Plenarprotokoll 19/15

Deutscher

Stenografscher Bericht

15. Sitzung

Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 14: richtlinie und zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Wohnungsvermittlung Unterrichtung durch die Bundesregierung: Be- bezüglich des Handwerkerwiderrufs richt über die Auswirkungen der Regelun- Drucksache 19/828. 1251 C gen zum Elterngeld Plus und zum Partner- schaftsbonus sowie zur Elternzeit Hansjörg Müller (AfD). 1251 C Drucksache 19/400. 1237 B Dr. (CDU/CSU). 1252 C Dr. , Bundesministerin (SPD) . 1254 D BMFSFJ . 1237 B Roman Müller-Böhm (FDP). 1256 B Nadine Schön (CDU/CSU). 1239 A (DIE LINKE). 1257 B (AfD) . 1240 C (AfD). 1258 B Sven Lehmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 1243 A Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 1258 D Martin Reichardt (AfD) . 1243 A Alexander Hoffmann (CDU/CSU). 1259 D (FDP)...... 1243 A Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) . 1244 B Tagesordnungspunkt 16: Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten , DIE GRÜNEN). 1245 C Alexander Graf Lambsdorff, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion Torbjörn Kartes (CDU/CSU) . 1246 D der FDP: Handlungsfähigkeit der europäi- schen Außenpolitik verbessern – Rolle der (SPD). 1248 A Hohen Vertreterin und des Europäischen (FDP). 1249 B Auswärtigen Dienstes stärken Drucksache 19/822. 1260 D Michael Kießling (CDU/CSU). 1250 B Alexander Graf Lambsdorff (FDP). 1261 A (CDU/CSU). 1261 D Tagesordnungspunkt 15: (SPD). 1263 A Antrag der Abgeordneten Hansjörg Müller, Tino Chrupalla, Dr. Heiko Heßenkemper, wei- Alexander Graf Lambsdorff (FDP). 1263 D terer Abgeordneter und der Fraktion der AfD: (AfD) . 1264 C Prüfung und Überarbeitung des Gesetzes zur Umsetzung der Verbraucherrechte- Dr. (DIE LINKE) . 1265 C II Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Dr. (BÜNDNIS 90/ Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE). 1282 B DIE GRÜNEN). 1266 B Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ Dr . Volker Ullrich (CDU/CSU). 1267 C DIE GRÜNEN). 1283 C Dr. (fraktionslos). 1268 B Tobias Pfüger (DIE LINKE). 1283 D (SPD) . 1268 D Dr. (SPD). 1284 B (CDU/CSU). 1269 C (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 1284 C Dr. (AfD) . 1285 A Tagesordnungspunkt 17: (FDP). 1285 D Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, , , weiterer (DIE LINKE). 1286 C Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: (CDU/CSU). 1287 D Dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten – Atomwaffen abziehen (CDU/CSU). 1288 D Drucksache 19/98. 1270 C Christine Buchholz (DIE LINKE) . 1270 C Zusatztagesordnungspunkt 6: Dr. (CDU/CSU). 1271 C Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Heike Hänsel (DIE LINKE). 1272 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Demokratie Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD). 1272 D und Erinnerungskultur in Deutschland an- gesichts rechtsextremistischer Angriffe. 1289 D Tobias Pfüger (DIE LINKE) . 1273 C Dr. (BÜNDNIS 90/ Dr. (AfD). 1274 C DIE GRÜNEN). 1289 D Alexander Müller (FDP). 1275 C (CDU/CSU). 1291 C Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ Michelle Müntefering (SPD) . 1293 A DIE GRÜNEN). 1276 B Dr. (AfD). 1294 A Nikolas Löbel (CDU/CSU). 1277 B Dr. (FDP). 1296 A (CDU/CSU). 1278 C (DIE LINKE). 1297 B Michael Kuffer (CDU/CSU). 1298 B Tagesordnungspunkt 18: (SPD). 1299 B a) Antrag der Abgeordneten , , (Augsburg), Martin Erwin Renner (AfD). 1300 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Humanitä- DIE GRÜNEN). 1301 D re Katastrophe in Jemen lindern – Rüs- tungsexporte stoppen (CDU/CSU) . 1303 D Drucksache 19/834. 1279 B Susann Rüthrich (SPD). 1305 A b) Antrag der Abgeordneten Stefan Liebich, Dr. (CDU/CSU) . 1306 A Heike Hänsel, Michel Brandt, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Weitere Aufrüstung der arabischen Nächste Sitzung . 1307 C Halbinsel stoppen Drucksache 19/833. 1279 C Anlage 1 Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN). 1279 C Liste der entschuldigten Abgeordneten. 1309 A (CDU/CSU). 1280 C Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE). 1280 D Anlage 2 Dr. Nils Schmid (SPD). 1282 A Amtliche Mitteilungen. 1310 A Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018 1237

(A) (C)

15. Sitzung

Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: 2015 wurden das Elterngeld Plus und der Partner- Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte schaftsbonus eingeführt, um den Wünschen von Eltern nehmen Sie Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Rechnung zu tragen, die sich im Laufe der letzten Jah- re verändert haben. Die Mehrheit der Eltern will inzwi- Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: schen ihr Leben gemeinsam und partnerschaftlich auftei- len, will, dass Familie und Beruf zwischen den Eltern in Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- ähnlichem Maße aufgeteilt werden, und das sowohl bei gierung den Pfichten als auch bei den Vorzügen, die man dann genießt; denn es sind ja nicht nur Pfichten, die man Bericht über die Auswirkungen der Regelun- wahrnimmt, sondern es ist auch die Zeit, die man fürei- gen zum Elterngeld Plus und zum Partner- nander hat. Etwa 60 Prozent der Familien heute sagen, schaftsbonus sowie zur Elternzeit dass sie das möchten. (B) Drucksache 19/400 Es ist für viele heute also selbstverständlich, Familie (D) Überweisungsvorschlag: und Beruf gleichberechtigt zu leben. Väter und Mütter Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) wollen berufstätig sein und Zeit für die Familie haben. Ausschuss für Arbeit und Soziales Und der Bericht hat gezeigt: Viele Väter wollen mehr Zeit für ihre Familie haben und viele Mütter mehr Zeit Das Wort hat die Frau Bundesministerin Dr. Barley. für ihren Beruf. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ( [SPD]: Richtig!) der CDU/CSU) Eine Antwort auf diese Wünsche ist das Elterngeld Plus mit dem Partnerschaftsbonus. Es ist ganz wichtig, zu Bundesministerin für Familie, Dr. Katarina Barley, sagen: Es ist ein zusätzliches Angebot neben dem klassi- Senioren, Frauen und Jugend: schen Elterngeld, das unverändert in Anspruch genom- Das ging aber schnell. men werden kann. Das Elterngeld Plus unterstützt Eltern, die nach der Geburt wieder in Teilzeit in den Beruf ein- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: steigen oder von Vollzeit auf Teilzeit reduzieren wollen. Sie können bis zu 30 Stunden in der Woche arbeiten und Es ist Freitag. erhalten das Elterngeld Plus dann bis zu 28 Monate. Die Idee ist: Man bekommt etwas weniger Elterngeld im Mo- Dr. Katarina Barley, Bundesministerin für Familie, nat, weil man berufstätig ist und weniger davon braucht. Senioren, Frauen und Jugend: Das nicht verbrauchte Geld geht aber nicht verloren, wie das früher der Fall war, sondern man bekommt es dafür Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und länger ausgezahlt. Kollegen! Mit dem Bericht zum Elterngeld Plus debattie- ren wir heute über eine neue und ausgesprochen wichtige Das Besondere ist der Partnerschaftsbonus. Ihn er- Familienleistung. Der Bericht macht deutlich, wie sich halten Eltern, die in einem Korridor zwischen 25 und Elterngeld Plus und der Partnerschaftsbonus auswirken 30 Stunden die Woche arbeiten und sich damit gegen- und dass sie ein voller Erfolg geworden sind. seitig in Familie und Beruf unterstützen. Wenn sie sich dafür entscheiden, dann erhalten beide jeweils zusätzlich Der Bericht fügt sich außerdem in die europäische De- vier Monate Elterngeld Plus. batte ein. Wir debattieren derzeit über die neue EU-Ver- einbarkeitsrichtlinie. Das zeigt, dass wir die richtigen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Debatten zur richtigen Zeit führen. der CDU/CSU und der LINKEN) 1238 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Bundesministerin Dr. Katarina Barley (A) Also: Zeit für Familie, Zeit für Erwerbstätigkeit, part- dass das ein Dschungel ist. Wir haben viele, viele Ange- (C) nerschaftliches Miteinander von Vätern und Müttern – bote; aber es ist teilweise kompliziert. Zum einen planen all das wird durch das Elterngeld Plus unterstützt. wir jetzt das Onlineportal „Elterngeld Digital“, einen On- lineantragsassistenten. Wir wollen insgesamt noch besser Das Angebot kommt auch an. Seit seiner Einführung werden. Wir wollen die Antragstellung vereinfachen und, hat sich die Inanspruchnahme verdoppelt. Im dritten wo das geht, zusammenlegen. Dabei setzen wir natürlich Quartal 2017 haben sich fast 290 000 Eltern für das El- auf die Digitalisierung. terngeld Plus entschieden. Das sind fast 30 Prozent aller Eltern, die Elterngeld beziehen. In dem Koalitionsvertrag, der jetzt vorliegt, haben wir (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Marcus uns darauf verständigt, dass wir die Situation von Fami- Weinberg [] [CDU/CSU]) lien und Kindern weiter verbessern wollen. Wir wollen das Kindergeld erhöhen und Kinderfreibeträge anpassen. Und von denen, die das tun, sagen 77 Prozent, das sei Wir wollen für Familien mit kleinem Einkommen den eine gute Sache, nur 1 Prozent sagt, es sei keine gute Kinderzuschlag erhöhen Sache. Insbesondere Väter sagen, es ermutige sie, mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. 41 Prozent der Vä- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ter sagen: Ohne diese Leistung hätten sie sich weniger und vor allen Dingen dafür sorgen, dass die Leistungs- Zeit für die Betreuung ihrer Kinder genommen. Auch feindlichkeit in diesem Bereich endlich abgebaut wird, das bestätigen die Zahlen: Im dritten Quartal 2017 ha- dass der Kinderzuschlag von 170 Euro nicht von heute ben Väter, die das Elterngeld Plus nicht genutzt haben, auf morgen wegfällt, wenn man die Einkommensgrenze durchschnittlich 2,7 Monate Elterngeld, also Basiseltern- um nur 1 Euro überschreitet. Das ist so ziemlich das Leis- geld, bezogen, während Elterngeld Plus durchschnittlich tungsfeindlichste, was wir in unserem Recht haben. Wir 7,4 Monate bezogen wurde. haben teilweise Transferentzugsraten von über 80 Pro- (Andrea Nahles [SPD]: Das ist viel!) zent. Der Spitzensteuersatz liegt bei nur gut 40 Prozent. Wir ziehen hier also doppelt so viel ab wie bei Spitzen- Im Bundesdurchschnitt haben sich zuletzt 27 Prozent der verdienern. Das macht überhaupt keinen Sinn. Väter, die Elterngeld Plus beantragt haben, gemeinsam mit ihren Partnerinnen zusätzlich für den Partnerschafts- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bonus entschieden. In einzelnen Bundesländern waren der CDU/CSU) es bis zu 40 Prozent. Es ist wichtig, zu wissen – das ist auch unter dem Gerechtigkeitsaspekt wichtig –, dass El- Auch das werden wir ändern, so man uns lässt, damit sich terngeld Plus und Partnerschaftsbonus auch von Allein- Arbeit wirklich für alle Eltern lohnt. (B) erziehenden in Anspruch genommen werden können und (D) Natürlich müssen wir in die Kinderbetreuung inves- von Eltern, die sich getrennt haben, die also getrennter- tieren; denn eine gute Kinderbetreuung ist die Voraus- ziehend sind. Es ist auch wichtig, zu wissen – auch das setzung dafür, dass Eltern berufstätig sein können. Auch ist ein Ergebnis der Befragung im Rahmen dieses Berich- diesbezüglich sieht dieser Koalitionsvertrag viel vor: Wir tes –, dass Alleinerziehende das Elterngeld Plus ähnlich wollen Verbesserungen im Bereich Kita und den Rechts- positiv wie Paareltern beurteilen. Auch Selbstständige anspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter, können das Elterngeld Plus durch die Möglichkeit der was ein Meilenstein in der Familienpolitik ist. Teilzeiterwerbstätigkeit nutzen. Das ist also ein Gewinn an Flexibilität für alle, weil die vielfältigen Familienver- (Beifall bei der SPD) hältnisse und Erwerbswünsche beachtet werden. Wir wollen Kindergrundrechte in die Verfassung auf- (Beifall bei der SPD) nehmen und eine umfassende Reform des Kinder- und Was erreichen wir mit dem Elterngeld Plus? Wir stär- Jugendhilfegesetzes mit einem ganz breiten Beteili- ken die wirtschaftliche Stabilität von Familien, weil wir gungsprozess. Dieser Koalitionsvertrag sieht ganz viel natürlich wissen, dass Erwerbstätigkeit die beste Versi- vor, was gut ist für Familien und für Kinder. Er ist es cherung gegen Familienarmut, gegen Kinderarmut und defnitiv wert, umgesetzt zu werden. auch gegen Altersarmut ist, und wir geben den Familien ein Instrument an die Hand, um mehr Zeit miteinander zu Herzlichen Dank. haben, gerade dann, wenn sie es brauchen, nämlich wenn (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Kinder klein sind. Väter können mehr für ihre Kinder der CDU/CSU) da sein, Mütter und Väter können sich die Zeit besser untereinander aufteilen, und die Kinder bauen von An- fang an eine stärkere Bindung zu beiden Elternteilen auf. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Auch das ist ein wichtiger Aspekt bei dieser Leistung. Frau Bundesministerin Barley, Sie hatten natürlich (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Nadine recht, ich war in der Tat zu schnell. Ich hätte zunächst Schön [CDU/CSU] – [SPD]: Su- einmal sagen sollen, dass nach einer interfraktionellen per Lösung!) Vereinbarung für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen sind. Davon sind jetzt schon 7 Minuten vorüber. Darf ich Zukünftig wollen wir es Eltern insgesamt noch leich- fragen, ob sich gegen die restlichen 53 Minuten Wider- ter machen, Familienleistungen in Anspruch zu nehmen. spruch erhebt? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so Alle, die sich mit Familienpolitik beschäftigen, wissen, beschlossen. Ich bitte um Nachsicht. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1239

