Achse, wenn Sie die Fracht- steht in einer vom DGB, von der Hans-Böckler-Stif- güter auf dem Lastwagen verschieben. Wir brauchen tung mitfinanzierten Studie. eine Gesamtentlastung des Steuerzahlers, des Bei- So weit gehen wir gar nicht. Lieber Kollege Dreß- tragszahlers. Wir brauchen mehr Schwung in unserer ler, lieber Kollege Schreiner, ihr redet erst nach mir, Wirtschaft. Deshalb sind diese Gesetze unumgäng- aber ich weiß, was ihr wieder sagen werdet: Abbau, lich. Untergang, Zerstörung des Sozialstaates. Lest einmal (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Texte der Sozialdemokraten in der Welt, die 10658 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. 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Bundesminister Dr. Norbert Blüm Texte aus der Hans-Böckler-Stiftung! Dann müßt ihr einen neuen Anfang, und - das füge ich hinzu - des- eure Sprüche unterlassen. halb muß jetzt entschieden werden. Wir haben nicht die Wahl: Später oder jetzt. Jeder Tag ist verloren. Der Sozialstaat wird nicht ruiniert; wir verteidigen Wer zu spät spart, den bestraft der Sozialstaat. ihn. Ein Drittel der Ausgaben sind für Soziales. Nie- mand kann sagen, wir würden den Sozialstaat ruinie- (Widerspruch bei der SPD) ren. Aber: Wasch mir den Pelz, und mach mich nicht naß - diese Melodie paßt nicht mehr, auch wenn sie Wer zu spät spart, muß mehr sparen. Wer zu spät von den Sozialdemokraten hier gesungen wird. spart, wird ganz andere Probleme zu lösen haben. Ablehnen heißt Nichtstun. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Aber ich wende den Blick schon über diese Aus- Zur Lohnfortzahlung. Ich weiß aus der Historie - einandersetzung hinweg. Die Welt geht auch nach mein Verständnis habe ich hier schon zum Ausdruck unseren Entscheidungen weiter. Deshalb rufe ich gebracht -, daß dies ein schwieriges Thema ist. Den- dazu auf, über diesen Pulverdampf der Auseinander- noch: Unter den Sozialdemokraten im „Volksheim" setzung nicht die gemeinsame Verantwortung zu Schweden gibt es eine Lohnfortzahlung in Höhe von verkennen. Die Notwendigkeit der Kooperation be- 75 Prozent und einen Karenztag, in den Niederlan- steht mit den Gewerkschaften, mit den Arbeitgebern den zwei Karenztage und seit dem 1. Januar 1994 und mit der Opposition. Es gibt auf allen Seiten viele eine Lohnfortzahlung von 70 Prozent. Gutwillige. Es geht um ein neues Bündnis der Gut- willigen. Es geht auch darum, daß wir zu einer Zeit, Auch hier wird in den Texten der von der Hans- wo es 4 Millionen Arbeitslose gibt, nicht hinnehmen Böckler-Stiftung mitfinanzierten Studie eine Entta- können, daß Arbeitsplätze leer bleiben, weil sie für buisierung vorgenommen: unzumutbar erklärt werden. Das können wir uns Das Instrument Reinvestition könnte auch der nicht leisten. Wenn in Oberhausen bei einer neuen Diskussion um den Karenztag eine neue Rich- Ansiedlung 14 Tage vor der Eröffnung noch Arbeits- tung geben. Das von den Arbeitgebern dadurch plätze offenstehen, dann stimmt bei 4 Millionen Ar- eingesparte Geld muß bundesweit auf einem beitslosen etwas nicht in unserem Sozialstaat. Gute-Arbeit-Konto angelegt werden und in den Unternehmen für die Verbesserung der Arbeits- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bedingungen investiert werden. Die Aussicht ersetzt nicht die Einsicht, daß jetzt ge- handelt werden muß. Wir brauchen auch einen Auf- Wie auch immer, jedenfalls ist dieses Thema entta- bruch derjenigen, die Mut machen. Es ist ein ermuti- buisiert. Es ist zur Diskussion gestellt, der Sie sich ja gendes Zeichen, wenn Herr Necker vom BDI vor ein verweigern. paar Tagen 50 Unternehmer versammelt hat, die Ich füge allerdings hinzu: Wenn Einschränkung nicht geklagt, sondern neue Arbeitsplätze geschaf- der Lohnfortzahlung, dann auch Einschränkung der fen haben. Wir brauchen „Einsteller", nicht „Entlas- Bezüge der Beamten. Das müssen Sie sich heute ser". Die „Einsteller" müssen gelobt werden, nicht auch noch einmal vorhalten lassen, daß sie mögli- die „Entlasser". Wir brauchen einen neuen Auf- cherweise einer Gesetzgebung die Bahn brechen, wo bruchsoptimismus, daß wir es schaffen können. Das Arbeiter und Angestellte in der Lohnfortzahlung an- geht allerdings nicht ohne Anstrengung und nicht ders behandelt werden als die Beamten. ohne Entscheidungen, die, wenn auch schmerzlich, dennoch richtig sind. Deshalb fordere ich dazu auf, (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist nicht weiter zu vertagen - wir haben genug vertagt -, eine Verdrehung der Tatsachen!) sondern zu handeln. Die Alternative - ich wiederhole - Ja, doch! - Ich bleibe dabei: Wenn wir die Arbeits- mich - ist: Die Opposition redet, die Koalition han- losigkeit bekämpfen wollen, dann geht es nicht delt. Das ist die Alternative heute. durch den Austausch von Worten, sondern dann (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) müssen Entscheidungen her. Deshalb kann heute die Entscheidung nicht durch den Beschluß des Vermitt- lungsausschusses vertagt werden. Wir müssen der Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der Arbeitslosen wegen dieses Sparpaket durchbringen. Kollege Rudolf Dreßler. Darum geht es! Das ist auch der wichtigste Beitrag. Hunderttau- Rudolf Dreßler (SPD): Frau Präsidentin! Meine send Arbeitnehmer, die beschäftigt sind, zahlen sehr verehrten Damen und Herren! Nach den Erfah- 2 Milliarden DM Beitrag. Wir können gar nicht so rungen der letzten Jahre in diesem Hause mit Koope- viel sparen, wie neue Beschäftigung an Einnahmen rationspolitik, die der Bundesminister für Arbeit und hervorbringt. Aber wir müssen sparen, damit es zu Sozialordnung gerade über den Tag hinaus eingefor- neuer Beschäftigung kommt. dert hat, fällt mir die Fabel vom Huhn und vom Schwein ein. (Zuruf von der SPD: Wo soll denn die Beschäftigung herkommen?) Die geht so: Eines Tages trifft das Huhn das Schwein und schlägt ihm vor, man möge sich zwecks Hunderttausend arbeitslose Geldbezieher kosten die Gründung einer Kooperationsgemeinschaft zusam- Bundesanstalt für Arbeit 3 Milliarden DM. Demge- mentun, um gemeinsam Ei auf Schinken anbieten zu genüber sind unsere Sparansätze noch bescheiden. können. Das leuchtet dem Schwein ein, es unter- Sie sehen: Wir brauchen in der deutschen Wirtschaft schreibt einen Vertrag, und das Huhn legt ein Ei und Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10659

Rudolf Dreßler bestellt den Metzger. Als der Metzger erscheint, Besonders beim gesundheitspolitischen Teil der Kür- guckt das Schwein ziemlich verdutzt und sagt zum zungsgesetze wird deutlich, daß der kleinere Koaliti- Huhn: „Aber mein liebes Huhn, bei dieser Art von onspartner F.D.P. eine echte Sachverhandlung mit Kooperation gehe ich ja drauf." „Tja", sagt das der SPD scheut wie der Teufel das Weihwasser, aus Huhn, „mein liebes Schwein, beim Kooperieren geht Furcht, sich bei solchen Verhandlungen als politisch immer einer drauf." überflüssig zu erweisen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Zuruf (Beifall bei der SPD - Widerspruch bei der von der CDU/CSU: Wer ist denn das F.D.P.) Schwein?) Also darf nicht verhandelt werden, das heißt, es wird Herr Blüm, wir haben 1989 bei der Rentenreform nach dem Motto gehandelt, wir demonstrieren mit kooperiert, einer wegweisenden Gesetzgebung, die unserer Mehrheit Stärke, um die eigene Schwäche Sie mit diesem hier zur Verabschiedung stehenden zu überdecken, meine Damen und Herren. Gesetzgebungsverfahren auflösen und zerschlagen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Zurufe und dies ohne Rücksprache. von der F.D.P.) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- - Ich würde den Zwischenruf wegen des Protokolls, ten der PDS) aber auch wegen der Verbalinjurie, die sich darin be- fand, Herr Kollege von der F.D.P., lauter machen. Ich Sie verabschieden sich aus dieser Kooperation und möchte ihn nicht wiederholen, weil ich sonst von der rufen neuerlich zu Kooperationen auf, um diese dann Präsidentin eine Rüge erhalten würde. wieder mit Ihrer eigenen Mehrheit zu korrigieren. Solche Kooperationen, Herr Blüm, nach der Melodie (Dr. Peter Struck [SPD]: Wer war es denn?) „Huhn und Schwein" lehnen wir ab. Sie wissen genau wie ich, daß der Vorsitzende der (Zuruf von der CDU/CSU: Wer ist das SPD und der Vorsitzende der sozialdemokratischen Schwein?) Bundestagsfraktion im Januar an den Bundeskanzler einen Brief geschrieben haben, unsere erarbeiteten Das müssen Sie wissen. Sie sind, bezogen auf diese Vorschläge eingebracht und zur Verhandlung mit Ih- Kooperationspolitik, nachweisbar nicht mehr tariffä- nen zu einer gemeinsamen Anstrengung unter dem hig. Titel „Bündnis für Arbeit" aufgerufen haben. Beide, (Beifall bei der SPD) die Antwort der Regierung und die der sie tragenden Parteien, waren negativ. Am 2. Februar habe ich in Wenn wir heute über die Ergebnisse des Vermitt- diesem Hause für die SPD-Fraktion an dieser Stelle lungsverfahrens zu den Kürzungsgesetzen der Re- einen Rentengipfel angeregt und unsere Bereitschaft gierung beraten, so hat sich an deren Bewertung in zur Verhandlung erklärt. Reaktion der Koalitionsfrak- der Tat durch die SPD gegenüber der zweiten und tionen und der Bundesregierung: negativ. Eine Re- dritten Lesung am 28. Juni nichts geändert. Sie sind gierung und Koalitionsfraktionen, die sich solchen wirtschaftspolitisch falsch, finanzpolitisch unsolide, Angeboten ständig entziehen und im Vermittlungs- verteilungspolitisch einseitig und sozialpolitisch un- ausschuß jede Verhandlung mit der Begründung gerecht. „Wir ziehen durch" ablehnen, haben nicht die Legiti- mation, in diesem Hause zu erklären, die SPD be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- treibe Blockade. Die Wahrheit ist: Sie wollen über- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN haupt nicht verhandeln. Das ist die Wahrheit! und der PDS) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kurz gesagt: Sie schaden dem Standort Deutschland DIE GRÜNEN) und beschädigen die Symmetrie und den Zusam- menhalt unserer Gesellschaft. Das ablehnende Er- Der Vorwurf, wir betrieben eine Blockadepolitik, ist gebnis des Vermittlungsverfahrens liegt in der Logik ohne Beleg. Die Damen und Herren von der Koali- dieser Bewertung. Das mag die Koalition ärgern, än- tion mögen in dieser Debatte die Gesetzentwürfe be- dert aber nichts an den Sachverhalten. Vor allen Din- nennen, die eine SPD-Mehrheit im Bundesrat in den gen aber berechtigt dies nicht zu verbalen Rundum- letzten Jahren blockiert, das heißt, verhindert hätte. schlägen. In diesem Zusammenhang von einer Blok- Ich bin gespannt auf die Aufzählung in den kommen- kadepolitik der SPD zu sprechen kommt einer den zweieinhalb Stunden, meine Damen und Her- groben Irreführung der Öffentlichkeit gleich. ren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Was es hingegen gibt, ist etwas völlig anderes: Re- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gierungsentwürfe sind im Vermittlungsausschuß nachhaltigen Verbesserungen unterzogen worden, in In Wahrheit dienen solche markigen Worte eher als denen die Handschrift der SPD zu erkennen war. Das Ablenkungsmanöver von der aus koalitionshygieni- mag der Koalition als wunderlich erscheinen. Aber es schen Gründen vorexerzierten Verhandlungsunwil- ist eine schiere Selbstverständlichkeit, daß wir, wenn ligkeit der Regierungsmehrheit. Diese Regierung wir vermitteln, auch versuchen zu verbessern. Daß darf und will sich nicht bewegen, weil sie sonst ins das nicht von montags bis dienstags geht, sollte Ih- Straucheln käme, meine Damen und Herren. nen klar sein. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) 10660 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 Rudolf Dreßler Es gibt also keine Blockadepolitik. Statt dessen hat fen haben, von denen jetzt sein realer Kollege Blüm die SPD mehrfach erfahren: Diese Regierung ist we- sagt, sie müßten gelöst werden. Offensichtlich muß der bereit noch willens, Vereinbarungen, die sie mit ein Marsmensch mit dem Vornamen Theo Unord- der SPD im Bundestag oder mit den SPD-geführten nung im Bundeshaushalt angerichtet und maßlose Regierungen im Bundesrat getroffen hat, einzuhal- Schulden aufgehäuft haben, von denen ein Bundesfi- ten. Das Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 und nanzminister namens Waigel heute meint, daß sie be- die Vereinbarung über die Erhöhung des Kindergel- seitigt oder abgebaut werden müssen. des zum 1. Januar 1997 sind besonders prominente Beispiele, bei denen diese Regierung gemeinsam mit (Beifall bei der SPD) der SPD Beschlossenes in einem zweiten Schritt im Zehn Jahre haben CDU/CSU und F.D.P. von der Alleingang in das Gegenteil verkehrt hat oder noch angeblichen Erblast der Regierung verkehren will. Die CDU/CSU und die F.D.P. sind als gelebt, die angeblich getilgt werden müsse, wenn es Fraktionen in diesem Hause politisch nicht mehr ver- um Begründungen für ihre sozial einseitigen Kür- trauenswürdig. zungsmaßnahmen ging. Seit vier Jahren sind es wie- der andere - diesmal undefinierbare Wesen -, die für Erst mit der SPD die Erhöhung des Kindergeldes die politischen Ergebnisse von Regierungshandeln oder die Einführung von Arzneimittellisten zu verein- herhalten müssen. Mit Verlaub frage ich: Was tun Sie baren und sie gesetzlich festzulegen, sie dann aber eigentlich noch hier, wenn Sie für nichts verantwort- gegen die SPD abzuschaffen oder abschaffen zu wol- lich sind? Mitglieder einer Regierung, die ohnehin len, zeigt: Diese Koalition kalkuliert gezielt den poli- für nichts verantwortlich sind, sollten besser nach tischen Wortbruch ein. Sie ist ein unzuverlässiger Hause gehen. Sie sind hier nämlich überflüssig. Vertragspartner. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten der PDS) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Deshalb: Statt die SPD im Bundestag oder die SPD- Regierungen im Bundesrat zu beschimpfen, sollten Die Wahrheit ist doch: Diese Regierung drückt sich CDU/CSU, F.D.P. und die Bundesregierung besser zu vor ihrer Verantwortung für die Ergebnisses ihrer den Grundregeln des parlamentarischen Anstands Politik. Denn das ist die maßgebliche Ursache für zurückkehren, damit man sich wieder auf deren Wort den Zustand, in dem sich unser Land befindet: Dieje- verlassen kann. nigen, die hier Feuerwehr zu spielen vorgeben, sind in Wirklichkeit die Brandstifter. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Diese Regierung und die Koalitionsparteien wollen ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) offenkundig die Konfrontation. Das zeigt nicht nur ihr Verhalten im Vermittlungsausschuß; das zeigen Die Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Regie- auch die politischen Inhalte der Kürzungsgesetze. rung ist doktrinär und dogmatisch am Prinzip der Das zeigen ebenso die weiteren gesellschaftlichen Angebotsorientierimg ausgerichtet. Sie verleugnet Vorhaben: vom Jahressteuergesetz 1997 bis hin zum jeden gesellschaftspolitischen Anspruch. CDU/CSU sogenannten Arbeitsförderungsreformgesetz. Sie und F.D.P. betreiben nicht Wirtschaftspolitik, um un- wollen die gesellschaftspolitische Auseinanderset- sere Gesellschaft zu gestalten und allen zu ihrem An- zung um den Sozialstaat; eine Auseinandersetzung, teil an der nationalen Wohlfahrt zu verhelfen; sie die nicht um das Wie, sondern um das Ob des Sozial- mißverstehen vielmehr die ökonomischen Prozesse staates geführt werden soll. Diese Koalition will weg als Gebot und wollen dafür sorgen, diese Gesell- von den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen schaft so zu verändern, daß diese Prozesse reibungs- Grundlagen, die den beispiellosen Aufstieg Deutsch- los ablaufen können. lands nach dem Zweiten Weltkrieg erst ermöglicht Ich räume ein: Das entspricht dem ökonomischen haben. Es geht ihr nur vordergründig um aktuelle Zeitgeist. Die Ökonomisierung unseres gesellschaft- ökonomische Problem- oder Krisenbewältigung. In lichen Denkens ist weit fortgeschritten. Ich denke, Wahrheit muß das alles nur als Anlaß herhalten, um Johannes Rau hat recht: Man kennt von allem den das eigentliche Ziel zu vernebeln: Die Grundrich- Preis, aber von kaum etwas mehr den Wert. tung dieser Republik soll verändert werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) Wenn Mitglieder dieser Regierung in ihren zahlrei- chen Sonntagsreden eine stärkere Wertorientierung Niemand streitet ab, daß unser Land Probleme hat, unserer Gesellschaft einfordern, so klingt das wie die gelöst werden müssen. Diese Koalition, die nun Hohn. Mangelnde Wertorientierung ist doch das Er- seit fast 14 Jahren regiert, tut so, als habe sie mit den gebnis dieser Regierungspolitik! Ursachen dieser Probleme nichts zu tun. Offenkun- dig müssen in den letzten 14 Jahren lauter Mars- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- männchen oder Außerirdische am Kabinettstisch ge- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sessen und über die Geschicke unseres Landes be- und der Abg. Dr. [PDS]) stimmt haben. Offenbar muß ein außerirdischer Bun- CDU/CSU und F.D.P. setzen diese Politik fort. desarbeitsminister durch politisches Nichtstun die Schlimmer noch, sie intensivieren sie, indem sie die Arbeitsmarktprobleme maßgeblich mit hervorgeru- gesetzlich vorgesehene Kindergelderhöhung strei- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10661

Rudolf Dreßler chen und gleichzeitig die Vermögensteuer für Ver- lich gemacht? Als Maßnahme in den Kürzungsgeset- mögensbesitzer senken. Wir brauchen über man- zen findet sich dazu die Verlängerung der Lebensar- gelnde Wertorientierung regierungsamtlicher Politik beitszeit. Diese bewirkt bekanntlich, daß ältere Ar- nicht theoretisch zu philosophieren; in dieser Politik beitnehmer länger auf ihren Arbeitsplätzen verblei- wird sie ganz konkret, sie ist gleichsam mit Händen ben und den nachrückenden Jüngeren Arbeitsplätze zu greifen. fehlen. Eine solche Maßnahme führt demzufolge zu mehr und nicht zu weniger Arbeitslosen, also zu (Beifall bei der SPD - Dr. Peter Struck Mehr- und nicht zu Minderausgaben der Bundesan- [SPD]: Eine Sauerei ist das!) stalt für Arbeit. Mehrausgaben bedeuten aber stei- Was die Kindergelderhöhung und den Versuch, gende und nicht sinkende Beiträge. sie wieder zu streichen, angeht, so fällt nicht nur mir Als weitere Maßnahme finden wir den Wegfall des auf, daß das dafür zuständige Kabinettsmitglied be- Kündigungsschutzes von geschätzt 10 bis 12 Mil- harrlich schweigt. Wir hätten gerne von Frau Nolte lionen Arbeitnehmern. Wer das Feuern erleichtert, gewußt, was sie davon hält. Zu den Familienverbän- schafft keine neuen Arbeitsplätze, sondern gefährdet den gehen und die Notwendigkeit einer besseren Fa- bestehende Arbeitsplätze. Also auch hier: mehr Ar- milienförderung predigen, aber gleichzeitig bei den beitslose, höhere Ausgaben und höhere Beiträge. Steuergesetzen für eine Kürzung dieser Förderung stimmen, geht nicht, Frau Nolte. Das paßt nicht zu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- sammen. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Selbst wenn ich die geplante brutale Streichung ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Ostdeutsch- und der PDS) land gar nicht berücksichtigte - auch hier gibt es Mehrkosten; denn die Finanzierung von Arbeitslo- Was die Weigerung der Regierung angeht, für die sigkeit ist immer teurer als die Finanzierung von Ar- Folgen ihrer Politik einzutreten, gebe ich ein weite- beit -, res Beispiel. Es gibt das Schlagwort vom Standort (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutschland; ein Schlagwort, das bei CDU/CSU und F.D.P. für die Begründung einer angeblichen Not- zeigte sich: das Kürzungspaket führt eher zu höheren wendigkeit der Kürzungsgesetze eine maßgebliche als zu niedrigeren Arbeitslosenversicherungsbeiträ- Rolle spielt. Die dazu von der Regierung und ihren gen. Senkung der Lohnnebenkosten? - Pustekuchen, Stichwortgebern in den Verbänden von Industrie meine Damen und Herren. und Handwerk inszenierte öffentliche Debatte hat dem Standort Deutschland und dem internationalen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ansehen der deutschen Wirtschaft schweren Scha- Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung den zugefügt. stellt sich hierher und eröffnet seine Rede mit dem (Beifall bei der SPD) Satz: Ich weiß genau, was der Dreßler gleich sagen wird. - Ich habe kein Argument von ihm gegen das, Zudem: Sie spricht dem tatsächlichen Rang Deutsch- was ich hier sage, gehört, nicht ein einziges Argu- lands in der Weltwirtschaft und unserer Wettbe- ment! werbsfähigkeit geradezu Hohn. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Meine Damen und Herren, tun wir einmal so, als ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gäbe es das ausgezeichnete außenwirtschaftliche Er- gebnis Deutschlands nicht, tun wir so, als gäbe es die Frage zwei: Wird eine weitere Erhöhung der Ren- jüngste Untersuchung des Ifo-Instituts mit ihren posi- tenversicherungsbeiträge vermieden? Eine Antwort tiven Wertungen des Standortes Deutschland nicht, darauf müßte zugleich Aufschluß darüber geben, ob tun wir ferner so, als sei alles so mies, wie es Regie- die Rentenkassen endlich von jenen 30 Milliarden rung und Industrieverbände ständig öffentlich be- entlastet werden, die nicht durch Beiträge gedeckt haupten: Wo, bitte, sind dann im Kürzungspaket der sind, also gar nicht dorthin gehören. Nichts stand da- Koalition, über das wir heute abermals beraten, jene von im Kürzungspaket, statt dessen nur Herumge- Elemente - etwa die Höhe der Lohnnebenkosten, die fummele. doch ständig als besonderes Standorthindernis ange- Es werden Tausende Wohnungen der Rentenversi- führt wird die die Sicherung des Standortes cherung mit der Folge verscherbelt, daß Sozialmieter Deutschland verbessern? auf dem teuren freien Wohnungsmarkt landen. Es Prüfen wir also, was zur Senkung der Lohnneben- gibt massive Kürzungen im Bereich der Rehabilita- kosten getan wird, und vergessen wir dabei für einen tion mit der sicheren Folge einer höheren Invalidi- kurzen Moment, daß es in Deutschland seit 1990 nur tätsrate, also höhere Ausgaben für Erwerbs- und Be- einen Verursacher von höheren Lohnnebenkosten rufsunfähigkeitsrenten. gegeben hat: nämlich die Politik dieser Bundesregie- Das Fazit: Eine Erhöhung der Rentenversiche- rung. rungsbeiträge wird nicht vermieden. Eine Erhöhung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- auf 20 Prozent oder mehr wird unausweichlich. Aller- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dings wage ich die Prophezeiung, daß der ständig schönredende Bundesarbeitsminister für den 1. Ja- Frage eins: Werden die Beiträge zur Arbeitslosen- nuar 1997 bei exakt 19,9 Prozent, vielleicht auch versicherung gesenkt oder wird eine Senkung mög- 19,99 Prozent landen wird. Jeder weiß: Das ist ein 10662 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996

Rudolf Dreßler politischer, nicht aber ein notwendiger Beitragssatz. keit durch die Fortsetzung einer Politik bekämpfen, Senkung der Lohnnebenkosten? - Auch hier Puste- die deren Entstehen entscheidend begünstigt hat? kuchen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Er hat auch hier gewußt, was ich sagen werde. Aber es gab in diesem Punkt kein einziges Argument Nicht nur ich frage mich: Wie kann man Haushalte der Entlastung durch den Bundesminister für Arbeit durch eine Politik konsolidieren, die sie erst in Un- und Sozialordnung. ordnung gebracht hat? Wie kann man den Standort Deutschland durch eine Intensivierung der Politik (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- stärken, die ihn erst in Gefahr zu bringen droht? ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Frage drei: Was ist mit den Krankenversicherungs- beiträgen? Nachdem der Bundesgesundheitsmi- Wer diese Ziele wirklich erreichen will, muß bezo- nister den Ärzten und der Pharmaindustrie in den gen auf die Politik der Regierung umdenken und um- letzten Monaten insgesamt mehrere Milliarden Mark kehren, er darf nicht weitermachen wie bisher. Für hinterhergeworfen hat, nachdem die Krankenver- alle erkennbar ist die Bundesregierung zur Umkehr sicherung im letzten und im laufenden Jahr ein Mil- nicht bereit, die Kürzungsgesetze beweisen das. Die liardendefizit angesammelt hat, greift er zu einem Forderungen an CDU/CSU und F.D.P., ihren Kurs zu Trick. korrigieren und umzukehren, kann man auch ganz plastisch ausdrücken. Wir Sozialdemokraten verlan- Er will die Höhe der Krankenversicherungsbei- gen von dieser Koalition: Kehren Sie zu den Grundli- träge per Gesetz festschreiben und am 1. Januar nien der Sozialen Marktwirtschaft zurück! 1997 ebenfalls per Gesetz um 0,4 Prozent senken. Das hat zur Folge, daß die Beiträge am 2. Januar (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- durch die Selbstverwaltung erhöht werden können, ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) um das Defizit auszugleichen. Das erfolgt dann aller- dings nicht per Gesetz, sondern per Selbstverwal- Kehren Sie zurück zu einer marktwirtschaftlichen tungsbeschluß der Krankenkassen. Ein solches Ver- Politik, bei der Parlament und Regierung ihrer Ver- fahren ist das Gegenteil von dem, was man Wahr- pflichtung gerecht werden und dem Marktgesche- nehmung der politischen Aufgaben einer Regierung hen sittliche! humane und soziale Normen beigeben! nennen könnte. (Beifall bei der SPD) Das wird die Bilanz des Kürzungspakets in Sachen Verbesserung des Standortes Deutschland durch Ich sage Ihnen: Wer als Politiker den Markt sich Vermeidung höherer oder Senkung bestehender selbst überläßt, wer gar der Gesellschaft zumuten Lohnnebenkosten sein: höhere Krankenversiche- will, sich unbesehen - und das heißt wertneutral - rungsbeiträge, höhere Rentenversicherungsbeiträge, dessen Gesetzmäßigkeiten zu unterwerfen, handelt mehr Arbeitslose und demzufolge höhere Arbeitslo- pflichtvergessen. Der Markt ist der Ort zur optimalen senversicherungsbeiträge. Organisation und Befriedigung der ökonomischen Bedürfnisse einer Gesellschaft. Aber er ist kein Prin- Als ich diese Sachlage vorgestern abend auf einer zip für die Ordnung der Gesellschaft. Veranstaltung in Oberhausen-Sterkrade erläuterte, unterbrach mich ein Stahlarbeiter, offenkundig ein (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Fußballfachmann, mit der Bemerkung: Bei euch in ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bonn jeht et ja beim Geld schlimmer zu wie früher bei dem Günter Siebert auf Schalke. - Sie werden Diese Überzeugung war ehedem eine Gemeinsam- verstehen, daß ich Herrn Siebert anschließend gegen keit zwischen allen politischen Gruppierungen des diesen ehrenrührigen Vergleich in Schutz genom- Hauses. Die Gemeinsamkeit jedoch droht zu zerbre- men habe. chen oder ist vielleicht schon zerbrochen. Ich denke, wir müssen zu dieser Gemeinsamkeit zurückkehren, (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) wollen wir den Zusammenhalt und die Chance auf eine erfolgreiche Fortentwicklung unserer Gesell- Sie werden verstehen, daß ich auch das „euch" zu- schaft nicht aufs Spiel setzen. Mit dem vorliegenden rückgewiesen habe, weil - damit das klar ist - wir So- Kürzungspaket ist diese Rückkehr nicht möglich. Im zialdemokraten diesen Unfug auch weiterhin nicht Gegenteil: Dieses Gesetzessammelsurium führt weg mitmachen werden. Wir begrüßen das Ergebnis des von dem, was gesellschaftspolitisch notwendig ist. Vermittlungsausschusses, diese Gesetze aufzuheben, ausdrücklich. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Die Sozialdemo- kraten sind nicht reformfähig!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In weiten Kreisen der Unternehmerschaft hat sich offenbar der Eindruck festgesetzt, Politik und Parla- Die Ziele, die die Regierung mit ihrem Kürzungs- ment hätten gegenüber der Wirtschaft gefälligst die paket zu erreichen vorgibt, lauten: Massenarbeitslo- Rolle eines zur Verfügung stehenden Dienstleisters sigkeit bekämpfen, öffentliche Haushalte konsolidie- zu übernehmen. Zu diesem irrigen Eindruck kann ei- ren und den Standort Deutschland stärken. Nicht nur gentlich nur der gelangen, der annimmt, alle Mitglie- ich frage mich: Wie kann man Massenarbeitslosig- der des Deutschen Bundestages seien so, wie die Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10663

