„ Haus des Lebens“ – der jüdische Friedhof

Wenn man den Spuren jüdischen Lebens in unserer Region folgen möchte, bieten sich die Friedhöfe als erstes an. Sie sind die einzigen Hinterlassenschaften, die die Barbarei der NS- Zeit weitgehend überstanden haben. Die Synagogen sind fast alle umgenutzt oder abgerissen, die jüdischen Häuser in andere Hände übergegangen. Betritt man einen der jüdischen Friedhöfe des Rhein-Hunsrück-Kreises, so kann man sich nicht des Zaubers entziehen, der von diesem „Ort des Lebens“ ausgeht. Sie sind Orte der Besinnlichkeit, spiegeln die Geschichte der einzelnen jüdischen Gemeinden wider, sind aber auch Zeugnisse einer vergangenen, glanzvollen Zeit jüdischer Blüte in Deutschland. Sie sind als Stätten der „ewigen Ruhe“ eingerichtet, zeugen aber auch davon, dass man jüdischen Mitbürgern – auch nicht ihren Toten - diese Ruhe gewähren wollte. Bis in unsere Zeit werden Grabstätten geschändet. Sie liegen alle (bis auf Kirchberg) weit entfernt von den Ortskernen, passen sich der sie umgebenden Landschaft an und befremden gleichzeitig durch ihre Andersartigkeit. Sie gehören zu den interessantesten Zeugnissen von Geschichte und Gesellschaft der Juden in Deutschland. Im Rhein-Hunsrück-Kreis sind sie die einzigen sichtbaren originalen Zeugen des jüdischen Lebens. Erst wurden die Synagogen zerstört, dann die Menschen ermordet, nach dem Kriege Synagogen umgenutzt oder völlig abgebrochen. Die wenigen Überlebenden der Shoah wanderten aus. Nur vereinzelt gibt es im Kreis Begräbnisse aus der Zeit nach 1945 ( 1961, 1965, Gemünden 1970) Jede Gemeinde ist gefordert, diesen Bestand an jüdischer und deutscher Kultur zu wahren. Eine der Glaubensgrundsätze besagt, dass Tote unantastbar bleiben müssen. Dies hat dazu geführt, dass Gräber und Friedhöfe über Jahrhunderte hinweg wachsen, während auf christlichen Friedhöfen Gräber nach Ablauf von bestimmten Ruhefristen geräumt werden. Jüdische Friedhöfe haben erstaunlicherweise auch die Zeit des Nationalsozialismus überstanden, in der fast alle anderen Zeugnisse jüdischer Kultur vernichtet wurden, vor allem die Synagogen. So sind in manchen Gemeinden die Friedhöfe die letzten, gleichzeitig aber auch die ältesten Zeugnisse einer über Tausend Jahre alten deutsch-jüdischen Geschichte. Die Anlage der Friedhöfe, die Grabsteine und ihr Material, Namen, Zeichen, Formen und Symbole spiegeln die jüdischen Traditionen wider und zeigen auf, wie tief das Judentum gerade in unserer Region verwurzelt war.

Überall, wo Juden sich niederlassen durften, entfalteten sie ihre religiöse und soziale Kultur, sie leisteten ihren Beitrag zur Kultur- und Wirtschaftsgeschichte. Die Treue zu ihrem Glauben hat sie trotz vielfacher Verfolgungen erhalten. Die Lehre vom einzigen Gott, die Propheten, die Tora, die Lehren und Traditionen der Rabbinen waren es, die sie immer wieder zusammenhielten.1 Sie feierten gemeinsame Bräuche, Festtage und den Schabbat, bauten autonome Strukturen auf und versuchten nach gemeinsamen Lebensregeln in einer christlichen Umwelt zu leben. Dabei veränderten sie sich und ihre Religion, passten sich bis zu einem gewissen Grade der Mehrheitskultur und den Zeitströmungen ihrer Umgebung an, fanden aber ebenfalls eigene neue jüdische Formen. Dies zeigt sich vor allem auf den Friedhöfen, sie lassen unterschiedliche Auffassungen in der Grabmalgestaltung erkennen, wenn sie auch alle einen gemeinsamen Kern erhalten haben. Die Friedhöfe (Ältester Stein in Boppard 1605) tragen wichtige Aspekte nicht nur zur jüdischen Religion, sondern auch zur allgemeinen Geschichte, zur Kultur- und Sozialgeschichte und zur Genealogie (Ahnenforschung) bei. Die Inschriften auf den Gräbern bilden mit ihren Zitaten aus Bibel, Talmud und anderer Literatur eine eigene Literaturgattung.