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) Die nächste Rednerin ist die Kollegin Nadine Schön zu fexibilisieren, es noch attraktiver zu machen für die (C) von der CDU/CSU-Fraktion. unterschiedlichsten Modelle. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU hat bereits 2009 über das soge- sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD]) nannte Teilelterngeld nachgedacht. Das haben wir 2015 in der Großen Koalition mit den Sozialdemokraten als Elterngeld Plus eingeführt. Die Grundidee des Teileltern- (CDU/CSU): Nadine Schön geldes ist, dass man über einen Zeitraum von 24 Mona- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und ten Elterngeld beziehen kann, wenn man in Teilzeit tätig Kollegen! Am 29. Juni 2006 hat die damalige Bundesfa- ist. Dadurch hat man mehr Flexibilität und Spielraum, milienministerin Ursula von der Leyen von einem „histo- den Familienalltag zu gestalten. Diesen Grundgedanken rischen Moment“ gesprochen. Das war nämlich der Tag, des Teilelterngeldes haben wir aufgenommen und das an dem dieses Hohe Haus mit den Stimmen der Großen Elterngeld Plus – verstärkt durch die Komponente der Koalition das Elterngeld eingeführt hat, das dann zum Partnermonate – eingeführt. 1. Januar 2007 in Kraft getreten ist, sozusagen die gro- ße Schwester des Elterngelds Plus, über das wir heute Auch das Elterngeld Plus – die Familienministerin debattieren. hat es gesagt – ist ein absolutes Erfolgsmodell. Die Paa- re sind mit dieser familienpolitischen Leistung sehr zu- Der Tag war deshalb historisch, weil es damit möglich frieden. Sie ermöglicht ihnen, zu sagen: Wir haben Zeit wurde, dass sich Eltern im ersten Jahr nach der Geburt für Familie, wir haben eine fnanzielle Absicherung; und eines Kindes eine Auszeit nehmen, die mit staatlicher auch die Väter haben mehr Möglichkeiten, sich für die Unterstützung fnanziell so gut unterlegt ist, dass man Familie zu engagieren. Ich will zitieren aus den Aussa- sich die Auszeit auch leisten kann. Damit sollte Men- gen der Eltern im Rahmen einer Umfrage zu diesem The- schen auch Mut gemacht werden, sich für ein Kind zu ma. Da sagt etwa ein Schlosser, ein Angestellter: Wichtig entscheiden. fnde ich das Elterngeld natürlich wegen des Geldes, aber (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auch, weil ich das Gefühl habe, dass meine bisherige Ar- beitsleistung irgendwie vom Staat wertgeschätzt wird. – Es war auch deshalb historisch, weil zum ersten Mal Ein weiterer Angestellter sagt: Besonders wichtig ist für die Väter in den Blickpunkt der Familienpolitik gerückt uns das Elterngeld, weil es uns ermöglicht, Zeit mit un- worden sind. Vätern sollte der Rücken gestärkt werden, serem Baby zu verbringen. Das ist wirklich eine enorme wenn sie sich zusätzlich zur Elternzeit ihrer Partnerinnen Leistung; denn Zeit ist ein hohes Gut. Das merken wir für die Familie engagieren. Dafür wurden die Partnermo- jetzt besonders. – Jeder, der diese Erfahrung gemacht hat, nate geschaffen. Damit wurde auch eine kleine Revoluti- wird das bestätigen. (B) on in unserem Land in Gang gesetzt. (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Wenn man sich jetzt die Leistung anschaut, dann sieht ordneten der SPD) man, dass diese Ziele alle erreicht wurden. Das Eltern- Diesen positiven Bewertungen des Elterngeldes und geld ist eine der beliebtesten familienpolitischen Leistun- des Elterngelds Plus schließen wir uns als Unionsfraktion gen. Es ermöglicht den Eltern, zu sagen: Wir haben Zeit explizit an. Das Elterngeld Plus ist gut, weil es der Viel- für die Familie, gerade in diesem wichtigen ersten Jahr. falt der Familien gerecht wird, weil es die Wahlfreiheit Auch die Männer sagen: Wir werden nicht mehr schief stärkt, weil es fexibel ist und Eltern dabei unterstützt, angeschaut, wenn wir im Unternehmen sagen: Ich bleibe Zeit für Familie zu haben und Beruf Familie und optimal einige Monate zu Hause, um Zeit mit der Familie zu ver- vereinbaren zu können. bringen. – Wenn man in die Betriebe schaut, dann sieht man, dass dadurch in den Unternehmen schon ein klei- Durch diese Leistung – ich habe es gesagt – hat sich ner Kulturwandel begonnen hat. Das Elterngeld ist also vieles in unserem Land verändert; aber wir alle wissen, eine wahre Erfolgsgeschichte. Ich habe den Eindruck, dass wir hier noch nicht am Ende angekommen sind. dass das heute auch die Fraktionen der FDP, der Grü- Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag erneut mit den nen und der Linken so sehen. Das ist schön; denn damals Sozialdemokraten ein ganzes Familienpaket vereinbart. haben sie leider gegen die Einführung des Elterngeldes Ich denke, das ist die größte familienpolitische Entlas- gestimmt. tung, die wir in unserem Land jemals hatten. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Es ist ein Kernelement christdemokratischer Familien- politik, Familien nicht vorzuschreiben, wie sie zu leben Mit Blick auf all die Maßnahmen, die wir für die haben. Wir wollen eine große Vielfalt familienpolitischer nächsten vier Jahre geplant haben, kann ich nur sagen, Modelle unterstützen. Wir wollen, dass sich Familien die dass der Parteitag der CDU am kommenden Montag und Konstellation aussuchen können, die für sie am besten die Mitglieder der SPD eine hohe Verantwortung haben. ist. Wahlfreiheit ist ein ganz wichtiges Element christde- Sie müssen sich nämlich die Frage stellen: Wollen wir mokratischer Familienpolitik. diese große Entlastung für Familien in den nächsten vier Jahren ermöglichen, oder wollen wir das nicht? Im Sinne (Beifall bei der CDU/CSU) unserer Familien kann ich nur sagen: Alle, die hier mit­ entscheiden, haben eine große Verantwortung. Deshalb haben wir schon sehr früh darüber nachgedacht, dieses wichtige Instrument des Elterngeldes noch weiter (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 1240 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Nadine Schön (St. Wendel) (A) Wir wollen die Familien unterstützen und entlasten, und Dafür setzen wir uns ein, und dabei ist das Elterngeld (C) sie sollen in den nächsten vier Jahren ein Schwerpunkt Plus eine wichtige Maßnahme von vielen. Wir freuen uns unserer Arbeit sein. Dafür stehen wir mit dem Koaliti- auf die – hoffentlich – nächsten vier Jahre, in denen wir onsvertrag, den wir in den letzten Wochen ausgehandelt diese erfolgreiche Familienpolitik fortführen können. haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich will nur stichwortartig die vereinbarten Maßnah- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: men nennen; denn ich habe den Eindruck, viele davon Nächster Redner ist der Kollege Martin Reichardt, sind noch gar nicht bekannt. AfD. Wir haben eine Kindergelderhöhung um 25 Euro in (Beifall bei der AfD) den kommenden drei Jahren vereinbart; das ist die höchs- te Kindergelderhöhung, die wir jemals hatten. Martin Reichardt (AfD): Wir wollen den Restanspruch für einen Ganztagsplatz Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Werte im Grundschulbereich. Gäste auf den Tribünen, ganz besonders die aus der Alt- mark! Nachdem wir hier von den erfolgreichen Maßnah- (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) men der Regierung gehört haben, das Positive von unse- rer Seite gleich zum Anfang: Wir sind nicht grundsätzlich Wir unterstützen weiterhin beim Ausbau, bei der gegen das Elterngeld Plus. Wir sind froh über jeden Euro, Qualität und bei der Beitragsreduzierung im Bereich der den diese Regierung in Familien investiert; denn es ist ja Kitas. im Ganzen wenig und erfolglos genug. Wir steigen in die Unterstützung von haushaltsna- (Beifall bei der AfD – Andrea Nahles [SPD]: hen Dienstleistungen ein. Denn wir alle wissen, dass die Wenig?) Hausarbeit der Zeitfresser schlechthin für Familien ist. Auch hier wollen wir als Staat besser unterstützen, als „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur ge- wir das bisher gemacht haben. borgt.“ Dieser Satz, ein indianisches Sprichwort, prang- te 1983 auf den Wahlplakaten der Grünen und wirkt (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) heute als Parole immer noch in weite Teile der Politik. Wir haben – ein Punkt, der den Sozialdemokraten Alle Regierungen der letzten Jahre haben sich mit viel wichtig war – die Einführung eines Rückkehrrechts von Steuergeld und großem propagandistischen Getöse um die vermeintlich geborgte Erde gekümmert. Eine Ener- (B) Teilzeit auf Vollzeit vereinbart, was ebenfalls Flexibilität (D) ermöglicht. giewende, Klimaschutz, Mülltrennung, Refugees Welco- me – alles das sind die Weltrettungsprojekte, mit denen Als öffentlicher Dienst werden wir das Thema „Teil- Sie in den letzten Jahren den Deutschen Bundestag und zeit in Führungspositionen“ in Angriff nehmen. das Volk beglückt haben. (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Denn der große Skandal in den Unternehmen und auch Hier geht’s ums Elterngeld! – Sven Lehmann im öffentlichen Dienst ist doch, dass, wenn man Teilzeit [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt bitte wählt, die Karriere oft vorbei ist. Das ist auch der Grund, zum Thema reden!) weshalb gerade Väter es scheuen, sich mehr Zeit für Fa- – Ja, genau. – Um die Kinder haben Sie sich nicht hinrei- milie zu nehmen, über längere Strecken aus dem Beruf chend gekümmert. Denn Kinder, die nicht geboren wer- auszusteigen oder Teilzeit zu arbeiten; denn sie haben den, können uns auch nichts borgen. Kinder, die nicht ge- Angst, dann von der Karriereentwicklung abgeschnitten boren werden, werden keine Eltern, und Eltern, die nicht zu sein. Das ist etwas, was wir uns im Jahre 2018 in die- geboren werden, beantragen auch kein Elterngeld Plus. sem Land einfach nicht mehr leisten können, (Beifall bei der AfD – Sven Lehmann [BÜND- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU NIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen sind Sie und der SPD sowie des Abg. Sven Lehmann auch gegen Familienförderung!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Ja, ja. weil wir die Väter in der Erziehung brauchen und weil Die jetzige geschäftsführende und vielleicht bald neue die Unternehmen es sich gar nicht leisten können, auf die Bundesregierung feiert das Elterngeld Plus als famili- vielen Mütter zu verzichten, die vor der Entscheidung enpolitischen Erfolg. Meine Damen und Herren, diese zwischen Beruf und Familie stehen und sich bisher größ- Schönrednerei ist im Angesicht von 20 Prozent Kinder- tenteils für die Familie entscheiden. Das darf es ab dem armut in Deutschland und über 27 Prozent von Familien Jahr 2018 nicht mehr geben. Beide Elternteile, Mütter mit mehr als drei Kindern, die von Armut bedroht sind, und Väter, müssen die Möglichkeit haben, sich Zeit für eine Farce. Das muss hier einmal deutlich ausgesprochen Familie zu nehmen, eine Auszeit vom Beruf zu nehmen werden. oder Teilzeit zu arbeiten, auch mal zurückzustehen und trotzdem, später oder parallel, Karriere zu machen, wei- (Beifall bei der AfD – Sven Lehmann [BÜND- terzukommen in ihrem Beruf. Wir brauchen die Kompe- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Gut, dass wir Sie da- tenzen dieser Väter und Mütter für unsere Wirtschaft. für haben!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1241