Rudolf Dreßler Kolleginnen und Kollegen der F.D.P. neuerdings Zweitens: Es gibt ausreichend Vertreter der Koali- sind. Aber das ist nicht so. tion, vor allem bei der F.D.P., die ausdrücklich einräu- men, daß das gewollt ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Vor allem aber drittens: Es bleibt doch nicht bei Zurufe von der F.D.P.: Na! Na! Na! - Beifall diesem Kürzungspaket; in Wahrheit soll es weiterge- des Abg. Dr. [F.D.P.]) hen. Habe ich eigentlich nur geträumt, daß der Das Parlament ist trotz reichlich forscher Worte des F.D.P.-Vorsitzende Gerhardt Arm in Arm mit Herrn BDI-Präsidenten zu diesem Thema kein Dienstleister Stihl die Streichung des § 77 Abs. 3 des Betriebsver- fassungsgesetzes gefordert hat? für Dritte. (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Wir sind (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Wo denn?) keine Dinosaurier!) - Bevor Sie aus den Koalitionsreihen mich weiter so Hier im Hause fallen die Entscheidungen über die verständnislos angucken, will ich Sie darüber aufklä- Grundlinien deutscher Politik eigenständig, unab- ren, was dort steht: hängig und mit ausschließlicher Legitimation. Alles andere ist als anmaßendes Geschwätz zurückzuwei- Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingun- sen. gen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üb- licherweise geregelt werden, können nicht Ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- genstand einer Betriebsvereinbarung sein. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Herren Gerhardt und Stihl wollen also in Welch perverse Bewußtseinslage sich mittlerweile Wahrheit Tarifverträge abschaffen, wenn sie diese eingestellt hat, zeigt doch, daß in Unternehmens- Bestimmung streichen wollen. Dann nämlich gäbe es und Börsenkreisen vor allem jene Manager als be- nur noch Betriebsvereinbarungen, und es gäbe Ge- sonders erfolgreich gefeiert werden, die Tausende werkschaften, die nur noch so heißen, die nichts von Arbeitsplätzen abbauen und den Beschäftigten mehr gestalten oder bewegen können, die, statt mit- den Stuhl vor die Tür setzen. Nicht der, der Arbeits- zuverantworten, zu einer Versammlung räsonieren- plätze schafft, nein, der, der sie abbaut, gilt als erfolg- der Maulhelden verkommen würden. reich. Sollen das die neuen Maßstäbe für unsere Ge- sellschaft sein? Für Sozialdemokraten jedenfalls wäre Ich weiß ja, daß es auf Seiten der Koalition in aus- dies nicht nur inhuman; es wäre letztlich ein Schritt reichender Zahl Mitglieder in diesem Hause gibt, de- in eine entmenschlichte Gesellschaft. nen nichts lieber wäre als das. Sie wollen englische oder amerikanische Verhältnisse in den Sozialbezie- (Beifall bei der SPD - Ulrich Heinrich hungen. Da mögen CDU/CSU und vor allem F.D.P. [F.D.P.]: Das haben Sie früher schon gesagt, im Hinblick auf das Kürzungspaket mit noch so und da war es auch Blödsinn!) treuem Augenaufschlag beteuern, das sei alles nicht Nicht jeder Unternehmer kann das gesellschafts- so gemeint, wie die SPD behauptet; angesichts sol- politische Kaliber eines Walther Rathenau haben. chen Geredes über weitergehende Maßnahmen wie Aber wenn nicht derjenige gewürdigt wird, der Ar- zum Beispiel das der Herren Gerhardt und Stihl - je- beitsplätze schafft, sondern der, der rauswirft, dann der weiß, sie sind nicht die einzigen - halte ich Ihnen stellt sich doch die Frage, ob die Manager sich bei entgegen: Wir glauben Ihnen nicht. der Wahrnehmung ihrer unternehmerischen Auf- gabe noch eine gesellschaftlichspolitische Funktion (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Fahr in den zumessen oder ob sie für sich den „Shareholder va- Urlaub, Rudolf! Du bist nicht erholt!) lue", wie es neudeutsch heißt, also die Mehrung des Sie führen etwas im Schilde. Sie wollen diese Repu- Wertes von Aktien und Geschäftsanteilen, heute blik von den Füßen auf den Kopf stellen. schon als alles definieren. Dann nämlich wären wir wirklich bei einer Zustandsbeschreibung der Gesell- Was das konkrete Vorhaben zur Abschaffung des schaft, die Karl Marx schon vor über hundert Jahren § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes angeht, vorgenommen hat und die wir bisher gemeinsam mit will ich mit meiner Wertung nicht hinter dem Berg voller Überzeugung zurückgewiesen haben. halten: Sollte dies mehr sein, Herr Gerhardt, als Diesem Geist, der in manchen Unternehmenseta- ebenso schwach- wie leichtsinniges Gefasel, sollten gen herrscht, dem Volk, Gesellschaft und Nation fast CDU/CSU und F.D.P. je versuchen, das wahrzuma- nichts und dem das eigene Unternehmen fast alles chen, so kündige ich Ihnen an, daß die deutsche So- bedeutet, hat diese Regierung sich nicht nur wider- zialdemokratie dieses Land durcheinanderwirbeln standslos gebeugt; sie hat ihn durch ihre Politik ge- wird, daß Sie es nicht wiedererkennen werden. fördert, ja, erst hoffähig gemacht. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Annelie Wenn an dieser Stelle von Vertretern der Koalition Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] - entgegengehalten wird, so sei das Kürzungspaket Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: nicht gemeint, und so Weitgehendes stehe auch gar Oh!) nicht darin, dann halte ich dem drei Dinge entgegen: Erstens: Die politischen Absichten dieser Koalition Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kollege Dreß- zeigen, unbeschadet mancher Einzelregelung, genau ler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen in diese von mir aufgezeigte Richtung. Gerhardt? 10664 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996

Rudolf Dreßler (SPD): Sofort, Herr Gerhardt. - Wer gute Gewinn- und Verlustrechnungen ausweisen - durch solche Maßnahmen, offen oder verdeckt, an nicht auf Gegenliebe dieser Unternehmen stoßen; den Grundlagen einer handlungsfähigen freien Ge- denn sie können sich an zwei Fingern ausrechnen, werkschaftsbewegung rüttelt oder ihr gar den Boden was das in der praktischen Tarifauseinandersetzung entziehen will, hat die SPD nicht nur zum Gegner, bedeutet. Herr Gerhardt, er hätte sie dann zum Feind - wenn Sie wissen, was dieses Wort in einer Gesellschaft, die Ich wiederhole, Herr Gerhardt: Es mag sein, daß auf Gemeinsamkeit der Demokraten setzt, bedeutet. ich davon nicht soviel verstehe wie Sie. Aber die Dinge, die ich verstehe, sollten Sie animieren, Ihre (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Position zu überdenken. Aber ich entnehme Ihrem Beitrag in diesem Hause, daß Sie die Eliminierung Bitte schön. dieser Bestimmung aus der Betriebsverfassung mit Ihrer Partei nicht weiter verfolgen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Gerhardt. (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Das war nicht mein Punkt!) Dr. Wolf gang Gerhardt (F.D.P.): Herr Kollege Dreß- ler, nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß ich die Tarif- - Es ist am heutigen Tag eine gute Botschaft, daß die vertragsparteien - die sich beide, was die Beschäfti- F.D.P. dies nicht weiterverfolgt. gungsvereinbarungen betrifft, in einer Art Monopol- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- situation befinden - aufgefordert habe, die Tarifver- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN tragsöffnung für „betriebliche Besonderheiten" zu und der PDS) ermöglichen. Meine Damen und Herren, nicht der Arbeitneh- (Beifall bei der F.D.P.) mervertreter, der sich gegen unsoziale Gesetzge- Sie wissen genausogut wie ich, daß es in Deutsch- bungsversuche nach Art des Kürzungspaketes der land Hunderte von Betrieben gibt, die nicht in Flä- Bundesregierung wehrt, weil er den sozialen Frieden chentarifverträge einbezogen sind. Sie verschließen gefährdet sieht, ist das Standorthindernis, sondern es die Augen vor der Wirklichkeit. Es ist besser, diesen sind die selbsterwählten Systembastler. Im übrigen Betrieben die Möglichkeit zu geben, eine Vereinba- erlaube ich mir die Frage: Was glauben die Damen und Herren der Koalition wohl: Ist es der Gewerk- rung mit dem Betriebsrat zu treffen, um Arbeitsplätze schaftsvertreter, der für die gerechte Teilnahme aller zu erhalten, anstatt sie durch die Lohnfindung im am ökonomischen Fortschritt öffentlich streitet und Rahmen eines Flächentarifvertrags zu zerstören. für sozialen Ausgleich kämpft, der dem Ansehen der (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- deutschen Wirtschaft schadet, oder sind es ausge- ten der CDU/CSU) suchte und beispielhafte unternehmerische „Mei- sterleistungen" des deutschen Managements nach Art von Daimler-Benz, Metallgesellschaft, Balsam, Rudolf Dreßler (SPD): Herr Kollege Gerhardt, es Klöckner-Humboldt-Deutz, um nur prominente Bei- mag sein, daß Sie über Tarifverträge detaillierter in- spiele zu nennen? Jeder kennt die Antwort, aber formiert sind, als ich es bin. Das mag sein. Ich will kaum einer sagt sie. Ihnen nur meinen Informationsstand nennen; Sie können ihn dann mit dem Ihren abgleichen. ( [F.D.P.]: Vulkan, Lufthansa!) Es wissen nicht viele, daß es in diesem Land 40 000 Denn in solch vornehmen Kreisen güt es als unhöf- gültige Tarifverträge gibt. Noch weniger wissen, daß lich, eine unternehmerische Pfeife auch als solche zu es nur ganz wenige Tarifverträge gibt, die bundes- bezeichnen. einheitlich gelten, daß die Masse auf Regionalität zu- geschnitten ist. Und es gibt auch nicht viele, Herr (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Gerhardt, die wissen, daß in diesen Tarifverträgen ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Öffnungsklauseln in tausendfacher Art und Weise und der PDS) bestehen - bis hin zur Flexibilisierung der Arbeitszeit Ich fände es ganz praktisch, wenn die F.D.P., die in einem ungewohnten Maße für den, der das alles mit flotten Sprüchen wie „Leistung muß sich wieder nicht durchschaut. Das alles sind Lösungen auf be- lohnen" mehr Leistung einfordert, bei diesen Unter- trieblicher Ebene. nehmensleitungen anfinge. Da geht es nämlich um Wenn Sie, Herr Gerhardt, allerdings die Lohnfin- Hunderttausende von Arbeitsplätzen. dung auf die betriebliche Ebene verlagern wollten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- mit Ihrem Vorschlag, dann muß ich Ihnen zwei Dinge ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sagen: Erstens. Diesen Vorschlag hat die Deutsche und der PDS) Kommunistische Partei im Westen Deutschlands in den 60er Jahren in ihrem Programm gehabt. Ich be- Wenn die sozialdemokratische Bundestagsfraktion glückwünsche Sie zur Übernahme dieser DKP-For- dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses, das eine derung! Ablehnung des Kürzungspaketes vorsieht, heute zu- (Beifall bei der SPD) stimmt, dann geschieht dies nicht aus parteitakti- schen Erwägungen, sondern aus voller inhaltlicher Zweitens. Lohnfindung auf betrieblicher Ebene Überzeugung. Wir akzeptieren die von den Koaliti- wird - dies stellen Sie fest, wenn Sie das Gespräch onsfraktionen scheibchenweise versuchte gesell- mit Unternehmensmanagern führen, deren Betriebe schaftspolitische Neuausrichtung unserer Republik Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10665 Rudolf Dreßler nicht, sondern wir halten sie für falsch und gefähr- ermöglichen. Das ist meine Haltung dazu, nicht mehr lich. und nicht weniger. Immer sind die Kräfte selbst zu Reformen aufgefordert, aus eigener Kraft diese Lage Die vor uns liegenden Probleme können gelöst zu verändern. Das ist unsere Vorstellung, das ist werden, und die Fragen können beantwortet wer- mein Vorschlag. den. Das aber wird nur gelingen, wenn wir uns auf die Tugenden der Sozialen Marktwirtschaft rückbe- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- sinnen, wenn wir die unterschiedlichen Kräfte unse- ten der CDU/CSU) rer Gesellschaft zusammenführen und sie bündeln. Ihr Kürzungspaket, das, was Sie als Regierung und Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dreßler. Koalitionsfraktionen vorhaben, weist in eine andere Richtung. Es geht in Richtung Kapitalismus pur. Sie Rudolf Dreßler (SPD): Frau Präsidentin! Meine Da- führen nicht zusammen, sondern Sie spalten. Sie men und Herren! Es wäre schon ein Fortschritt, Herr spielen die Interessen der Wohlhabenden unseres Gerhardt, wenn wir uns in diesem Parlament darauf Landes gegen die Interessen der weniger Wohlha- verständigen könnten, daß etwa die Gewerkschaften benden aus. Dem gilt der entschiedene Widerstand ihr originäres Eigeninteresse - auch nach Meinung der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion. der F.D.P. - selbst zu definieren im Stande sind. Ich danke Ihnen. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die haben die F.D.P. doch (Anhaltender Beifall bei der SPD - Beifall vor dem Bankrott gerettet!) beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Wenn Sie also sagen, es liegt im originären Interesse der Gewerkschaften, glaube ich - in Kenntnis der Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer dort Handelnden -, daß sie das für sich selbst am be- Kurzintervention hat der Kollege Gerhardt. sten entscheiden können. (Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der SPD) - Das ist sein parlamentarisches Recht. Er hat ge- Zweitens. Wenn Sie sagen, es läge im originären fragt. Interesse der Tarifvertragsparteien - es ist ja noch eine zweite Bank angesprochen -, dann glaube ich - in Kenntnis der dort Handelnden - zu wissen, daß Dr. Wolfgang Gerhardt (F.D.P.): Frau Präsidentin! diese besser wissen Herr Kollege Dreßler, ich verstehe diese Aufgeregt- heit nicht. Das Ganze dient der Sachaufklärung. (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Da haben Denn auch Ihnen, Herr Kollege Dreßler, ist als viel wir auch Vorschläge gemacht!) sachverständigerem Tarifvertragskenner klar, daß - nicht nur besser als die F.D.P., sondern übrigens Arbeitgeberverbände und auch Gewerkschaften ge- auch als die SPD, als wir alle -, was für sie am besten genwärtig Mitglieder verlieren. Warum wohl? - Weil ist. Herr Gerhardt, soviel Vertrauen, wie Sie in sich sich die Lohnfindung im Betrieb branchenspezifisch selbst und in die F.D.P. haben, müssen Sie auch den nicht mehr so vollzieht, wie das auf der oberen Ebene Arbeitgeberverbänden und den deutschen Gewerk- verhandelt worden ist, und weil manche kleine und schaften zugestehen. mittlere Betriebe die Motive für diese Findung nicht mehr verstehen können. (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Wir haben auch Vorschläge gemacht!) (Beifall des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]) Entscheidend ist - wenn Sie das nur als Appell ver- standen wissen wollen daß Sie - so habe ich Ihrer Es liegt im ureigenen Interesse der Tarifvertrags- Äußerung entnommen - die gesetzgeberische Initia- parteien, etwas mehr Bandbreiten und betrieblich in- tive, die Tarifautonomie zu atomisieren, nicht weiter- dividuelle Entscheidungsmöglichkeiten nach unten verfolgen wollen. Das ist ein positives Ergebnis. zu geben, (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der F.D.P.) wenn Sie das Thema Tarife, Friedenspflicht und auch Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste Redne- die Notwendigkeit der Gewerkschaften sehen. rin spricht die Kollegin Andrea Fischer. Die Wahrheit ist, daß Sie wie ich Betriebe kennen, die sich schon längst nicht mehr an die Tarife halten, Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die von oben vereinbart worden sind. Wenn Sie Ihre NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Augen davor verschließen, nehmen Sie die wirt- Der Kollege Gerhardt hat es vor einigen Tagen ganz schaftliche Wirklichkeit dieses Landes nicht zur ohne Scheu auf den Punkt gebracht: Die Koalition Kenntnis. Deshalb ist es besser, Öffnungsmöglich- braucht das Sparpaket in seiner unveränderten Form keiten vorzusehen, anstatt an einem starren System aus symbolischen Gründen; denn eine Regierung festzuhalten. müsse schließlich zeigen, daß sie regieren kann. Es hegt im tiefen Interesse der Gewerkschaften Auch der Kollege Blüm hat es eben auf den Punkt selbst, flexibel solche dezentrale Entscheidungen zu gebracht: Heute sei hier keine Debatte in der Sache 10666 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996

Andrea Fischer (Berlin) angesagt; vielmehr könne die Regierung jetzt de- versicherung, und das ist beispielhaft für die man- monstrieren, daß sie Mut zur Entscheidung habe. gelnde politische Kraft der Bundesregierung: Für mich ist das eine traurige Demonstration des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zustands dieser Regierung: Sie muß Stärke beweisen Erst gucken Sie lange zu, dann schreiben Sie der im Verfahren, wo ihr Stärke in der Politik fehlt. Krise katastrophenhafte, geradezu naturwüchsige Dimensionen zu, und schließlich sind Sie selbst die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Getriebenen, die gar nicht anders können, als so und bei der SPD und der PDS) nicht anders auf die Krise zu reagieren. Da verkommt dann die verfassungsrechtlich institu- Aus dieser Sicht der Dinge erscheint dann jeder, tionalisierte Auseinandersetzung mit den Bundeslän- der von Alternativen spricht, als einer, der das Aus- dern zu einem Pokerspiel, wo es eigentlich nur noch maß der Krise nicht verstanden habe. Ich behaupte: darum geht, wie man schnell diese lästigen Hürden Sie haben das Ausmaß der Krise nicht verstanden. nehmen kann. Das Hauptziel ist nicht der richtige Weg, sondern nur, die eigene Unbeirrbarkeit unter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Beweis zu stellen. Sie wollen uns mit diesem Sparpaket und auch mit weiteren Maßnahmen, die auf uns zukommen wer- Deswegen hat die Bundesregierung in den letzten den, durch ein Tal der Tränen führen. Sie geben uns Monaten die Ohren verschlossen vor jedem Protest, das leichtfertige Versprechen, an dessen Ende wür- vor allen Einwänden und auch vor den Ängsten, die den Wohlstand, Wachstum und Vollbeschäftigung dieses Sparpaket bei vielen Menschen auslöst. Sie locken. Nur, den Weg durch dieses Tal gehen Sie seit wollen unbeeindruckt sein von der Angst der Jahren. Das Ergebnis ist bekannt. Frauen, was das für ihre Lebensplanung bedeutet und welche Auswirkungen das auf ihre Rentenversi- In der Zeit dieser Bundesregierung wurden die Un- cherung hat. Sie wollen unbeeindruckt sein von den ternehmen in einem nie gekannten Ausmaß steuer- verheerenden arbeitsmarktpolitischen Folgen der lich entlastet. Was ist passiert? Die Unternehmen ha- ABM-Kürzungen in Ost-Deutschland. Sie wollen un- ben von dieser Entlastung Rationalisierungs- und beeindruckt sein von der Verunsicherung der Arbeit- nicht Erweiterungsinvestitionen getätigt. Woher neh- nehmer durch die Kürzung der Lohnfortzahlung und men Sie die Annahme, das alles könne sich ändern die Änderungen beim Kündigungsschutz. Und sie und unglaublich viele neue Arbeitsplätze würden ge- wollen natürlich unbeeindruckt sein von jedem fach- schaffen, wenn Sie ein weiteres Mal entlasten? lichen Hinweis, daß die Krise so nicht zu bewältigen ist. Wir sind konfrontiert mit tiefgreifenden Umbrü- chen in der Produktion, im internationalen Handel Da igelt sich eine Regierung ein. Erst hat sie lange und deswegen auch im Erwerbsleben. Da ist eine tatenlos zugesehen, schließlich ist sie selbst schuld Rückkehr zu den Leitbildern und Zuständen der 70er am Stand der Dinge, und dann werden mit den eige- und 80er Jahre nicht möglich. Aber das ist es, was nen Versäumnissen die Sparmaßnahmen gerechtfer- Sie mit diesem Sparpaket anstreben. tigt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Heilsversprechen der Angebotspolitiker in der Haben Ihnen eigentlich nicht die Ohren gebrannt Bundesregierung, allerdings auch das Heilsverspre- von der Ohrfeige, die Ihnen der Sozialbeirat, den Sie chen der klassischen keynesianischen Nachfrage- selber eingesetzt haben, sowie die Rentenversiche- politiker ist, das hohe Wirtschaftswachstum werde es rungsträger in der Sommerpause gegeben haben? schon richten. Nun wird uns Grünen ja gerne eine Die haben Ihnen doch ins Stammbuch geschrieben, tiefe Feindschaft gegenüber dem Wirtschaftswachs- daß die Finanzkrise der Rentenversicherung ge- tum nachgesagt. Aber erstens waren wir in den ver- nauso weitergehen wird, wenn Sie die Rentenbei- gangenen Jahren bekanntermaßen an der Bundesre- träge wieder einmal nicht in einer realistischen Höhe gierung nicht beteiligt. Zweitens ist mir aus der öko- festsetzen. Aber die Bundesregierung orientiert sich nomischen Theorie nicht bekannt, daß das Wachs- an der magischen Grenze von 20 Prozent Beiträgen. tum allein deswegen vor sich hinkümmert, weil ihm Magie! Womit haben wir eigentlich eine Bundesre- übel nachgeredet wird. Also, an uns kann es nicht gierung verdient, die auf Zauber und Magie setzen hegen, wenn wir seit vielen Jahren damit konfron- muß? tiert sind, daß die Wachstumsraten ständig fallen. Darauf muß sich die Politik einrichten. Das ist das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Neue, und da sind uns alte Wege verbaut. Einer die- ser alten Wege ist die Angebotspolitik, die Sie mit Wenn Sie den Fehler der beiden letzten Jahre noch diesem Sparpaket machen wollen. einmal wiederholen und die Beitragssätze zu niedrig ansetzen, dann werden wir bald wieder ein Paket auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem Tisch haben, an dem wir dann bei den Ren- sowie bei Abgeordneten der SPD) tenansprüchen wahllos herumkürzen müssen, um Am eigenen Leib spüren die Menschen zur Zeit irgendein Finanzloch in der Rentenversicherung besonders, was sich alles - gerade auch im Erwerbs- kurzfristig zu verhindern oder zu schließen. Das leben - verändert. Gerade weil sie spüren, daß sich heißt: der selbstverschuldete Fehler wird zur Begrün- etwas ändert und dementsprechend nicht alles so dung für die kopflosen Maßnahmen in der Renten- bleiben kann, wie es ist, zeigt sich immer wieder, daß Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10667

Andrea Fischer (Berlin) sie bereit sind, ihren Teil zu diesen Reformen beizu- Schauen wir uns das sächsische Spektakel um die tragen, wenn es denn für eine Gesellschaft ist, die Subventionen an! Sie reden immer vom umfassen- sich auf diese Veränderungen wirklich einläßt. Aber den Sparzwang. Sie haben diese Bereitschaft nicht genutzt, sondern (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ die Menschen verprellt, weil Sie nur noch Getrie- DIE GRÜNEN]: Europa!) bene, aber nicht mehr Handelnde sind. Dann kommt ein großer Konzern, und sofort geben Ich möchte gerne eine persönliche Anmerkung Sie der Erpressung nach. Gestern noch haben Sie machen: Ich habe erst in den 80er Jahren mit Sozial- über die „Subventionitis" in der Europäischen Union politik begonnen. Das heißt: Zeiten, in denen es geklagt, europäische Kartellämter gefordert und scheinbar unbegrenzten finanziellen Spielraum für über die hohen finanziellen Verpflichtungen soziale Sicherung gab, waren schon damals für mich Deutschlands in der Europäischen Union geklagt. nur eine Kunde aus einer fernen Zeit. Aber selbstver- Dann drehen Sie sich um und sagen heute: Was ständlich war ich beeindruckt von der Tradition des schert uns unser ordnungspolitisches Geschwätz von bundesdeutschen Sozialstaates, die nicht zuletzt - gestern! Wir fordern Sonderbehandlung, die wir na- um nicht zu sagen: sehr entscheidend - geprägt türlich bei jedem anderen Land als eine Wettbe- wurde von christdemokratischen und christlichen werbsverzerrung anprangern würden. Politikern. Zu ihnen gehörten der verstorbene Hans Damit hat - nur nebenbei - der Musterschüler der Katzer genauso wie Nell-Breuning, Wilfried Schrei- europäischen Integration nicht nur reichlich interna- ber und andere. tionales Porzellan zerschlagen, sondern mit der Bot- schaft nach innen - dieser Inkonsequenz, diesem Op- Heute erlebe ich Sozialpolitik nicht mehr als Willen portunismus, der Ergebenheit gegenüber den Mäch- zur Gestaltung einer sich verändernden Gesellschaft. tigen, gepaart mit Gleichgültigkeit gegenüber den Es gibt keine Auseinandersetzung um zukunftswei- Schwachen - zerstören Sie auch die Bereitschaft zum sende Lösungen. Es gibt auch kein Ringen um Ge- Mitmachen bei großen Veränderungen. rechtigkeit. Heute ist die Sozialpolitik vielmehr dege- neriert zu dem Versuch, eine möglichst plausibel (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN klingende Begründung für das jeweilige Kürzungs- sowie bei Abgeordneten der SPD) vorhaben zu finden. Das sächsische Spektakel ist noch in anderer Hin- sicht für die Politik der Bundesregierung mit ihrem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verharren in alten Denkmustern und überholten sowie bei Abgeordneten der SPD) politischen Prioritäten beispielhaft. Können Sie uns wirklich einen guten Grund nennen, die Autoindu- Zugespitzt wird das Ganze durch die Strategie: strie weiterhin mit Subventionen zu fördern? Sie ma- Man suche sich Gruppen aus, die möglichst leicht zu chen in Sachsen eine Insel, ein Werk mit einem ho- treffen sind, weil sie entweder keine Lobby haben, hen Rationalisierungspotential und mit einem aus- weil sich gegen sie die Mißbrauchsvorurteile beson- laufenden Produkt. Soll das wirklich der Ausgangs- ders gut mobilisieren lassen oder weil sie auf Grund punkt für eine sich selbst tragende zukunftsfähige ihres jugendlichen Alters noch zu weit davon ent- Wirtschaftsentwicklung in Sachsen sein? Wenn Sie fernt sind, die Kürzungen am eigenen Leibe zu spü- die Subventionen in die Förderung von neuen Tech- ren, und deswegen gar nicht wissen, wogegen sie nologien sowie in die Förderung von kleinen und protestieren müßten. mittleren Unternehmen umlenken würden, dann be- kämen Sie mehr Arbeitsplätze für weniger Geld. Dieser Mangel an Mut und Gestaltungswillen ist es doch, der die Menschen so verdrossen und auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zornig macht auf das Sparprogramm der Bundesre- sowie des Abg. Hans Büttner [Ingolstadt] gierung. Man muß doch erkennen können, wofür [SPD]) man die Opfer bringt. Sie ignorieren - wenn Sie jetzt Aber die Bundesregierung geht immer nach dem wieder an die Opferbereitschaft appellieren - völlig gleichen Muster vor: Jetzt ist Krise, jetzt bloß keine die Erfahrung, die ganz viele Menschen in den ver- Experimente! gangenen Jahren gemacht haben: Reallohnverluste, eine steigende Abgabenlast und auch viele Kür- Mit diesem Argument verwehren Sie auch die De- zungen. batte um die Ökosteuer. Aber haben Sie wirklich Besseres zu bieten? Die Menschen, die seit langem Das alles, was wir hier bereden, ist nicht neu; es ist einen völlig berechtigten Unmut über die Kompli- nur ein weiterer Schritt. Aber die Menschen empfin- ziertheit und die Ungerechtigkeiten des Steuersy- den das so, als seien sie jedesmal wieder um die stems haben, behelligen Sie in der Sommerpause mit Früchte ihrer eigenen Opferbereitschaft gebracht einer wirklich schlechten Debatte über die Steuer- worden, weil sich die Dinge nicht zum Positiven ent- politik. Nur, Sie können diesen Unmut nicht mobili- wickelt haben. Sie denunzieren als Beharrungsver- sieren, als hätten Sie damit nichts zu tun. Sie sind mögen und Besitzstandswahrerei das, was doch ei- schließlich seit Jahren an der Regierung gentlich einer konkreten persönlichen Erfahrung (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ entspricht und was nur Mißtrauen gegen zu große DIE GRÜNEN]: 26 Jahre!) und leichtfertige Versprechungen ist, die Sie hier ma- chen. Die Bundesregierung macht sich doch selbst und können nicht plötzlich die eigene Opposition ge- unglaubwürdig. ben. 10668 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 Andrea Fischer (Berlin) Für die F.D.P. ist die Steuersenkung inzwischen ein politischen Folgen dieses Vorgehen in Ostdeutsch- heiliger Gral. Da wird dann einfach nonchalant ver- land haben wird. schwiegen, daß es, wenn man die Steuersätze rabiat senkt, dramatische Steuerausfälle geben wird. Auch Ich will noch auf eines hinweisen, was bislang bei der CDU/CSU mehren sich die Stimmen, daß die meist übersehen wurde: Ein Gutteil der sozialen In- Steuerreform nach dem Motto laufen wird: Nieman- frastruktur in Ostdeutschland muß heute gezwunge- dem wird es schlechtergehen, aber allen wird es bes- nermaßen über ABM und Arbeitsförderungsgelder sergehen. finanziert werden. Das ist Ausdruck einer Finanz- schwäche der Kommunen - daran ist die Bundesre- So darf man uns nicht hinters Licht führen. Wir wis- gierung bekanntermaßen auch nicht unschuldig -; sen doch ganz genau: Die erste Voraussetzung für und es ist Ausdruck einer mangelnden Bereitschaft, eine richtige, wegweisende Steuerreform wäre eine über einen sozialen Sektor, seine Regeln und seine Neudefinition der Bemessungsgrundlage, also des- Finanzierung nachzudenken und sich dazu zu be- sen, was zu besteuern ist. Wenn man sich daran- kennen. macht, dann wird man damit konfrontiert werden, Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat, wie ich daß das deutsche Einkommensteuerrecht auch Aus- finde, einen sehr vernünftigen Vorschlag gemacht: druck einer Geschichte des deutschen Lobbyismus Die Gelder des Solidaritätszuschlags - der selbstver- ist. Die Äußerungen aus der Koalition in der Sommer- ständlich nicht abgeschafft gehört - sollten in einen pause machen mich wenig optimistisch, daß wirklich Fonds umgeleitet werden, um daraus reguläre Be- genug Mut und Rückgrat vorhanden sind, sich mit schäftigung in der sozialen Infrastruktur in Ost- diesem Lobbyismus anzulegen. Aber billiger ist es deutschland zu finanzieren. Allein die sich daraus er- nicht zu haben. Denn es wird welche geben müssen, gebenden Sozialversicherungsabgaben würden bis die zahlen, nämlich diejenigen, die heute, weil sie zu einem gewissen Grade zur Refinanzierung dessen hohe Einkommen haben, überproportional von die- beitragen. sem Steuerrecht profitieren. Dies wäre eine konstruktive Lösung für das ord- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nungspolitische Dilemma, daß die Arbeitsförde- rungsgelder als Regelfinanzierung für soziale Infra- Aber richtig Energie steckt die Bundesregierung struktur und zur Verhinderung der arbeitsmarktpoli- immer dann in die Debatte, wenn es um ein Nein zur tischen Folgen, der Kürzungen, wie Sie sie anstre- Ökosteuer geht. Das kann nur ideologische Gründe ben, eigentlich systematisch falsch sind. Ich bin, ehr- haben; denn steuersystematisch ist eine Ökosteuer lich gesagt, wenig optimistisch, daß sich die Koalition eine Steuer auf den Verbrauch, genauso wie die an diesem Punkt besinnen wird. Gleichwohl fordere Mehrwertsteuer. Diese scheinen Sie locker erhöhen ich sie dazu auf. zu können, auch wenn die Zwecke dieser Erhöhung unklar sind und die Verwendungszwecke, die Sie für Nicht nur in der Umwelt, auch im sozialen Zusam- diese zusätzlichen Einnahmen vorschlagen, von Tag menhalt in unserer Gesellschaft gibt es Ressourcen, zu Tag wechseln. Der Witz bei der Ökosteuer ist aber, die nicht unerschöpflich sind. Die Bundesregierung daß damit nicht jeder Verbrauch gleich erfaßt wird, betreibt aber Raubbau an diesen Ressourcen. Sie zer- sondern durch den hohen Preis für umweltschädliche stört die sozialen Netze; sie zerstört auch die Verän- Produktionen und Konsumtion ein Lenkungseffekt derungsbereitschaft. eintritt. Deswegen ist dies das zukunftsweisende Pro- jekt, anstatt nur mit einer Mehrwertsteuererhöhung Dieses Paket, das wir heute zurückweisen - hof- den Leuten mehr Geld aus der Tasche zu holen. fentlich -, ist mit seiner Art, Sozialabbau zu organi- sieren, die Menschen zu demoralisieren, zu verunsi- chern und zu verängstigen, ein sicherer Schritt zu- Ich will noch ein Argument für die Ökosteuer anfü- rück und garantiert keinen Weg in die Zukunft. Des- gen: Gerade weil unser Erwerbssystem im Umbruch wegen lehnen wir es ab. ist, müssen wir natürlich auch die Finanzierungs- grundlagen des Sozialstaats überdenken. Zur Zeit ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Finanzierung überwiegend an den einzelnen Ar- sowie bei Abgeordneten der SPD und der beitsplatz bzw. das Arbeitseinkommen gekoppelt. PDS) Seit Jahren haben wir erfahren: Bei millionenfacher Erwerbslosigkeit und auch bei veränderten Mustern Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich erteile jetzt von Erwerbstätigkeit - Arbeitszeitverkürzungen und dem Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rex- -flexibilisierung - stößt diese Finanzierungsbasis an rodt, das Wort. ihre Grenzen. Deswegen werden wir in Zukunft ei- nen größeren Teil der Sozialausgaben über Steuern bereitstellen müssen. Da weist die Ökosteuer in die Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: richtige Richtung. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei unserer heutigen Debatte geht es im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kern darum, wie wir die bedrückende Zahl von 4 Millionen Arbeitslosen in Deutschland senken kön- Die Bundesregierung weigert sich, hinsichtlich die- nen. Wir werden daran gemessen, ob wir eine Ant- ses Sparpakets ihre eigenen Fehler zuzugeben und wort finden. Im übrigen werden wir alle daran ge- daraus Konsequenzen zu ziehen - wie man an den messen - nicht nur die Koalition, sondern auch die Kürzungen der ABM-Stellen in Ostdeutschland sieht. Opposition. Ich muß zu meinem Bedauern feststellen, Es ist bekannt, welche dramatischen arbeitsmarkt- daß die SPD-Mehrheit im Vermittlungsausschuß eine Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10669