1 Mit Rabbinen bezeichnet man die berühmten Gesetzesgelehrten, die den Talmud und viele andere richtungsweisende Werke schufen. 1

In Deutschland bestehen über 2200 jüdische Friedhöfe, allein 330 davon in Rheinland-Pfalz, 12 davon im Rhein-Hunsrück-Kreis. Sie sind die Schlüssel zum Verständnis jüdischer Kultur und Religion vor Ort. Neben der Erforschung der regionalgeschichtlichen Hintergründe der Shoah ist es genauso wichtig, diese Zeugnisse materieller jüdischer Kultur zu bewahren. Sie werden erst in den letzten Jahren als Informationsquelle über das Judentum genutzt, doch der saure Regen und die aggressive Luft zerstören die Inschriften und Grabsteine rascher als in den Jahrhunderten zuvor. Der natürliche Zerfall wird auch immer wieder durch die vielen Schändungen auf dramatische Weise unterbrochen. Nach Untersuchungen von Adolf Diamant sind seit 1945 etwa 1000 Friedhöfe geschändet worden. Die Dunkelziffer ist hoch, weil viele Beschädigungen nicht gemeldet oder bewusst verheimlicht werden. Vor allem seit 1990 hat die Zahl der Schändungen erheblich zugenommen, in den alten Bundesländern waren es 270, in den neuen 75 Fälle. Im Durchschnitt kam es zu etwa 40 Schändungen pro Jahr. Im Vergleich zu Schändungen christlicher Friedhöfe ist die Anzahl erschreckend hoch. Der Rhein-Hunsrück- Kreis macht da leider keine Ausnahme: Sieht man sich die Friedhöfe an, so erkennt man auf fast allen Grabstätten Spuren von massiver Gewalteinwirkung. Mehrere Versicherungsunternehmen weigern sich inzwischen, jüdische Friedhöfe gegen Schäden zu versichern.

Wo immer sich Juden ansiedelten, galt und gilt ihre Sorge der Beschaffung eines Geländes, wo sie ihre Toten bestatten können. Dies ist wichtiger als die Errichtung einer Synagoge, da das Gebet einer Gemeinde überall stattfinden kann und nicht eines bestimmten Gebäudes bedarf. Für den Verstorbenen ist sein Grab und der Friedhof „ein Haus ewiger Ruhe“. Namen wie „Haus des Lebens“ oder „Haus der Ewigkeit“ für den jüdischen Friedhof kennzeichnen den Ort, an dem die Hoffnung auf ein neues Leben, auf die Erweckung durch den Messias, nicht erlischt. Deshalb ist es falsch, von „ehemaligen, aufgegebenen oder aufgelassenen“ Friedhöfen zu sprechen. Ein jüdischer Friedhof erfüllt seine Funktion auch noch, wenn er nicht mehr genutzt wird, eine Umbettung kommt nur in Ausnahmefällen in Frage (z.B. Überführung, Familiengruft). In wurde der alte Friedhof nach dem Kriege (1963) mit einem Wohnhaus überbaut und die Grabsteine auf dem neuen Friedhof abgelegt. In Gemünden befinden sich höchstwahrscheinlich Grabsteine des alten Friedhofes am Schlossberg auf dem neuen Friedhof. Die Gräber werden meist so angelegt, dass sie nach Osten weisen, in Richtung Jerusalem. Zu Häuptern der Toten wird meist ein Grabstein errichtet, liegende Platten sind in Mitteleuropa weniger üblich als bei sephardischen Grabmälern. Jüdischen Gemeinden wurde meist zur Anlage ihres Friedhofes unfruchtbares und fast unzugängliches Gelände zugewiesen. Stellt man sich die damaligen Verkehrsverhältnisse vor, so wird einem bewusst, wie beschwerlich Beerdigungen in Gemünden, Oberwesel, Boppard, Rheinböllen oder Sohren gewesen sein müssen, wenn Trauerzüge kilometerweit zu Fuß gehen mussten. Für Werlau und St. Goar war etwa der Weg zum Friedhof auf dem rechtsrheinischen Bornich mehr als eine Tagesreise. Von Gemünden existieren Berichte, dass es äußerst gefährlich war, auch auf dem neuen Friedhof Beerdigungen durchzuführen, dass keine befestigten Wege dorthin führten und Wasser aus einem nahe gelegenen Berg den Hang rutschig machte. Die vielen im Rhein-Hunsrück-Kreis bis ins 19. Jahrhundert vereinzelt lebenden Juden begruben ihre Toten auf zentralen Friedhöfen, sog. Verbandsfriedhöfen (z.B. Simmern für Rheinböllen). In Deutschland sind Friedhöfe bekannt, die von Dutzenden Dörfern der Umgebung benutzt wurden. Der Volksmund lässt vermuten, dass es vor den bislang erwiesenen ältesten Grabstätten (Boppard 1605) im Kreis noch andere gibt, die bisher nicht entdeckt wurden: Die Aussage „Jetzt bist du auf einen Juden getreten“, wenn man beim Gang durch den Wald gegen ein Hindernis stößt, scheint darauf hinzudeuten. 2