Martin Reichardt (A) Meine Damen und Herren, Deutschland ist nicht, wie Diese Dame erhielt 2001 unter Johannes Rau das Bun- (C) uns die Öko-Ablasshändler von den Grünen weismachen desverdienstkreuz. wollen, von einer Klimakatastrophe bedroht. Deutsch- land ist bedroht von einer demografschen Katastrophe, (Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und gegen die muss diese Regierung endlich vorgehen. NEN]: Und zwar zu Recht!) (Beifall bei der AfD) Nun, meine Damen und Herren, ist aber mit der AfD ein neuer Geist in den Bundestag eingezogen: ein Geist Seit Anfang der 70er-Jahre sterben mehr Deutsche als ge- der Demokratie boren werden, zurzeit etwa 200 000 pro Jahr. (Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LIN- ( [CDU/CSU]: Zum Thema!) KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Diesen Prozess der Überalterns und Aussterbens des Sou- NEN) veräns hat die jetzige Bundesregierung mit der populisti- schen Phrase vom demografschen Wandel schöngefärbt. und der Achtung vor dem deutschen Volk, vor dem deut- schen Volk als Souverän des Grundgesetzes, (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Maik Beermann [CDU/CSU]: Zum Thema!) (Beifall bei der AfD – Sven Lehmann [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie brauchen nicht so Tatsächlich ist diese Entwicklung eine demografsche zu schreien! Wir hören Sie – leider! – Maik Katastrophe, eine Katastrophe, die, anders als die Klima- Beermann [CDU/CSU]: Träumen Sie weiter!) katastrophe, heute bereits im Lande fühlbar ist. Fehlende Kinder und fehlende junge Menschen führen zu Schiefa- ein Geist, der der Vergreisung und dem Aussterben des gen in den Sozialsystemen, und diese sind bereits heute Souveräns entgegentritt. Wir bedauern das Aussterben in vielen Bereichen Ost- und Mitteldeutschlands in Form der Deutschen durch die kinder- und familienfeindliche von Verarmung und Verelendung im ländlichen Raum Politik der jetzigen Bundesregierung. Das werden wir erkennbar. auch hier immer wieder anklagen. (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Sven (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Lachen Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: bei Abgeordneten der SPD) Schreien Sie doch nicht so!) In Ihrem „Familienreport 2017“ gestehen Sie ein, dass Aufgabe einer verantwortungsvollen Familienpolitik ist in Deutschland Familien gegenüber kinderlosen Paaren es daher, alle verfügbaren Kräfte dafür einzusetzen, den ungleich gestellt sind. Sie schreiben, das durchschnittli- (B) schon länger hier Lebenden, nämlich den Deutschen, che Nettoeinkommen von Familien liege weiterhin um (D) wieder die Möglichkeit zu geben, Kinder ohne Sorge um circa 21 Prozent unter dem von kinderlosen Paaren. Armut zu bekommen und zu erziehen. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Was (Beifall bei der AfD – Zuruf vom BÜND- ist denn Ihr Lösungsvorschlag?) NIS 90/DIE GRÜNEN: Aha! Nur den Deut- schen, ja?) Ein paar Zeilen weiter ziehen Sie eine Bilanz der Fami- lienpolitik von 2013 bis 2017. Das Elterngeld Plus steht Das Elterngeld Plus ist vor diesem Hintergrund ver- auf gleicher Höhe mit dem Punkt Ehe für alle unter der mutlich ein nutzloses Instrument, bestenfalls aber ein In- Förderung von Partnerschaftlichkeit. strument, das seinen Nutzen nicht beweisen kann. Denn die Erhaltung des Staatsvolkes und die Bekämpfung der (Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- demografschen Katastrophe tauchen im gesamten Fra- NEN]: Tja, das müssen Sie ertragen! – Michael genkatalog zur Bewertung dieses Instrumentes nicht auf. Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sagen Sie mal (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Ihren Lösungsvorschlag! – Maik Beermann GRÜNEN]: Darum haben wir es ja auch [CDU/CSU]: Sie glauben wohl, wer schreit, nicht!) hat recht!) Es drängt sich der Verdacht auf, meine Damen und Her- Meine Damen und Herren, Kinderarmut und Gebur- ren, dass das Elterngeld Plus in Wirklichkeit gar nicht für tenzahlen belegen, dass die gesamte Familienpolitik die Familien gedacht ist, sondern dass es eher eine Maß- dieser Regierung – inklusive Elterngeld Plus – kolossal nahme im Rahmen des Social Engineering ist. gescheitert ist. (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Sven (Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein NEN]: Wer schreit, hat recht! – Michael faktenfreier Beitrag! – Lachen bei Abgeordne- Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So, und jetzt ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mal einen Lösungsvorschlag! Nur einen! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Was Man könnte meinen, der Geist von Margarete ist denn Ihr Vorschlag?) ­Mitscherlich schwebt noch heute über dieser Regierung, die bereits 1987 – und da war die demografsche Kata- Sie hat weder den armen Familien geholfen noch dazu strophe schon ein Thema – gesagt hat, man könne das geführt, den legitimen Kinderwunsch von Familien zu Aussterben der Deutschen eigentlich nicht bedauern. unterstützen. Weder das Elterngeld Plus noch der andere 1242 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Martin Reichardt (A) bunte Reigen Ihrer ziel- und planlosen Familienpolitik Einwanderung in die Sozialsysteme aus, und das ist eine (C) hebt die Benachteiligung von Familien auf. Schande. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ma- (Beifall bei der AfD – Michael Grosse-Brömer chen Sie doch mal einen Vorschlag, wie es [CDU/CSU]:Wie geht es denn besser? Einen besser geht!) Vorschlag, wie es besser geht! Nur einen!) – Ja, ja. Wir kommen noch dazu. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Zurufe von der CDU/CSU: Ah! – Na, dann Herr Kollege Reichardt, gestatten Sie eine Zwischen- mal los! – Wir sind schon gespannt!) frage? Sie brauchen hier nicht herumzureden. Wir sind schon (AfD): dabei. Lesen Sie auch einmal unser Programm. Da stehen Martin Reichardt reichhaltig Forderungen drin. Nein. (Beifall bei der AfD) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Auf keinen Fall! Kein Lösungsvorschlag!) In seinem Urteil vom 3. April 2001 forderte das Bun- – Sie alle rufen doch schon genug dazwischen. Deshalb desverfassungsgericht – trotz des Gepöbels aus den Re- brauche ich jetzt keine Zwischenfrage zuzulassen. – Sie gierungsreihen – tun dies, obwohl Sie wissen, dass Einwanderung als Mit- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Was? tel zur Bekämpfung des Geburtendefzits generell unge- Die haben doch gar nichts gesagt! – Weiterer eignet ist. Zuruf von der CDU/CSU: Die Regierung sitzt (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Hören da drüben!) wir noch einen Lösungsvorschlag?) den Gesetzgeber auf, die eklatante Schlechterstellung Sie als Regierung von Familien mit Kindern gegenüber Kinderlosen im Bereich der Sozialsysteme zu beenden. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ich bin keine Regierung!) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Reden – ja – sind in der Pficht und haben geschworen, Schaden Sie doch mal ein bisschen leiser! – Weiterer vom deutschen Volke abzuwenden. Welcher Schaden an Zuruf von der CDU/CSU: Schreien Sie nicht einem Volk kann aber größer sein als dessen Vergreisung (B) so! – Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) und Aussterben durch eine kinderfeindliche Politik und NEN]: Warum schreien Sie denn so?) durch kinderfeindliche Lebensumstände? Um dieser Aufforderung gerecht zu werden, meine Da- (Beifall bei der AfD) men und Herren, hätte es eines großen Wurfes im Be- reich der Sozialpolitik und der Familienpolitik bedurft. Beenden Sie endlich diese Politik am Rande der Eid- brüchigkeit! Tun Sie etwas für Kinder und Familien, statt (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wo ist ideologische Dinge zu fordern! denn Ihr Wurf? So, jetzt kommt der Lösungs- vorschlag! – Maik Beermann [CDU/CSU]: (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Was Jetzt werfen Sie mal!) denn?) Aber Sie tun nichts dagegen, dass die Erfüllung des le- Setzen Sie die Forderungen des Verfassungsgerichts end- gitimen Kinderwunsches vieler Menschen zurzeit durch lich um, und planen Sie außerdem eine konzertierte Akti- die Lebensverhältnisse, zu denen eben auch Kinderarmut, on gegen die demografsche Katastrophe! Altersarmut und Ähnliches gehören, verhindert wird. Ehestandsdarlehen und eine tatsächlich nennenswerte Erhöhung des Kindergeldes: Das und nicht irgendwel- (Sönke Rix [SPD]: Was schlagen Sie denn ches Herumgestochere im familienpolitischen Klein- vor? – Katja Mast [SPD]: Was ist denn die Lö- Klein ist das Gebot der Stunde. sung des Problems? Vorschläge!) Vielen Dank. Gerechtigkeit für Familien und die Erhaltung des Souve- räns stehen nicht auf dem Programm Ihrer Familienpoli- (Beifall bei der AfD – Michael Grosse-Brömer tik. Große Würfe wagen Sie lediglich im Rahmen einer [CDU/CSU]: Nur Besserwisserei! Kein Vor- qualitativ und quantitativ schlechten Bevölkerungspoli- schlag! Das war schwach! Meine Güte! Al- tik. les besser wissen, nichts besser machen! – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sie GRÜNEN]: Wo ist Ihr Vorschlag?) werfen doch gar nicht! Wie geht es denn bes- ser?) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Sie geben das Geld, das für eine verantwortungsvolle Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Familienpolitik benötigt wird, für die millionenfache Lehmann von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1243