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt Antwort oder zumindest eine Teilantwort verweigert die Neueinstellung in den Betrieben und erhöhen die hat. Chancen dafür, daß Leute, die keine Arbeit haben, (Lachen des Abg. Peter Dreßen [SPD]) einen Arbeitsplatz finden. Ich kenne Dutzende von Handwerksbetrieben und kleinen Dienstleistern - Mir liegt daran, deutlich zu machen: Die Antwor- ich bin überzeugt, auch Sie kennen solche -, die auf ten der Bundesregierung auf die Probleme der Ar- Grund ihrer gegenwärtigen Auftragslage gern bereit beitslosigkeit sind in konzentrierter Form in unserem sind, einen siebenten, achten und neunten Mitarbei- „Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung" ter einzustellen. Sie stellen ihn aber nicht ein, weil zusammengefaßt. Dabei geht es im Kern um die sie Angst haben, daß sie - gesetzt den Fall, daß keine Kostenentlastung der Unternehmen. Es geht um Arbeit mehr da ist - diesen Mitarbeiter weiter be- weniger Staat und mehr Wettbewerb. Es geht um schäftigen müssen oder eine Abfindung zahlen müs- Leistung. sen, die die Möglichkeiten dieses Betriebes über- steigt. Das zu verhindern ist unser Anliegen; das ist Diese Leistung, Herr Kollege Dreßler, brauchen eine Politik für die Arbeitsuchenden, nicht mehr nur und wollen wir bei Arbeitnehmern, bei Wissenschaft- eine Politik für diejenigen, die Arbeit haben. lern, bei Freiberuflern, im öffentlichen Dienst und auch bei Unternehmern. Es gibt Versagen auch in diesem Bereich. Ich darf aber anmerken, daß das (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Versagen oder das Gelingen auf unternehmerischer Seite nicht unbedingt von der politischen Einbin- Denken wir an die Lohnfortzahlung: Wenn wir auf dung dieser Unternehmer abhängig ist. Das gibt es eine Fortzahlung von 80 Prozent des Lohnes gehen, auf dieser und auf jener Seite. dann wirkt das in die gleiche Richtung. Wir entlasten dabei in besonderer Weise die Mittelständler - Mit- Meine Damen und Herren, wir wollen die Bedin- telständler, die durch die Lohnfortzahlung häufig an gungen dafür verbessern, daß in Deutschland wieder die Grenze des Zumutbaren getrieben werden. Die mehr investiert und geforscht wird. Fortzahlung von nur 80 Prozent ist aus meiner Sicht keine unzumutbare Härte, zumal die Absenkung (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) durch die Inanspruchnahme von Urlaubstagen aus- Wir wollen, daß sich die Menschen selbständig ma- geglichen werden kann. Ein Blick - der Kollege Blüm chen. hat das schon angedeutet - über den Zaun zeigt, daß (Beifall bei der F.D.P.) die europäischen Nachbarn Regeln eingeführt ha- ben, die über das, was wir machen, deutlich hinaus- Dazu gibt es keine Alternative, wenn wir im globalen gehen. Einige von ihnen -z. B. Schweden oder die Wettbewerb bestehen wollen. Mit dieser - ich sage Niederlande - haben dabei aus leidvoller Erfahrung das in aller Deutlichkeit; das gehört in diese Debatte - gelernt. Heute sind die Krankenstände in diesen im Prinzip angebotsorientierten Politik will ich gar Ländern auf einem Niveau angelangt, das wir als nicht in Abrede stellen, daß wir auch auf der Nach- Normalmaß bezeichnen. Das sind nicht mehr die frageseite, wie das von Ihnen immer wieder gefor- überhöhten Krankenstände, die wir in weiten Berei- dert wird, etwas machen müssen. Das geschieht aber chen unserer Wirtschaft haben. am besten dadurch, daß wir die Bedingungen für mehr Investitionen und damit für mehr Arbeitsplätze Nehmen Sie ein drittes Beispiel - ich weil das nur verbessern. Dann wird auch auf der Nachfrageseite ganz kurz ansprechen -: die Gesundheitsreform. das entstehen, was wir alle wünschen. Wenn wir bei den Krankenhäusern Anreize für mehr (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wirtschaftlichkeit schaffen und in der Krankenversi- cherung den mündigen Patienten fördern, dann sind Die heute anstehenden Themen sind kleine Aus- das wesentliche Beiträge, die hohe Qualität unseres schnitte dessen, was zu tun ist; aber es sind wichtige Gesundheitswesens zu sichern. Wie elementar wich- Ausschnitte. Ich will mich auf wenige Beispiele kon- tig dies im konkreten Fall sein kann, kann ich - ich zentrieren. darf das einmal als persönliches Wort einfügen - am Beispiel der Intensivmedizin aus meiner eigenen Er- Als erstes Beispiel die Rentenversicherung: Sie fahrung der letzten Wochen sagen. Was da an Kom- alle wissen: Wenn nichts geschieht, müssen wir petenz, an Präsenz und an apparativer Ausstattung schon auf Grund der demographischen Entwicklung vorhanden ist, ist beeindruckend, das macht die Lei- mit deutlich höheren Beitragssätzen rechnen. Wenn stungsfähigkeit des deutschen Gesundheitswesens wir nun beispielsweise die Altersgrenze anheben, aus. Das ist ein wichtiger Teil, das Kernstück des dann ist das ein erster, unumgänglicher Schritt zur deutschen Gesundheitswesens. Das müssen wir er- Korrektur. Damit stellen wir das System auf ein stabi- halten; das müssen wir sichern. leres Fundament und leisten einen ersten Beitrag zur Sicherung der Renten. Damit schaffen wir Entlastung (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) bei den Lohnnebenkosten, für Arbeitgeber und Ar- beitnehmer gleichermaßen. Bereits an dieser Stelle - Meine Damen und Herren, ich sage einmal etwas ich sage das wieder mit großem Bedauern - paßt die überspitzt: Wenn wir dies im Kern sichern wollen, Opposition und verweigert den unumgänglichen An- dann müssen wir bei Aspirin-Tabletten, bei Massa- passungsschritt. gen, bei Bandagen und auch bei Kuren etwas kürzer- Das Beispiel Kündigungsschutz und Lohnfortzah- treten. Wenn wir im Kern leistungsfähig und von al- lung: Wenn wir den Schwellenwert von fünf Beschäf- ler Welt im Gesundheitswesen bewundert bleiben tigten auf zehn Beschäftigte anheben, erleichtern wir wollen, dann müssen wir denen, die zu mehr Selbst- 10670 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996

Bundesminister Dr. Gunter Rexrodt beteiligung und zu mehr Mündigkeit in der Lage erreicht haben, können wir uns sehen lassen. Wir sind, diesen persönlichen Beitrag abverlangen. werden darüber in Kürze in der Haushaltsdebatte ausführlich sprechen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Auch bei den jetzt anstehenden Maßnahmen wer- Die pauschalen Vorwürfe der Opposition greifen hier den wir uns nicht beirren lassen. Die Kostenkrise am viel zu kurz. Standort Deutschland, die auch von Ihnen gesehen Lassen Sie mich nur ein Wort zu den Kurorten sa- und beschrieben wird, meine Damen und Herren von gen, weil dieses Thema heute angesprochen worden der Opposition, bedeutet eine Überforderung der ist: Wir sehen sehr wohl die Probleme. Wir sehen Staats- und Sozialhaushalte. Das sind Fakten, denen auch die Probleme, die durch erhöhte Arbeitslosig- wir uns stellen müssen. keit in strukturschwachen Gebieten entstehen. Dies Arbeitsplätze entstehen nicht am grünen Tisch. Sie müssen wir uns noch genau angucken. entstehen am Markt durch Leistung und wirtschaftli- Gut wäre es allerdings, wenn Sie bei Ihrer Argu- che Dynamik. Sie entstehen in den Unternehmen, in mentation den entscheidenden Schritt nicht vergä- denen Menschen erfolgreich arbeiten. Manchmal ßen: Sie müssen die Kostenentlastungen beachten. habe ich den Eindruck - das sage ich ohne jede Pole- Diese erhöhen unsere Chancen auf zusätzliche Ar- mik -, daß die SPD auf halbem Wege zwischen Ana- beitsplätze, zum Beispiel in modernen Technologien, lyse und Therapie steckengeblieben ist. im Mobilfunk oder bei Chip-Fabriken. (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Ernst Herr Dreßler, Sie haben vorhin gesagt, es gehe den Hinsken [CDU/CSU]) Koalitionsfraktionen um das Ob, nicht mehr nur um Wie anders wäre es zu erklären, daß sich Ihr soge- das Wie des Sozialstaates. Ich sage: Das ist richtig, nanntes neues Denken in der Wirtschaftspolitik bei aber in ganz anderem Sinne, als Sie es gemeint ha- näherem Hinsehen zu einem Teil als Kopie unserer ben. Wir müssen den Sozialstaat im Kern sichern. Standortpolitik entpuppt - Sie sprechen, wie auch Dazu sind Korrekturen an der richtigen, an der un- wir, von Innovation und vom Umbau der Sozialsy- vermeidbaren Stelle unumgänglich. Wir haben ge- steme -, aus der Sie jedoch falsche, zum Teil sogar rungen und glauben, daß wir an der richtigen Stelle obskure Konsequenzen ziehen? ansetzen. Dies ist nicht vermeidbar. (Zuruf von der SPD: Das ist ja nur Ihre Ein- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schätzung!) Meine Damen und Herren, ich weiß sehr wohl: - Ich bringe die Beispiele. - Sie wollen immer noch Viele Arbeitsuchende setzen all ihre Kraft ein, um die Zinspolitik der Bundesbank in den Dienst der auf dem Arbeitsmarkt wieder Tritt zu fassen - viel zu Konjunktursteuerung stellen. Meine Damen und oft ohne Erfolg. Es kann aber auch nicht so sein wie Herren, die Bundesbank ist kraft Gesetzes verpflich- in Oberhausen; ich glaube, der Kollege Blüm hat dar- tet, die Bundesregierung prinzipiell in ihrer Wirt- auf schon angespielt. schaftspolitik zu unterstützen. Aber ich finde es gut - (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Sehr und die anderen übernehmen das deutsche Modell -, wahr!) daß sie dabei unabhängig ist und der Geldwertstabi- lität erste Priorität gegeben hat. Diese Stadt, in der 15 Prozent arbeitslos sind, hat ei- nen Einkaufspark, der mehrere tausend Arbeits- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) plätze anbietet, von denen bisher noch nicht einmal Einige von Ihnen - ich sage das bewußt vorsichtig - die Hälfte besetzt worden ist. wollen über keynesianische Fiskalpolitik die Binnen- (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Stell dir nachfrage stärken. Ich sage dazu nur soviel: Dann vor, es gibt Arbeit, und niemand geht hin!) können wir uns von der Europäischen Währungs- union gleich verabschieden. Noch gestern hat Herr Als Grund wird öffentlich bekanntgegeben, viele Ar- Lafontaine Thesen zum Standortwettbewerb vorge- beitslose seien - ich zitiere - „finanziell nicht ausrei- tragen und dabei eine Wende in der Wirtschaftspoli- chend motiviert". Solange so etwas in einer solchen tik gefordert. Region möglich ist, sollte man mit dem Vorwurf des sozialen Kahlschlags sehr vorsichtig umgehen. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sie sind furchterregend!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Dazu kann ich nur sagen: Mit der von Ihnen vorge- Meine Damen und Herren, die unbequeme Wahr- schlagenen internationalen Angleichung von So- heit ist: In Wirklichkeit ist derjenige unsozial, der vor zial- und Umweltstandards verfolgen Sie einen heh- Entscheidungen zurückweicht, die zunächst unbe- ren Anspruch. Aber solche Staatskartelle, wie Sie sie quem wirken, an denen aber kein Weg vorbeiführt. wünschen, würden unsere Probleme nur verschär- Wer das tut, gefährdet die Grundvoraussetzung für fen. Glaubt denn ernsthaft jemand von Ihnen, daß ir- Wachstum und Beschäftigung und damit die langfri- gendein Entwicklungsland oder auch nur ein stige Sicherung des Standorts Deutschland. Schwellenland bereit wäre, auf seine Kostenvorteile zu verzichten, damit die Industrieländer ein hohes Mit dem Programm für mehr Wachstum und Be- Beschäftigungsniveau halten können? Das ist doch schäftigung haben wir ein geschlossenes, ein in sich eine absurde Annahme. schlüssiges, ein ausgewogenes Gesamtkonzept vor- gelegt. Mit dem, was wir bislang bei der Umsetzung (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10671 Bundesminister Dr. Günter Rexrodt Internationale Abstimmung soll und muß sein, ge- aber auch internationale Kooperation brauchen. Tei- rade wenn es um Umweltfragen oder den Abbau von len Sie mit mir die Auffassung, daß es sowohl auf der Handelshemmnissen geht. Wer aber glaubt, ein G-7-Ebene wie auch auf anderen Ebenen schon ein- neues Weltmodell entwickeln zu können, mit dem mal intensivere Kooperationsphasen in der Entwick- die Gefahren der Globalisierung für uns, die Indu- lung der Industriegesellschaften gegeben hat? strieländer, abgewendet werden können, der entwik- kelt aus meiner Sicht schon wieder Wunschbilder, Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: die an der Realität der Menschen und der Realität Zunächst, Herr Kollege Mosdorf, möchte ich die Ge- der internationalen Staatengemeinschaft vorbeige- legenheit benutzen, um mich bei Ihnen, aber auch hen. bei vielen anderen für die guten Wünsche zu bedan- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) ken. Ich bin immer sehr froh und empfinde das als außerordentlich beglückend, wenn das über die Par- Das funktioniert nicht, auch wenn es ein hehres teigrenzen möglich ist. Das gilt auch für andere. Ziel ist. Die Märkte sind dynamischer, ob man das nun will oder nicht, und da müssen wir uns als An- Nun zur Sache selbst: Herr Kollege Mosdorf, ich bieter behaupten und als Standort für Investoren in- bin sehr für internationale Kooperation. Ich habe das teressant bleiben. Deshalb unsere Politik zur Verbes- auch gesagt. Ob das G 7, G 10 oder auch G 77 ist, ich serung der Standortqualität; deshalb unsere angebots- bin sehr dafür, daß wir etwas tun, wenn es um Um- orientierte Wirtschaftspolitik. Dabei verstehen wir weltstandards geht. Ich bin sehr dafür, daß wir zu Ko- Globalisierung eben nicht nur als eine Bedrohung, operation kommen, zum Beispiel zur Verhinderung sondern auch als eine Chance. von Kinderarbeit und vielem anderen mehr. Ich habe aber die Rede von Herrn Lafontaine, die er gestern Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, den gehalten hat, genau gelesen. Vieles gefällt mir darin. Menschen in unserem Land ist klar, daß zu den Maß- Ich habe auch gesagt, manches könnte von uns sein. nahmen, über die wir hier diskutieren, eine verant- Er spricht davon, daß die Marktwirtschaft das verbin- wortungsvolle Alternative nicht vorhanden ist. Dies dende Glied in der Weltwirtschaft sein soll. Ich bin ist der einzig gangbare Weg, damit sich die Lei- nur in einem Punkt - und auf den setzen Sie ja, wenn stungspotentiale unserer Volkswirtschaft entfalten es um die Arbeitslosigkeit geht - skeptisch. Herr können. Es ist der einzig gangbare Weg für mehr Mosdorf, es wird nicht möglich sein, ob wir das wol- Wachstum und mehr Beschäftigung in unserem len oder nicht, irgendein Entwicklungsland - ich will Land. Die Bundesregierung wird diesen Weg unbe- hier keine Namen nennen - davon abzuhalten, seine irrt gehen. komparativen Kostenvorteüe ganz gezielt in die Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Waagschale zu werfen, um seine Produkte, um seine Dienstleistungen anzubieten und uns weltweit, auf (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) dem eigenen Markt und anderswo, Konkurrenz zu machen. Da hört die internationale Kooperation, ob Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister, ge- wir das wollen oder nicht, auf. Im politischen, auch statten Sie noch eine Zwischenfrage? im wirtschaftspolitischen Bereich gilt: Kooperation ja, aber keine neuen Wunschträume, keine neuen Be- glückungsmodelle, die weltweit an der Realität des Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: Menschen und an der Realität der Staatengemein- Ja, bitte schön. schaft scheitern würden. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kollege Mos- dorf. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi. Siegmar Mosdorf (SPD): Herr Minister, zunächst freuen wir uns alle, daß Sie wieder da sind. Es ist nämlich ganz wichtig, dies auch einmal hier im Haus Dr. Gregor Gysi (PDS): Frau Präsidentin! Meine zu sagen. Damen und Herren! Ich finde, daß das Instrument der Sondersitzung in diesem Deutschen Bundestag (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- inzwischen mißbraucht wird. ten der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der PDS) Weiterhin habe ich eine Frage an Sie: Sind Sie be- reit, zur Kenntnis zu nehmen und auch in die Diskus- Wir haben in dieser Sommerpause zwei Sondersit- sion mit einzubeziehen, daß wir, die Sozialdemokra- zungen gehabt, die vorher schon geplant waren. Die ten - Sie haben sich eben auf die Globalisierungsde- eine Sondersitzung fand mit ziemlich hohen Kosten batte und auf die Frage der internationalen Koope- statt, weil die Koalitionsregierung nicht in der Lage ration bezogen -, der Meinung sind, daß es in der war, Gesetze richtig zu formulieren. Die zweite Son- heutigen Zeit um eine Doppelstrategie gehen muß? dersitzung findet aus reinen Termingründen statt, Das heißt in der Tat, daß wir zu Hause anfangen und weil Sie befürchten, daß der Sozialabbau ansonsten hier die Strukturprobleme lösen müssen, zu spät kommt. Es ist einfach nicht zu akzeptieren, dafür weitere Staatsgelder zu vergeuden. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Lafon- taine und Schröder!) (Beifall bei der PDS) 10672 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996

Dr. Gregor Gysi Herr Bundesminister Blüm, Sie haben vorhin sehr ter eine Vielzahl von Kindern, keine Armut? Sind einfühlsam Beispiele aus anderen Ländern genannt 1 Million Menschen in Notunterkünften nicht Aus- und darauf hingewiesen, daß dort ein viel drastischer druck von Armut? Sind 2,3 Millionen Sozialhilfeemp- Abbau stattfindet, den Sie Umbau nennen - dazu fängerinnen und Sozialhilfeempfänger, die ständig komme ich noch -, und daß die Bundesrepublik nur von diesem Zuschuß leben, nicht Ausdruck von Deutschland in diesen Fragen im internationalen Armut? Wer in diesem Hause hat denn schon einmal Vergleich besonders vorsichtig operiert und sich den versucht, von dieser Sozialhilfe zu leben? Dann internationalen Bedingungen nur schrittweise annä- wüßte er, was Armut in dieser Gesellschaft bedeutet. hert. Ich frage mich allerdings, warum Sie dann nicht zum UNO-Report Stellung nehmen, der in Bonn am (Beifall bei der PDS) 15. Juli veröffentlicht worden ist. Die UNO ist be- Hinzu kommen noch Millionen Menschen, die So- stimmt nicht PDS-nah und insofern unverdächtig, zialhilfe, obwohl sie darauf Anspruch hätten, gar uns in irgendeiner Hinsicht zuzuarbeiten. In diesem nicht beantragen, und zwar entweder weil sie nicht UNO-Report heißt es, daß die Kluft zwischen den In- wissen, daß sie sie zu beanspruchen haben, oder weil dustriestaaten und den Entwicklungsländern nicht ihnen der ganze Vorgang zu bürokratisch und zu de- etwa Schritt für Schritt schrumpft, sondern perma- mütigend organisiert ist. Ich behaupte, Sie haben das nent und ganz deutlich wächst und daß sich die Ein- absichtlich so bürokratisch und demütigend organi- kommensunterschiede in den letzten Jahren sogar siert, damit viele diese Ansprüche, die ihnen zuste- verdoppelt haben. Es wird dann ein Beispiel ge- hen, gar nicht erst geltend machen. Dann kommen nannt. Ich finde diese Zahl so phantastisch und be- noch die vier bis sechs Millionen Arbeitslosen dazu. stürzend, daß ich sie hier erwähnen muß. Nach die- So ergibt sich das Bild einer Gesellschaft, die tief ge- sem UNO-Bericht besitzen 358 Dollar-Milliardäre ge- spalten ist und die von Ihnen immer weiter gespalten nausoviel Eigentum und Vermögen wie 45 Prozent wird. Sie sprechen davon, daß die Kassen immer lee- der Weltbevölkerung, das heißt wie 2,2 Milliarden rer, daß die Mittel immer begrenzter werden und daß Menschen. Das muß man sich einmal auf der Zunge deshalb die Möglichkeiten, zu verteilen, durch ob- zergehen lassen. Es gibt etwa so viele Dollar-Milliar- jektive Zwänge nicht mehr vorhanden sind. Aber das däre auf der Welt wie Mitglieder der Bundestagsfrak- ist doch nicht die Realität. tion der CDU/CSU. Sie besitzen genausoviel wie die Hälfte der Menschheit. Wenn es vorher keinen Das Geldvermögen ist im letzten Jahr in der Bun- Grund gegeben hätte, antikapitalistisch zu sein, so desrepublik um 8 Prozent gestiegen. Wir haben jetzt finde ich, daß dies ein in jeder Hinsicht ausreichen- ein Geldvermögen in der Bundesrepublik von der ist. 4,6 Billionen DM. Aber das Interessante ist: Von die- sen 4,6 Billionen DM besitzen 1,3 Prozent der Haus- (Beifall bei der PDS - Zuruf von der F.D.P.) halte ein Viertel. Das heißt: 1,3 Prozent der Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland verfügen über - Wir sind erst 30. Sie wissen, wir arbeiten noch an mehr als 1 000 Milliarden DM Geldvermögen. Wer der Verzwölffachung. Wir sind auf dem besten Wege nicht bereit ist, an dieses Vermögen heranzugehen, dahin, auch dank der F.D.P.-Politik. wer nicht bereit ist, eine Umverteilung von oben (Heiterkeit und Beifall bei der PDS) nach unten zu organisieren, der soll mir nicht mit so- zialer Gerechtigkeit kommen, der soll mir nicht mit Ich will noch auf etwas anderes hinaus. In diesem Geldknappheit kommen, der soll auch nicht ernsthaft UNO-Bericht ist nämlich auch festgestellt worden, behaupten, daß er in dieser Gesellschaft etwas gegen daß die Kluft zwischen Reich und Arm auch in den Arbeitslosigkeit unternimmt. Industriestaaten selbst wächst. Jetzt kommt der inter- nationale Vergleich, den Sie, Herr Bundesminister (Beifall bei der PDS - Zuruf von der CDU/ Blüm, hätten erwähnen sollen, weil er nämlich un- CSU: Und Ihr Vermögen?) mittelbar Ihr Ressort betrifft. Da gibt es in der UNO - Wenn Sie das Vermögen der Vorgängerpartei, aus einen Index für menschliche Entwicklung, in dem der ich komme, richtig verwaltet hätten, anstatt da- drei Faktoren für die Bewertung zusammengezogen mit über Jahre nur eine unfähige Kommission und werden, nämlich die Lebenserwartung der Men- eine noch unfähigere Treuhandanstalt zu finanzie- schen, die Büdungschancen und die Kaufkraft der In- ren, dann wäre das inzwischen schon sehr sinnvoll in dividuen. Die Bundesrepublik Deutschland befand den neuen Bundesländern verwendet worden. sich 1994 auf Platz 9. Jetzt hegen wir auf Platz 18. Das heißt, es ist innerhalb eines Jahres gelungen, die ( [CDU/CSU]: Das war jetzt Lebensqualitäten in der Bundesrepublik Deutsch- Unvermögen!) land so zu verschlechtern, daß sie im Niveau hinter Spanien und andere Länder zurückgefallen sind. Das In der Zeit des Bundeskanzlers wurde ist die Realität im internationalen Vergleich. Sie sa- eine ganz bestimmte Politik betrieben. Es gibt Zah- gen aber kein Wort dazu, daß der Sozialabbau schon len, die lassen sich einfach nicht leugnen. Eine dieser so weit forciert ist, daß wir jetzt den 18. Platz einneh- Zahlen lautet, daß von 1983 bis 1990 - die letzten men. sechs Jahre sind also noch gar nicht berücksichtigt, weil Sie nämlich aus nachvollziehbaren Gründen (Beifall bei der PDS) keine Statistik mehr veröffentlichen - die Zahl der Haushalte, die jährlich ein Einkommen von 250 000 Dann sprechen Sie davon, daß es keine Armut DM oder mehr zu versteuern haben, um 116 Prozent gibt. Warum beschäftigen Sie sich nicht mit diesen gestiegen ist. Das heißt, die Zahl dieser Haushalte Schicksalen? Bedeuten 150 000 Obdachlose, darun- hat sich allein in dieser Periode mehr als verdoppelt. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10673