Ein jüdischer Friedhof muss 50 Ellen außerhalb der Stadt liegen. Er sollte durch eine Hecke oder Mauer abgegrenzt werden, um Tiere abzuhalten. Wenn für eine Erweiterung kein Platz war, wurden Tote auch übereinander beerdigt, wobei ein bestimmter Abstand eingehalten werden musste. Lebende dürfen keinen Vorteil von den Toten haben, deshalb sind Essen, Trinken oder Holzsammeln verboten. Auch das Pflanzen von Blumen ist nicht erlaubt, da das Blumenpflanzen die Ruhe des Toten stören könnte. Meist sind die Gräber von Westen nach Osten ausgerichtet, was bei den extremen Steillagen am Rhein (Holzfeld, Boppard, Oberwesel) oder im Hunsrück (Rheinböllen, Gemünden) nicht exakt möglich war. Ursprünglich wurden die Gräber in der Reihenfolge des Ablebens angelegt, im 19. Jh. sind jedoch stellenweise Doppelgräber reserviert worden, es gibt besondere Grabstätten für Kinder (z.B. Sohren). Nach orthodoxer Auffassung ist die Beerdigung eines Nichtjuden verboten, doch begraben Gemeinden etwa nicht-jüdische Ehepartner an einer anderen Stelle des Friedhofes. Mit zunehmender Assimilierung gab es im 19. und 20. Jahrhundert heftige Kontroversen um die Urnenbestattung oder die Bepflanzung, so sieht man heute selbst in Israel Friedhöfe mit Blumenschmuck, Fotos der Verstorbenen und Urnenfelder. Die Frage der Pflege stellt sich heute den deutschen Behörden: Umgeworfene oder zerbrochene Steine sollten so wiederhergestellt werden, dass die Würde des Ortes gewahrt bleibt. Dies ist auch erlaubt: Man stelle sich vor, Hakenkreuzschmierereien oder zerbrochene Steine würden wegen des Verbots der Totenstörung nicht entfernt oder repariert. So ist heute eine „vorsichtige Instandhaltung“ in Absprache mit den jüdischen Gemeinden geboten, d.h. eine Unterhaltung der Mauern und , der Weg- und Grabeinfassungen, das Schneiden des Grases und ein Aufrichten umgestürzter Grabsteine sind durchaus erlaubt. Weitergehende Maßnahmen sind mit den zuständigen jüdischen Gemeinden und der Denkmalbehörde abzusprechen.

Tipps für einen Friedhofsbesuch

1. Viele Friedhöfe sind aus Sorge vor Schändungen verschlossen. Man sollte sich vorher erkundigen, wo es einen Schlüssel gibt. 2. Festes Schuhwerk ist für die z.T. langen und verschmutzten Wege

erforderlich (v.a. in Bornich, Oberwesel, Sohren, Rheinböllen, Holzfeld) 3. An jüdischen Festtagen oder am Schabbat sollte man den Friedhof nicht besuchen, dies sind keine Tage, an denen man trauern soll. 4. Männer tragen nach jüdischer Sitte eine Kopfbedeckung.

5. Respektvolles Verhalten ist ebenso gefordert wie auf einem christlichen

Friedhof. Man sollte nicht auf die Gräber treten, essen, rauchen oder trinken. 6. Die Steinchen auf den Grabsteinen bitte liegen lassen. Sie sind ein Zeichen dafür, dass Angehörige das Grab besucht haben und ein Symbol für die

Vergänglichkeit des Lebens.

Quelle: Christof Pies (u. a.): 2011: Jüdisches Leben auf dem Lande. Förderkreis Synagoge Laufersweiler.

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