(A) Sven Lehmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): doch nicht nur diejenigen befragt, die es beziehen, die (C) Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr sich also ganz bewusst für diese Leistung entschieden Kollege, da Sie mir keine Zwischenfrage gestattet haben, haben, zumal das auch gerade einmal nur 28 Prozent der möchte ich Sie an dieser Stelle in Frageform auf etwas Anspruchsberechtigten waren. hinweisen: Ist Ihnen bekannt, dass die Mikroanlage in diesem Haus sehr gut ausgesteuert ist? Viel spannender ist doch, was mit den übrigen 72 Pro- zent ist, die zwar Elterngeld beziehen, sich aber offenbar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen das Elterngeld Plus entschieden haben. Die kom- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der men in Ihrem Bericht, der sich ja auf eine Befragung von SPD, der FDP und der LINKEN) knapp 1 000 Personen stützt, überhaupt nicht zu Wort. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Herr Kollege Reichardt, Sie können darauf antworten. Dabei könnte doch nur diese Gruppe die entscheidende Frage beantworten, warum sich so viele gegen das El- Martin Reichardt (AfD): terngeld Plus entscheiden. Ich weiß, dass sie sehr gut ausgesteuert ist. Bei dem (Beifall bei Abgeordneten der FDP) ständigen Dazwischengebölke von Ihnen war es einfach nötig, etwas lauter zu sprechen. Diese Frage zu stellen und in Ihrem Bericht zu beant- Vielen Dank. worten, wäre methodisch sauberer, erkenntnisreicher und auch ehrlicher gewesen. (Beifall bei der AfD – Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mimimi!) Bleibt also, uns mit den abgefragten Informationen auseinanderzusetzen. Diese offenbaren ein sehr differen- ziertes Bild. Die Zahlen zeigen, dass die Bundesregie-

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: rung das wesentliche Ziel bei der Einführung von Eltern- Nachdem auch das geklärt ist, erteile ich der Kollegin geld Plus und Partnerschaftsbonus, also die Vereinbarkeit Katja Suding von der FDP-Fraktion das Wort. von Familie und Beruf, bei einer großen Gruppe der Fa- (Beifall bei der FDP) milien schlicht verfehlt hat. Jede fünfte Frau gibt an, auf- grund des Elterngeldes Plus längere Zeit aus dem Beruf ausgestiegen zu sein. Mütter, die Elterngeld Plus mehr Katja Suding (FDP): als 20 Monate beziehen, gehen nur sehr selten einer Er- Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Damen (B) werbstätigkeit nach; genauso wenig nutzen ihre Familien (D) und Herren! Kollege Reichardt, Ihre kruden Thesen und den Partnerschaftsbonus. Sie teilen also Job und Kinder- fremdenfeindlichen Parolen, die Sie hier wirklich bei je- erziehung kaum. dem Tagesordnungspunkt irgendwo anbringen, werden tatsächlich nicht besser, wenn Sie hier am frühen Morgen Gut funktionieren Elterngeld Plus und Partnerschafts- so herumschreien. Das macht es kein bisschen besser. bonus vor allem für doppelverdienende Paare mit ähn- (Beifall bei der FDP, der SPD, dem BÜND- lich hohem Einkommen. Da bewirken sie tatsächlich NIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN eine Flexibilisierung der Arbeitszeit. Verdienen Eltern sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – dagegen sehr unterschiedlich, ist eine Berufstätigkeit für Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die den Geringerverdienenden – meistens ist es ja die Frau – Familienpolitik auch nicht! – Zurufe von der wenig attraktiv. Damit erreicht das Elterngeld Plus für AfD: Oh!) viele Paare eben keine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und auch keine verbesserte partnerschaftliche Meine Damen und Herren, gute und erfolgreiche Fa- Aufgabenteilung, sondern genau das Gegenteil, nämlich milienpolitik muss mit dem rasanten Wandel in der Ge- den Ausstieg aus dem Beruf. sellschaft Schritt halten und ihm gerecht werden. Frauen wollen heute eben nicht mehr nur Mutter sein, sondern sie (Beifall bei der FDP) wollen auch im Beruf erfolgreich sein, und Väter wollen nicht mehr auf die Rolle des Ernährers reduziert werden, Liebe Kollegin Schön, deshalb können wir in die Lo- sondern aktiv an der Erziehung ihrer Kinder teilhaben. beshymnen, die Sie angestimmt haben, nicht einsteigen, auch heute nicht. Das Elterngeld mit seinen Weiterentwicklungen El- terngeld Plus und Partnerschaftsbonus kann dabei unter- Meine Damen und Herren, wir lernen aus dem Be- stützen, wie der vorliegende Bericht an einigen Stellen richt: Das Elterngeld Plus setzt widersprüchliche Anrei- auch zeigt. Beide Weiterentwicklungen ermöglichen je- ze. Genau das gilt auch für die deutsche Familienpolitik denfalls im Grundsatz mehr Flexibilität und eine verbes- insgesamt. Über die Jahrzehnte kamen zahllose famili- serte partnerschaftliche Vereinbarkeit von Familie und enpolitische Maßnahmen dazu. Alte Leistungen wurden Beruf, und das ist auch gut so. aber nicht gestrichen. Aktuell sind es über 150 Leistun- gen, die sich in ihren Zielen zum Teil erheblich wider- Leider lässt der Bericht wichtige Fragen aber offen, sprechen und damit gegenseitig blockieren. und er betreibt damit ganz bewusst Schönfärberei. Wenn Sie, liebe Ministerin Barley, wirklich hätten wissen wol- (Sönke Rix [SPD]: Welche denn? – Katja len, wie es um das Elterngeld Plus steht, dann hätten Sie Mast [SPD]: Welche wollen Sie abschaffen?) 1244 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Katja Suding (A) Dass die neue zukünftige GroKo jetzt viele weitere an- nur für die Arbeitgeber, sondern auch für die Arbeitneh- (C) gekündigt hat, merinnen und Arbeitnehmer und ihre Familien. (Katja Mast [SPD]: Sagen Sie doch, welche (Beifall bei der LINKEN) Sie abschaffen wollen!) Natürlich kann man mit dem Elterngeld etwas bewir- ohne eine fundierte Evaluation der bestehenden Leistun- ken. Kleine Verbesserungen hat es ja auch schon gege- gen vorzunehmen, ist nicht automatisch ein Grund zur ben, auch, weil die Linke bei diesem Thema seit Jahren Freude, meine Damen und Herren. Druck macht; sonst hätten Sie sich gar nicht bewegt. (Katja Mast [SPD]: Was wollen Sie abschaf- (Beifall bei der LINKEN) fen? Was wollen Sie weghaben? Sagen Sie den Wir erkennen die positiven Entwicklungen an, die sich Bürgern draußen, was Sie weghaben wollen!) in Ihrem aktuellen Bericht zeigen. Wir begrüßen, dass Fast 200 Milliarden Euro – das sind nahezu zwei Drit- jetzt mehr Väter nicht nur zwei Partnermonate Basisel- tel des Haushaltes – fießen jedes Jahr in die Familien- terngeld in Anspruch nehmen. Auch das Elterngeld Plus politik. Trotzdem werden die Familien nicht passgenau stößt auf wachsende Akzeptanz; und das ist gut so. unterstützt. Das darf auf gar keinen Fall so bleiben. Trotzdem verändert das Elterngeld nicht den gesell- (Beifall bei der FDP – Katja Mast [SPD]: schaftlichen Status quo: Der Vater ist zwar nicht mehr Was wollen Sie weghaben?) Alleinverdiener, aber weiterhin meist Haupternährer der Familie. Die Mutter ist nicht mehr allein für die Fami- Steuerzahler und Familien haben ein Recht darauf, dass lienarbeit zuständig, aber weiterhin meist überwiegend. diese Mittel wirksamer investiert werden. Ziel muss es Was aber fehlt, sind Anreize, dieses Rollenmuster grund- sein, die Familien so zu unterstützen, wie sie es heute sätzlich aufzubrechen. Das kann ich bei ihnen nicht er- brauchen, und nicht so, wie man sich das vor 50 Jahren kennen. dachte. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP) Die Linke streitet für eine Gesellschaft, in der das Ge- Das Elterngeld und seine Erweiterungen sind ein schlecht auf den Anteil an der Sorgearbeit keinen Ein- Schritt in die richtige Richtung, auch wenn wir weite- fuss mehr hat. Das Elterngeld könnte dazu beitragen. ren deutlichen Verbesserungsbedarf sehen. Noch wichti- Dazu müsste es aber anders ausgestaltet werden. Es muss ger aber ist, auch die vielen anderen familienpolitischen personengebunden sein. Zwölf Monate für jeden Eltern- Leistungen und ihre Wechselwirkungen stärker in den teil, 24 Monate für Alleinerziehende – das wäre eine ech- (B) Blick zu nehmen. Das werden wir uns zur Aufgabe ma- te, konkrete Verbesserung. (D) chen. (Beifall bei der LINKEN) Vielen Dank. Zugleich entstünde ein Anreiz zur partnerschaftlichen (Beifall bei der FDP) Aufgabenteilung. Meine Damen und Herren, das Elterngeld muss außer- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: dem fexibler werden. Eltern müssen sich dafür entschei- Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine den können, im ersten Lebensjahr ganz für ihr Kind da zu Zimmermann, Fraktion Die Linke. sein – ja, auch gemeinsam, wenn sie es wünschen. Aber sie müssen natürlich auch die Möglichkeit haben, diese (Beifall bei der LINKEN) Leistung später im Leben des Kindes zu beanspruchen. Unsere Forderung ist: bis zum siebten Lebensjahr. So Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): kann man verschiedenen Lebenssituationen Rechnung Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- tragen und Väter noch mehr ermutigen, ihren Anteil bei- ren! Elterngeld und Elterngeld Plus verfolgen das richti- zutragen. So geht Zukunft, meine Damen und Herren! ge Ziel. Es geht um die Absicherung von Eltern, die ihre (Beifall bei der LINKEN) Erwerbsarbeit reduzieren. Und es geht um eine partner- schaftliche Aufteilung der Sorgearbeit. Aber wir alle wis- Ich möchte aber noch näher auf den Bericht der Bun- sen, dass man diese Ziele mit dem Elterngeld allein nicht desregierung eingehen. Es fällt auf, dass das Elterngeld erreichen kann. Plus bei Familien mit geringem Einkommen kaum an- kommt. Das müsste Ihnen eigentlich auch aufgefallen Die Bedingungen in der Arbeitswelt werden immer sein. Doch in Ihrem Bericht fehlt jede Aussage dazu, wa- härter. Die Beschäftigten sollen für den Arbeitgeber im- rum das so ist. Ich kann es Ihnen sagen: weil Ihre Fami- mer fexibler werden. Aber wer berufich selbst einmal lienpolitik eine reine Besserverdienerpolitik ist. Das ist kürzertreten möchte, wird ausgebremst. Er steigt nicht keine Familienpolitik für alle, und das muss sich ändern. mehr auf, er wird auch nicht mehr an den Lohnsprün- (Beifall bei der LINKEN – Sönke Rix [SPD]: gen beteiligt etc. Hier prallen doch grundverschiedene Für wen ist denn der Kinderzuschlag!) Interessen aufeinander. Da hat sich bisher keine Bundes- regierung richtig herangetraut. Wir Linke sagen: Gute Gerade die Familien, die am dringendsten auf Unter- Familienpolitik heißt vor allem auch eine gute Arbeits- stützung angewiesen sind, gehen beim Elterngeld leer politik. Und gute Arbeitspolitik heißt: Flexibilität nicht aus. Eltern, die Hartz IV oder den Kinderzuschlag bezie- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1245