Dr. Gregor Gysi Sie können nicht bestreiten, daß die Reichen in der Sozialkürzungen führen nicht zu Arbeitsplätzen. Zeit Ihrer Regierung immer reicher und die Armen Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit der Frauen, immer ärmer geworden sind. Wenn dieser Prozeß die sich unmittelbar gegen den Teil der Gesellschaft nicht umgekehrt wird, dann wird es mit dem Sozial- richtet, der die meisten Lasten zu tragen hat, hat mit abbau so weitergehen. Dann sind aber Ihre angebli- Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit überhaupt chen Sachargumente überhaupt nicht überzeugend. nichts zu tun. Im Gegenteil: Sie verschlechtern da- durch die Chancen der jüngeren Generation. Was mich übrigens in diesem Zusammenhang be- sonders traurig macht - auch das will ich einmal sa- Ihre Maßnahmen, die den Kündigungsschutz be- gen -, ist der Umstand, daß ich von vielen Gewerk- treffen, bringen arbeitsmarktpolitisch gesehen eben- schafterinnen und Gewerkschaftern und anderen falls überhaupt nichts. Natürlich gäbe es Möglichkei- höre, daß, solange es die DDR gab, ein solcher Sozial- ten, etwas gegen die Arbeitslosigkeit zu tun, und abbau in der Bundesrepublik Deutschland völlig un- zwar gar nicht wenige. Wir brauchen einen öffent- denkbar gewesen wäre, weil es auch einen sozialen lichen Beschäftigungssektor. Wir müßten ein Investi- Wettbewerb gab, tionsklima schaffen. (Widerspruch bei der CDU/CSU und der (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist die fal- F.D.P.) sche Denkweise!) und daß erst mit dem Wegfall der DDR und des real Ein Investitionsklima schaffen Sie nicht mit einer existierenden Sozialismus in Osteuropa der Weg zum Steuerpolitik, bei der es sich in erster Linie lohnt, Sozialabbau in der Bundesrepublik Deutschland ge- Geld aus Geld zu machen. Sie müßten einmal dafür öffnet wurde. Das heißt, daß die DDR ihre besten sorgen, daß Geld wieder aus Produktion und Dienst- Wirkungen in der Bundesrepublik hatte. leistung entsteht. Dann würde es auch mehr Arbeits- plätze in dieser Gesellschaft geben. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der PDS) Das letzte, was ich gewollt hätte, wäre, daß mit ih- rem Untergang hier der Sozialabbau gerechtfertigt Sie könnten bei der Lohnnebenkostenentwicklung wird. Anstatt die Vereinigung als Chance zu neh- viele Reformen durchführen. Warum berechnen wir men, mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen, haben sie nicht nach dem Umsatz, anstatt sie immer nach Sie sie als Chance begriffen, die Sozialleistungen der Bruttolohnsumme und der Zahl der Beschäftigten und den Sozialstaatskompromiß in der Bundesrepu- zu berechnen, was die Unternehmen mit vielen Be- blik Deutschland aufzukündigen. schäftigten permanent mehr belastet? Wir könnten an eine Umbewertung der Arbeit denken. Wir könn- (Beifall bei der PDS - Zuruf von der CDU/ ten endlich eine soziale Grundsicherung einführen. CSU: Witzbold! - Weitere Zurufe von der Wir könnten eine nachhaltige ökologische Entwick- CDU/CSU) lung einführen. Tun Sie nicht so, als ob dieser Be- - Wenn Sie dies alles bestreiten, dann nennen Sie reich alternativlos ist; es gäbe Alternativen, und das mir doch eine einzige gesetzliche Bestimmung aus Geld dazu ist da. Ihrem gesamten Paket, die Sie oder mich betrifft, eine einzige Bestimmung, die Menschen betrifft, die Ich habe von den 4,6 Billionen DM Sparvermögen soviel wie wir oder noch mehr verdienen. Die wirk- gesprochen. Es gibt das frei vagabundierende Kapi- lich Vermögenden und die Reichen haben nach In- tal von 750 Milliarden DM. Es gibt Ihre sinnlosen krafttreten Ihres Sparpakets nicht eine Mark weni- Ausgaben für den Transrapid und für Prunkbauten in ger. Sie haben durch Streichung der Vermögensteuer der Hauptstadt Berlin. All das wäre nicht nötig. Diese im nächsten Jahr sogar noch deutlich mehr. Das ist Bundesrepublik leidet nicht an zu wenig Geld; sie die Sozialpolitik, die Sie hier seit Jahren betreiben. gibt es nur ungerecht aus. (Beifall bei der PDS) (Zuruf von der CDU/CSU: Quatsch!) Im übrigen ist das, was Sie betreiben, auch ökono- Sie überläßt es den Falschen in viel zu großer Höhe. misch katastrophal: Sie reduzieren die Kaufkraft um (Beifall bei der PDS) 40 Milliarden DM - das entspricht etwa 150 000 Ar- beitsplätzen - durch Rückgang von Nachfrage und durch Rückgang von Produktion und Dienstleistun- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ihre Redezeit ist gen. Wodurch wollen Sie denn mit diesen Maßnah- beendet, Herr Gysi. men Arbeitsplätze schaffen? Nennen Sie doch ein- mal ein Beispiel, das zu einem Arbeitsplatz führt. Dr. Gregor Gysi (PDS): Lassen Sie mich als letztes In den neuen Bundesländern werden jetzt schon noch auf folgendes hinweisen. die Planungen für Krankenhäuser und Sanatorien (Zuruf von der CPU/CSU: Abschalten!) eingestellt, weil die Verantwortlichen wissen, daß es Kürzungen im Gesundheitswesen gibt. Arbeitsbe- - Wir haben noch ein bißchen Reserve. Machen Sie schaffungsmaßnahmen werden nicht mehr verlän- sich keine Gedanken! gert, da man weiß, daß sie gestrichen werden sollen. Das ist vorauseilender Gehorsam: Bevor die Gesetze Ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen, daß in Kraft getreten sind, werden sie schon umgesetzt. ich das ganze Sparpaket auch für verfassungswidrig Dies ist leider auch eine Wahrheit. halte. Es gibt ein CDU-Mitglied namens Benda, frü- 10674 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 Dr. Gregor Gysi herer Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Er Jetzt komme ich wieder auf die Umbruchsituation hat es auf den Punkt gebracht und gesagt: zurück. Der Eiserne Vorhang ist verschwunden, und die Nachfrage nach Arbeitsplätzen hat zugenom- Der Verteilungskampf wird um so schärfer wer- men, obwohl die Notwendigkeit, Arbeit aufzuwen- den, je knapper die Ressourcen werden. Am ehe- den, um ein immer größeres Bruttosozialprodukt zu sten werden sich dann die starken sozialen Grup- erarbeiten, geringer geworden ist. Wir müssen uns pen mit ihren Forderungen durchsetzen kön- diesen Problemen stellen. Sie haben darauf keine nen, während die besonders hilfsbedürftigen, Antwort gegeben. schwach vertretenen Gruppen sich nicht oder nur mit Mühe behaupten können. Dies wäre die ent- Das sind die modernen Entwicklungen, und wir scheidende Probe für den Sozialstaat, ob er versa- haben in Deutschland dadurch eine Sondersituation, gen würde, indem er lediglich dem größten daß der Eiserne Vorhang weggebrochen ist. Die Druck nachgeben würde, oder ob er sich be- Sowjetunion ist von der Weltkarte verschwunden. währte, indem er sich an die Seite der Schwachen Wir sind ein vereintes Deutschland. Wir haben die und Schutzbedürftigen stellte. Dieser Test ist Folgen dieser Umbrüche als Volk mitten in Europa in noch zu bestehen. besonderer Weise zu tragen: Zwei Millionen Auslän- der, eine Million Flüchtlinge. Diese Menschen haben Diesen Test, den Herr Benda beschrieben hat, be- zum großen Teil bei uns Arbeit gefunden, und dazu stehen Sie nicht, da Sie nur dem Druck der sozial bekenne ich mich. Das ist aber doch eine andere starken Gruppen nachgeben. Situation. Aber auch wir in der Opposition müssen den Test Wir hätten diese Situation nicht gehabt, wenn wir noch bestehen. Wenn die Gesetze angenommen nicht auch die Folgen dieser Umbrüche tragen müß- sind, dann frage ich auch die SPD: Wird es ein Drittel ten. Wir können das als reiches Land. Sonst müßten der Abgeordneten dieses Hauses geben, die dann wir diese Diskussionen gar nicht führen. Wenn Sie eine Normenkontrollklage beim Bundesverfas- aber zu diesem Thema etwas Seriöses sagen wollen, sungsgericht einreichen werden, weil mit diesem Ge- dann müssen sie Ihre Debatte in den Gesamtzusam- setzespaket der Sozialstaatskompromiß aus Art. 20 menhang stellen. GG aufgekündigt wird? Das ist das mindeste, was wir dann leisten müssen. Ich will jetzt etwas zugunsten der Regierung sa- gen. Wir haben gewaltige Anstrengungen auch ge- (Anhaltender Beifall bei der PDS - Wider- genüber Osteuropa unternommen. Bedenken Sie, spruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.) was wir leisten mußten, um die durch den Sozialis- mus zerrütteten neuen Bundesländer wieder aufzu- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat bauen. Wir haben pro Jahr 120 bis 150 Milliarden der Kollege Dr. Heiner Geißler das Wort. DM aufgebracht. Das haben wir geleistet. Die Welt sagt: Das habt ihr gut und richtig gemacht, wir hät- Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Frau Präsidentin! ten es vielleicht gar nicht geschafft. - Wir haben das Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich alles bei Preisstabilität und einer knallharten Wäh- möchte versuchen, unsere Debatte in den Zusam- rung geschafft. menhang zu stellen, in den sie meiner Meinung nach (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gehört, in einen Zusammenhang, der mit dem Thema Globalisierung der Märkte und den damit verbunde- Das ist ein Erfolg, den man nicht einfach wegwi- nen Folgen in der heutigen Debatte bereits eine schen kann. Rolle gespielt hat. Sie reden immer von der Kindergelderhöhung, die Ich beziehe mich auf das, was der Kollege Dreßler um ein Jahr verschoben wird. Das ist keine große gesagt hat. Es ist so, daß wir Zeitzeugen größter Um- Freude, das weiß auch ich, aber ich muß noch einmal brüche sind. Wir haben über die Veränderungen in sagen: Die Tränen, die Sie in diesem Zusammenhang diesem Hause schon des öfteren diskutiert. Die Pro- vergießen, können mich nicht rühren. Als Sie die Re- bleme, die mit dem Computer, dem Internet und der gierungsverantwortung getragen haben, haben Sie Halbwertszeit des Wissens - sie beträgt fünf Jahre - eine Kindergelderhöhung um 20 DM nicht um ein zusammenhängen, können wir heute nicht so beant- Jahr verschoben, sondern Sie haben den Leuten worten wie in den 70er Jahren, als Herbert Ehren- 20 DM weggenommen. Sie haben das Kindergeld berg eine große Rolle gespielt hat. Die Welt hat sich gekürzt. Das war Ihre damalige Entscheidung, und vollkommen verändert. zwar in einer ganz anderen Zeit. Die Arbeitswelt hat sich radikal verändert. Vor 100 (Beifall bei der CDU/CSU) oder 150 Jahren haben die Elektrizität und die Damals hatten wir - für die Lebenshaltung eines Dampfmaschine solche Veränderungen mit sich ge- Kindes - eine Inflationsrate von 7 Prozent; heute ha- bracht. Das Problem besteht darin, daß wir infolge ben wir Preisstabilität. Infolgedessen kann man, der Rationalisierung Jahr für Jahr ein immer größer wenn auch schwer, eine Verschiebung um ein Jahr - werdendes Bruttosozialprodukt haben. Seit 10, es wird nicht gestrichen, sondern es wird um ein Jahr 15 Jahren steigt das Bruttosozialprodukt. Der Unter- verschoben - sozialpolitisch verantworten. schied zu früher besteht darin, daß das immer größer werdende Bruttosozialprodukt mit einem immer ge- Lassen wir also die Kirche im Dorf, und konzentrie- ringeren Arbeits- und Zeitaufwand erarbeitet wer- ren wir uns auf die eigentliche Situation! Wir haben den kann. eine Internationalisierung des Kapitals und auch des Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10675

Dr. Heiner Geißler Wissens. Auf diese Situation kann man nicht antwor- hat, als die damals Verantwortlichen die alte soziale ten, wie wenn wir uns noch in den 70er Jahren be- Frage auch nicht richtig verstanden haben. Leo XIII. fänden. Vielmehr werden wir eine Lösung nur errei- hat 1891 die Enzyklika „Rerum novarum" als Ant- chen, wenn wir im zweit- oder drittgrößten Industrie- wort der katholischen Kirche auf diese alte soziale land der Welt und in der zweitgrößten Exportnation Frage geschrieben. Aber wenn wir ehrlich sind, dann uns als reformfähig erweisen. Man kann, wenn die müssen wir, soweit wir Katholiken sind, sagen: Diese Verhältnisse sich vollkommen ändern, das System Antwort kam 43 Jahre zu spät; denn zwei andere hat- natürlich grundsätzlich erhalten; aber man muß in ten 1848 eine „Enzyklika" geschrieben, das Kommu- den Einzelheiten reformfähig bleiben. Das gilt auch nistische Manifest als eine falsche Antwort auf eine für die Kostenstrukturen. richtig gestellte Frage. Weil die damals Verantwortli- chen die alte soziale Frage im Ansatz nicht begriffen Im übrigen sind wir nicht die einzigen, die das ge- hatten, hat es 140 Jahre gedauert, bis die letzten Fet- nauso sehen. Wenn ich Ihre Debatte über die Wirt- zen dieses Gespenstes verschwunden waren; einiges schaftspolitik gestern richtig verfolgt habe, dann hat geistert leider Gottes immer noch herum, sogar im Ihr wirtschaftspolitischer Sprecher, Gerhard Schrö- Deutschen Bundestag, wie wir gerade gehört haben. der, gesagt, wir müßten die sozialen Leistungen in Deutschland den Realitäten der schmaleren Staats- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der finanzen anpassen. Zwar müsse der Sozialstaat als F.D.P.) sogenanntes Teilhabemodell - was immer das sein mag; das weiß ich nicht so richtig - zur Unterstüt- Wir sollten die alten Fehler nicht wiederholen. Des- zung der Bedürftigen erhalten werden - „Unterstüt- wegen ist die Bekämpfung der Armut eine Aufgabe, zung der Bedürftigen", das sollte einmal einer von und zwar eine internationale Aufgabe, auch eine uns sagen Aufgabe der G-7-Staaten. Das ist auch meine Mei- nung. Aber eine Internationalisierung der sozialen (Heiterkeit des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt Standards, um den Kostendruck auf die eigene Wirt- [F.D.P.]) schaft zu vermindern, ist eine Vorstellung, die Sie auf doch sollte diese Teilhabe „immer wieder neu festge- jeden Fall nicht einmal mittelfristig realisieren kön- setzt werden" - eine komische sozialpolitische Per- nen. spektive. Aber jetzt kommt noch etwas ganz anderes: Er kritisierte in diesem Zusammenhang - das ist der Sie müssen Ihren Widerspruch in diesem Punkt Eindruck, den ich auch heute wieder von Ihnen ge- einmal aufklären. Sie sagen auf der einen Seite: Wir wonnen habe - die Zugewinnmentalität von Ge- müssen diese Standardisierung mittelfristig anstre- werkschaften und Teilen seiner Partei. ben. Einige sagen: Das muß sogar sofort geschehen. Aber Standardisierung heißt doch auf jeden Fall, daß (Dr. [F.D.P.]: Sehr wahr!) nicht unser hoher Sozialstandard von allen anderen „Man kann nicht immer nur draufsatteln", so gestern Wirtschafts- und Industrienationen, die es auf der Gerhard Schröder. Welt gibt, übernommen werden kann. Das ist nicht einmal hier in Europa möglich. (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Er wurde als Sachverständiger gehört!) Wenn Sie Ihre eigene Forderung ernst nehmen, daß der Globalisierung der Märkte auch eine Globa- Wir sagen nicht einmal, daß wir Ihnen das vorwerfen lisierung der Sozialstandards entsprechen muß, würden. dann bedeutet das doch in jedem Fall, daß unser Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Si- Sozialstandard nicht noch einmal erhöht werden tuation ist doch so: Wir sind die zweitgrößte Export- kann. Er muß vielmehr, so Ihre eigene Vorstellung, nation der Welt, nach den Vereinigten Staaten, vor abgesenkt werden, in welcher Größenordnung auch Japan. Export von Produkten, Waren, Dienstleistun- immer. gen bedeutet gleichzeitig Import von Arbeitsplätzen. Wir haben eine Globalisierung der Märkte. Wir müs- (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein) sen diesen Export in einer veränderten Situation er- halten. Das war gestern Ihr Thema. Dazu hat heute Jetzt stelle ich mir einmal vor, in welche Diskussio- auch Herr Rexrodt, den ich für die Fraktion, aber nen Sie da geraten: Wir legen ein Sparprogramm mit auch persönlich sehr herzlich wieder in unserer Mitte einem Volumen von 25 Milliarden DM auf. Das be- begrüße - wir freuen uns, daß Sie wieder gesund deutet eine Senkung des Sozialbudgets um sind; das haben Sie auch durch Ihre Rede gezeigt -, 0,4 Prozent. Dieses geht nämlich von 33,4 auf 33,0 Prozent des Gesamthaushalts zurück. Kürzung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. des Sozialbudgets um 0,4 Prozent, davon 25 Mil- sowie bei Abgeordneten der SPD und des liarden DM in der Sozialversicherung - bei einem BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gesamtvolumen der Sozialleistungen in Höhe von Stellung genommen. Oskar Lafontaine hat gesagt, 1,2 Billionen DM. wir sollten wegen der Globalisierung der Märkte in Wie wollen Sie Ihre eigene Forderung - Internatio- keinen Wettlauf im Sozialdumping eintreten; wir nalisierung der Sozialstandards, was notwendiger- sollten das international verhindern. Das ist keine weise mit einer Absenkung unserer eigenen Stan- ganz falsche Beurteilung. dards verbunden ist - ernst nehmen, sie in Ihren ei- Ich fühle mich in der jetzigen Situation manchmal genen Reihen durchsetzen und vor sich selber recht- an das erinnert, was vor 150 Jahren stattgefunden fertigen, wenn Sie bei einer Kürzung des Sozialbud- 10676 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 Dr. Heiner Geißler gets um 0,4 Prozent solche Reden halten wie die, die Sozialpolitiker angesichts der Tatsache, daß das wir von Ihnen, Herr Dreßler, heute gehört haben? Sozialbudget um 0,4 Prozent gekürzt wird, um die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, vorgeworfen wird, (Beifall bei der CDU/CSU) wir machten den Sozialstaat platt. Das ist eine Unver- Sie sind ja noch nicht einmal jetzt in der Lage, ent- schämtheit. Das ist nicht der Fall. sprechende Vorschläge zu machen. Sie sagen zwar, Sie hätten alles mögliche vorgelegt. Sie beklagen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sich darüber, daß man mit Ihnen nicht redet. Aber ich kann das nicht nachvollziehen. Man kann ja nur Herr Dreßler hat gefragt, wo bei diesem Programm dann miteinander reden, wenn Vorschläge existie- die Arbeitsplätze herkommen sollen. Im übrigen ren. sage ich noch einmal, auch für die eigenen Reihen: Es ist kein Sparprogramm. Wir sparen nicht um des Sie haben bisher keinen Sparvorschlag gemacht. Sparens willen. Man kann den Leuten die Vernunft Mir ist kein ernsthafter Vorschlag bekannt. Es hieß nicht mit dem Finanzknüppel einbleuen. Wir sparen von Ihnen im Juni und im Juli: Nach der Sommer- vielmehr, weil es einen Sinn hat. Wir wollen mit die- pause werden wir welche vorlegen. - Am Montag sem Sparen mehr Beschäftigung erreichen. oder Dienstag soll ja vielleicht auch etwas kommen. Nun ist die Sommerpause vorbei, und wir haben Die Selbständigenquote - um nur ein Beispiel zu Ende August. Sie müssen damit nun einmal rüber- nennen - hat eine Größenordnung von 7,9 Prozent. kommen. Wie lange wollen Sie eigentlich warten? In den Betrieben mit einer Belegschaft von unter Wir sind doch nicht in Afrika; in Afrika ist immer Au- 500 Beschäftigten arbeiten zwei Drittel aller Arbeit- gust. nehmer, in den Großbetrieben nur 35 Prozent, und um diese geht es. Zwei Drittel aller Lehrlinge und (Lachen und Beifall bei der CDU/CSU und Gesellen, die in den Handwerksbetrieben ausgebil- der F.D.P.) det worden sind, wollen sich nicht selbständig ma- chen. 95 Prozent aller Fachhochschul- und Universi- Wir müssen von Ihnen endlich einmal hören, was Sie tätsabsolventen wollen sich ebenfalls nicht selbstän- für richtig halten. dig machen. Da sind die Amerikaner besser. Im übrigen, meine sehr verehrten Damen und Her- ren: Wenn es um die Absenkung dieser Standards Ich frage Sie einmal: Warum? Das hat etwas mit geht, dann heißt das ja nicht, daß wir auf portugiesi- den Startchancen zu tun. Ich habe mit jungen Leuten sches Niveau gehen müssen. Ich habe es in der letz- geredet, die sich selbständig machen wollten. Sie ha- ten Debatte dargelegt und möchte wiederholen, was ben das Problem, daß ein kleiner oder mittlerer Be- Alex Trotman, der Sprecher von Ford, gesagt hat: Die trieb vor allem am Anfang Schwierigkeiten hat. Sie Kosten einer Arbeiterstunde bei der Herstellung des haben Angst davor, daß sie, wenn sie den sechsten Fiesta in Köln betragen 60 DM, in Dagenham, wo oder siebten Arbeitnehmer einstellen und die Ge- ebenfalls 140 000 Ford Fiesta gefertigt werden, lie- schäfte nicht mehr so gut laufen, bei Entlassungen in gen sie bei 31 DM, in Spanien bei 30 DM. - Aber er Arbeitsgerichtsprozesse verwickelt werden und hohe hat hinzugefügt: Die Kölner Autowerke benötigen Abfindungen zahlen müssen. Auch die Kostenlage 22, die englischen 27 und die Spanier sogar ist zu nennen. Das haben wir alles miteinander erör- 29 Stunden, um das Auto herzustellen. Wir haben in tert. Das ist eine neue Situation. Deutschland eine höhere Produktivität als dort. Auch diese muß natürlich erhalten bleiben. Wenn der Zentralverband des Deutschen Hand- werks sagt, daß ein Viertel der Handwerksbetriebe (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. zugesagt hat, neue Leute einzustellen, dann sind das Dr. Gisela Babel [F.D.P.]) schon einmal 300 000, 400 000 neue Arbeitsplätze. Bernhard Jagoda sagt, daß bei den Familienarbeits- Sie können darüber reden, soviel Sie wollen, wir verhältnissen 800 000 bis 900 000 Arbeitsplätze mög- wollen - das haben wir hier schon siebenmal gesagt, lich sind. Auch wenn es nur die Hälfte ist, ist es ich sage es jetzt ein achtes Mal - in Deutschland we- schon ein Fortschritt. der englische noch amerikanische Verhältnisse. Wir wollen versuchen, vor allem bei den kleinen (Beifall bei der CDU/CSU) und mittleren Betrieben mehr Arbeitsplätze zu er- Mit dem Beschäftigungspaket, das wir hier verab- möglichen. Wir können keine Arbeitsplätze schaffen; schieden wollen, bekommen wir sie auch nicht. Wer aber wir wollen es denjenigen, die dazu in der Lage so etwas behauptet, kennt sich weder in England sind, erleichtern. Das ist der Sinn dieses Beschäfti- noch in den Vereinigten Staaten aus. Das ist eine gungspaketes. ganz andere Situation. Sie können sich natürlich darüber beklagen - mög- In England ist inzwischen jeder zweite Arbeitneh- licherweise perspektivisch bis ins nächste Jahr hin- mer ein Gelegenheitsarbeiter. Und auf die veröffent- ein -, daß die Sozialversicherungsbeiträge weiter an- lichte Arbeitslosenquote in Amerika können Sie pfei- steigen. Sie steigen aber nur dann an, wenn dieses fen; sie wird demoskopisch ermittelt, per Umfrage Beschäftigungspaket verhindert wird. Dies tun Sie. bei 50 000 Arbeitnehmern. Die Realität sieht ganz an- Sie haben das Beschäftigungspaket gestern abge- ders aus. lehnt. Damit haben Sie den Arbeitslosen einen schlechten Dienst erwiesen. Wir wollen nicht Millionen von Menschen ausgren- zen. Ich verbitte es mir, daß mir als langjährigem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10677

Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- Ziel ist: Sie wollen gewachsene, teilweise historisch lege Ottmar Schreiner. erkämpfte Arbeitnehmerschutzrechte abbauen, nicht als Selbstzweck, sondern - das unterstelle ich Ihnen dabei - um damit Beschäftigung zu fördern. Ottmar Schreiner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kol- leginnen und Kollegen! Ich will zu Beginn versu- Typisches Beispiel im Rahmen der Kürzungspakete chen, auf einige Bemerkungen des Kollegen Geißler ist die Heraufsetzung des Schwellenwerts von Betrie- einzugehen. ben mit fünf Beschäftigten, wo betrieblicher Kündi- gungsschutz noch nicht greift, auf nunmehr zehn Be- (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Ein Versuch schäftigte. ist nicht strafbar!) Wenn die These richtig wäre, Herr Kollege Geißler, Der erste Punkt. Herr Kollege Geißler, es ist nicht daß durch den Abbau von Schutzrechten der Arbeit- korrekt, zu sagen, durch eine Absenkung der Sozial- nehmerschaft die Beschäftigung gefördert werden leistungsquote um 0,4 Prozent beschädigten Sie würde, dann müßte im gelobten Land der Deregulie- nicht den Sozialstaat. Die Absenkung um 0,4 Prozent rung, nämlich in Großbritannien, wo es beispiels- steht vielmehr in einem kontinuierlichen Zusammen- weise in den ersten zwei Beschäftigungsjahren über- hang der letzten 14 Jahre. haupt keinen Kündigungsschutz mehr gibt, nachge- (Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) rade ein Beschäftigungswunder stattgefunden ha- ben. Sie haben den Sozialstaat in einem ganz erhebli- chen Maße beschädigt. Viele Millionen Menschen in Seit 1979, seit Beginn der Thatcher-Regierung, Deutschland leben an der Armutsgrenze oder darun- wurde in höchstem Maße abgebaut: Verringerung ter. des Kündigungsschutzes, Absenkung des Schutzni- veaus der Arbeitslosenversicherung, Verschärfung (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) der Kriterien zumutbarer Arbeit usw. Ich könnte eine Rund eine Million Kinder und Jugendliche sind von riesige Liste aufstellen. Wenn man sich die gegen- der Sozialhilfe abhängig. Was ist das für ein Lebens- wärtigen Kürzungspakete mitsamt der nachfolgen- start? Hunderttausende von Menschen sind obdach- den Gesetzgebung anguckt, erkennt man, daß sich los, häufig vorher Arbeitslose, die sich auf Grund ab- dort zumindest in Ansätzen vieles wiederfindet, was gesenkter Lohnersatzleistungen keine noch so küm- in Großbritannien durchgesetzt worden ist. merliche Wohnung mehr erlauben können. Auf der Der zentrale Punkt: Von durchschlagenden Be- anderen Seite ist das private Geldvermögen in der schäftigungserfolgen in Großbritannien kann auf Bundesrepublik Deutschland in den letzten zehn Grund dieser Maßnahmen überhaupt keine Rede Jahren in einem unermeßlichen Maße gestiegen. sein. Das heißt, es geht nicht darum, über Zahlentrickse- (Beifall bei der SPD) reien zu suggerieren, ein substanzieller Eingriff in die sozialstaatlichen Bedingungen der Bundesrepu- Im Gegenteil: Die Arbeitslosenquote in Großbritan- blik habe nicht stattgefunden. Er hat in einem massi- nien ist größer als in Deutschland, und die sozialen ven Maße stattgefunden und findet weiter statt. Das Begleitfolgen in Großbritannien - ich war vor weni- einzige im Unterschied zu früheren Jahren ist - das gen Monaten in Schottland, in Glasgow, und habe ist das für mich wirklich Erschütternde -, daß die mir das angeguckt - sind unübersehbar: wachsende Vertreter der katholischen Soziallehre in diesem Mehrfachbeschäftigungsverhältnisse, weil die Nied- Land zum erstenmal stramm auf F.D.P.-Kurs gegan- rigstlöhne in den normalen Beschäftigungsverhält- gen sind. Herr Geißler, das trifft mich sehr. nissen nicht mehr ausreichen, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie haben darauf hingewiesen, daß die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Gelegenheitsarbeiten in dramatischem Maße wach- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sen. Es gibt niedrige Bildungsaktivitäten, soziale und der PDS) Deklassierungen, ein Verkommen der sozialen und öffentlichen Infrastruktur und wachsende Gewalt- Der zweite Punkt. Sie sagen, Sie wollten weder bereitschaft in den Städten. Das sind die sozialen englische noch amerikanische Verhältnisse. Meine Begleitfolgen in Großbritannien. Behauptung ist: Sie sind auf dem besten Weg in eng- lische oder amerikanische Verhältnisse. Nochmals: Die Deregulierung in Großbritannien hat keinerlei Beschäftigungserfolge - die Arbeitslo- Ich habe mir vor dieser Debatte die Mühe ge- sigkeit ist höher als in Deutschland -, aber dramati- macht, noch einmal einen Teil der Protokolle der sche soziale Begleitfolgen. Lesungen vor der Sommerpause anzuschauen. Im wesentlichen gibt es zwei zentrale Argumente der (Beifall bei der SPD) Koalition für diese Kürzungspakete. Das erste Argu- ment - häufig mit Bezug auf Globalisierung, heute Die Frage ist, ob die Koalition diesen Weg gehen wieder vorgetragen - lautet, das deutsche Arbeits- will und Sozialsystem sei beschäftigungsfeindlich, weil (Zurufe von der SPD: Ja! - Natürlich!) auf Grund überzogener Arbeitnehmerschutzrechte oder ob sie diese Ergebnisse billigend in Kauf zu ansonsten erfolgende Neueinstellungen unterblie- nehmen bereit ist. ben; Arbeitnehmerschutzrechte akademisch formu- liert: mit Regulierung des Arbeitsmarkts, Regulie- Der zweite Punkt. Der Hinweis auf die vermeintli- rung des Arbeitsschutzes. Also, das erste zentrale chen Globalisierungszwänge macht Ihre Politik 10678 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 Ottmar Schreiner nicht richtiger. Wenn es zu einem europaweiten oder sion um ein europäisches Entsendegesetz. Wir hatten internationalen Wettbewerb zum Abbau sozialer in Europa, in Brüssel, eine Richtlinie zum Arbeits- Schutzregelungen, zum Abbau erreichter ökologi- schutz für Gesamteuropa, die weit über das hinaus scher Standards kommt, dann führt dies - das war ging, was die Bundesregierung der Arbeitnehmer- der Hinweis von Lafontaine - zu einer dramatischen schaft im Bereich des Arbeitsschutzes zuzugestehen sozialökologischen Abwärtsspirale, die sich immer bereit war. weiter dreht und in Europa - das wird letztendlich das Ergebnis sein - ein zentrales Element der euro- Es ist also überhaupt nichts Neues. Ich fürchte, Ihr päischen Kultur zerstören kann, nämlich das Streben Denkansatz führt zu einer hochgefährlichen Renatio- nach sozialer Teilhabe für alle und das Streben, auch nalisierung unserer Politik. Wir sind in diesem Punkt den nachfolgenden Generationen ein lebenswertes wirklich viel, viel weiter und viel mehr europäisch Land zu übergeben. gesinnt, als die konservativen Kräfte in diesem Haus wahrnehmen wollen. Ich frage jetzt wirklich, was an dem Denkansatz von Lafontaine falsch sein soll. Ich darf aus seinem (Beifall bei der SPD) Aufsatz in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zi- Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst der jüngste tieren, der hier vor der Sommerpause in den wenigen EU-Beschäftigungsbericht von 1995 fordert eine ge- Bemerkungen zur Globalisierungsproblematik eine meinsame Beschäftigungsstrategie für die Europäi- Rolle gespielt hat. Er schreibt in der „Frankfurter All- sche Union angesichts von mehr als 20 Millionen Ar- gemeinen Zeitung": beitslosen. Der eben mehrfach zitierte österreichi- sche Bundeskanzler Vranitzky hat verstärkt öffent- Auf nationaler Ebene haben wir die politische lich vorgeschlagen, zu einer gemeinsamen europäi- Grundsatzentscheidung getroffen für die soziale schen Beschäftigungsstrategie zu kommen. Die De- und ökologische Marktwirtschaft. Das ist eine lors-Kommission hatte das im Dezember 1993 in ei- Wirtschaftsordnung, welche die Effizienz des nem umfänglichen Weißbuch vorgeschlagen. Wir Marktes kombiniert mit sozialem Ausgleich und sind also nicht isoliert. Sie, liebe Damen und Herren mit unserer moralischen Verantwortung für kom- von der Koalition, sind isoliert. mende Generationen. Ich kann keinen überzeu- genden Grund dafür erkennen, warum diese (Beifall bei der SPD) wirtschaftspolitische Wertentscheidung nicht grundsätzlich auch auf den großen Markt der Wir befinden uns in sehr guter Gesellschaft mit unse- Weltwirtschaft übertragbar sein sollte. ren Bemühungen, die sozialen, ökologischen und be- schäftigungspolitischen Fragen stärker zu europäi- (Beifall bei der SPD) sieren, als dies bislang der Fall ist. Das ist in der Tat die zentrale Frage: Wollen wir die (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Die Laut- für uns und die Entwicklung der kommenden Gene- sprechanlage funktioniert!) rationen tragenden Wertentscheidungen, die das - Ja, Sie brauchen keine Lautsprechanlage, sondern Marktgeschehen politisch verantwortbar gestalten immer ein Mikrophon, Herr Kollege Möllemann. sollen, auf der nationalen Ebene belassen, oder wol- len wir anstreben, die eben skizzierte drohende Ab- (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Ich habe wärtsspirale zu verhindern, um zu übernationalen doch nur gesagt, daß sie funktioniert!) Regelungen zu kommen? Das ist die zentrale Frage. Versuchen Sie einmal, auf die Argumente einzuge- Jetzt frage ich mich, was an diesem Denkansatz hen. Sie sind ja auch gleich nach mir dran. In Kinker- denn grundsätzlich falsch sein soll. Die hochgefährli- litzchen sind Sie wirklich ein Weltmeister. che Abwärtsspirale ist längst im Gange. Die wach- Das zweite zentrale Argument der Koalition in den sende Tendenz zu nationalen Egoismen, im Klartext: letzten Monaten war: Ein Abbau sozialer Standards zu nationalen Dumpingstrategien im Sozial- und Um- ist unumgänglich. Die steuerfinanzierten Soziallei- weltbereich, steht in krassem Widerspruch zu den Er- stungen des Staates stehen unter striktem Spar- fordernissen der europäischen Integration. zwang. Die zu hohen Lohnnebenkosten, die bei- Mir soll einmal jemand sagen, warum Europa zu- tragsfinanziert sind, müssen abgebaut werden. Nie- sammenwachsen soll. Im Bereich der Währungen bin mand von den Sozialdemokraten bestreitet die Spar- ich dafür. Warum in Europa freier Dienstleistungs- zwänge der öffentlichen Haushalte. Niemand von und Kapitalverkehr? Da bin ich dafür. Aber warum uns bestreitet, daß die Lohnzusatzkosten schon des- nicht das Anstreben gemeinsamer sozialer Regelun- halb zu hoch sind, weil sie das Nettoeinkommen als gen, die sehr wohl die unterschiedlichen Produktivi- das verfügbare Einkommen der Arbeitnehmerschaft täten der verschiedenen Volkswirtschaften berück- immer stärker und in einem inzwischen nicht mehr sichtigen können? Warum das eigentlich nicht? erträglichen Maße belasten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Die zentrale Frage aber ist: Wer ist eigentlich für ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN die hohen Lohnnebenkosten, für die hohen Sozial- und der PDS) versicherungsbeiträge und für die Not der öffentli- chen Haushalte verantwortlich? Seit 1991, meine Da- Warum das soziale und ökologische Thema auf der men und Herren von der Koalition, finanzieren Sie europäischen Integrationsebene geradezu ausblen- die notwendigen Sozialtransfers nach Ostdeutsch- den? So klingt das ja. Im übrigen haben die Europäer land im wesentlichen über Lohnzusatzkosten - jähr- dies nie gemacht. Wir haben in Europa die Diskus- lich zirka 50 Milliarden DM. Das heißt, der durch- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10679