Sabine Zimmermann (Zwickau) (A) hen – da erzähle ich Ihnen doch nichts Neues – wird das Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) Elterngeld seit 2011 angerechnet. Davon haben sie gar Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! nichts, nicht einen Cent. Sie kriegen den Bescheid und Liebe Kollegen! Ich freue mich, dass der Bericht zum das Jobcenter das Geld. Das ist doch ungerecht. So kann Elterngeld Plus nach der Regierungsbefragung noch ein es doch nicht bleiben. zweites Mal auf der Tagesordnung steht und wir im Ple- num die Gelegenheit haben, über die Handlungsbedarfe (Beifall bei der LINKEN – Sönke Rix [SPD]: und die Hausaufgaben zu sprechen, die die Politik noch Elterngeld ist eine Lohnersatzleistung!) zu machen hat. Wir haben acht Minuten Gebrüll und Das ist das glatte Gegenteil von guter Familienpolitik. Gemotze von der AfD gehört, aber keinen einzigen Vor- Die Linke fordert, die Anrechnung von Elterngeld auf schlag, der nach vorne weist. Transferleistungen endlich wieder abzuschaffen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katja bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) LINKEN) Ihr Bericht hat noch einen weiteren blinden Fleck: Das Aber damit sollten wir uns gar nicht aufhalten; denn die sind die Alleinerziehenden. Zwei Drittel der Einelternfa- Politik hat noch Hausaufgaben zu machen. Familien milien sind von Armut bedroht. Aber die Alleinerziehen- brauchen tatsächlich mehr Zeit füreinander. Eltern wol- den haben Sie für Ihren Bericht kaum befragt. Deswegen len Erwerbs- und Familienarbeit partnerschaftlich un- können Sie gar nicht wissen, ob das Elterngeld Plus bei tereinander aufteilen. Wie schaffen wir das? Dazu habe Alleinerziehenden ankommt. ich, ehrlich gesagt, von der Ministerin und der Unions- kollegin nichts gehört, das nach vorne weist. Lobhudelei Wir reden mit den Alleinerziehenden und wissen, wo dessen, was erreicht wurde, ist ein bisschen mickrig; das der Schuh drückt. Fragen Sie einmal die Alleinerziehen- reicht nicht. denverbände. Die können Ihnen das ganz genau sagen. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aber Alleinerziehende brauchen Flexibilität beim Elterngeld das musste auch gesagt werden!) Plus. Wir müssen nach vorne schauen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Der Korridor von 25 bis 30 Wochenstunden für die vier zusätzlichen Monate ist einfach zu eng. Das können Elterngeld und Elterngeld Plus sind ein Erfolg; das se- (B) (D) Ihnen auch die Alleinerziehendenverbände bestätigen. hen wir Grüne genauso. Das zeigt der Bericht eindeutig. Und weil Alleinerziehende häufg arm sind, wird vielen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der das Elterngeld auf die Transferleistungen angerechnet. CDU/CSU – Sönke Rix [SPD]: Vielen Dank!) Hier schließt sich für diese Gruppe der Teufelskreis wie- der. Die Inanspruchnahme des Elterngeld Plus hat sich in kur- zer Zeit, zwischen 2015 und 2017, verdoppelt. Der Anteil (Sönke Rix [SPD]: Elterngeld ist eine Loh- der Väter, die Elterngeld Plus in Anspruch nehmen, zeigt nersatzleistung!) eine positive Tendenz. Lag er 2015 noch bei 4,6 Prozent, – Trotzdem können Sie das nicht anrechnen. Deswegen sind es jetzt schon 13,8 Prozent. Aber auch da ist – liebe haben die Kinder gar nichts davon. Aber gerade diese Kolleginnen und Kollegen, darin werden Sie mir sicher- Kinder brauchen die Leistungen ganz dringend, und – lich zustimmen – noch deutlich Luft nach oben. wenn Sie schon mit mir darüber diskutieren – diese Leis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tungen enthalten Sie ihnen vor. Das ist Ihre Familienpo- litik. Trotz der guten Entwicklungen gibt es keinen Grund, sich auszuruhen. Uns wurde in den letzten Jahren eine (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Studie nach der anderen vorgelegt, unter anderem vom neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIW und vom WZB. Im letzten Jahr wurde der Zweite Gleichstellungsbericht veröffentlicht. Überall ist dassel- Die Linke will ein Elterngeld, das bei allen Famili- be zu lesen: Eltern wünschen sich mehr Zeit für Familie en ankommt. Für uns ist das eine Frage von Würde und und Kinder. Sie wollen sich Erwerbs- und Familienarbeit Wertschätzung, weil für uns jede Familie zählt. partnerschaftlich teilen. Des Weiteren ist immer wieder Danke schön. zu lesen, dass Mütter gerne mehr arbeiten würden, wäh- rend viele Väter weniger arbeiten und ihre Arbeitszeit (Beifall bei der LINKEN) reduzieren möchten, um mehr Zeit mit der Familie ver- bringen zu können. Sie können es aber in ihrem Alltag nicht umsetzen. Das meine ich, wenn ich sage, dass die

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Politik noch Hausaufgaben zu machen hat. Es ist unsere Jetzt hat die Kollegin Katja Dörner, Bündnis 90/Die Aufgabe, es Familien zu erleichtern, so zu leben, wie sie Grünen, das Wort. es sich wünschen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 1246 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Katja Dörner (A) Leider lässt sich dazu im Koalitionsvertrag zwischen das Leben einfach einmal nicht so geradlinig verläuft, (C) Union und SPD, also der Großen Koalition, die man wie man sich das vorgestellt hat. eigentlich als solche gar nicht mehr bezeichnen kann, nichts fnden. Es gibt gerade einmal einen dünnen Halb- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) satz, in dem es heißt, dass mehr Zeit für Familien ermög- Es ist uns ganz besonders wichtig, Eltern darin zu licht werden soll. Aber alles andere bleibt komplett vage. unterstützen, Erwerbs- und Familienarbeit untereinan- Ich muss daher konstatieren: Die schwarz-rote Koalition der partnerschaftlich aufzuteilen. Deshalb wollen wir die hat offensichtlich nicht vor, ihre Hausaufgaben an dieser Anzahl der Partnermonate unbedingt ausweiten. Es soll Stelle zu machen. Das ist keine gute Perspektive für die besonders gefördert werden, wenn beide Elternteile in nächsten Jahre. vollzeitnaher Teilzeit tätig sind. Dabei gibt es gute, diskussionswürdige Vorschläge. Liebe Kolleginnen und Kollegen, so sieht unserer An diesem mitgebrachten Schaubild können Sie die Kon- Meinung nach moderne Familienpolitik aus. Es ist bitter, zeption der SPD für die sogenannte Familienarbeitszeit dass nicht nur die alte GroKo Modelle dieser Art ausge- erkennen. Um präzise zu sein: Dieses Schaubild stammt blendet hat, sondern dass auch die neue kleine GroKo aus dem BMFSFJ. Das hat Ministerin Schwesig – viele da nicht anders agiert, sondern genauso weitermacht. Es von Ihnen werden sie noch kennen – am 16. Juni 2016 reicht eben nicht, sich für Erreichtes zu loben. Wir müs- präsentiert. Frau Schwesig hatte sogar für 2017 einen sen auch nach vorne blicken. Wir werden das hier in den konkreten Gesetzentwurf dazu angekündigt. Aber dieser nächsten Monaten und Jahren forcieren. Wir hoffen, dass Gesetzentwurf hat nie das Licht der Welt erblickt. Ich bin wir im Hinblick auf mehr Zeit für Familien mehr errei- zwar nicht der Meinung, dass die Familienarbeitszeit das chen können. optimale Modell ist. Aber dass sich mit Blick auf Fami- lienarbeitszeit und mehr Zeit für Familien im Koalitions- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. vertrag überhaupt nichts fnden lässt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Sönke Rix [SPD]: Das stimmt nicht!) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: dass dieses Thema komplett ausgeblendet wird, ist eine schlechte Nachricht für die Familien in unserem Land. Danke sehr. – Jetzt erteile ich das Wort dem Kolle- gen Torbjörn Kartes zu seiner ersten Rede im Deutschen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Bundestag. Nadine Schön [CDU/CSU]: Sie sollten den (Beifall bei der CDU/CSU) mal lesen! – Sönke Rix [SPD]: Man muss ihn (B) lesen, bevor man ihn kritisiert!) (D) Torbjörn Kartes (CDU/CSU): Ich bin immer dafür, Ross und Reiter zu nennen. An Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten dieser Stelle muss man sicherlich konstatieren, dass nicht Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die SPD daran schuld ist, dass darüber nichts im Koaliti- Ich freue mich sehr, dass ich gerade meine erste Rede im onsvertrag steht. Deutschen Bundestag zur Vereinbarkeit von Familie und (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Sönke Beruf halten darf. Das ist das zentrale Thema für junge Rix [SPD]: Wir sind nie schuld!) Familien. Das spüren wir, die wir eine Familie haben, im Übrigen in regelmäßigen Abständen selbst. Ich weiß, Es ist ganz klar, dass die Union dieses Thema blockiert. dass es ganz vielen Familien in unserem Land ähnlich Mir ist unbegreifich, dass sich eine Partei, die sich so geht. lobt und so viel darauf einbildet, Familienpartei zu sein, so vehement dagegen wehrt, über Maßnahmen nachzu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) denken, die dazu führen sollen, dass Familien wieder So gehört es zur Realität, dass gerade die Betreuung mehr Zeit füreinander haben, dass junge Eltern weniger von Kleinkindern ohne die Großeltern oft nur sehr schwer gehetzt durch das Leben gehen können. zu organisieren ist. Ich glaube, es ist unsere gesamtge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sellschaftliche Aufgabe, weiter an der Verbesserung der Rahmenbedingungen zu arbeiten, damit in Deutschland Wir werben weiterhin für unsere Kinderzeit Plus. Wir mehr Kinder auf die Welt kommen und damit unser Land wollen das Elterngeld und das Elterngeld Plus weiter- insgesamt noch kinderfreundlicher wird. entwickeln. Es soll auf 24 Monate ausgeweitet werden, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU damit Eltern es länger in Anspruch nehmen können. Wir sowie der Abg. Katja Mast [SPD]) wollen es zudem fexibler gestalten, damit es besser in das Leben der Familien passt. Um es gleich zu sagen: Ich bin der Meinung, dass der Staat nicht alle Herausforderungen von jungen Famili- Den Anspruch auf reduzierte Arbeitszeiten verbunden en bewältigen muss. Die Erziehung von Kindern ist und mit einer fnanziellen Absicherung soll man haben kön- bleibt zuvörderst Aufgabe ihrer Eltern. nen, bis die Kinder 14 Jahre alt sind. Kinder brauchen nicht nur in den ersten Lebensjahren mehr Zeit mit ihren (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- Eltern, sondern sie brauchen sie auch, wenn sie älter sind, wie der Abg. Katja Mast [SPD] und des Abg. sei es, weil ein Schulwechsel ansteht, oder sei es, weil Jürgen Braun [AfD]) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1247

Torbjörn Kartes (A) Wir wollen als Union auch nicht in die freie Entschei- Früher in Teilzeit zurückzukommen, das macht gerade (C) dung der Familien eingreifen; wir schreiben keinen Weg das Elterngeld Plus möglich. Zugleich stellt es aber auch vor. Auch Familienarbeit ist Arbeit und verdient unsere eine große Herausforderung für Unternehmen dar; ich Unterstützung und Anerkennung. fnde, das muss man heute Morgen auch einmal sagen. Es ist durchaus eine Herausforderung, wenn monatswei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) se, teilweise auch für länger, Mitarbeiterinnen und Mitar- Für diejenigen, die Erwerbstätigkeit und Familienarbeit beiter in Elternzeit gehen und für diesen Zeitraum ersetzt besser verbinden möchten, wollen wir etwas tun. werden müssen, weil sie eben nicht ersatzlos wegfallen können. Wenn in einer Schicht einer fehlt, muss für Er- Um es heute noch einmal ganz deutlich zu betonen – satz gesorgt werden. Deswegen ist das für Unternehmen ich glaube, das ist notwendig –: Elterngeld Plus und auch eine Chance, aber immer auch eine Herausforderung. die Partnerschaftsmonate tragen die Handschrift der Uni- on. Sie tragen ganz erheblich dazu bei, dass Beruf und Beruf und Familie zu vereinbaren, ist also schon Familie besser zu vereinbaren sind, gerade wenn die Kin- vielfach Thema in der alltäglichen Arbeit unserer Un- der klein sind. ternehmen. Die Zeiten, in denen Vorstellungsgespräche (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) vor allem Gehaltsverhandlungen waren, in denen es also vor allem um die Höhe des Einkommens ging, sind lan- Das sollten wir heute auch nicht kleinreden. ge vorbei. Stattdessen geht es um Fragen wie: Wie kann Wir sollten um kurz nach 9 Uhr hier auch noch nicht ich meine neue Arbeitsstelle mit meinem Familienleben herumschreien und völlig am Thema vorbeisprechen. kompatibel machen? Kann ich an einem Tag oder an zwei Den Geist, von dem Sie, liebe Kollegen von der AfD, Tagen pro Woche auch von zu Hause arbeiten? Kann ich heute gesprochen haben, den haben wir heute Morgen meine Arbeitszeit fexibel gestalten, also am Nachmittag erlebt. Wir haben auch gestern wieder gesehen, welcher nach Hause gehen, mit den Kindern spielen und dann, Geist hier eingezogen ist. wenn die im Bett liegen, wieder weiterarbeiten? Das sind die Themen dieser Zeit, mit denen wir uns, denke ich, (Dr. [AfD]: Hier ist end- beschäftigen sollten. lich mal Geist eingezogen, Herr Abgeordne- ter! – Jürgen Braun [AfD]: Vorher war gar (Beifall bei der CDU/CSU) kein Geist da! – Gegenruf des Abg. Dr. [FDP]: Mancher Geist ist auch ein Das Elterngeld Plus und der Partnerschaftsbonus kön- Schreckgespenst!) nen eine Antwort auf diese Frage geben – eine von vielen Antworten, wohlgemerkt; aber sie sind ein wichtiger Bei- Wir erwarten von Ihnen, dass Sie endlich einmal konkre- trag dazu, dass wir als Land kinderfreundlicher werden. (B) te Vorschläge machen, wie Sie die Situation von Famili- (D) en in Deutschland verbessern wollen. (Beifall der Abg. Nadine Schön [CDU/CSU]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Natürlich gibt es beim Elterngeld Plus auch Dinge, die ordneten der SPD) wir verbessern können. „Die Rheinpfalz“ – das ist die Ich kann es Ihnen noch einmal sagen: Das Elterngeld Lokalzeitung meiner Heimatstadt Ludwigshafen – hat im Plus ist eine Erfolgsgeschichte. Ich fnde, wir sollten da- Vorfeld über diese Rede berichtet. Wir haben sehr viele rauf stolz sein. Diese Regelung ermöglicht Eltern, die Rückmeldungen zum Thema Elterngeld Plus bekommen. Kindeserziehung länger gemeinschaftlich aufzuteilen Das zeigt, wie sehr es die Menschen auch im Wahlkreis und zugleich den Anschluss im Beruf nicht zu verlieren. bewegt. Es ist sehr viel Lob dabei, aber es gibt durchaus Das ist ein gutes Angebot für Familien, und es verwun- auch Dinge, die wir noch besser machen können. dert nicht – wir haben es ja heute gehört –, dass es immer besser angenommen wird, insbesondere auch von den Es ist eine komplexe Regelung geworden. Es ist eine Vätern. Regelung, die durchaus auch bürokratisch ist, und Fami- lien fühlen sich dabei nicht immer optimal beraten. Des- Der vorliegende Bericht zeigt auch: Das Elterngeld wegen glaube ich schon, dass wir noch einiges zu tun Plus ermöglicht insbesondere Frauen einen früheren Wie- haben. Wir brauchen eine Auskunftsstelle für alle Famili- dereinstieg in den Beruf. In unserer sich immer schneller enangelegenheiten, an die sich Familien wenden können. verändernden, digitaler werdenden Arbeitswelt wird das Das ist und bleibt unser Ziel. auch immer wichtiger. Denken Sie einmal an eine Mut- ter, die im weitesten Sinne im IT-Bereich tätig ist und für Darüber hinaus gibt es noch vieles Weitere zu tun, die es nach über acht Jahren Familienauszeit gilt, sich glaube ich, damit unsere Gesellschaft und unsere Ar- wieder in ihren Job zu integrieren. Das ist durchaus an- beitswelt noch kinder- und familienfreundlicher werden. spruchsvoll. Im Übrigen ist dieser Fall nicht konstruiert, Unsere bisherigen Anstrengungen – das kann ich für die sondern ein Beispiel aus meinem eigenen Berufsleben als Union sagen – werden wir in den kommenden vier Jah- Personalleiter eines mittelständischen Energieversorgers. ren fortsetzen. Ich werde dazu gern auch meinen Beitrag Das zeigt, wie wichtig es ist, früher den Wiedereinstieg leisten. in den Arbeitsplatz zu fnden, wenn man das möchte. Das ist wichtig für Eltern und im Übrigen auch für Arbeitge- Vielen Dank. ber. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der CDU/CSU) ordneten der SPD) 1248 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Babysitter doch keine Zeit haben oder die Kinder ganz (C) Jetzt hat das Wort die Kollegin Katja Mast, SPD-Frak- einfach einmal krank sind, was sie, wenn sie klein sind, tion. relativ häufg sind. Es geht daher darum, an dieser Stelle Erleichterung zu schaffen, wo Druck auf den Familien (Beifall bei der SPD) lastet, und die Familien ernst zu nehmen.