Ottmar Schreiner schnittliche Arbeitseinkommenbezieher wird von Ih- das Volkseinkommen etwa in gleichem Maße wie die nen seit vielen Jahren weit überproportional zur Fi- Arbeitsproduktivität zunehmen. Seit 1982, seit der nanzierung der deutschen Einheit herangezogen. politischen Wende in Deutschland, seien aber weit Das ist das eigentliche Dilemma. Sie finanzieren die mehr als 150 Milliarden DM politisch gewollt von un- Einheit überwiegend über die Arbeitseinkommen ten nach oben umverteilt worden. Wörtlich sagte und nicht über eine gerecht formulierte Steuerpoli- Hans Matthöfer, der frühere Bundesfinanzminister: tik. Aus diesem Dilemma sind Sie bis zur Stunde Die Perfidie der Auswirkungen dieser Politik nicht herausgekommen. wird dadurch verschlimmert, daß die auf diese (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Weise selbsterzeugte Arbeitslosigkeit in der Poli- Dr. Christa Luft [PDS]) tik und bei vielen Unternehmen zur Begründung weiterer Umverteilungsmaßnahmen zugunsten Wir wissen, daß auf absehbare Zeit für Ostdeutsch- der Reichen und zur Verminderung der Einkom- land weiter dreistellige Transferbeträge notwendig men der breiten Masse herangezogen wird. sind. Sie könnten diese Maßnahmen, die falsche Poli- tik der letzten Jahre, jederzeit korrigieren. Bislang Meine Damen und Herren, Sie sind das Opfer ei- haben Sie dazu nicht die Ansätze von Kraft gefun- nes von Ihnen politisch bewußt selbsterzeugten Teu- den. Zu keiner Stunde waren Sie in der Lage, die felskreises. Ein fatales Ergebnis dieses Teufelskreises ökonomisch-soziale Gestaltung der deutschen Ein- ist die horrend hohe Massenarbeitslosigkeit in heit mit einem wirklich vorsorglichen und überzeu- Deutschland. genden Konzept zu begleiten. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Monika Der Grundmechanismus - das ist das Dilemma Ih- Knoche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und rer Kürzungspolitik - ist der: Weil Sie die Sozialversi- der Abg. Dr. Christa Luft [PDS]) cherungen ausplündern, um die sozialen Transfers Angesichts der Belastung von Staatshaushalt und nach Ostdeutschland zu bezahlen, müssen Sie die durchschnittlichem Arbeitseinkommen geht es Sozialleistungen kürzen, daß es nur so kracht. Noch längst nicht mehr um Neidkampagnen gegen große klarer: Sie finanzieren die sozialen Kosten der deut- Immobilien- und Geldvermögen. Es geht nur um ei- schen Einheit über massiven Sozialabbau. Das ist nes: um mehr Gerechtigkeit im System unserer Steu- der Kern Ihrer Politik, den wir als Sozialdemokraten ern und Abgaben. Im Mittelpunkt muß die tatsächli- seit Jahren grundlegend kritisieren. che Leistungsfähigkeit stehen. Dieses Prinzip ist al- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- lerdings wesentlich für den Zusammenhalt einer Ge- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sellschaft. Ich frage Sie: Wer hat Sie eigentlich daran gehin- Robert Reich, heute Arbeitsminister in den Verei- dert, die große Aufgabe der ökonomisch-sozialen Ge- nigten Staaten, - staltung der deutschen Einheit anders, und zwar ge- recht zu finanzieren? Wer hat Sie daran gehindert Vizepräsident Hans Klein: Die Redezeit! und wer hindert Sie heute daran, Steuer- und Abga- benquote an der persönlichen Leistungsfähigkeit der Menschen zu orientieren? Ottmar Schreiner (SPD): - analysierte schon vor Jahren die schleichende Abkehr der Erfolgreichen Es gibt unzählige Beispiele von Einkünften, die im aus der amerikanischen Gesellschaft, ihren Rückzug Gegensatz zum normalen Arbeitseinkommen nicht erst aus der sozialen Verantwortung und schließlich oder völlig unzureichend erfaßt werden. Wenige Bei- räumlich in eigene, gut bewachte Wohngettos. spiele: Zinseinkommen, die sich der Besteuerung durch Flucht nach Luxemburg mühelos entziehen; Der große Soziologe Norbert Elias bezeichnete ein- große landwirtschaftliche Einkommen, viel zu gering mal das „Gefühl für die letztliche Angewiesenheit" bewertetes großes Immobilienvermögen; Veräuße- der gegnerischen Gruppen einer Nation als ein we- rungsgewinne. Daran wurde und wird nichts geän- sentliches Merkmal der westlichen Zivilisation. Die- dert, ganz im Gegenteil: Mit der geplanten Abschaf- ses Gefühl allerdings droht sich auch in Deutschland fung der Vermögensteuer setzen Sie noch eins drauf. aufzulösen. Die Vermögensteuer trägt in Deutschland mit etwa Nikolaus Piper schrieb vor einiger Zeit in der Zei- 0,8 Prozent zum Gesamtsteueraufkommen bei. In tung „Die Zeit": den USA und in Japan - klassische Wachstumslän- Deutschland braucht dieses Gefühl der - liegt dieser Anteil bei zirka 10 Prozent bzw. 4 Prozent. Die Abschaffung der Vermögensteuer - der Zusammengehörigkeit, der letztlichen Ange- trägt also überhaupt nichts zum Wachstum bei. Diese wiesenheit aller Gruppen aufeinander - falsche Politik von Ihnen, meine Damen und Herren aber nach der Vereinigung notwendiger denn je - von der Koalition, hat schlechte Tradition und be- zwischen Reichen und Armen, zwischen Ost und gann längst vor der deutschen Einheit. West, zwischen alteingesessenen und solchen Der ehemalige Bundesfinanzminister Matthöfer, Deutschen, die (noch) keinen deutschen Paß ha- ein grundsolider Mann, hat Anfang Juli 1996 ausge- ben. Ein gerechtes, relativ egalitäres Steuer- und führt, die Umverteilung der Einkommen von unten Abgabensystem kann dieses Mindestmaß an auf- nach oben sei eine Ursache der Massenarbeitslosig- geklärter Solidarität nicht herbeizaubern, aber es keit in Deutschland. Für volle Beschäftigung müsse liefert eine der Voraussetzungen dafür. 10680 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 Ottmar Schreiner Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, brauchsdebatten zuhauf. Es ist eine Kampfarena ge- haben in diesen Fragen in den letzten Jahren kläg- worden. lich versagt. Unsere jetzigen Spargesetze sind nichts anderes als der hilflose Ausdruck dieses Das deutsche Gesundheitswesen wird arg in Mit- Versagens. Es gibt grundlegende Alternativen zu leidenschaft gezogen. Alle Kassen wollen unange- Ihrer Politik für mehr Beschäftigung und soziale nehme Risiken loswerden, keiner wetteifert um das Gerechtigkeit. Marktsegment sozial Benachteiligter. Aber um die Versorgung chronisch Kranker muß es zentral gehen, Nachdem Karl Marx heute dreimal zitiert worden wenn wir eine humane Gesundheitspolitik machen ist, darf auch ich ihn mit einem abschließenden Satz wollen. Ich lasse an dieser Stelle nicht aus, daß das zitieren. Von ihm, von dem der große katholische So- unsere Aufgabe ist, ganz egal, welche Diskussion Sie zialphilosoph Oswald von Nell-Breuning einmal um die Lohnnebenkosten entfachen. Wir alle wissen: sagte, er habe auch eine ganze Menge Richtiges ge- Es hat nie eine Kostenexplosion im Gesundheitswe- schrieben, stammt der Satz: Es steht den Menschen sen gegeben. nicht an, mit einem Kohl vorliebzunehmen, wenn er edlerer Teile habhaft werden kann. Der Bundesrat hat sich einem Gesetzeswerk ver- Herzlichen Dank. weigert, nämlich dem kommenden Systembruch, dem Systembruch im Kassenwesen, der ein Niveau- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD, dem gefälle brächte. Wir haben oft die Debatten darüber BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) geführt; ich brauche die Argumente der Grünen nicht zu wiederholen. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kolle- gin Monika Knoche. Aber eines ist wirklich sicher, das wissen wir: Die Therapie- und Arztwahlfreiheit wird in der Folge der Deregulierungspläne aufgelöst werden. Monika Knoche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nichts rechtfertigt, ein reformfähiges System zu Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten verlassen. Dennoch tut die Regierung es. Die Preis- Herren und Damen! Herr Geißler, Sie haben mit gabe von Sozialstaatsprinzipien gibt es mit den einem großen Wurf die Globalisierungsprobleme Grünen nicht, auch nicht mit rot-grünen Länder- angesprochen. Ich habe mich gefragt - vielleicht mehrheiten. etwas bescheiden -: Was hat die Globalisierungs- frage mit der Kosteneffizienz und der Patientenge- Was wir brauchen, ist in der Tat eine Veränderung. rechtigkeit des deutschen Gesundheitswesens zu Wir brauchen vor allen Dingen eine andere Moral in tun? Vor allen Dingen: Wie sollen mit Kürzung der der Gesundheitspolitik. Wir brauchen eine gleiche Leistungen und des Krankengeldes Wachstum und Versicherungspflicht. Diese Veränderung bringt Beschäftigung erzielt werden? Das ist eigentlich nämlich Stabilität und bessere Bilanzen. Das wissen doch grober Unfug. Sie genau. Sie wissen auch, wo die wirklichen Ineffi- zienzen liegen. Aber Sie gehen sie nicht an. (Beifall bei Abgeordneten der PDS) Konzentrieren wir uns doch auch mal auf die Fra- Das eigentliche Problem ist - auch wenn man es gen der Lohnnebenkosten, die hier im Rahmen der nicht gerne hört -, daß nach wie vor viele viel Geld Gesundheitspolitik angeführt werden. Sie haben ja mit der Krankheit verdienen. Wenn wir sehen, wie recht: Die deutsche Vereinigung ist aus den Kassen die Standesorganisationen untereinander in Händeln der Sozialversicherung gezahlt worden. Aber heute um die Verteilung der Gelder liegen, wenn wir se- wird ihre Solidarität damit bestraft, daß die sozialen hen, daß aus der Ärzteschaft Forderungen nach Zu- Leistungen gekürzt werden. Das ist doch eigentlich zahlungen kommen, dann sehen wir auch, daß diese das Problem. Regierung das eigentliche Reformziel verfehlt hat; denn wenn etwas zentral angegangen werden muß, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dann ist es das Monopol, das die in Deutschland nie- sowie bei Abgeordneten der SPD und der dergelassene Ärzteschaft hinsichtlich der Sicherstel- PDS) lung hat, die uns jährlich mindestens 20 Milliarden Im Vermittlungsausschuß, Herr Minister Seehofer, DM Versicherungsgelder kostet, die den Versicher- ist Ihr Gesundheitsstrukturgesetz gescheitert. Das ist ten nichts nutzen. ein Segen für das deutsche Gesundheitswesen. Man stelle sich vor, was passiert, wenn Gesundheit auf Wenn die Konkurrenz, die in dem ganzen Geset- den Markt kommt. Es wäre der direkte Weg in die zeswerk, das gescheitert ist, vorgesehen war, gekom- Unterversorgung breiter Bevölkerungskreise. Wer men wäre, hätte das in der Tat die Problematik nur verlangt eigentlich noch Beweise? Schon im Sommer noch verschärft. Insofern ist es für eine kommende hat sich das ganze Szenario des Wettbewerbs darge- Gesundheitsdebatte wirklich sehr nützlich, daß diese stellt. Deregulierungsoffensive gestoppt ist. Mit „Vorfahrt für die Selbstverwaltung" beschwor Systematisch sollen noch und noch soziale Werte unser Minister den gerechten Kampf mit gleich lan- unterminiert werden. Wir sehen das daran, daß die gen Spießen. Was haben wir bekommen? Ein Hauen Regierung geradezu stolz darauf ist, den Protest der und Stechen allerorten, alle gegen alle, Schuldzuwei- Gewerkschaftsbewegung zu ignorieren. Sie sind sungen unter Kassen gegen Krankenhäuser, Miß- stolz darauf, erkämpfte Beschäftigungsrechte zu Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10681 Monika Knoche schleifen. Sie maßen sich an, Errungenschaften der Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, die Rede- Gesundheitsbewegung wegzuwischen. zeit ist abgelaufen. (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch gar nicht, was Sie sagen!). Monika Knoche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): - per Gesetz, und dann wird ein neuer Ukas kommen! Selbsthilfegruppen, Prävention - das sind Errungen- Es ist vollkommen klar: Es soll dirigistisch eingegrif- schaften, die notwendig sind. In einer zivilen Form, fen werden. Der Sozialstaat ist nicht mehr das, was er in einer humanen Gesundheitspolitik sind das Dinge, war. Die Sozialstaatsgarantien sind aber nicht ins Be- die die Autonomie der Patienten stärken. Wir wollen lieben dieser Regierung gestellt. Auch das muß sie keine neuen Abhängigkeiten; wir wollen keine sich merken. neuen Unmündigkeiten. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS) bei der SPD und der PDS)

Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Kollegen Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, darf ich Jürgen Möllemann das Wort. Sie einen Moment unterbrechen? - Es sind hier eine Reihe von sehr intensiv geführten Minikonferenzen im Gange. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie der Jürgen W. Möllemann (F.D.P.): Herr Präsident! Kollegin Ihre Aufmerksamkeit schenken würden. Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Das Sturmtief ,Rudi' lastet schwer auf NRW." So lautete der letzte Bitte fahren Sie fort. Satz im Wetterbericht des Westdeutschen Rundfunks heute morgen. Monika Knoche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ Danke. - Wir als grüne Fraktion haben in der letzten CSU) Debatte um dieses Gesetz schon herausgestellt, daß sich eine ganze Menge Frauenfeindlichkeit in die- Das Formtief Rudi, lieber Herr Dreßler, lastet schwer sem Sozialpaket verbirgt. Die Kürzungsmaßnahmen auf der SPD. haben jetzt noch einmal ihren frauenfeindlichen ( [SPD]: Der war heute ausge- Charakter offenbart. Nehmen wir das, was Frau zeichnet! Fabelhaft war der! - Beifall bei Engelen-Kefer mit großem Ernst gesagt hat, auch der SPD - Lachen bei der CDU/CSU und hier ernst. Frauen haben nicht den gleichen Lohn für der F.D.P.) gleiche Arbeit. Sie sind es, die bei Krankheit der Kin- der die Sozialleistungen der Kassen in Anspruch - Herr Kollege Dreßler, vorhin haben Sie ganz anders nehmen. Wie viele werden den Gang zum Sozialamt ausgesehen. gehen müssen, weil sie ihre Kinder versorgen? Das sind alles Probleme, die Sie ignorieren. Vizepräsident Hans Klein: Ich konnte Sie zwar Zugleich geht die Debatte - von der F.D.P. forciert - nicht verstehen, Herr Duve, aber das Wort hat der um eine weitere Verschlankung des Leistungskata- Kollege Möllemann. logs los. Ständig ist davon die Rede, versicherungs- fremde Leistungen aus den gesetzlichen Kranken- Jürgen W. Möllemann (F.D.P.): Wir waren natürlich versicherungen zu nehmen. Aber das sind unsere zutiefst beeindruckt von der erschütternden Drohung Kassen; das sind die Kassen der Männer und Frauen. von Herrn Kollegen Dreßler, daß, wenn wir in der Ko- 90 Prozent der Bevölkerung sind darin versichert. alition mit unserer Politik so fortfahren würden, die SPD Deutschland „durcheinanderwirbeln" werde. Diese Wirbelwinde sehe ich, die uns wahrscheinlich Vizepräsident Hans Klein: Die Redezeit. das Fürchten lehren. Sie haben, Herr Kollege Dreßler, eine einzige Mit- Monika Knoche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es teilung gemacht, die ich bemerkenswert fand - eine sind soziale, gesellschaftliche Übereinkünfte, daß einzige in Ihren langen Ausführungen! Das war Ihr Frauen diese Absicherungen haben. Das lassen wir Hinweis darauf, daß bei Kooperationen - das hatten uns nicht nehmen. Das müssen Sie sich merken. Sie versucht mit Ihrer kleinen Parabel vom Huhn und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Schwein deutlich zu machen - „immer einer drauf- bei der SPD und der PDS) zahlt". Für diese Verkündung des Arbeitsmottos der rot-grünen Koalition in Nordrhein-Westfalen sind wir Ihnen dankbar. Vizepräsident Hans Klein: Die Redezeit ist abge- laufen, Frau Kollegin. (Lachen des Abg. Joseph Fischer [Frank- furt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Monika Knoche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, Meine Damen und Herren, es wäre offenkundig sofort. - Wer glaubt, wir hätten dieses Jahr nur ein besser gewesen, wenn Sie Herrn Gerhard Schröder, Sommertheater gehabt, hat sich geirrt. Herr Seehofer den Sie offenbar zu Ihrem gestrigen Kongreß als kennt die Regie. Erst die Kürzung der Beitragssätze - Sachverständigen eingeladen hatten, bei dieser De- 10682 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996

Jürgen W. Möllemann batte eine Chance gegeben hätten, das vorzutragen, Meine Vorrednerin hat hier noch mit Stolz in der was er dort gesagt hat. Das steht jedenfalls in wichti- Stimme gesagt, mehr als 90 Prozent der Bundesbür- gen Punkten in fundamentalem Gegensatz zu dem, ger seien in der sozialen Krankenversicherung orga- was hier dargelegt worden ist. nisiert und geschützt. Ist diese Zahl nicht ein Finger- zeig dafür, warum das System so nicht weiter funktio- Es ist das Dilemma der SPD, daß sie zu allen zentra- nieren kann? Wenn wir Bedürftigkeit so definieren, len Fragen der Wirtschafts-, Gesellschafts- und Sozial- wenn wir das Spannungsverhältnis zwischen Solida- politik mit drei verschiedenen Stimmen spricht und je rität und Subsidiarität nicht neu bestimmen, dann nach Bedarf den nach vorne schickt, der vermeintlich wird die Gemeinschaft in immer stärkerem Maße populistische Strömungen eher trifft, nicht aber denje- auch für diejenigen herangezogen werden, die der nigen, der dazu beitragen kann, die tatsächlich be- Solidarität nicht bedürfen. Wir müssen die Systeme stehenden Probleme dieses Landes zu lösen. so entwickeln, daß sie denen helfen, die hilfsbedürf- tig sind. (Ottmar Schreiner [SPD]: „Populistische Strömungen": Da ist der Experte am Werk!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Eine zweite Bemerkung an die Adresse des Kolle- ten der CDU/CSU) gen Gysi. Wir sind schon eine Menge an Zynismus Wir können dies aber nicht dauerhaft sichern, wenn Ihrerseits gewöhnt. Aber mitzuteilen, daß die Bun- alle anderen die sozialen Sicherungssysteme perma- desrepublik Deutschland und die DDR in einem so- nent uneingeschränkt in Anspruch nehmen. zialen Wettbewerb gestanden hätten, finde ich nun schon so bemerkenswert, daß es doch eines kleinen (Andrea Fischer [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Hinweises darauf bedarf, daß deswegen Ihre Vor- GRÜNEN]: Unsinn!) gängerpartei mit Mauer und Schußanlagen vorsichts- Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Delegation halber dafür gesorgt hat, daß niemand diesem Wett- des Gesundheitsausschusses hat vor der Sommer- bewerb entgehen konnte. Irgendwo dürfen Sie un- pause sere Geduld nicht überstrapazieren. (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: In der Sommer- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - pause!) Joseph Fischer. [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was ist mit den Blockflöten - sogar in der Sommerpause - die skandinavischen in der F.D.P.?) Länder besucht. Dabei hat sich herausgestellt - lie- ber Herr Schreiner, ich spreche Sie an, weil Sie auf Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Tat geht es den Versuch der Abstimmung von Sozial- und Um- im Augenblick darum, daß wir im Bereich der sozia- weltpolitik auch im internationalen Rahmen hinge- len Sicherungssysteme, im Bereich unseres Steuersy- wiesen haben; Herr Geißler hat ebenfalls darüber ge- stems und im Bereich des Arbeitsmarktes vor drama- sprochen -, daß das bescheidene Maß an Selbstbetei- tischen Herausforderungen stehen. Die Maßnahmen, ligung, das wir als Steuerungsmechanismus im Ge- die heute in einem zweiten Durchgang zur Entschei- sundheitswesen vorsehen, in sozialdemokratisch re- dung anstehen und am 13. September endgültig ent- gierten Ländern Skandinaviens viel ausgeprägter ist. schieden werden - Sie dürfen davon ausgehen, daß Warum diskreditieren Sie hier etwas als unsozial, wir sie mit unserer Mehrheit annehmen werden -, was Ihre sozialdemokratischen Kollegen in anderen sollen dazu beitragen, eine Perspektive zur Bekämp- Ländern, wo sie Verantwortung tragen, längst prakti- fung der Arbeitslosigkeit zu schaffen und somit der zieren? Ist das Ihre Form von Internationalismus, von Besorgnis von immer mehr Menschen, daß die Zahl dem Herr Lafontaine gesprochen hat? Das ist doch der Arbeitslosen weiter steigt, entgegenzuwirken. nicht ehrlich. Derzeit können etwa 5 Millionen Menschen im er- werbsfähigen Alter keiner geregelten Berufstätigkeit Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Mölle- nachgehen. Die Gefahr ist groß, daß auf Grund des mann, die Kollegin Knoche würde gerne eine Zwi- drohenden Verlusts von Wettbewerbsfähigkeit in schenfrage stellen. manchen Bereichen unserer Wirtschaft, auch wegen der Überfrachtung mit Abgaben, Steuern, Gebühren Jürgen W. Möllemann (F.D.P.): Stets und ständig. und Beiträgen zu den sozialen Sicherungssystemen, noch mehr Arbeitsplätze verlorengehen. Monika Knoche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich Deswegen stellt sich die Frage: Was hat die Verän- war ja nun auch in Skandinavien und habe diese De- derung, die heute zur Rede steht, mit der Chance zu legation begleitet. Nur eines hätte ich doch ganz tun, auch nur einen einzigen Arbeitsplatz zu schaf- gerne von Ihnen gewußt: Wie stehen Sie dazu, daß in fen? Natürlich hat dies etwas mit der Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland lediglich 67 Prozent des Handwerksmeisters zu tun, ob er einen weiteren der Ausgaben für das Gesundheitswesen beitrags- Arbeitsplatz einrichtet. Indem wir diese Maßnahmen hälftig finanziert werden? Die Selbstbeteiligung liegt durchsetzen, können wir ihm die Perspektive eröff- bereits bei 12 Prozent. Wohin wollen Sie eigentlich nen, sich flexibel seinen steigenden oder sinkenden noch, und wie ist das in Ihrem europäischen oder in- Möglichkeiten anzupassen. Es ist für ihn wichtig, zu ternationalen Vergleich? Schauen Sie sich bitte ein- wissen, ob er davon ausgehen kann, daß wir die stän- mal genau an, wieviel die Versicherten in Deutsch- dig steigende Last an Nebenkosten reduzieren. Dar- land innerhalb dieser 90 Prozent selbst zahlen. Dann auf zielt dieses Paket ab. stellen Sie, bitte sehr, die Relation her. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10683

Jürgen W. Möllemann (F.D.P.): Frau Kollegin Kno- nicht erwähnen werden -, wer für all das Verantwor- che, wir sehen das in den Betrieben der Bundesrepu- tung übernimmt - und das tun Sie im Augenblick -, blik Deutschland, ganz gleich ob es größere, mittlere der wird am Wahltag die Frage beantworten müssen, oder kleinere sind - aber uns interessieren in diesem was er zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit Zusammenhang vor allem die lohnkosten- und ar- getan hat, und zwar nicht mit verbalen Bekundun- beitsplatzintensiven kleinen und mittleren-: Für jede gen, sondern .mit Maßnahmen, die ökonomisch grei- Mark Lohn, die gezahlt wird, müssen 86 Pfennig fen. Ich bitte Sie herzlich: Klären Sie zwischen Ihren Lohnzusatzleistungen für die sozialen Sicherungssy- Troika-Angehörigen doch einmal, wessen Argu- steme bezahlt werden. mente wirklich zählen! Eines geht nicht, und zwar Herrn Schröder mit der Aura der ökonomischen Ver- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ nunft, die er in Niedersachsen noch nicht in vollem DIE GRÜNEN]: Warum denn?) Umfang bestätigt, auszustatten und permanent, Wir sehen, daß damit immer weniger Betriebe in der wenn es konkret wird, seinen Aussagen im Deut- Lage sind, Arbeitsplätze aufrechtzuerhalten; wir se- schen Bundestag durch die Mehrheit der SPD-Frak- hen, daß wegen der hohen Kosten pro Stunde immer tion zu widersprechen. Sie sind in Ihrer ökonomi- mehr Menschen Schwarzarbeit leisten, Deswegen schen Position unklar. Sie sind deswegen nicht hilf- sind für uns Systeme, in denen noch mehr an Lohn- reich für die Bewältigung dieser Probleme. Deswe- nebenkosten entstehen, an dieser Stelle ganz gewiß gen sind Sie wohl auch gezwungen, bei der Suche kein Vorbild. Aber selbstverständlich möchten wir nach Mehrheiten für Ihre fehlerhaften Konzepte so- das Instrument der Transparenz, das heißt Rech- gar die Nachbarn auf der Linksaußenseite, die PDS, nungstellung im Gesundheitswesen für alle Leistun- zaghaft, aber doch in Ihr Kalkül einzubeziehen. Das gen und für alle Patienten, damit man durchblickt muß so deutlich angesprochen werden. und weiß, was geschieht, und das System der Eigen- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- verantwortung durch Eigenbeteiligung ausweiten, ten der CDU/CSU) weil wir der Meinung sind, daß nur so eine weitere Explosion der Beiträge vermieden werden kann. Wenn man heute Herrn Gysi und Herrn Dreßler ge- hört hat, dann war das in der Tat in manchen Punk- (Beifall bei der F.D.P.) ten eine bemerkenswerte Übereinstimmung. Ich hoffe, hier bahnt sich nicht etwas darüber Hinausge- Die Kassen verkünden doch jetzt schon, daß sie, so hendes an. Das wäre in der Tat das Schlechteste für schnell es eben möglich sein wird, die Beiträge her- unser Land. aufsetzen würden. Das heißt doch: noch mehr Abga- ben der Arbeitnehmer an die sozialen Sicherungssy- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der steme, noch mehr Lohnzusatzkosten, noch weniger CDU/CSU) Arbeitsplätze, noch mehr Schwarzarbeit. Das ist der Circulus vitiosus, aus dem wir herauskommen müs- Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- sen. Da hilft kein Lamentieren, da hilft nur Entschei- ren, die Redner haben es im Augenblick ein bißchen den. Deswegen bestehen wir darauf, daß in dieser schwer. Ich würde doch bitten, wenn Sie wirklich ein Frage entschieden wird. Im Klartext heißt das: Sie so großes Gesprächsbedürfnis haben, wie oben dürfen davon ausgehen, daß wir die Materie, die wir rechts am Rand, dann befriedigen Sie es außerhalb in den heute zu beredenden Gesetzen geregelt ha- des Plenarsaales. Es stört den Redner, wenn in ver- ben, dort, wo sie zustimmungsbedürftig ist, so in schiedenen Gruppen leise gesprochen wird. neuer Gesetzesform gestalten werden, daß wir sie mit der Mehrheit der Koalition durchsetzen. Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Zöller das Wort. Es ist ja der Versuch unternommen worden, zu ei- Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Herr Präsident! nem Konsens zu kommen. Aber von einem bestimm- Werte Kolleginnen und Kollegen! Manchmal kann es ten Zeitpunkt an - ich will den nicht genau definie- sehr nützlich sein, sich einmal vor Augen zu führen, ren - hatte man doch das Gefühl, daß der Ausstieg vor welchem Hintergrund wir eigentlich bei uns über der Gewerkschaften aus der Kanzlerrunde für mehr Reformen im Sozialstaat reden. Es gilt zunächst fest- Arbeit und der Ausstieg der Sozialdemokraten aus zuhalten, daß es kein einziges Beispiel dafür gibt, der Suche nach einem Konsens eine konzertierte Ak- daß die Grundprinzipien unseres Sozialstaates aufge- tion war, eine strategisch bestimmte Haltung. Versu- kündigt werden. Bei uns werden aber die kleinsten chen Sie also nicht dadurch von Ihrer Verweige- Reformen im Sozialbereich bereits als Einstieg in den rungspolitik abzulenken, daß Sie hier irgendwelche Ausstieg aus dem Sozialstaat beschrieben und ent- merkwürdigen Theorien verbreiten. sprechend leidenschaftlich diskutiert. Nein, meine Damen und Herren, wer jetzt in die- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Leider wahr!) sem Land im Bundestag nicht dazu beiträgt, daß Ar- beit wieder bezahlbar wird, daß kleine und mittlere Wir streiten ernsthaft darüber, ob es ein sozialer Betriebe Neueinstellungen vornehmen können, statt Kahlschlag ist, wenn die Versicherten in Zukunft alle dauernd entlassen zu müssen, und daß der perma- drei Jahre auf einen Kassenzuschuß für Brillenge- nente Export von Arbeitsplätzen aufhört, der im übri- stelle von 20 DM verzichten müssen. Wir leisten uns gen ja in den Aufsichtsräten gerade von Großunter- lang anhaltende Debatten darüber, ob es noch sozial nehmen mit den Stimmen der Gewerkschaften be- verträglich ist, wenn Patienten 1 DM mehr Selbstbe- schlossen wird - also häufig Ihrer besonderen teiligung bei Arzneimitteln bezahlen sollen, obwohl Freunde, die Sie dann wohl bei dieser Gelegenheit es auf Grund der Sozialklausel eine vollständige Be- 10684 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996