Katja Mast (SPD): Aus meiner Sicht ist die größte Mammutaufgabe, Kin- der tatsächlich gut zu erziehen und ihnen Halt, Gebor- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und genheit und Orientierung im Leben zu geben. Dazu will Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich ich aber sagen – „Mammutaufgabe“, hört sich so schwer will gern auch auf meine Vorrednerinnen und Vorredner an, genau wie: „lastet auf unseren Schultern“ –: Es ist eingehen. Viele Eltern in Deutschland bringen ihren Kin- gleichzeitig die schönste Mammutaufgabe, die ich mir dern bei: Wer schreit, hat unrecht. persönlich vorstellen kann. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des Ich will an Anita Lasker Wallfsch erinnern, die uns BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zum Holocaustgedenktag eine wichtige Botschaft, wie ich fnde, mit auf den Weg gegeben hat. Sie erinnern sich Im Bericht zum Elterngeld Plus und zu den Partner- vielleicht, dass sie zuerst von ihrem Hass auf Deutsch- schaftsbonusmonaten wird deutlich, dass 70 Prozent der land gesprochen hat und davon, dass sie eidbrüchig ge- Eltern, die den Partnerschaftsbonus in Anspruch neh- worden ist. Sie hat gesagt: men, diesen positiv bewerten. Der Partnerschaftsbonus umfasst vier Elterngeldmonate. Ich möchte das allen, die Hass ist ganz einfach ein Gift, und letzten Endes nicht jeden Tag Elterngeld-Politik machen, einmal er- vergiftet man sich selbst. klären: Normalerweise bekommt man das Elterngeld für Ich fnde, das passt ganz gut zu dem, was wir heute Mor- 12 plus zwei weitere Monate. Beim Elterngeld Plus kann gen in der Debatte schon erlebt haben. man, wenn man zusätzlich den Partnerschaftsbonus in Anspruch nimmt, die Leistung 28 Monate beziehen und (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LIN- parallel in Teilzeit arbeiten. Während der vier Partner- KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schaftsbonusmonate arbeiten beide Elternteile. Ich will zu meiner Kollegin Suding von der FDP noch Es ist ein gutes Instrument, um Partnerschaftlichkeit einmal in aller Ruhe – jetzt nicht als Zwischenruf – sa- zu leben. Die Menschen wollen nämlich partnerschaft- (B) gen: Ich fnde es legitim, dass Sie nicht alles für in Ord- lich leben. 70 Prozent sagen, dass sie das gut fnden. Sie (D) nung halten, was bei den Familienleistungen in Deutsch- wollen eben erwerbstätig sein und sich um die Kinder land passiert – auch ich will mehr –; Sie haben uns aber kümmern. Dieses Instrument kommt genau dort an, wo leider darüber im Unklaren gelassen, was Sie abschaffen es ankommen soll, und ist deshalb auch ein gutes Inst- wollen. Sie haben nicht nur uns im Unklaren gelassen, rument. sondern auch die Bürgerinnen und Bürger da draußen. Natürlich beinhaltet unser Koalitionsvertrag, den (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Katja CDU, CSU und SPD vereinbart haben, viele, viele Er- Suding [FDP]: Das kriegen Sie alles noch!) rungenschaften für junge Familien. Ich beginne mit dem Ich will etwas zu dem Bericht sagen, den wir heute Kindergeld sowie der Abschaffung des Solis, der die El- diskutieren. Wichtig für uns von der SPD-Bundestags- tern genauso betrifft wie die Instrumente, die wir in der fraktion, für die ich hier spreche, ist, dass Familien, Infrastruktur schaffen. Wir Sozialdemokratinnen und So- Familienbilder und Familienwünsche sich ändern und zialdemokraten haben dafür gekämpft, dass es ein Recht dass Familien, junge Familien, mehrheitlich an uns den auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter gibt. In mei- Wunsch herantragen, Sorgearbeit für die Kinder und Er- nem Wahlkreis beklagen sich junge Eltern bei mir, weil werbsarbeit partnerschaftlich zu leben und zu teilen. ihre Kinder in der Ganztagskita betreut wurden, es diese Ganztagsbetreuung in der Grundschule aber nicht mehr Ich glaube, dass sich Politik diesem Wunsch nicht ver- gibt. Sie können also plötzlich nicht mehr arbeiten, was schließen darf. Wir müssen vielmehr Instrumente schaf- während der Kitazeit noch möglich war. Deshalb steht fen, um diesen Wunsch für junge Familien zur Realität das in diesem Koalitionsvertrag und ist mit 3,5 Milliar- werden zu lassen. Genau deshalb diskutieren wir heute den Euro fnanziert. das Elterngeld, das Elterngeld Plus und den Partner- schaftsbonus. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) In diesem Koalitionsvertrag steht, dass wir ein Kita- qualitätsgesetz verabschieden wollen, um Qualität zu Man muss sich heute in junge Familien hineindenken. schaffen und um den Einstieg in den Abbau von Gebüh- Die jungen Eltern wollen sich alles partnerschaftlich auf- ren und schließlich die Gebührenfreiheit hinzubekom- teilen. Ich will nicht verhehlen, dass ich weiß, dass es men. Keine andere Partei als die SPD kämpft für die dabei natürlich auch Zeitkonfikte gibt – ganz klassische Kitagebührenfreiheit. Deshalb steht das in diesem Koa- Zeitkonfikte. Jeder muss einmal darüber nachdenken, litionsvertrag. wie man die Schulferienzeiten partnerschaftlich über- brückt oder wie man es löst, wenn die Großeltern oder (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1249

Katja Mast (A) In diesem Koalitionsvertrag steht ganz viel, was wir lierte Analyse und Überprüfung stattfnden. Erst dann (C) für die Alleinerziehenden und gegen die Kinderarmut kommen die Vorschläge. tun wollen. Wir wollen ein Riesenpaket zur Bekämpfung von Kinderarmut schnüren, das mit 1 Milliarde Euro so- (Beifall bei der FDP – Michael Grosse-Brömer lide durchfnanziert ist. Wir helfen auch den Kindern, [CDU/CSU]: Genau! Es sei denn, man ist Mit- die unter das SGB II fallen, deren Eltern also Arbeitslo- glied bei der AfD, dann kommen gar keine sengeld II bekommen. Wir sorgen dafür, dass sie künf- Vorschläge!) tig Nachhilfe bekommen, wir sorgen dafür, dass sie kein Nun aber zum Thema. Das Ziel einer verbesserten Geld mehr für das Mittagessen in die Hand nehmen müs- Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterstütze ich aus- sen, und wir sorgen dafür, dass sie kein Geld mehr für die drücklich. Grundsätzlich setzen das Elterngeld Plus und Schulfahrkarte zahlen müssen. der Partnerschaftsbonus hier gute Akzente. Allerdings leidet es – wie der Bericht des Ministeriums deutlich dar- Nun denken Sie alle vielleicht: Das sind aber kleine stellt – an einigen leider sehr ernsthaften Kinderkrankhei- Dinge, die die Frau Mast da sagt. Ich sage Ihnen aber: ten. Folgende Punkte seien hier exemplarisch genannt: Wir sind hier Abgeordnete, um das Leben der Familien mit Kindern ganz konkret zu verbessern. Laut Allensbach sind für Familien und Eltern fexible Arbeitszeiten besonders wichtig. Da verwundert es doch (Beifall bei der SPD) sehr, dass der Partnerschaftsbonus einen starren Arbeits- zeitkorridor von 25 bis 30 Stunden für beide Elternteile Das sind sehr konkrete Dinge, die bei den Familien und vorgibt. Individuelle Teilzeitvarianten jenseits dieser Be- den Kindern in Deutschland ankommen. stimmung sind nicht einmal vorgesehen. Diese Regelung ist dadurch nicht nur lebensfremd, sondern sie ist auch Ich bin wirklich stolz, dass wir es hingekriegt haben, so familienfeindlich gestaltet, dass bei geringster Ab- im Rahmen dieses Koalitionsvertrags Kinderrechte als weichung – ja sogar selbst bei Krankheit auch nur eines Grundrechte als Ziel unserer Politik zu vereinbaren. Elternteils in nur einem der Partnermonate – der Bonus Denn das stärkt Familien und Kinder. komplett zurückgezahlt werden muss. Wie absurd ist das (Beifall bei der SPD) denn? (Beifall bei der FDP) Wir haben gemeinsam viel erreicht, und das fnde ich gut. Ich fnde auch gut, dass die IG Metall und die Me- Da wird jemand in der Familie krank, und dann sagt der tall-Arbeitgeber die Frage nach Zeit und Flexibilität in Staat als Belohnung auch noch – Ironie; für alle diejeni- ihrem Tarifabschluss zum Thema gemacht haben. Wir gen, die es nicht gleich realisiert haben –: Wir wollen das (B) befnden uns hier schließlich nicht im luftleeren Raum. Geld und die Unterstützung zurück. (D) Auch andere gesellschaftliche Akteure greifen das auf. Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese und Ich will zum Schluss kommend sagen: Wir haben da- andere familienfeindlichen Regeln müssen schnellstens mals an der Seite von Renate Schmidt gesellschaftliche modifziert werden, damit Familien nicht aufgrund feh- Mehrheiten für das Elterngeld erkämpft, und wir kämp- lender Planungssicherheit überhaupt keinen Antrag stel- fen immer noch dafür – da sind wir mit CDU/CSU nicht len. zusammengekommen –, dass es künftig eine Familienar- Aus meiner Sicht ist diese Arbeitszeitregelung ebenso beitszeit gibt, dass die Eltern einen Zuschuss vom Staat wie die Arbeitszeitregelung generell trotz vermeintlicher bekommen, wenn beide arbeiten und ihre Arbeitszeit re- Gleichbehandlung gerade für Alleinerziehende meilen- duzieren. Da sind wir aus ganz unterschiedlichen Grün- weit von der Realität entfernt. Der Arbeitszeitkorridor den noch nicht zusammengekommen. Aber wir von der von 25 bis 30 Stunden ist völlig von der Realität der SPD werden weiter daran arbeiten, Partnerschaftlichkeit, Alleinerziehenden entfernt, die meistens eben nicht min- Zeit für Familie und gutes Aufwachsen unserer Kinder in destens 25 Stunden arbeiten können. dieser Gesellschaft zu gewährleisten. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD) Zudem müssen die Möglichkeiten von digitaler Ar- beit, wie Homeoffce und andere selbstbestimmte Teil- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: zeitmodelle, berücksichtigt werden und Eltern und Be- Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Grigorios triebe in die Lage versetzt werden, diese auszugestalten Aggelidis zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundes- und wahrzunehmen. Dies verbessert endlich die Verein- tag. barkeit von Familie und Beruf als wichtiges Ziel – und zwar signifkant. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Übrigens: Nur jede vierte Mutter und jeder fünfte Grigorios Aggelidis (FDP): Vater, die das Elterngeld Plus beziehen, halten die An- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten tragstellung für leicht. Wenn aufgrund einer schwierigen Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Antragstellung Anträge nicht gestellt werden, führt das Liebe Frau Mast, grundsätzlich: Bevor man Vorschläge zu Förderlücken für Familien, die insbesondere bei nied- machen kann, um etwas zu verbessern, muss eine detail- rigem Einkommen schmerzhaft sind. Hinsichtlich der 1250 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Grigorios Aggelidis (A) Nichtbeziehenden wird überhaupt keine Aussage getrof- Natürlich hat sich viel geändert, aber das liegt be- (C) fen; darauf hat Katja Suding zu Recht hingewiesen. Das stimmt nicht an Ihrem Schreien. Im Jahr 1950 wurden ist ein ganz großer weißer Fleck des Berichts. Da müssen zum Beispiel 750 000 Ehen geschlossen. 2016 waren es wir nachhaken, meine Damen und Herren. 400 000 Ehen, obwohl die Bevölkerungszahl gestiegen ist. Wir sehen, dass die Familienformen sich maßgeblich (Beifall bei der FDP) verändert haben, dass es immer mehr Alleinerziehende Außerdem müssen die Elterngeldvarianten endlich gibt, dass die Erwerbstätigkeit der Frauen steigt, dass bundesweit digital beantragt werden können, damit Kinder häufger in die Kita bzw. in den Kindergarten grundsätzlich der Wust an Formularen, die Eltern in der gehen. Aus der Alleinverdienerfamilie der 60er-Jahre ist Zeit nach der Geburt ausfüllen müssen, reduziert wird. immer häufger eine Familie mit zwei Einkommen ge- Dadurch wird übrigens auch ein möglicher Wechsel der worden. Die heutige Realität der Erwerbsmodelle hat Elterngeldvarianten, der ja ausdrücklich vorgesehen ist, sich geändert. Wenn wir uns diese anschauen – der Be- deutlich vereinfacht. Eine digitale Bearbeitung erspart richt zeigt das auch –, dann stellen wir fest: 40 Prozent den Familien Aufwand und schenkt ihnen kostbare Zeit der Eltern entscheiden sich für ein Modell, bei dem ein füreinander. Elternteil in Vollzeit und der andere in Teilzeit arbeitet; ein Viertel entscheidet sich für ein Modell, bei dem beide (Beifall bei der FDP) Eltern in Vollzeit arbeiten, und für das Alleinverdiener- Schon diese konkreten Verbesserungen – darum soll- modell entscheidet sich ebenfalls ein Viertel der Eltern. te es, fnde ich, in unserer Arbeit hier im Hause gehen: In der Diskussion wird Letzteres oft belächelt und als nämlich Themen und Probleme zu erfassen und konkrete rückständig bezeichnet. Ich möchte ausdrücklich darauf Verbesserungen vorzuschlagen – stärken insgesamt die hinweisen, dass alle Erwerbsmodelle ihre Daseinsbe- Selbstbestimmung der Familien, indem sie sich an ihren rechtigung haben. Lebensrealitäten und Bedürfnissen orientieren. Deshalb (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) hat Katja Suding bereits zu Recht festgestellt, dass eine kontinuierliche und ideologiefreie Überprüfung aller fa- Erwähnen möchte ich – auch das gehört dazu –, dass in milienpolitischen Leistungen die Basis für eine immer knapp 10 Prozent der Familien beide Elternteile in Teil- bessere Familienpolitik ist. zeit arbeiten. (Beifall bei der FDP) All diese vielfältigen Erwerbsformen hat der Staat nicht von sich aus initiiert. Sie entstanden zum einen durch ökonomische Realitäten, zum anderen aber auch Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: durch den individuellen Wunsch der Frauen und Männer (B) Herr Kollege. nach Erwerbstätigkeit und nach mehr Familie. Mütter (D) und Väter wollen heute beides: Sie wollen Familie und Grigorios Aggelidis (FDP): Beruf und Kind und Karriere. Sie wollen für ihre Familie da sein und im Beruf weiterkommen. Jeder, der Kinder Letzter Satz. – Nur so verbessern wir die Situation und hat, weiß: Mit der Geburt eines Kindes macht man sich in Perspektive von Eltern und Kindern nachhaltig und stär- der Familie Gedanken: Wer geht zur Arbeit? Wer erzieht ken die Familie als Keimzelle und Fundament unserer die Kinder? Wer darf zu Hause bleiben? Ich denke, da Gesellschaft. haben wir mit dem Familiengeld Plus eine gute Lösung Vielen Dank. geliefert, die die Familien unterstützt. (Beifall bei der FDP) Meine Damen und Herren, eines ist auch noch wich- tig bei der Frage, wer zu Hause bleibt und wer die Kin- der erzieht: Das ist eine höchst private und individuelle