Wolfgang Zöller freiung von der Zuzahlung gibt. Bei einem Rentner- mensionen erreicht werden, die den normalen Bür- ehepaar zum Beispiel ist es immerhin der Betrag von ger überfordern? 2271,50 DM. Bis zu diesem Betrag brauchen sie über- haupt keine Zuzahlung zu zahlen. Das und nicht das Klein-Klein vieler Diskussionen der vergangenen Monate muß mehr in den Mittel- Empörung löst schon die Frage aus, ob man den punkt der Reformüberlegungen gestellt werden. Wir Menschen nicht die Einsicht abverlangen kann, daß müssen klar definieren und festlegen, welche Aufga- die Fahrt vom Krankenhaus nach Hause nicht unbe- ben die Solidargemeinschaft Krankenversicherung dingt von der Krankenversicherung bezahlt werden überhaupt übernehmen muß und wo die Verantwor- muß. Für manche ist es schon ein staatlich verordne- tung des einzelnen anfängt. Wir haben uns bisher ter Raubzug an sozialen Selbstverständlichkeiten, darauf eingelassen, die finanzielle Verantwortung für wenn man öffentlich einmal die Frage stellt, ob jede die Gesundheit immer mehr als solidarische Verant- Massage nach einer Sportverletzung der Kranken- wortung zu definieren. Wir haben es zugelassen, daß kasse in Rechnung gestellt werden muß. Da wird trotz steigenden Wohlstands in der Vergangenheit heute das Gespenst der Entsolidarisierung mit den nicht weniger, sondern mehr Zuständigkeiten für Kranken in unserer Gesellschaft an die Wand gemalt, Kassen erfunden wurden. wenn man an Selbstverständlichkeiten erinnert wie zum Beispiel, daß Krankenkassen die Verordnung Eines steht doch fest: Die gesetzliche Krankenver- von Kuren auf das medizinisch Sinnvolle begrenzen sicherung kann ihre Aufgabe der Absicherung gro- müssen. Wir streiten über solche Einzelmaßnahmen - ßer Risiken auf Dauer nur wahrnehmen, wenn es und seien sie zum Teil auch noch so klein - mit er- eine soziale und auch moralische Selbstverständlich- staunlicher Leidenschaft, aber leider zusammen- keit ist, daß die Menschen ihre Eigenverantwortung hanglos. Solche Klein-Klein-Diskussionen der ver- wahrnehmen. gangenen Monate zeigen einmal mehr: Uns ist längst (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- der Grundkonsens darüber abhanden gekommen, ordneten der F.D.P.) Was Solidarität und Subsidiarität in der sozialen Marktwirtschaft tatsächlich bedeuten. Wir müssen den Menschen erklären, welchen Zweck diese Eigenverantwortung hat und wie sie ge- (Beifall bei der CDU/CSU) staltet werden kann. Wenn wir dies nicht tun, darf sich niemand darüber wundern, daß wir tatsächlich Wenn die Einsicht und Vorsicht des Staates in je- über kurz oder lang auf dem Weg in die Zwei-Klas- dem noch so kleinen Lebensbereich an die Stelle der sen-Medizin sind. Dann ist nämlich kein Geld mehr Einsicht und Vorsicht des einzelnen tritt, dann ent- da, um die großen Risiken für jedermann, unabhän- scheidet schließlich nicht mehr der einzelne, sondern gig von seinem Einkommen, zu bezahlen. dann entscheidet der Staat, dann lassen wir es zu, daß Freiheit und Verantwortung entkoppelt werden. (Zuruf von der F.D.P.: In der Tat!) Dann stehen wir wirklich vor der Aufgabe zu ratio- Beschnitten wird diese Freiheit allerdings auch da- nieren. Das wäre eine Auslese unter ökonomischen durch, daß die finanziellen Möglichkeiten des einzel- Gesichtspunkten. nen immer weiter eingeengt werden. Denn stei- gende Aufgaben haben in der Vergangenheit zu stei- Das wachsende Umweltbewußtsein zeigt, was man genden Beitragssätzen geführt. Der Spielraum zwi- durch vernünftige Aufklärung erreichen kann. Ich bin schen Nettoeinkommen und Durchschnittslasten deshalb recht optimistisch, daß wir auf dem Weg über wurde dadurch immer weiter eingeengt. Aufklärung auch zu einer Wiederbelebung des Grundwertes der Eigenverantwortung kommen kön- Ein Sozialstaat, der sich so verhält, schafft genau nen. Es gehört auch ganz entscheidend zur Glaubwür- die Probleme, die er später mit viel größerem Auf- digkeit der Politik, daß sie jetzt klipp und klar den wand wieder beseitigen muß: ein Übermaß an Büro- Menschen sagt: So wird es aussehen, wenn wir nicht kratie, an Reglementierungen, ein hohes Anspruchs- handeln. So kann es aussehen, wenn wir den Mut, die verhalten und dadurch steigende finanzielle Ver- Phantasie und den Willen haben, einen Trennungs- pflichtungen, die solidarisch erbracht werden müs- strich zwischen wohlfahrtsstaatlicher Daseinsvor- sen. Am Ende gefährdet er mit seinem scheinbar ver- sorge und sozialstaatlichen Pflichten zu ziehen. lockenden Angebot, dem Menschen die Last der in- dividuellen Verantwortung immer mehr abzuneh- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr gut!) men, seine eigene Schutzfunktion. Er produziert Un- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn wir sicherheit durch Unübersichtlichkeit und Aufgaben- es schaffen, den Menschen auf diese Art und Weise inflation. begreiflich zu machen, daß Stärkung der Eigenver- antwortung weder Individualisierung der Vorsorge Genau an diesem Punkt stehen wir heute. Die Kar- noch Verzicht auf solidarische Leistungen heißt, son- dinalfrage muß daher lauten: Wie sichern wir für uns dern eine Voraussetzung zur Finanzierung solcher selbst und die Zukunft diese Schutzfunktion des Leistungen ist, die wirklich notwendig und in wichti- Staates? gen Fällen gebraucht werden, dann hat unsere (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- grundsätzlich bewährte Krankenversicherung auch ordneten der F.D.P.) künftig eine Chance. Wie stellen wir sicher, daß das Risiko der Krankheit Ich danke Ihnen. in jedem Fall abgesichert ist, wenn finanzielle Di- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10685

Vizepräsident Hans Klein: Kollege Dr. Martin Pfaff, Sie wollen die Zuzahlungen für Arzneimittel erhö- Sie haben das Wort. hen: Auch ein kleiner Schritt in die falsche Rich- tung kann doch keine Verbesserung sein! Daß die Selbstbeteiligung nicht steuert, ist doch der letz- Dr. Martin Pfaff (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- ten und dem letzten in diesem Hause mittlerweile ginnen und Kollegen! Auch der gesundheitspoliti- klar. sche Teil dieses Kürzungspakets ist gesellschaftspoli- tisch irreführend. Er ist volkswirtschaftlich kontrapro- (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Das ist duktiv. Finanzpolitisch werden so die fiskalischen Unsinn!) Ziele der Beitragsentlastung sicher nicht erreicht. Er ist gesundheitspolitisch gesehen ein eindeutiger Die Ausgaben in den Ländern mit höheren Selbstbe- Rückschritt hinter die Philosophie von Lahnstein. Das teiligungen steigen stärker. In den Bereichen, in de- bringt uns nicht weiter zu dem, was wir in diesem nen die Selbstbeteiligung am höchsten ist - beispiels- Lande brauchen. weise Zahnersatz -, sind die Zuwächse am höchsten, Herr Möllemann. Die Selbstbeteiligung ist unsozial. (Beifall bei der SPD) Sie belastet die kleinen mehr als die großen. Wenn Zunächst einmal zum gesellschaftspolitischen Teil. sie sehr hoch ist, dann kann nicht ausgeschlossen Wenn in einer Gemeinschaft, wenn in einer Familie - werden, daß auch gesundheitlich notwendige Lei- Herr Zöller und Herr Möllemann, Sie haben ja Eigen- stungen unterbleiben. Im ersten Fall kann man sie verantwortung und Solidarität angemahnt - vergessen, im zweiten Fall muß man sie vergessen. schwere Zeiten bevorstehen, dann rückt man doch Sie ist kein Instrument einer kreativen Gesundheits- zusammen. Dann ist doch eher mehr Solidarität denn politik. weniger Solidarität gefordert. Dann stützt man doch die Schwachen und belastet sie nicht mehr. Herr Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, gestatten Bundesminister Blüm hat heute schon die Studie der Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hirche und Böckler-Stiftung bemüht, aber leider nicht den Teil, eine Zwischenfrage des Kollegen Möllemann? wo eindeutig aufgezeigt wird, Herr Minister Seeho- fer, daß eine Entlastung der Beiträge von sieben Dr. Martin Pfaff (SPD): Mit besonderem Vergnü- Zehnteln eines Beitragssatzpunktes möglich wäre - gen. beispielsweise durch mehr Solidarität und durch die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze in der ge- setzlichen Krankenversicherung auf das Niveau der Walter Hirche (F.D.P.): Herr Präsident! Herr Kol- gesetzlichen Rentenversicherung. Sie könnten sich lege! Mir liegt zu den Ausführungen, die Sie eben all diese Operationen, all diese Daumenschrauben gemacht haben, ein einschlägiger Zeitungsbericht ersparen. vom 23. August über eine Pressekonferenz der AOK Niedersachsen vor, in dem es heißt, daß die Versi- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Und die cherten, die keine Selbstbeteiligung für Zahnersatz Arbeit verteuern!) haben, für diese Kasse im Durchschnitt 20 Prozent Wenn Sie noch einen Schritt weiter gehen und auch höhere Aufwendungen verursachen als alle anderen die Versicherungspflichtgrenze abschaffen würden, Versicherten mit Selbstbeteiligung. Diese Kasse führt dann könnten Sie weitere acht Zehntel einsparen. das darauf zurück, daß im Zusammenhang mit Men- schen, die ohne Selbstbeteiligung eine Leistung in Warum haben Sie nicht den Weg der Solidarität zi- Anspruch nehmen, eine Selbststeuerung angeblich tiert? Eigenverantwortung ja; Aufklärung ja. Aber Ei- nicht möglich sei. Ich will Ihnen gern eine Kopie die- genverantwortung, Herr Zöller, nicht durch höhere ses Zeitungsartikels überreichen. Selbstbeteiligung, nicht durch Strafsteuern, nicht durch Zuzahlungen, denn das ist nicht zu verantwor- ten. Eigentlich ist der richtige Weg in dieser schwieri- Dr. Martin Pfaff (SPD): Herr Kollege, glücklicher- gen Zeit der Weg der Solidarität und nicht der Weg weise bin in in der Lage, auf meine eigenen Untersu- des Leistungsabbaus und der Sozialkürzungen, den chungen zurückgreifen zu können. Die erste Unter- Sie hier vorgeben. suchung fand Anfang der 80er Jahre statt. Als sich Herr Glombig und Herr Schmidt (Kempten) nicht ei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- nig über Wahltarife waren, haben wir die PKV-Tarife ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN mit Selbstbeteiligung verglichen mit den GKV-Tari- und der PDS) fen ohne Selbstbeteiligung. Was hat sich herausge- stellt? Die Wahltarifversicherten mit Selbstbehalt wa- Wenn Sie die Beitragssätze wirklich senken woll- ren weder kostenbewußter, noch waren andere ten, könnten Sie dies auf eine ganz einfache solidari- Steuerungseffekte zu beobachten. Dann habe ich sche Art tun. Aber welchen Weg gehen Sie? Sie wol- alle OECD-Daten für mehrere Jahre hintereinander len die Beitragsfestlegung ab 1. Januar den Kassen genommen und habe mich gefragt, wie es in den aufs Auge drücken. Sie wollen ihnen schlicht und Ländern, in denen die Selbstbeteiligung ausgebaut einfach den Schwarzen Peter zuschieben und haben ist, ausschaut. Es gibt solche Länder in Europa. Wenn nicht die Courage, offen und ehrlich zu sagen, daß man die privaten Zuzahlungen hinzunimmt, gehören Sie in Wirklichkeit eine weitere Leistungskürzung auch die USA dazu. Wenn Ihre Logik zutrifft, dann durchsetzen wollen. Dieser Mut fehlt Ihnen. müßte dort sparsamer und wirtschaftlicher gearbeitet (Beifall bei der SPD - Wolf-Michael Caten- werden und müßten dort die Ausgabensteigerungen husen [SPD]: So ist das!) geringer ausfallen. Mitnichten: Genau das Gegenteil 10686 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 Dr. Martin Pfaff ist der Fall. Die Selbstbeteiligung in einer Größen- Hilfe brauchen, nicht noch einmal in die Tasche grei- ordnung, die einer sozialen Krankenversicherung zu- fen müssen? träglich ist, hat keine Wirkung. Man kann sie verges- sen. Wenn man sie sehr, sehr hoch ansetzt, dann (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- wirkt sie schon, aber dann wirkt sie bei den kleinen ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Einkommen und nicht bei den großen. und der PDS)

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, sind Sie ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN bereit, noch eine Zusatzfrage des Kollegen Mölle- und der PDS) mann zu beantworten? Wenn wir diesen Effekt tolerieren wollen, dann kön- nen wir die soziale Krankenversicherung vergessen. Dr. Martin Pfaff (SPD): Vom geschätzten Gesund- heitspolitiker Möllemann nehme ich immer gern (Beifall bei Abgeordneten der PDS - Zuruf sachkundige Fragen entgegen. von der SPD: Aber das wollen die da drü- ben doch!) (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Er kann noch was lernen!) Kommen Sie mir also nicht mit solchen Untersu- chungen, bei denen wir nicht wissen, wie die Zusam- Jürgen W. Möllemann (F.D.P.): Vielen Dank, das ist mensetzung dieser AOK ist. Ich habe noch nichts von sehr freundlich. Aber eigentlich wollte ich nur meine dieser Studie gehört. Ich schaue sie mir gerne an. Frage beantwortet wissen. Sie haben daran vorbeige- Aber glauben Sie mir: Das ist keine repräsentative redet. Ich wollte Sie fragen, Herr Kollege Pfaff, ob Sie Zahl und kein Ergebnis, das mit dem übereinstimmt, namens der Sozialdemokratischen Partei angesichts was in der empirischen Wissenschaft bisher bekannt Ihrer fundamentalen Kritik an der Sinnhaftigkeit der ist. Selbstbeteiligung alle bestehenden Formen der (Walter Hirche [F.D.P.]: Das wird die Leute Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen gestrichen freuen, wenn sie das Protokoll nachlesen!) haben wollen.

- Natürlich! Dr. Martin Pfaff (SPD): Ich habe die Frage doch ein- deutig beantwortet. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Mölle- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- mann. ten der PDS - Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Nein! - Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Selbstverständlich!) Jürgen W. Möllemann (F.D.P.): Herr Kollege Pfaff, nach Ihrer grundsätzlichen Absage an die Sinnhaf- - Herr Möllemann, ich schlage vor, daß ich diesen tigkeit von Selbstbeteiligungen wollte ich fragen, Dialog mit Ihnen in einem Privatissimum fortsetze; ob Sie namens der SPD entsprechend verlangen, denn dann gibt es offensichtlich größere Chancen, daß nicht nur keine neuen Formen der Selbstbetei- die Botschaft rüberzubringen, als in einem solchen ligung eingeführt werden, sondern auch alle be- öffentlichen Dialog. stehenden Formen der Selbstbeteiligung abge- schafft werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie wollen den Kassenanteil bei Brillengestellen streichen, und das soll die große finanzpolitische Sta- Dr. Martin Pfaff (SPD): Die SPD hat in ihrem Wahl- bilisierung der öffentlichen Haushalte bringen. Sie programm klar darauf hingewiesen, daß mit ihr eine wollen Leistungskürzungen bei stationären Kuren. Ausweitung der Selbstbeteiligung nicht zu machen Darüber könnten wir diskutieren. Aber ich kann ist und daß eine Selbstbeteiligung im Bereich der nicht erkennen, warum, wenn in einem Fall eine chronisch Kranken zu überprüfen ist. Ich scheue drei- oder vierwöchige Kur medizinisch erforderlich mich auch als Bundesvorsitzender der sozialdemo- ist und in einem anderen Fall nur eine zweiwöchige kratischen Gesundheitspolitiker und Gesundheits- Kur, alle über einen Kamm geschoren werden sollen. politikerinnen nicht, Herr Möllemann, zu sagen, daß Sie haben eine Rasenmähermethode vorgeschlagen, es eine Forderung der ASG gibt, alle Selbstbetei- die dem gesundheitlichen Bedarf nicht gerecht wird. ligungen abzuschaffen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wissen Sie, was das bedeutet, Herr Möllemann, wenn man das durchrechnet? Das bedeutet ungefähr Das alles heißt doch: weniger Solidarität. Das Kür- sechs Zehntel eines Beitragssatzpunktes, hälftig von zungspaket nagt am sozialen, am gesellschaftlichen Kontrakt. den Arbeitnehmern und hälftig von den Arbeitge- bern zu finanzieren. Jetzt frage ich Sie: Wäre das Ich könnte das alles verstehen, wenn das Ihre Ziele nicht für die Männer und Frauen, die Monat für Mo- wirklich realisieren würde, wenn Sie sagen würden: nat, Jahr für Jahr, Beiträge zahlen, um im Krankheits- Ja, in einer Situation finanzieller Krisen ist uns ein fall abgesichert zu sein, eine sozialpolitische Tat, die Ende mit Schrecken lieber als ein Schrecken ohne wirklich erwähnenswert und diskussionswürdig ist, Ende. Aber kein einziger von Ihnen glaubt, daß wenn diese Menschen, wenn sie krank werden und damit die Haushalte der Institutionen der sozialen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10687

Dr. Martin Pfaff Sicherung oder gar die öffentlichen Haushalte stabi- Deshalb muß dieses sogenannte Sparpaket wieder lisiert werden. Es müßte doch wohl der letzte der versagen. Jeder kann heute schon sagen: Die Konso- Naiven sein, der das annimmt. Das ist auf diesem lidierungsziele dieses Pakets werden sicher nicht er- Weg nicht zu erreichen. reicht werden. In einigen Monaten werden wir uns wiederum darüber zu unterhalten haben, was zu tun Zweitens. Wenn es wirklich so wäre, Herr Mölle- ist. Dies ist kein Weg zur finanziellen Steuerung; dies mann und andere, daß es zwei Systeme gäbe - das ist der Weg des Sozialabbaus. eine ist hart, konkurrierend, produktiv, innovativ, aber ungerecht in der Verteilung, das andere weich, Auch daß dieses Paket sozialpolitisch unsinnig ist, sozial, schwammig, aber verteilungsgerecht -, dann sollte klar sein. Denn mit der genialen Einfachheit könnte man politisch darüber diskutieren, ob man des Umlageverfahrens sind unsere Systeme der so- das erste oder das zweite will. Was ich will, das weiß zialen Sicherung so konstruiert, daß in Zeiten stei- ich. Tatsache ist, daß weltweit Systeme der sozialen gender Arbeitslosigkeit die Leistungen erhöht wer- Sicherung, die solidarisch finanziert werden, nicht den, wodurch ein kontrazyklischer Stabilisierungs- nur verteilungsgerechter, sondern sogar kosteneffek- faktor, ein Gegendruck entsteht. Jetzt, wo wir finan- tiver sind. Das ist doch die Ironie. Dies ist eine Dis- zielle Engpässe aus Gründen haben, die ich nicht kussion für Doofe. Dies ist keine rational begründ- wiederholen muß, zu sagen: „Jetzt bauen wir den So- bare Diskussion. zialstaat ab; jetzt kürzen wir Leistungen", ist unge- fähr so intelligent wie das Handeln eines Mannes, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- der weiß, daß er mit seinem Auto in ein Urlaubsland ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mit schlechten Straßen fährt, und an der Grenze die Ja, der Sozialstaat muß weiterentwickelt werden, Stoßdämpfer ausbaut, um sie nicht zu beschädigen. weil sich die gesellschaftlichen Bedingungen verän- Das ist das Niveau der Intelligenz einer solchen Poli- dern. Aber Sozialabbau heißt nicht Weiterentwick- tik. lung. (Beifall bei der SPD) Diese ganze Diskussion ist auch volkswirtschaft- Gesundheitspolitisch ist dies ein deutlicher Rück- lich kontraproduktiv. Ich kann es auf den Punkt brin- schritt, weil die Strukturelemente, die im Gesund- gen: In Zeiten stagnierender Binnennachfrage Kauf- heitsstrukturgesetz enthalten sind, wieder ausgehe- kraft auch in diesem Bereich abzuschöpfen ist - das belt werden. Wir mußten leider wieder erleben, daß muß doch jedem klar sein - Gift für die Konjunktur, die Konzeption von Lahnstein nicht durch Zufall, führt zu mehr und nicht zu weniger Arbeitslosigkeit, nicht durch andere Faktoren, sondern bewußt von Ih- zu weniger und nicht zu mehr Beschäftigung. nen und Ihrer Regierungskoalition ausgehebelt wurde. Bei einer internationalen Tagung in Washington, nicht von der Wissenschaft ausgerichtet, sondern von Da wundern Sie sich, daß jetzt die Ausgabendyna- einer bekannten deutschen, international agierenden mik im Gesundheitswesen die altbekannte Form an- Automobilfirma, wurde ich voller Neid von Vertre- nimmt. Erste Phase: Ein Gesetz wird diskutiert - An- tern der Ford Motor Company angesprochen, die mir kündigungseffekt; die Kosten steigen, die Beiträge auf Dollar und Cent vorrechneten, wie hoch die Ge- steigen. Zweite Phase: Das Gesetz wird umgesetzt - sundheitskosten pro Ford-Auto sind, und sagten: Wä- Stabilisierung, weil dieselben Dinge nicht mehr in ren wir doch in Deutschland, dann wären wir wettbe- Anspruch genommen werden, dieselben Kosten werbsfähiger. - Das darf ich hier auch zur Diskussion nicht mehr verursacht werden. Dritte Phase: Es geht stellen, und ich fordere Sie auf, endlich dieses unse- wieder locker weiter. lige Gerede, das Herunterreden des Standortes Genau aus diesem Dilemma, aus diesem Zyklus Deutschland zu beenden. wollten wir heraus. Was aber haben Sie, Herr Bun- desminister, getan? Sie haben zunächst einmal die (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Positivliste nicht umgesetzt, die erste Bremse an ei- Dr. Christa Luft [PDS]) nem Rad abgebaut. Sie haben als nächstes die Bun- Was die Lohnstückkosten angeht, möchte ich nicht despflegesatzverordnung so umgesetzt, daß die Ziele groß in die Details einsteigen. Sie sind in den ande- der Ausgabensteuerung im Krankenhaus nicht er- ren Industrienationen in den letzten zwei Jahrzehn- reicht werden konnten - zweite Bremse abgebaut. ten um das Fünffache, bei uns um das 2,5fache ge- Sie haben drittens auch in anderen Bereichen - ICD- stiegen. Die Zuwachsraten in anderen Bereichen und 9 und -10 - die Transparenz ausgesetzt. Ich könnte die Belastungen der Haushalte und der Unterneh- die Liste fortsetzen. men wären ein Thema für sich. Und jetzt wundern Sie sich, daß die alte Lokomo- Das Problem ist aber, daß dieses Paket letztlich tive der Ausgabendynamik wieder so fährt wie vor- keine finanzielle Konsolidierung bringt, weder in her. Das ist von Ihnen ganz persönlich und von Ihrer den Systemen der sozialen Sicherung noch in den öf- Regierungskoalition zu verantworten. fentlichen Haushalten. Schon in der zweiten Vorle- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- sung Volkswirtschaftslehre bringen wir unseren Stu- tem des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) denten bei, daß die Volkswirtschaft ein Kreislauf ist, daß man nicht hier etwas an Kaufkraft abzapfen und Das ist nicht das Produkt bünder Mächte, das ist dann erwarten darf, daß die Nachfrage in anderen nicht das Produkt unausweichlicher Entwicklungen, Teilen der Volkswirtschaft nicht entsprechend sinkt, das ist nicht das Produkt der Demographie, der wirt- daß nicht die Beschäftigung beeinflußt wird. schaftlichen Entwicklung. Das ist die logische Konse- 10688 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 Dr. Martin Pfaff quenz der Maßnahmen, die Sie selber zu verantwor- Ich erspare mir angesichts des Zeitdrucks ausführ- ten haben. liche Anmerkungen zur Absenkung des Krankengel- des. Das ist also die geniale Waffe zur finanziellen (Beifall der Abg. Renate Rennebach [SPD]) Konsolidierung: Die Kranken sollen als Spar- schweine der Nation, als Lückenbüßer für eine fal- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Pfaff, sche Wirtschafts- und Finanzpolitik herangezogen gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten werden. Das bringt uns in eine schöne neue Welt ge- Seehofer? sundheitspolitischer Stabilität. - Nein, auch die Zu- kunftskonzeptionen Ihrer Seite, die zur Diskussion Dr. Martin Pfaff (SPD): Mit besonderem Vergnü- anstehen, bringen uns nicht weiter. gen. Das Beitragsentlastungsgesetz birgt etliche Tod- sünden. Zum Beispiel: Aussetzung der präventiven Horst Seehofer (CDU/CSU): Lieber Herr Kollege Maßnahmen außer Schutzimpfungen. Auch wenn Professor Pfaff, wie beurteilen Sie vor dem Hinter- Sie das nachher korrigiert haben: Das ist wirklich der grund, daß die Regierungskoalition wesentliche Ele- unsinnigste Weg, den ich mir überhaupt vorstellen mente des Lahnsteiner Kompromisses, wie Sie es ge- kann. nannt haben, „ausgehebelt" hat, die Tatsache, daß (Beifall bei Abgeordneten der SPD) die SPD-regierten Länder im Vermittlungsausschuß und im Bundesrat den allermeisten Korrekturen zum Denn wenn es einen Bereich gibt, von dem wir wis- Gesundheitsstrukturgesetz zugestimmt haben? Denn sen, daß wir in der Zukunft mehr machen müssen, zuletzt in dieser Woche war es nur mit Zustimmung dann ist es die Gesundheitsförderung, die Präven- von SPD-geführten Ländern im Vermittlungsaus- tion. schuß möglich, das von Ihnen hier heftig bekämpfte Gesetzesvorhaben durchzusetzen, nämlich keine (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Festbeträge bei Arzneimitteln mehr festzulegen, die Dr. [PDS]) patentgeschützt sind, damit der Wirtschaftsstandort Wir wollen die zig Millionen Mark, die wir auf Grund auch für die Forschung in der Pharmaindustrie erhal- falschen Konsumverhaltens, z. B. beim Nikotinkon- ten bleibt. Die wesentlichen Korrekturen sind mit sum und beim Ernährungsverhalten, ausgeben müs- SPD-Stimmen im Bundesrat zustande gekommen. sen - all die Ausgaben, die auf die Lebensführung und das Lebensumfeld zurückgehen -, der gesetzli- (Beifall bei der CDU/CSU - Rudolf Dreßler chen Krankenversicherung ersparen. Es war insofern [SPD]: So ein Quatsch! - Weiterer Zuruf von nicht nur eine sozialpolitische Sünde, es war auch ein der SPD: So ein Nebenthema!) handwerklicher Fehler, Herr Bundesminister, an die- sem Punkt anzusetzen. Das war sicher ein handwerk- Dr. Martin Pfaff (SPD): Herr Seehofer, ich bin wirk- licher Fehler, der Ihnen noch oft auf das Butterbrot lich enttäuscht. Ich hätte wirklich eine neue Frage er- geschmiert werden muß. wartet, diese habe ich jetzt zum zehnten Male ge- Gleiches gilt für den Zahnersatz: Wenn Realität hört. wird, was sich die Regierungskoalition ausgedacht (Beifall bei der SPD) hat, gelangen wir zu einer totalen Reprivatisierung Immer wenn irgend etwas auf Bundesebene schief- der Kosten des Zahnersatzes. Um mit der Bibel zu geht, dann waren die Länder schuld. Erstens ist die sprechen: Nicht an ihren Früchten, an ihren Zähnen Aussage, daß die strukturgestaltenden Elemente in werdet ihr sie erkennen. An ihren Zähnen werdet ihr überwiegender Zahl von den A-Ländern mitgetragen erkennen, welcher sozialen Schicht sie angehören. wurden, faktisch falsch. (Beifall bei der SPD - Ingrid Matthäus- (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Nein!) Maier [SPD]: An ihren Zahnlücken! - Rudolf Dreßler [SPD]: Mut zur Lücke!) Es gab einige Punkte, wo dies der Fall war, bei ande- ren nicht. - Richtig, an ihren Zahnlücken. - Wer das nicht glaubt, soll nur in die Mittelmeerländer oder selbst in Zweitens. Wenn es um Standortpolitik, um Indu- die USA fahren. striepolitik geht, wenn Arbeitsplätze auch im Bereich der Arzneimittelforschung erhalten bleiben sollen, Herr Bundesminister, Sie stehen vor einem Scher- dann sind die Länder die Hüter der Interessen ihrer benhaufen vielfacher Art. Sie stehen vor dem Scher- Bürgerinnen und Bürger. Aber Sie, verehrter Herr benhaufen Ihrer Kostendämpfungspolitik, den Sie Bundesminister, sind der Hüter der Interessen aller selbst verursacht haben. Patientinnen und Patienten und aller Konsumentin- (Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Das ist der nen und Konsumenten der Produkte im Gesundheits- Punkt!) wesen. Wenn Sie das Gesundheitsstrukturgesetz korrekt (Dr. R. Werner Schuster [SPD] und Detlev umgesetzt hätten, wenn die strukturgestaltenden von Larcher [SPD]: Sollten es sein!) Elemente zum Zuge gekommen wären, wären wir Sie sollten für eine andere Preispolitik, für eine an- heute nicht in dieser Situation. Sie haben zumindest dere Politik im Arzneimittelbereich kämpfen. schon eingestanden, daß es die Politik war, die viele dieser Ausgabensteigerungen zu verantworten hat. (Beifall bei der SPD) Jetzt wünsche ich nur, daß Sie im nächsten Schritt sa- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 1 0689 Dr. Martin Pfaff gen, daß es Ihre Politik war, die diese Ausgabenstei- Helmut Kohl hat die Herausforderungen auch und gerungen zu verantworten hat. gerade in diesen Fragen angenommen. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Monika (Detlev von Larcher [SPD]: Ha, ha, ha!) Knoche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir haben im Januar dieses Jahres das 50-Punkte- Herr Bundesminister, was mich noch mehr Programm verabschiedet. Wir haben das Programm schmerzt: Wir stehen alle vor einem Scherbenhaufen für Wachstum und Beschäftigung, das sich mitten in der Reformpolitik. Denn die Probleme sind derart, der Umsetzung befindet, kreiert und sind dabei, es daß Konsenshandlung wirklich parteiübergreifend zu verabschieden. Wir haben das Jahressteuergesetz erforderlich ist. Alle großen sozialpolitischen Reform- 1996 nach langen Mühen und zähem Ringen mit der werke der letzten Jahrzehnte waren dann erfolg- Opposition verabschiedet und sind jetzt dabei, mit reich, wenn sie parteiübergreifend angegangen wor- dem Jahressteuergesetz 1997 weitere entscheidende den sind. Das in der Tat ist die größte Sünde, daß Sie Antworten zu geben. sich nämlich bei dem Vorgespräch, bei dem wir da- (Detlev von Larcher [SPD]: Verteilen von bei waren, letztlich auf eine Linie festgelegt haben, unten nach oben machen Sie! Nichts ande- die Herr Möllemann und Herr Lohmann und nicht res!) mehr Sie bestimmt haben. Wie sieht in dieser schwierigen Situation - Heiner (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Geißler hat sie beschrieben - die Haltung der Oppo- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sition aus? Die Sozialdemokraten überlegen sich, ob und, wenn ja, wie möglicherweise reagiert werden Vizepräsident Hans Klein: Die Redezeit! soll. aus dem hohen Norden fordert ein Sparpaket ein, weil sie den finanziellen Druck der Länder natürlich spürt. Der Parlamentarische Dr. Martin Pfaff (SPD): Daß Sie, der Gesundheitsmi- Geschäftsführer Struck entgegnet, solch eine Forde- nister, jetzt eine F.D.P.-Politik umzusetzen haben, das rung sei völlig unverständlich, die Opposition mache erfüllt mich nicht mit Freude. Ich empfinde das als sich doch nicht unnötig unbeliebt. Lafontaine will da tragisch; es erfüllt mich mit Trauer. Es ist keine Ge- und dort Leistungen, wie er sagt, zurücknehmen, nugtuung für mich. ohne zu sagen wo. Schröder sagt: Die Wirtschaft muß gestärkt werden. Schleußer sagte vorgestern, die Ich meine, die Zeichen der Zeit sind klar: Das, was Entlastung der Wirtschaft sei nicht nötig. Scherf, der uns, was diesem deutschen Parlament als Sparpaket bremische SPD-Politiker, verkauft werden soll, ist ein Sozialabbau. Unsere Zu- stimmung wird er nie und nimmer finden. (Detlev von Larcher [SPD]: Bürgermeister ist er!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN schreibt seinem Bundesvorsitzenden Lafontaine, er und der PDS) sehe mit großer Sorge - wörtlich Scherf - die Total- konfrontation der SPD gegenüber den Plänen der Koalition, und das würde das Vertrauen der Bevölke- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Kollegen rung in die SPD beschädigen. Hans-Peter Repnik das Wort. Gestern wurde in Bonn eine große internationale Konferenz mit dem schönen Titel „Beschäftigungs- Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Herr Präsident! politische Entwicklungen und Strategien in Europa, Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei allem USA und Japan - Was kann Deutschland davon ler- Streit über diese schwierigen Fragen, der auch heute nen?" abgehalten. wieder zum Tragen kam, ist es, glaube ich, ganz (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Da hätten wichtig, daß wir deutlich machen, daß es in diesem Sie auch noch etwas lernen können!) Hause, aber auch in der Bevölkerung einen breiten Konsens gibt, nämlich einen Konsens darüber, daß Meine sehr verehrten Damen und Herren von der die Arbeitslosigkeit in Deutschland zu hoch ist, daß Opposition, es ist reichlich spät, kann ich nur sagen, wir jede Chance nutzen müssen, neue Arbeitsplätze wenn Sie sich erst jetzt mit diesen Fragestellungen in Deutschland zu schaffen, daß die Belastung der befassen. Hätten Sie das vor der Sommerpause getan Bürger und der Wirtschaft mit Steuern und mit Abga- und wären Sie einsichtig gewesen, dann - da bin ich ben tolerable Grenzwerte längst überschritten hat ganz sicher - hätten wir kein Vermittlungsverfahren und daß die Belastungsmöglichkeiten ausgereizt gebraucht. sind. (Lachen bei der SPD) Soweit sind wir uns, wie ich vermute, einig. Der Bundesrat hätte zugestimmt, und wir wären be- reits jetzt ein gehöriges Stück weiter. (Detlev von Larcher [SPD]: Herr Repnik, es ist unglaublich!) (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Recht hat er!) Aber hier trennen sich auch schon unsere Wege. Bei diesem Befund ist deutlich, daß Handeln geboten ist. Was ist Ihre Methode? Sie stimmen im Bundesrat Diese Koalition unter Führung von Bundeskanzler und im Vermittlungsausschuß vorsichtshalber einmal 10690 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 Hans-Peter Repnik dagegen. Ich möchte dem Kollegen Dreßler, der im Verfahren mit schnellen Entscheidungen verhindert Moment nicht da ist, etwas entgegenhalten. haben, was unsere Situation nicht erleichtert hat. (Zuruf von der SPD: Doch, er ist da!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) - Wo ist er? Wie außer mit Blockade, Herr Kollege Dreßler, ist (Rudolf Dreßler [SPD]: Hier!) ein derartiges Vorgehen sonst zu bezeichnen? - Diese Antwortung dürfen Sie mir jetzt gerne in der Herr Dreßler, es scheint mir wichtig zu sein, daß Zwischenfrage geben. hier keine Geschichtsklitterung über das Verhalten der Koalition im Vermittlungsausschuß und im Ver- mittlungsverfahren vorgenommen wird. Ich möchte Vizepräsident Hans Klein: Der Kollege Dreßler, dies an diesem ganz konkreten, aktuellen Fall einmal aber auch die Kollegin Matthäus-Maier würden exemplifizieren. gerne eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, beide zu beantworten? Wir haben vor der Sommerpause zu den in Frage stehenden Gesetzen verhandelt; wir sind nicht einig Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Gerne, Herr Präsi- geworden. Es gab Arbeitsgruppen; sie sind nicht ei- dent. nig geworden. Wir haben vor der Sommerpause ei- nen Fahrplan festgelegt, der besagt hat: Wir werden uns in der Sommerpause bemühen. Der Fahrplan hat Vizepräsident Hans Klein: Bitte, Herr Kollege die Sitzung des Vermittlungsausschusses in dieser Dreßler. Woche vorgesehen. Er hat, wenn es keine Einigung gibt, diese Sitzung heute vorgesehen. Rudolf Dreßler (SPD): Herr Kollege Repnik, darf Dann sollten die Arbeitsgruppen tagen. Und was ich Sie darüber aufklären und Sie gleichzeitig fra- ist passiert? Am Tag vor der Sitzung der Arbeits- gen, ob Sie das, was ich Ihnen jetzt sage, wissen, gruppe hat die ehemalige Troika Lafontaine, Schar- nämlich daß der Bundesminister für Arbeit und ping und Schröder deutlich gemacht, daß sie dieses Sozialordnung der SPD-Bundestagsfraktion vor den Sparpaket, wie sie es genannt haben, ablehnen wer- parlamentarischen Beratungen in Gegenwart von den. Repräsentanten der Koalitionsfraktionen erklärt hat, daß dieses Gesetzgebungsverfahren mit allen vorge- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Hört! schlagenen Inhalten nicht verhandlungsfähig sei? Hört!) Wissen Sie, Herr Repnik, und sind Sie bereit, Ihre Sie waren nicht vermittlungsbereit, Sie waren nicht Meinung zu ändern, wenn Sie das nicht gewußt ha- vermittlungsfähig, und dies muß hier natürlich zum ben, daß in der Unterkommission des Vermittlungs- Ausdruck gebracht werden. ausschusses die Abgeordneten Möllemann und Loh- mann für die Koalitionsfraktionen erklärt haben, die (Beifall bei der CDU/CSU) Inhalte seien nicht verhandlungsfähig, sie würden - Herr Kollege Dreßler, ich füge ein Weiteres hinzu: Zitat - durchgezogen? Blockadepolitik, wie Sie sie betreiben, kann selbst- Wissen Sie, Herr Repnik, daß im Vermittlungsaus- verständlich auch durch eine ganz bewußte Verzöge- schuß die Vertreter der B-Seite, also CDU, CSU und rung von Gesetzesmechanismen herbeigeführt wer- F.D.P., sowie Landesregierungen erklärt haben, daß den. es sich nicht lohne zu verhandeln? Man wolle - Zitat - durchziehen. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Repnik, Sind Sie unter diesen Gesichtspunkten bereit, Ihre gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin eben gemachte Vorwurfliste gegen mich zu revidie- Matthäus-Maier? ren? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Herr Präsident, ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ich würde diesen Gedanken gerne noch zu Ende füh- ren. Denn das möchte ich nicht gerne hier im Raum stehenlassen. Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Nein, Herr Kol- lege Dreßler, dazu bin ich nicht bereit. Richtig ist fol- Sie haben gesagt, wir sollten Fälle nennen. Ich er- gendes: Diese Koalition hat einen Wählerauftrag, innere an das Krankenhaus-Neuordnungsgesetz. Ich und diesen Wählerauftrag werden wir erfüllen. erinnere an die Strukturreform in der GKV. Ich erin- nere an die Verzögerungspolitik im Jahressteuerge- (Lachen bei der SPD) setz 1996, die uns wertvolle Zeit gekostet hat. Deshalb ist es geradezu konsequent, daß wir uns überall dort, wo es der Zustimmung der Opposition (Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist ja unglaub- nicht bedarf - bei Einspruchgesetzen, bei nicht zu- lich! Das ist die Unwahrheit! Das ist ja alles stimmungsbedürftigen Gesetzen -, nicht auf Kom- Quatsch!) promisse, im Zweifel auf faule Kompromisse, einlas- Ich erinnere an das Asylbewerberleistungsgesetz. sen. Das alles sind Gesetze, bei denen Sie ein gängiges (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10691 Hans-Peter Repnik Dennoch haben wir im Vermittlungsverfahren im erzählen, wenn Sie Ihr Kürzungspaket ganz bewußt Vermittlungsausschuß darüber gesprochen, daß wir sorgfältig in zustimmungsfreie Teile, wo Sie die SPD das Thema vertiefen wollen. Es wurden Arbeitsgrup- nicht brauchen, und in einen anderen Teil aufspal- pen gebildet, und Sie haben in dem fraglichen Zeit- ten? raum bis zum heutigen Tage - auch heute sind Sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD) uns Antworten schuldig gebheben - keine Vor- schläge eingebracht, wie wir in dieser Frage mögli- Glauben Sie ernsthaft, daß wir als Opposition bei cherweise doch vermittelnd hätten tätig werden kön- den zustimmungsfreien Teilen, die wir für falsch und nen. beschäftigungsfeindlich halten - nämlich die Kür- zung der Lohnfortzahlung, die Anhebung des Ren- tenalters für Frauen und schließlich die Aufhebung Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Repnik, des Kündigungsschutzes -, gerade nachdem Sie das jetzt möchte gerne der Kollege Dreßler eine weitere Kürzungspaket aufgespalten haben, Mitverantwort- Frage stellen. Dann ist die Kollegin Matthäus-Maier lichkeit dafür übernehmen? Das glauben Sie doch an der Reihe. Inzwischen hat sich auch der Kollege nicht ernsthaft, Herr Kollege. Blüm zu einer Zwischenfrage gemeldet. Also, das nächste Debattenstück spielt sich im Wege von Frage (Beifall bei der SPD) und Antwort ab. Wenn Sie zweitens anmahnen, wir wären nicht Bitte, Herr Kollege Dreßler. kompromißfreundlich, und in dem Zusammenhang das Jahressteuergesetz nennen, darf ich Sie darauf Rudolf Dreßler (SPD): Herr Kollege Repnik, darf hinweisen, was wir Sozialdemokraten von Kompro- ich Ihre Antwort, die Sie mir gerade erteilt haben, so missen halten müssen und dürfen, nachdem wir für verstehen, 1997 gemeinsam die Erhöhung des Kindergeldes auf 220 DM vereinbart haben. Vier Monate nach Inkraft- (Zuruf von der CDU/CSU: Nein!) treten wollen Sie den Teü des Kompromisses schon daß Sie der Auffassung sind, daß eine parlamentari- wieder kippen. Da werfen Sie uns Kompromißunfä- sche Opposition in einer Demokratie ihre verfas- higkeit vor? Sie sind unfähig, Kompromisse einzuge- sungsmäßigen Rechte, weil die CDU zur Zeit die hen und die Menschen davon zu überzeugen. Mehrheit hat, nicht wahrnehmen darf? Und darf ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Sie so verstehen, ten der PDS) (Zuruf von der CDU/CSU: Nein!) daß die von uns eingebrachten Gesetzentwürfe - Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Frau Kollegin nicht Anträge - zur Gesundheitspolitik von Ihnen im- Matthäus-Maier, die Lautstärke macht Ihre Argu- mer noch nicht zur Kenntnis genommen worden mente nicht treffender. sind, weil Sie gerade wieder mangelnde Alternativen reklamiert haben? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zuruf von der SPD: Sonst hören Sie ja nicht mehr zu!) Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Ihrer zweiten Aus- sage stimme ich zu. Wenn wir jetzt beim Gesetz zur Wachstums- und (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Aha, also Beschäftigungsförderung diesen Weg beschritten ha- nicht zur Kenntnis genommen!) ben, dann nicht zuletzt auf Grund der Erfahrungen, die wir in der Zusammenarbeit mit der Opposition Zu Ihrer ersten Aussage kann ich nur sagen: Sie ha- auch im Bundesrat und im Vermittlungsausschuß ben zwei Monate verstreichen lassen und haben ei- machen mußten. Es hegt doch geradezu auf der nen Tag vor Beginn des Vermittlungsverfahrens Hand. Ich sprach vorher von den Verzögerungen. darum gebeten, wir mögen uns einmal mehr Zeit Auch dies ist ein Teil der Blockade. Sie haben offen- nehmen, uns zusammenzusetzen. Aber genau diese sichtlich immer noch nicht begriffen, daß uns die Zeit Zeit, Herr Kollege Dreßler, haben wir auf Grund der davonläuft. Wir müssen handeln und dürfen keine wirtschaftlichen, der finanzpolitischen, der gesund- Zeit verlieren. heitspolitischen Situation - ich habe vorhin darauf hingewiesen - nicht mehr. Deshalb haben wir so ge- (Zustimmung bei der CDU/CSU) handelt, wie wir gehandelt haben. Deshalb haben wir gesagt: Den Teil, den wir ohne (Beifall bei der CDU/CSU) die Zustimmung der Opposition beschließen können, werden wir am 13. September dieses Jahres durch Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Matthäus- die Kanzlermehrheit beschließen. Ich entlasse Sie Maier. nicht aus der Verantwortung und aus der Pflicht. Ihre Politik in diesem Zusammenhang ist eine Blockade- politik. Sie gefährdet nicht nur den Wirtschaftsstand- Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Repnik, Sie ort Deutschland, sondern sie gefährdet auch den So- wollten den Eindruck erwecken, Ihnen sei an Ver- zialstaat durch Überforderung. handlungen und auch an Kompromissen gelegen, und wir würden dies blockieren. Jetzt frage ich Sie: Meinen Sie wirklich, Sie könnten das glaubwürdig Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Blüm. 10692 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996

Dr. Norbert Blüm (CDU/CSU): Herr Kollege Rep- einer Umbruchphase lebt, die von allen Umstel- nik, können Sie dem Kollegen Dreßler beibringen: lungen verlangt. (Zuruf von der CDU/CSU: Nein, dem bringt Wenn Sie das möglicherweise nicht interessiert - keiner etwas bei!) ich kann nur sagen: Mich beeindrucken Daten Wenn kein Sparvorschlag der SPD vorliegt, kann schon. Ich will hier nur drei aus einer solchen Um- man mit der SPD auch nicht über Sparkompromisse frage nennen. 65 Prozent der Bevölkerung sind der verhandeln. Mit Null kann man nicht verhandeln. Meinung: Was jetzt bei uns passiert, ist keine nor- male Wirtschaftskrise, die wieder vorbeigeht. Bei (Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch uns findet jetzt der große Umbruch statt. Viele Indu- bei der SPD) striezweige haben bei uns keine Chance mehr und werden sterben. Wir werden uns alle umstellen müs- Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Verehrter Herr sen. Kollege Blüm, ich habe es vorher versucht zu sagen, Verzicht auf Sonderleistungen, um den Arbeits- aber es ist nicht gelungen. Deshalb sollten wir es da- platz zu sichern: 64 Prozent der Bevölkerung sind bei bewenden lassen und weiter unsere Arbeit tun dieser Meinung. wie bisher. Mehrarbeit ohne zusätzlichen Lohn, um den Ar- Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, beitsplatz zu sichern: 60 Prozent sind dieser Mei- wir stehen doch in unserer wirtschaftlichen Konkur- nung. renzsituation nicht allein. Die Globalisierung der Weltwirtschaft, die Globalisierung der Märkte ver- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposi- langt doch nach Antworten. Wir geben sie, diese Ant- tion, nutzen wir doch gemeinsam diese Bereitschaft, worten. Übrigens nicht nur wir - auch darauf möchte die in der Bevölkerung vorhanden ist, um diese Her- ich den Kollegen Dreßler aufmerksam machen -: ausforderungen anzunehmen. Schweden, Österreich und die Niederlande wurden angeführt. Der Kollege Geißler hat darauf hingewie- (Beifall bei der CDU/CSU) sen: Unser Paket umfaßt 0,4 Prozent des Bruttosozial- Die Zeit drängt. Wir brauchen neue Fundamente für produktes, die wir zurückfahren. In Schweden sind eine Sozialpolitik, die Bedürftige unterstützt und zu- es 1,75 Prozent, in Österreich 1,2 Prozent, in den Nie- gleich von einer dynamischen und wettbewerbsfähi- derlanden 1,25 Prozent - alles von sozialdemokrati- gen Wirtschaft mitgetragen werden kann. schen Ministerpräsidenten oder einem sozialdemo- kratischen Kanzler geführte Regierungen. Wir zerstö- Ich frage mich - ich möchte mich damit an den ren genausowenig wie jene die soziale Marktwirt- Herrn Kollegen Professor Pfaff wenden -: Beunruhigt schaft, wie es Lafontaine behauptet hat, sondern wir es Sie eigentlich nicht, wenn Sie die Investitionen, schützen und sichern sie in schwierigen Zeiten. die Deutsche im Ausland tätigen, zu den Investitio- nen, die von Ausländern in Deutschland getätigt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) werden, in Vergleich setzen? Das Verhältnis war Wir, diese Koalition, handeln verantwortungsbe- über Jahre hinweg 1:2, heute ist es 1:7. Woran liegt wußt und nicht opportunistisch und schon gar nicht das? Es liegt nicht zuletzt an der Kostensituation am populistisch. Apropos Populismus: Noch nicht einmal Standort Deutschland. hier, habe ich das Gefühl, liegen Sie richtig. Im Ge- (Unruhe) gensatz zur Mehrheit bei Ihnen hat der Bürger im Lande weithin begriffen, daß Handlungsnotwendig- keit besteht. Wer sich in der Sommerpause in seinem Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Repnik, Wahlkreis umgesehen hat, der weiß doch, wie der darf ich Sie einen Moment unterbrechen. Bürger denkt. Ich spreche nicht von Funktionären, Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der sondern ich spreche von Arbeitnehmerinnen und von Kollege Repnik hat jetzt noch gute zwei Minuten Re- Arbeitnehmern, ich spreche von Arbeitslosen, und dezeit. Dann haben wir eine Kurzintervention, dann ich spreche von Vertrauensleuten in Gewerkschaften kommen noch eine Dreiminutenrede und eine Neun- und in Betrieben, bei denen die Beschäftigungssitua- minutenrede, und dann kommen wir zur Abstim- tion schwierig ist. mung. Ich bitte Sie doch, den Rednern jetzt Gehör zu Wer dies immer noch nicht glaubt, der möge sich schenken und, wenn Sie Gesprächsbedürfnis haben, einmal mit demoskopischen Daten vertraut machen. dies außerhalb des Saales zu befriedigen. (Unruhe) Bitte, Herr Kollege, fahren Sie fort. - Ich würde Sie bitten, mir zuzuhören. Es ist schon interessant, was Frau Dr. Renate Köcher vom Institut Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Meine sehr ver- für Demoskopie in Allensbach geschrieben hat. Sie ehrten Damen und Herren, dieses Programm beginnt stellt fest: doch zu greifen - vorsichtig, zugegeben, aber wir haben doch erste Zeichen. Wir haben ganz offen- Zwei Drittel der gesamten Bevölkerung gehen sichtlich das Vertrauen in die Reformfähigkeit dieser davon aus, daß die aktuellen Probleme nicht Er- Gesellschaft, in die Reformfähigkeit der Politik wie- gebnisse einer bloßen Konjunkturschwäche sind, der gestärkt. Das Vertrauen kehrt zurück, und das sondern eine grundlegende Wende markieren. Vertrauen in den Standort Deutschland wächst. Die Bevölkerung hat erkannt, daß Deutschland in Diese Entwicklung müssen wir unterstützen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10693 Hans-Peter Repnik Lassen Sie mich deshalb ein letztes Augenmerk dern auch der Bürger und nicht zuletzt die Arbeitslo- auf ein anderes Thema werfen. Nicht nur das Wachs- sen in Deutschland. tums- und Beschäftigungsförderungsgesetz, sondern auch das Jahressteuergesetz 1997, das vor uns liegt, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ist ungeheuer wichtig. Mein Appell an Sie, Frau Kol- ordneten der F.D.P.) legin Matthäus-Maier, an alle: Machen Sie doch mit! Lafontaine hat in diesen Tagen gesagt, die Investi- Vizepräsident Hans Klein: Zu einer Kurzinterven- tionsfähigkeit der Betriebe müsse gestärkt werden. tion erteile ich das Wort dem Kollegen Karl Hermann Was wollen wir? Wir wollen die Erbschaft- und Ver- Haack. mögensteuer vereinfachen; die betriebliche Vermö- gensteuer soll dabei ganz entfallen. Sie beeinträch- Karl Hermann Haack (Extertal) (SPD): Herr Präsi- tigt wie die Gewerbekapitalsteuer, wie wir alle wis- dent! Meine Damen und Herren! Ich habe mich ge- sen, die Ansammlung von Eigenkapital. Sie belastet meldet, weil der Kollege Repnik die Kompromißfä- in ertragsschwachen Jahren oder Verlustphasen die higkeit der SPD-Bundestagsfraktion bei der Behand- Unternehmenssubstanz. lung der Sparpakete angemahnt hat. Ich will dazu zwei Bemerkungen machen. (Detlev von Larcher [SPD]: Das ist heute nicht Thema!) Erstens will ich etwas zu den Kürzungspaketen sa- gen. Herr Kollege Repnik, Sie haben hier die halbe Sie ist technik- und innovationsfeindlich; sie gefähr- Wahrheit erzählt. Richtig ist: Schweden und auch an- det die Arbeitsplätze. Auch deshalb ist es wichtig, dere Länder, zum Beispiel Österreich, haben weitrei- daß wir die nächsten Monate nutzen, dieses Gesetz chende Einschnitte in ihr soziales Netz sowie in ihr voranzubringen. Unser Steuersystem muß den verän- Finanz- und Steuergefüge vorgenommen. Das verlief derten internationalen Verhältnissen angepaßt wer- im Unterschied zum Vorgehen der Koalition, der den. Sie angehören, anders: In Schweden sind Konsens- Mein letzter Appell geht an die Bundesländer. Das gespräche vorausgegangen. Die gesellschaftlichen Jahressteuergesetz 1997 muß zügig verabschiedet Gruppen waren daran beteiligt, so daß die Kürzungs- werden. pakete sowohl in Österreich als auch in Schweden im Konsens beschlossen wurden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin- Ich denke, diese Feststellung gehört dazu; sonst ist gen] [F.D.P.]) das, was Sie hier erzählt haben, eine Lüge. Ich be- nutze das Wort „Lüge" deshalb, weil der entschei- Ohne Einigung beim Jahressteuergesetz 1997 laufen dende Punkt in der gesamten sozial- und finanzpoli- die Länder Gefahr, erhebliche Einnahmeverluste hin- tischen Debatte der ist, daß wir in unserer Gesell- nehmen zu müssen. Die Konsolidierung ihrer Haus- schaft bei dieser Operation unter dem Stichwort halte wird nicht ohne eine Verabschiedung dieses „Globalisierung" auf den gesellschaftlichen Konsens Gesetzes möglich sein. , Bremen, Hamburg, angewiesen sind. Wir streiten nicht über das Ob, son- Niedersachsen - die Haushalte all dieser Länder he- dern über das Wie. gen bereits jenseits der Verfassungsmäßigkeit. Zweitens möchte ich Lahnstein ansprechen. Ich Ich erinnere an die Situation in den neuen Bundes- war dabei, als es um das Gesundheitsstrukturgesetz ländern. Wenn wir dieses Gesetz nicht verabschie- ging. Ich habe die Rede des Bundesgesundheitsmini- den, werden wir dort zum 1. Januar 1997 die Gewer- sters zu diesem Punkt noch einmal nachgelesen. Er bekapitalsteuer einführen müssen - in einer schwie- hat das Ergebnis von Lahnstein gelobt, ebenso rigen wirtschaftlichen Situation. Auch dies wäre ein Dr. Thomae als damaliger Vorsitzender der zuständi- Rückschlag und würde sich auf den Arbeitsmarkt ne- gen Arbeitsgruppe des Gesundheitsausschusses. gativ auswirken. Sie haben diesen Kompromiß aufgekündigt, und Das konstruktive Mitwirken beim Jahressteuerge- zwar schlicht und einfach deshalb, weil Sie ge- setz 1997, die Bereitschaft, beim Haushalt 1997 ge- merkt haben, daß Sie als F.D.P. mit Ihrer Klientel meinsam mit , mit dieser Regierung zu nicht zurechtgekommen sind. Mindestens bis zu sparen, um Spielräume für Investitionen zu eröffnen, den Wahlen im März dieses Jahres haben Sie die um die Senkung von Steuern und Abgaben und da- Bevölkerung der Bundesrepublik in dieser Frage mit eine Rückführung der Staatsquote zu ermögli- getäuscht. chen, sind für uns der Lackmustest, um festzustellen, ob es der Opposition ernst ist, den Standort Deutsch- Der Bundesgesundheitsminister hat den mit der land für die Zukunft, für künftige Aufgaben zu rü- SPD gefundenen Kompromiß von Lahnstein, das Ge- sten, ob es der Opposition ernst ist, die Arbeitslosig- sundheitsstrukturgesetz, nicht umgesetzt. Er hat die keit abzubauen. Öffentlichkeit bewußt getäuscht, um einen Hebel zu finden, zu den alten verheerenden Zuständen zu- rückkehren, also Kürzungen, Zuzahlungen und Bela- Vizepräsident Hans Klein: Die Redezeit! stungen der Bevölkerung durchsetzen zu können. Das halte ich für den eigentlichen Skandal in die- Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Wir werden die ser Geschichte - ich selbst war in Lahnstein dabei -: Opposition daran messen; aber nicht nur wir, son- Sie von der Koalition haben seinerzeit gesagt, hier 10694 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 Karl Hermann Haack (Extertal) liege ein Fortschritt in der politischen Kultur vor, man Zukunft, ein Kotau vor den Unternehmerinteressen habe sich verständigt. Dann aber haben Sie den ohne jede Garantie auf Erfolg. Kompromiß aufgekündigt. Unter dem Vorwand globaler Sachzwänge ver- Und dann besitzen Sie noch die Unverschämtheit, schlechtern Sie Arbeitsschutz- und Mitbestimmungs- sich hier hinzustellen und zu fordern - ich will Ihnen rechte und deregulieren, was das Zeug hält. Dabei das am Beispiel der Rehabilitation schildern, denn kommt es zu einer zutiefst arbeitnehmerfeindlichen, bei den Kuren kürzen Sie 3,3 Milliarden DM -, daß aber vor allen Dingen zu einer zutiefst frauenfeindli- wir einem Arbeitsplatzabbau in 269 Kur- und Heilbä- chen Politik. Sie kündigen die Grundlagen des sozia- dern in der Bundesrepublik die Hand reichen sollen. len Kompromisses auf und verstoßen massiv gegen - Das tun wir nicht, weil wir diese Politik für falsch die Prinzipien des sozialen Rechtsstaates. Von dieser halten. Insofern ist das, was Sie hier einfordern, ein Politik fühlen sich viele zu Recht provoziert. Ich Stück an politischer Verderbtheit und Verlogenheit. hoffe, die Betroffenen werden Ihnen am 7. September (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- genauso eindrucksvoll wie am 15. Juni ihren Protest ten der PDS) und ihre Wut entgegenbringen. (Beifall bei der PDS) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Haack, ich Denn inzwischen - bei aller Begriffsverballhornung, weiß nicht, ob diese Wortwahl noch parlamentarisch die Sie an den Tag legen - ist für jeden erkennbar ge- erträglich ist. Jedenfalls halte ich es für überflüssig, worden, daß bei Ihnen Reformen nichts anderes be- am Schluß einer so wichtigen Debatte diese Art von deuten als Leistungskürzung und Demokratieabbau, Schärfe in die Diskussion zu bringen. Eigenverantwortung nichts anderes bedeutet als Pri- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) vatisierung sozialer Risiken. Sie wollen die Unter- nehmer aus ihren sozialen Pflichten entlassen, in der Als nächstes hat zur Replik das Wort der Kollege vagen Hoffnung, daß sie dafür Arbeitsplätze schaffen. Repnik, wenn er es wünscht. - Das ist nicht der Fall. Aber warum sollen die Unternehmer das eigentlich Im übrigen habe ich die herzliche Bitte: Lassen Sie tun? Sie haben das schon in den letzten Jahren trotz uns die letzten zwei Redner noch einigermaßen diszi- Steuersenkung und dicker Subventionen nicht getan. pliniert anhören! Danach kommen wir zur Abstim- mung. Vizepräsident Hans Klein: Die Redezeit ist abge- Ich erteile der Kollegin Dr. Knake-Werner das Wort. laufen, Frau Kollegin.

Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Herr Präsident! Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Oh, das ist ja sehr Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Minister bedauerlich. Blüm hat heute morgen festgestellt, Worte seien ge- (Heiterkeit) nug gewechselt, jetzt brauche man Mut zur Entschei- Es gibt noch viel, was man zu diesem Gruselkatalog dung. - Nein, Herr Minister, ich glaube, es ist nicht hätte sagen können. Das muß ich Ihnen jetzt leider Mut, was von Ihnen aufgebracht wird, sondern eine ersparen. gehörige Portion Unverfrorenheit, wenn Sie dieses Paket so durchziegeln wollen, wie Sie es vorhaben. Die PDS wird Ihre Gesetze weiterhin ablehnen und ihre ganze Kraft dafür einsetzen, daß Sie mit Ihrer (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne- Politik nicht durchkommen. ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der PDS) GRÜNEN) Weder die weiter dramatisch anwachsende Zahl Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- der Arbeitslosen noch die Ergebnisse des Ifo-Gutach- lege Dr. Peter Ramsauer. tens zum Stellenwert der Lohnkosten oder die neue- sten Berechnungen des DIW zur Verteilungsfrage Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Herr Präsident! und schon gar nicht der anwachsende Protest außer- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, am halb dieses Hauses haben Bundesregierung und Ende dieser Debatte ist, abgesehen von irgendwel- Koalition in ihrem Vorhaben erschüttert, jetzt den chen Unverbesserlichen, allen klar geworden, daß Sozialstaat zum Abriß freizugeben. Sie sind lernunfä- der Sozialstaat so, wie wir ihn bisher in Deutschland hig, dogmatisch, und Ihre Politik erschöpft sich im praktiziert haben, realistischerweise nicht weiter fi- Herbeten von Glaubenssätzen. nanzierbar ist. (Beifall bei der PDS) (Zuruf von der SPD: Jetzt kommt es raus!) Man kann es gar nicht oft genug sagen: Mit den Deswegen woben wir mit diesem Reformprogramm sogenannten Sparpaketen wird es nicht nur gravie- alles daransetzen, damit die Belastungen auf allen rende Abstriche bei den Sozial- und Gesundheits- Seiten wieder in Einklang mit dem gebracht werden, standards geben, sondern es wird auch der System- was auf der anderen Seite ausgegeben wird. bruch, der Weg in eine andere Republik vorbereitet. Wie sonst ist es zu erklären, daß Sie sich bei dem an- Ich fasse die Ziele noch einmal zusammen: Rück- geblich so drückenden Sparzwang im arbeitsrechtli- führung der Belastung durch Abgaben sowohl für chen Teü der Gesetze auf Bereiche konzentrieren, Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber, Abbau von die dem Bundeshaushalt keine müde Mark einbrin- Einstellungshemmnissen und Bekämpfung von Miß- gen? Ich nenne sie: die Kürzung der Lohnfortzah- brauch. lung, die Aufweichung des Kündigungsschutzes Jetzt ein Wort an Sie, meine lieben Kolleginnen und oder die Einschränkung der Rechte des Betriebsrats Kollegen von der SPD. Auch die heutige Debatte hat beim Interessenausgleich. Das ist ein Wechsel in die gezeigt: Eines Ihrer großen Probleme besteht darin - Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10695

Dr. Peter Ramsauer sehen Sie sich die Meinungsumfragen an -, daß die steme sind anpassungsfähig, ohne daß wir die Menschen Ihnen nicht mehr zutrauen, mit den Proble- Grundprinzipien aufgeben müßten. Eines dieser men der Zukunft in diesem Land fertigzuwerden. Grundprinzipien ist die Solidarität, nicht aber nur die Solidarität mit den Leistungsbeziehern, sondern (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU auch die Solidarität mit den Leistungserbringern. und des Abg. Uwe Lühr [F.D.P.]) In großen Scharen laufen Ihnen die Arbeitnehmer Im Ifo-Gutachten vom Frühjahr dieses Jahres ist davon, den Gewerkschaften natürlich auch. Die ausgeführt, daß die durchschnittliche Abgabenbe- Arbeitnehmer trauen Ihnen nicht mehr zu, zukunfts- lastung bei Arbeitseinkommen mittlerweile bei fähige Lösungen für unser Land zu finden. 48 Prozent liegt. Ich halte dies auf Dauer für vollkom- men unzumutbar. Deswegen müssen wir diese Quote (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zurückschrauben. Die Solidarität mit den Leistungs- Sie fühlen sich von der SPD und auch von den erbringern ist auch eine Frage der sozialen Symme- Gewerkschaften immer weniger vertreten. trie. Wir dürfen nicht nur auf die Leistungsbezieher schauen, sondern müssen auch diejenigen berück- Ein Beitrag, den Sie selbst liefern, ist das ständige sichtigen, die den Kuchen, der verteilt wird, erwirt- Hü und Hott in Ihrer eigenen Partei. Meine lieben schaften. Kolleginnen und Kollegen von der SPD, das, was sich in Hamburg in den letzten Tagen an Streit im Hin- Meine Damen und Herren von der SPD, offensicht- blick auf die Praxis bei der Sozialhilfe abgespielt lich würden Sie sich freuen, wenn wir die Hände in hat, ist für die ganze SPD symptomatisch: Der eine den Schoß legten und nichts tun würden. Was würde sagt dies, der andere das. Ausgerechnet Sie wollen dann passieren? Wir wissen genau, daß dann der Ge- dieser Koalition sagen, welches der richtige Weg in samtsozialversicherungsbeitrag im nächsten Jahr der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik ist! deutlich über 42 Prozent ansteigen würde. Deswe- Wo denken Sie hin? Sie leiden ja an totaler politi- gen müssen wir dieses Reformpaket ohne jegliche scher Selbstüberschätzung; Sie sollten die Dinge Abstriche umsetzen. Es ist ohnehin ein knapp ge- jetzt wieder ins Lot bringen. schneiderter, vorweggenommener Kompromiß, der keinerlei Abstriche mehr duldet. Das Ifo-Institut hat (Widerspruch bei der SPD) errechnet, daß mit jedem Prozentpunkt, den wir beim Liebe Kolleginnen und Kollegen, maßgebend für Gesamtsozialversicherungsbeitrag wegschmelzen, sozialpolitisches Handeln kann heute nicht mehr etwa 100 000 Arbeitsplätze neu geschaffen werden. allein sein, was aus isolierter, inländischer Sicht wün- schenswert wäre. In dieser Debatte ist viel von den Jetzt noch einmal ein Blick darauf, um was es über- globalen Auseinandersetzungen die Rede gewesen, haupt in den Globalrechnungen, die auch heute an- denen wir ausgesetzt sind. Im weltweiten Wettbe- gestellt worden sind, geht. Wir erzielen mit diesem werb müssen sich alle bewähren, die am wirtschafts- Reformpaket ein Reduktionsvolumen von 21 bis und arbeitsmarktpolitischen Geschehen in diesem 22 Milliarden DM. Im heurigen Jahr betragen Land Anteil nehmen. Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Ausgaben der Pflegeversicherung insgesamt können sich heute nicht mehr klassenkämpferisch 31 Milliarden DM. Der Familienleistungsausgleich bekriegen; der Klassenkampf ist passe. Sie alle sind erfordert durch die Neuregelung noch einmal 7 Mil- Mitglieder einer Schicksalsgemeinschaft, einer Risi- liarden DM. Das sind 38 Milliarden DM, die das So- kogemeinschaft, die sich im weltweiten Wettbewerb zialsystem allein durch Pflegeleistungen und Fami- bewähren muß. lienleistungsausgleich heuer mehr ausschüttet. Wir kürzen im nächsten Jahr um 21 bis 22 Milliarden DM (Beifall bei der CDU/CSU) durch dieses Reformpaket. Es bleibt ein positiver Saldo von 16 bis 18 Milliarden DM. Da reden Sie von Es ist keineswegs so, daß sich in diesem globalen sozialem Kahlschlag, meine Damen und Herren von Wettbewerb nur große Industrieunternehmen wie der Opposition! Daimler oder Siemens bewähren müßten. Nein, es sind inzwischen unzählige Zehntausende kleiner Weiterhin wird jede dritte Mark in Deutschland für und mittlerer Unternehmen. Schauen Sie einmal in soziale Zwecke ausgegeben. Da reden Sie, Herr Ihre eigenen Wahlkreise! Viele kleine und mittelstän- Dreßler, von „Kapitalismus pur". Das kann doch dische Unternehmen sind bereits von diesem globa- nicht sein! Noch nie wurde in Deutschland so viel len Wettbewerb betroffen - als Zulieferer oder als sol- für soziale Zwecke ausgegeben, wie dies heute der che, die sich in die Märkte begeben. Von der SPD Fall ist. Wir werden im nächsten Jahr etwa 1 200 Mil- muß man manchmal glauben, daß sie sich in ihren liarden DM soziale Transferzahlungen leisten. Jede eigenen Wahlkreisen nicht mehr auskennt. dritte Mark wird dafür ausgegeben. Meine Damen und Herren, es geht heute also nicht Aber, meine Damen und Herren, es geht nicht nur mehr um Klassenkampf. Es stellt sich vielmehr die ums Geld. Viel Geld ist nicht gleichzusetzen mit viel Frage, welche und wieviel Arbeit wir in Deutschland Sozialstaat. Es ist der Schluß gerechtfertigt, daß es in fünf oder zehn Jahren haben werden. Die Arbeit am Geld allein nicht liegt. Sozialstaat bedeutet mehr wird weltweit neu verteilt. Mit dieser Frage müssen als finanzielle Aufwendungen. Er bedeutet auch wir uns heute weichenstellend auseinandersetzen. menschliche Hinwendung zu denen, die sozialer Wenn wir dies nicht tun, kommen wir unserer Auf- Hilfe bedürfen. Gerade in dieser Situation müssen gabe nicht nach. wir die Chance zu einer Neuabgrenzung zwischen (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Eigenverantwortung einerseits und dem, was die So- Uwe Lühr [F.D.P.]) lidargemeinschaft andererseits für die von irgend- welchem Leid Betroffenen zu tragen hat, nutzen. Zu den notwendigen Veränderungen in unserem Sozialsystem gibt es keine Alternative. Die Sozialsy- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 10696 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 Dr. Peter Ramsauer Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben 5. Beschlußempfehlung des Ausschusses nach ja gestern in Bad Godesberg eine große Wirtschafts- Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungs- tagung abgehalten. Eine der Forderungen, die Sie an ausschuß) zu dem Gesetz zur Begrenzung der sich selbst gestellt haben, war, für die SPD mehr wirt- Bezügefortzahlung bei Krankheit schaftspolitisches Profil zu gewinnen. Mit der Hal- tung, die Sie in der heutigen Debatte wieder an den - Drucksachen 13/4613, 13/5074, 13/5327, Tag gelegt haben, werden Sie diesem selbstgestell- 13/5448 - ten Anspruch überhaupt nicht gerecht. Sie hätten Berichterstattung: aber reichlich Gelegenheit, diesem Anspruch etwas Abgeordneter Dr. Peter Struck mehr gerecht zu werden und etwas mehr Profil in der 6. Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik zu zeigen, in- Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungs- dem Sie unseren Weg auf der Basis des Reformpake- ausschuß) zu dem Gesetz zur Entlastung der tes mitgehen. Beiträge in der gesetzlichen Krankenversiche- rung (Beitragsentlastungsgesetz - BeitrEntlG) Sie haben statt dessen mit den anderen in der Op- position die Verweigerung zum politischen Prinzip - Drucksachen 13/4615, 13/5099, 13/5327, im Vermittlungsausschuß erhoben. Verweigerung ist 13/5449 - ein vollkommen untaugliches politisches Prinzip. Berichterstattung: Deswegen lehnen wir heute die Empfehlungen des Abgeordneter Dr. Peter Struck Vermittlungsausschusses ab. Wir kommen zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU die den fünf Beschlußempfehlungen zuzustimmen und der F.D.P.) wünschen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dage- gen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschluß- empfehlungen sind bei einer Enthaltung abgelehnt. Vizepräsident Hans Klein: Meine Kolleginnen und Kollegen, wir stimmen jetzt über die Beschluß- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 bis 9 auf: empfehlungen des Vermittlungsausschusses ab. Der Vermittlungsausschuß empfiehlt, jeweils unter Auf- 7. Beschlußempfehlung des Ausschusses nach hebung der Gesetzesbeschlüsse die Gesetzentwürfe Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungs- der Koalitionsfraktionen abzulehnen. ausschuß) zu dem Gesetz zur Neuordnung der Krankenhausfinanzierung 1997 - Kranken- Es ist vorgesehen, die Beschlußempfehlungen des haus-Neuordnungsgesetz 1997 (KHNG 1997) Vermittlungsausschusses in zwei Blöcken jeweils zu- - Drucksachen 13/3062, 13/3939, 13/4693, sammen abzustimmen. Sind Sie damit einverstan- 13/4937, 13/5442 - den? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so. Berichterstattung: Ich rufe die Tagesordnungspunkte 2 bis 6 auf: Abgeordneter Dr. 8. Beschlußempfehlung des Ausschusses nach 2. Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungs- Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungs- ausschuß) zu dem Gesetz zur Weiterentwick- ausschuß) zu dem Gesetz zur Umsetzung des lung der Strukturreform in der gesetzlichen Programms für mehr Wachstum und Beschäfti- gung in den Bereichen der Rentenversiche- Krankenversicherung (GKV-Weiterentwick- rung und Arbeitsförderung (Wachstums- und lungsgesetz - GKVWG -) Beschäftigungsförderungsgesetz - WFG) - Drucksachen 13/3608, 13/4691, 13/4937, 13/5443 - - Drucksachen 13/4610, 13/4987, 13/5088, Berichterstattung: 13/5108, 13/5147, 13/5327, 13/5445 - Abgeordneter Dr. Heribert Blens Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Peter Struck 9. Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungs- 3. Beschlußempfehlung des Ausschusses nach ausschuß) zu dem Achten Gesetz zur Ände- Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungs- rung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch ausschuß) zu dem Gesetz zur Ergänzung des (Achtes SGB V-Änderungsgesetz - 8. SGB Wachstums- und Beschäftigungsförderungs- V-ÄndG) gesetzes (Wachstums- und Beschäftigungsför- - Drucksachen 13/3695, 13/4692, 13/4937, derungs-Ergänzungsgesetz - WFEG) 13/5444 - - Drucksachen 13/4611, 13/5089, 13/5108, Berichterstattung: 13/5327, 13/5446 - Abgeordneter Dr. Heribert Blens Berichterstattung: Wir kommen zur Abstimmung. Ich bitte diejeni- Abgeordneter Dr. Peter Struck gen, die den drei Beschlußempfehlungen zuzustim- 4. Beschlußempfehlung des Ausschusses nach men wünschen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungs- dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die drei ausschuß) zu dem Arbeitsrechtlichen Gesetz Beschlußempfehlungen sind abgelehnt. zur Förderung von Wachstum und Beschäfti- Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. gung (Arbeitsrechtliches Beschäftigungsför- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen derungsgesetz) Bundestages auf Dienstag, 10. September 1996, - Drucksachen 13/4612, 13/5107, 13/5327, 13/ 11 Uhr ein. 5447 - Berichterstattung: Die Sitzung ist geschlossen. Abgeordneter Dr. Peter Struck (Schluß der Sitzung: 15.57 Uhr) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10697*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt, bis Abgeordnete (r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Schuhmann, Richard SPD 29. 8. 96 entschuldigt bis Abgeordnete (r) einschließlich Schwanhold, Ernst SPD 29. 8. 96 Seidenthal, Bodo SPD 29. 8. 96 Andres, Gerd SPD 29. 8. 96 * Teuchner, Jella SPD 29. 8. 96 Bindig, Rudolf SPD 29. 8. 96 Thieser, Dietmar SPD 29. 8. 96 Blank, Renate CDU/CSU 29. 8. 96 Wieczorek (Duisburg), SPD 29. 8. 96 Blunck, Lilo SPD 29. 8. 96 Helmut Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 29. 8. 96 * Wolf (München), Hanna SPD 29. 8. 96 Dr. Dobberthien, Marliese SPD 29. 8. 96 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Faße, Annette SPD 29. 8. 96 sammlung des Europarates Dr. Friedrich, Gerhard CDU/CSU 29. 8. 96 Gilges, Konrad SPD 29. 8. 96 Glos, Michael CDU/CSU 29. 8. 96 Gloser, Günter SPD 29. 8. 96 Anlage 2 Dr. Glotz, Peter SPD 29. 8. 96 Erklärung Gysi, Andrea PDS 29. 8. 96 des Abgeordneten (CDU/CSU) Dr. Hendricks, Barbara SPD 29. 8. 96 zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf Hermenau, Antje BÜNDNIS 29. 8. 96 eines Gesetzes zur Entlastung der Beiträge 90/DIE in der gesetzlichen Krankenversicherung GRÜNEN (Beitragsentlastungsgesetz) in der 117. Sitzung (Seite 10624 B) am 28. Juni 1996 Hornung, Siegfried CSUCSU 29. 8. 96 * Junghanns, Ulrich CDU/CSU 29. 8. 96 * Bei der namentlichen Abstimmung habe ich verse- hentlich mit Nein gestimmt. Ich erkläre, daß ich dem Dr. Kiper, Manuel BÜNDNIS 29. 8. 96 Beitragsentlastungsgesetz zustimme. 90/DIE GRÜNEN Kunick, Konrad SPD 29. 8. 96 Dr. Graf Lambsdorff, Otto F.D.P. 29. 8. 96 Anlage 3 Lehn, Waltraud SPD 29. 8. 96 Leidinger, Robert SPD 29. 8. 96 Amtliche Mitteilungen Lennartz, Klaus SPD 29. 8. 96 Löwisch, Sigrun CDU/CSU 29. 8. 96 Der Bundesrat hat in seiner 699. Sitzung am 5. Juli Mattischeck, Heide SPD 29. 8. 96 1996 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zu- Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 29. 8. 96 zustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 29. 8. 96 Abs. 2 GG nicht zu stellen: 90/DIE - Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Perso- GRÜNEN nalausweise und des Paßgesetzes Neumann (Gotha), SPD 29. 8. 96 - Zweites Gesetz zur Änderung des Hochschulbau- Gerhard förderungsgesetzes Rehbock-Zureich, Karin SPD 29. 8. 96 - Gesetz zur Änderung des Rechts der beschränk- Reichard (Dresden), CDU/CSU 29. 8. 96 ten persönlichen Dienstbarkeiten Christa Riegert, Klaus CDU/CSU 29. 8. 96 - Gesetz zu der Konstitution und der Konvention der Internationalen Fernmeldeunion vom Dr. Riesenhuber, Heinz CDU/CSU 29. 8. 96 22. Dezember 1992 sowie zu den Änderungen Dr. Scheer, Hermann SPD 29. 8. 96 * der Konstitution und der Konvention der Interna- Schlauch, Rezzo BÜNDNIS 29. 8. 96 tionalen Fernmeldeunion vom 14. Oktober 1994 90/DIE - Gesetz zu den Protokollen vom 6. Oktober 1989 GRÜNEN und vom 26. Oktober 1990 zur Änderung des Ab- Schmidt (Meschede), SPD 29. 8. 96 kommens vom 7. Dezember 1944 über die Inter- Dagmar nationale Zivilluftfahrt 10698* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996

- Gesetz zu dem Europa-Abkommen vom 12. Juni Sozialversicherungsfreiheit heute in der überwiegenden 1995 zur Gründung einer Assoziation zwischen Mehrzahl der Fälle wie eine Subvention ungeschützter den Europäischen Gemeinschaften und ihren Arbeitsverhältnisse, die letztlich von der Allgemeinheit der beitragszahlenden Arbeitnehmerinnen und Arbeit- Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Est- nehmer sowie der Betriebe finanziert werden muß. land andererseits Diese Entwicklung darf durch veränderte Ladenöff- - Gesetz zu dem Europa-Abkommen vom 12. Juni nungszeiten nicht verstärkt werden. Der Bundesrat for- 1995 zur Gründung einer Assoziation zwischen dert deshalb die Bundesregierung auf, ihr bisheriges ta- tenloses Abwarten gegenüber dem andauernden Zu- den Europäischen Gemeinschaften und ihren wachs der ungeschützten Beschäftigung aufzugeben Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Lett- und durch eine grundlegende Reform die sozialversiche- land andererseits rungsfreie Beschäftigung auf wenige Ausnahmen zu be- grenzen. Ziel einer solchen Reform muß es sein, auch - Gesetz zu dem Europa-Abkommen vom 12. Juni Teilzeitarbeitskräfte grundsätzlich in die Kranken-, Ar- 1995 zur Gründung einer Assoziation zwischen beitslosen-, Renten- und Pflegeversicherung aufzuneh- men. Versicherungsfrei bleiben sollten nur Beschäfti- den Europäischen Gemeinschaften und ihren gungsverhältnisse im Bagatellbereich sowie gelegentli- Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Li- che Beschäftigung. tauen andererseits Entschließung des Bundesrates zum Achtzehntes Gesetz - Telekommunikationsgesetz (TKG) zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgeset- zes: - Gesetz zur Reform des Sozialhilferechts 1. Der Bundesrat begrüßt, daß in dem vorliegenden - Gesetz zur Änderung des Baugesetzbuchs Achtzehnten BAföG-Änderungsgesetz die von der Bundesregierung ursprünglich beabsichtigte Um- - Dienstrechtliches Begleitgesetz im Zusammen- stellung der Darlehen auf verzinsliche Bankdarlehen hang mit dem Beschluß des Deutschen Bundesta- innerhalb der Regelstudienzeit nicht mehr enthalten ges vom 20. Juni 1991 zur Vollendung der Einheit ist. Deutschlands (Dienstrechtliches Begleitgesetz - 2. Der Bundesrat begrüßt, daß der Rechtsanspruch auf DBeglG) Studienabschlußförderung über den 1. Oktober 1996 hinaus gesichert und entgegen den ursprünglichen - Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den La- Vorstellungen der Bundesregierung in ihrer zeitli- denschluß und zur Neuregelung der Arbeitszeit chen Grundstruktur erhalten werden konnte. in Bäckereien und Konditoreien 3. Nachdrücklich unterstützt der Bundesrat die im Deutschen Bundestag noch erreichte Angleichung - Achtzehntes Gesetz zur Änderung des Bundes- der Berechnungszeiträume für die neuen Länder. Er ausbildungsförderungsgesetzes (18. BAföGÄndG) hält jedoch die damit verknüpfte Absenkung der von den Regierungschefs von Bund und Ländern verein- - Gesetz zur Förderung eines gleitenden Über- barten Anhebung der Freibeträge für alle Geförder- gangs in den Ruhestand ten sachlich für nicht geboten. - Gesetz zur Einordnung des Rechts der gesetzli- 4. Der Bundesrat bedauert, daß angesichts der Umstel- lung auf verzinsliche Bankdarlehen bei Überschrei- chen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch tung der Regelstudienzeit die folgenden Regelungen (Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz - UVEG) in den Verhandlungen mit dem Bund nicht erreicht werden konnten: - Gesetz zur Umsetzung der EG-Rahmenrichtlinie Arbeitsschutz und weiterer Arbeitsschutz-Richtli- - die Herausnahme der Gremientätigkeit nach § 15 nien Abs. 3 Nr. 3 von der Umstellung auf Bankdarlehen; - die Beibehaltung des Förderanspruchs für Zusatz-, Zu den fünf letztgenannten Gesetzen hat der Bun- Ergänzungs- und Aufbaustudien; desrat die folgenden Entschließungen gefaßt: - die Beibehaltung der bisherigen Regelungen bei Entschließung des Bundesrates zum Gesetz zur Ände- der Vornahme eines Fachrichtungswechsels; rung des Gesetzes über den Ladenschluß und zur Neure- gelung der Arbeitszeit in Bäckereien und Konditoreien - die Berücksichtigung von Auslandsstudien bei der Der Gesetzesbeschluß geht davon aus, daß die Neurege- Bemessung der Förderungshöchstdauer; lung der Ladenschlußzeiten ca. 50 000 neue Arbeitsplät- - die Gewährung einer dreijährigen Karenzzeit vor ze im Einzelhandel, davon 75 Prozent Teilzeitarbeitsplät- dem Beginn der Rückzahlung der verzinslichen ze, schaffen wird. Bereits heute arbeiten im Einzelhandel Bankdarlehen; rund 500 000 Beschäftigte in nicht sozialversicherungs- pflichtigen Beschäftigungsverhältnissen; diese Zahl hat - die Gewährleistung sachgerechter Übergangsre- sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. Die gelungen für Auszubildende, die ihr Studium im überwiegende Mehrzahl dieser Beschäftigten sind Frau- Vertrauen auf die bislang geltenden Regelungen en. durchgeführt haben. Der Bundesrat befürchtet, daß sich durch die veränderten Ladenöffnungszeiten dieser Trend zu mehr ungeschütz- 5. Der Bundesrat weist unter Bezugnahme auf seine ten Beschäftigungsverhältnissen noch deutlich verschär- Stellungnahme vom 1. März 1996 - BR-Drucksache fen wird. Angesichts des nach wie vor bestehenden Ko- 886/95 (Beschluß) - darauf hin, daß die nunmehr in stendrucks im Einzelhandel legen es die veränderten Ar- dem Achtzehnten Gesetz zur Änderung des Bundes- beitszeiten nahe, bisher sozialversicherungspflichtige ausbildungsförderungsgesetzes enthaltenen Ein- Beschäftigung in sozialversicherungsfreie Beschäftigun- schränkungen bei der Förderung von Zusatz-, Er- gen umzuwandeln. gänzungs- und Aufbaustudien sowie nach Fachrich- tungswechsel sachlich unbegründet sind. Sie sind Bereits heute wird die ursprünglich als Ausnahme vorge- auch unter haushaltspolitischen Gesichtspunkten sehene geringfügige Beschäftigung in erheblichem Um- nicht erforderlich, da die Förderung nach der erfolg- fang mißbräuchlich genutzt und ist weit über das Aus- ten Umstellung auf verzinsliche Bankdarlehen keine maß hinaus gewachsen, das sich aus betrieblichen Flexi- nennenswerte Veranschlagung von Haushaltsmit- bilitätserfordernissen ergeben kann. Faktisch wirkt die teln notwendig macht. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996 10699*

6. Der Bundesrat sieht in der Einbeziehung der Gre- der anspruchsberechtigte Personenkreis erweitert und mientätigkeit nach § 15 Abs. 3 Nr. 3 in die Umstel- zusätzliche Formen von Teilzeitarbeit im Rahmen der Al- lung auf verzinsliche Bankdarlehen die Gefahr, daß tersteilzeit förderfähig werden. Dabei war insbesondere sich finanziell schlechter gestellte Studierende an auch an die sozialversicherungsrechtliche Anerkennung der Übernahme solcher Aufgaben gehindert sehen. von arbeitsfreien Zeitblöcken (z. B. „Sabbaticals") als Er weist darauf hin, daß sich die zusätzlichen Ausga- durchgängige Beschäftigungszeit im Rahmen von Teil- ben bei einem Verzicht auf die Einbeziehung der zeitvereinbarungen gedacht. Gremientätigkeit auf die Umstellung auf verzinsli- che Bankdarlehen für die Haushalte von Bund und Das Gesetz sieht hierfür in § 2 Abs. 2 jedoch nur eine Lö- Ländern auf nur jährlich etwa 460 TDM belaufen sung im Rahmen der Altersteilzeit vor. hätten. In Anbetracht der angespannten Arbeitsmarktsituation 7. Der Bundesrat macht darauf aufmerksam, daß die in hält der Bundesrat es für erforderlich, für alle Arbeitneh- dem Achtzehnten Gesetz zur Änderung des Bundes- mer möglichst viele Formen von Teilzeitarbeit akzeptabel ausbildungsförderungsgesetzes vorgesehene Nicht- zu machen. berücksichtigung von Auslandstudien bei der Be- messung der Förderungshöchstdauer in klarem Ge- Die Bundesregierung wird daher gebeten, auch hierfür gensatz zu der von allen für erforderlich gehaltenen die gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen. stärkeren Internationalisierung des Studiums steht. Entschließung des Bundesrates zum Gesetz zur Einord- 8. Der Bundesrat hält die in dem vorliegenden Gesetz nung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in erfolgte Festlegung des Rückzahlungsbeginns der das Sozialgesetzbuch (Unfallversicherungs-Einord- verzinslichen Bankdarlehen auf sechs Monate nach nungsgesetz - UVEG) dem zuletzt mit Bankdarlehen geförderten Monat für völlig unzureichend. Er weist darauf hin, daß sich a) Der Bundesrat begrüßt es, daß das Unfallversiche- hieraus eine besondere Belastung von jungen Men- rungsrecht zeitgleich mit der Neugestaltung des Ar- schen in der Existenzgründungsphase ergibt. Beson- beitsschutzrechtes überabeitet wird. ders schwierig gestaltet sich die Situation derjeni- gen, die eine Prüfung wiederholen müssen, die ein Hervorzuheben ist hier die Verpflichtung für die Un- Graduiertenstudium aufgenommen haben oder die fallversicherungsträger, gemeinsame landesbezoge- noch keinen Arbeitsplatz gefunden haben. Der Bun- ne Stellen zur Kooperation mit den staatlichen Ar- desrat geht davon aus, daß mit der im Gesetz vorge- beitsschutzbehörden und zur Abstimmung gemeinsa- nommenen Festsetzung des Rückzahlungsbeginns mer Überwachungstätigkeiten zu benennen. unnötige Haushaltsrisiken verbunden sind, da in er- heblichem Umfang Garantieübernahmen durch den Neben der nunmehr erfolgten Erweiterung des Prä- Bund und die Länder notwendig werden dürften. ventionsauftrages der Unfallversicherungsträger zählt der Bundesrat die grundlegende Überarbeitung 9. Der Bundesrat stellt fest, daß der Vertrauensschutz des Berufskrankheitenrechts zu den vorrangigen Auf- für die von der Umstellung der Förderung auf das gaben einer weiteren Reform des Unfallversiche- verzinsliche Anschlußdarlehen nach § 17 Abs. 3 Be- rungsrechtes. Er fordert die Bundesregierung auf, das troffenen es geboten hätte, die bisherige Regelung Verfahren zur Anerkennung einer Berufskrankheit im bis zum Ende des Ausbildungsabschnitts beizube- Interesse sozialer Gerechtigkeit zu lösen und im Wege halten, soweit die Voraussetzungen für die weitere einer widerlegbaren Kausalitätsvermutung aller ar- Förderung bereits vor Inkrafttreten der Neuregelung beitsbedingten Gesundheitsschäden in die Entschädi- im Einzelfall festgestellt und eingetreten waren. gungspflicht der gesetzlichen Unfallversicherung ein- zubeziehen. 10. Der Bundesrat hält es 25 Jahre nach Inkrafttreten des Bundesausbildungsförderungsgesetzes für dringend b) Nach wie vor vertritt der Bundesrat die Auffassung, erforderlich, das Recht der individuellen Ausbil- daß eine Gesamtkodifizierung des Arbeitsschutzrech- dungsförderung und andere Bestimmungen über die tes unabdingbar ist. Nur so lassen sich die mit einem Gewährung öffentlicher Leistungen, die der Studien- verbesserten Arbeitnehmerschutz verbundenen er- förderung dienen, einer umfassenden Prüfung zu un- heblichen Einsparpotentiale zur Sicherung des Sozial- terziehen. Die Neuregelung des Ausbildungsförde- leistungssystems und des Wirtschaftsstandortes rungsrechtes soll im Zusammenhang mit der Deutschland optimal erschließen. Steuerreform gestaltet und noch in dieser Legislatur- periode des Deutschen Bundestages abgeschlossen Es ist zu begrüßen, daß auch die Bundesregierung die werden. Notwendigkeit sieht, die Neugestaltung des Arbeits- schutzrechtes weiterzuführen. Hierzu zählen insbe- 11. Die neue Gesetzgebung soll Verteilungsgerechtig- sondere die vollständige Ablösung der Arbeitsschutz- keit in der Studienfinanzierung sicherstellen, und regelungen in der Gewerbeordnung sowie eine zeit- zwar nicht nur innerhalb der Geförderten, sondern gemäße Regelung der Fragen des Datenschutzes und unter allen Studierenden. Dazu sollen ungerechtfer- des Datenaustausches, die noch in dieser Legislatur- tigte Begünstigungen und Benachteiligungen abge- periode aufgegriffen werden sollen. baut und gerechte Ausbildungs- und Studienchan- cen gemehrt werden. Entschließung des Bundesrates zum Gesetz zur Umset- 12. In die Reformüberlegungen sollen die verschiedenen zung der EG-Rahmenrichtlinie Arbeitsschutz und weite- in Diskussion stehenden Leistungs- und Finanzie- rer Arbeitsschutz-Richtlinien rungsmodelle einbezogen werden. Der Bundesrat er- a) Der Bundesrat begrüßt, daß nunmehr die seit Ende klärt, daß bei den Reformüberlegungen zur Ausbil- 1992 überfällige Umsetzung der EG-Rahmenrichtlinie dungsförderung verzinsliche Darlehen in der Regel- Arbeitsschutz sowie weiterer Arbeitsschutzrichtlinien förderungszeit für ihn nicht in Betracht kommen. in nationales Recht vorgenommen wird. 13. Der Bundesrat spricht sich dafür aus, daß die von den Regierungschefs von Bund und Ländern zur Vorbe- Insbesondere ist es begrüßenswert, daß Kernpunkte reitung dieser Reform beauftragte Arbeitsgruppe der Stellungnahme des Bundesrates (Drucksache 881/ sich kurzfristig konstituiert und zügig ihre Arbeit 95 - Beschluß -) in den Gesetzesbeschluß des Deut- aufnimmt. schen Bundestages aufgenommen wurden. Entschließung des Bundesrates zum Gesetz zur Förde- Es ist hervorzuheben, daß mit der weitergehenden rung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand Aufhebung von Arbeitsschutzregelungen in der Ge- werbeordnung eine weitergehende Zersplitterung In seiner Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf vom des Arbeitsschutzrechtes vermieden wird und mit den 3. Mai 1996 - Drucksache 208/96 (Beschluß) - hat der Ländern abgestimmte, einheitliche Vollzugsregelun- Bundesrat u. a. gefordert, diesen so zu überarbeiten, daß gen in das Gesetz aufgenommen werden. 10700* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 119. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. August 1996

b) Es ist ein besonderes Anliegen des Bundesrates, daß Der Vorsitzende des Innenausschusses hat mitge- im Verhältnis zwischen den Unfallversicherungsträ- gern und den staatlichen Arbeitsschutzbehörden teilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Doppelarbeit wirksam verhindert wird und eine ge- Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu setzliche Regelung über die Kooperation zwischen den nachstehenden Vorlagen absieht: den technischen Aufsichtsdiensten der Unfallversi- cherungsträger und den Länderbehörden getroffen 1. Unterrichtung durch die Bundesregierung wird. Materialien zur Deutschen Einheit und zum Auf- Mit den nunmehr in § 21 Arbeitsschutzgesetz hierzu bau in den neuen Bundesländern getroffenen Regelungen wird den grundlegenden An- forderungen der Länder Rechnung getragen. - Drucksachen 12/6854, 12/7055 (Berichtigung), 13/725 Nr. 15- Der Bundesrat hat in seiner 700. Sitzung am 19. Juli 1996 beschlossen, dem Gesetz zur Beschleunigung 2. Unterrichtung durch die Bundesregierung von Genehmigungsverfahren (Genehmigungsver- Materialien zur Deutschen Einheit und zum Auf- fahrensbeschleunigungsgesetz - GenBeschlG) zuzu- bau in den neuen Bundesländern stimmen. - Drucksache 13/2280 -