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Entscheidung der Eltern, bei der es wichtig ist, dass sich Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Staat und Politik raushalten. Ideologien haben dort nichts Michael Kießling, CDU/CSU. zu suchen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Staat und Politik können aber eines: Sie können die Michael Kießling (CDU/CSU): Rahmenbedingungen setzen, damit die Familien, die El- Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- tern die freie Wahl haben bei der Frage: Wer geht zur legen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vater, Arbeit, wer bleibt zu Hause, oder teilen wir uns das? Das Mutter, Kinder: Die Mutter schmeißt den Haushalt, er- sind gute Voraussetzungen. Nicht umsonst sind fast vier zieht die Kinder, der Vater geht zur Arbeit, bringt das von fünf Empfängerinnen und Empfängern „Fans“ die- Geld heim. Das ist das typische Rollenverständnis des ser Leistungen. Mit der Reform vor drei Jahren haben 19. Jahrhunderts. Meine Herren, meine Damen, da hat wir es geschafft, Lebensentwürfe, Lebenswirklichkeit sich viel geändert. und die Gesetzeslage in Einklang zu bringen. Die eben Herr Reichardt, wenn Sie die Statistik lesen, werden aufgezeigte Vielfalt der heutigen Erwerbsmodelle und Sie feststellen, dass die Geburtenrate in den letzten Jah- die positive Rückmeldung der Umfrage zeigen, dass die ren gestiegen ist. Menschen mittlerweile eine echte Wahlfreiheit haben und nicht auf das traditionelle Rollenverständnis des (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 19. Jahrhunderts zurückgreifen müssen. Das Elterngeld Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1251

Michael Kießling (A) Plus und der Partnerschaftsbonus wirken. Die Vereinbar- lung der Wohnungsvermittlung bezüglich des (C) keit von Familie und Beruf wurde deutlich erhöht, auch Handwerkerwiderrufs das bestätigt der Bericht. Drucksache 19/828 Natürlich gibt es immer wieder Raum zur Verbes- Überweisungsvorschlag: serung. Deshalb ruhen wir uns nicht auf diesem Erfolg Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) aus. Wir werden das Kindergeld pro Kind um 25 Euro Ausschuss für Wirtschaft und Energie pro Monat erhöhen. Wir werden den Kinderzuschlag Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union erhöhen, um einkommensschwache Familien zu entlas- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für ten. Wir werden Länder und Kommunen mit mehreren die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich sehe kei- Milliarden Euro weiter beim Ausbau des Angebotes und nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. bei der Steigerung der Qualität der Kinderbetreuung un- terstützen. Und wir werden einen Rechtsanspruch auf Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu sei- Ganztagsbetreuung im Grundschulalter einführen. ner ersten Rede im Deutschen Bundestag dem Kollegen Hansjörg Müller, AfD-Fraktion. Meine Damen, meine Herren, ja, es gilt, Deutschland familienfreundlicher und kinderfreundlicher zu machen. (Beifall bei der AfD) Wir haben uns viel vorgenommen – zusammen mit der SPD. Jetzt müssen uns die SPD-Mitglieder nur noch las- Hansjörg Müller (AfD): sen. Hohes Präsidium! Verehrte Kolleginnen und Kolle- (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Sönke Rix gen! Im Grunde ist Verbraucherschutz etwas Gutes. Der [SPD]: CDU-Parteitag!) grundlegende Zweck des Verbraucherschutzes besteht darin, Ungleichgewichte zwischen Lieferanten, das heißt – Da bin ich positiv gestimmt. Unternehmen, und Kunden, das heißt Verbrauchern, zu (Katja Mast [SPD]: Na ja, was man so hört, beseitigen, da Letztere manchmal im Nachteil sind. ist es auch schwierig! – Gegenruf des Abg. Die EU-Verbraucherrechterichtlinie und ihre natio- Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Keine nale Umsetzung haben dieses Ungleichgewicht aber nur Sorge!) umgedreht und verschlimmbessert, anstatt es zu korri- Ich bin mir sicher, dass wir mit diesen Maßnahmen gieren. Jetzt sind die Unternehmen im Nachteil. Das be- die Wahlfreiheit für Eltern noch verbessern und die Ver- trifft vor allem inhabergeführte Unternehmen des kleinen einbarkeit von Familie und Beruf weiter stärken können. Mittelstandes. Gleichzeitig werden auch die Verbraucher (B) Ich freue mich darauf und freue mich auf die Zusammen- verwirrt. Der Grund ist eine absurde Überregulierung (D) arbeit. jenseits des reellen Lebens. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Durch die Ausweitung der Informationspfichten der ordneten der SPD und der FDP) Unternehmer und der Widerrufsrechte der Verbraucher sollen Letztere geschützt werden – zu Recht –, wenn sie bei Haustürgeschäften über den Tisch gezogen werden,

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: wenn also Drückerkolonnen ungefragt auftauchen und Danke sehr. – Damit schließe ich die Aussprache. Verbrauchern an der Haustüre Unnützes aufschwatzen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Doch der Amtsschimmel hat überzogen. Er hat die seit der Drucksache 19/400 an die in der Tagesordnung auf- 2014 geltenden Regeln, die für dubiose Haustürgeschäfte geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein- sinnvoll sind, auf alle Geschäfte ausgedehnt, bei denen verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Leistungserbringung und Auftragserweiterung außerhalb so beschlossen. der Geschäftsräume des Unternehmens erfolgen, näm- Auch der Kollege Kießling hat gerade seine erste lich beim Kunden. Rede gehalten. Dazu beglückwünsche ich Sie besonders. Hunderttausende ehrlicher Handwerker, Freiberufer, (Beifall bei der CDU/CSU) IT-Betreuer usw., die ihre Leistungen nicht im Büro, son- dern beim Kunden erbringen – und das auf seinen aus- Es wurde mir vorher nicht mitgeteilt, sonst hätte ich Sie drücklichen Wunsch hin –, werden mit Drückerkolonnen gleich ganz anders behandelt. gleichgesetzt und in Rechtsunsicherheit und Existenznö- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Noch te getrieben. freundlicher!) (Beifall bei der AfD) Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 15 auf: Ein einfaches Beispiel: Der Kunde wünscht zusätzlich Beratung des Antrags der Abgeordneten Hansjörg zur bisher vereinbarten Leistung spontan die Installation Müller, Tino Chrupalla, Dr. Heiko Heßenkemper, einer weiteren Steckdose in seiner Wohnung. Die frü- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD heren Regelungen erlaubten dem Elektriker, diese Auf- tragserweiterung vor Ort unbürokratisch zu erledigen: Prüfung und Überarbeitung des Gesetzes zur Art und Umfang der zusätzlichen Leistung auf den Ange- Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie botszettel schreiben, Preis, Datum, Kundenunterschrift, und zur Änderung des Gesetzes zur Rege- fertig, aus die Maus. 1252 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Hansjörg Müller (A) Nicht aber so die seit 2014 gültigen Regeln: Entwe- Werte Kollegen und Kolleginnen aller Fraktionen, die (C) der muss jetzt der Handwerker die Installation beim AfD und ich laden Sie herzlich zur konstruktiven Mitar- Kunden zu Hause abbrechen und mit dem Kunden in beit an unserem Antrag ein – das heißt über alle Partei- seine Geschäftsräume fahren – was abwegig ist –, oder und alle Fraktionsgrenzen hinweg –, damit wir für die der Elektriker macht vor Ort zusätzliche Angaben, die er Betroffenen etwas erreichen – was unsere gemeinsame dem Kunden schriftlich aushändigen muss. Das sind: Ei- Aufgabe in diesem Hohen Haus ist –, genschaft der Ware oder Dienstleistung inklusive Art der Preisberechnung, Zahlungs-, Lieferungs-, Leistungsbe- (Beifall bei der AfD) dingungen inklusive Lieferfristen, Mängelhaftungsrecht, nämlich, erstens, einen fairen Ausgleich der berechtigten Garantieansprüche sowie Widerrufsbelehrungen und Interessen von Verbrauchern und Unternehmen – es sind Belehrungen zum Verlust des Widerrufsrechts bei Leis- vorwiegend Unternehmen des inhabergeführten, kleinen tungserfüllung innerhalb der 14-tägigen Widerrufsfrist Mittelstandes – und, zweitens, Entlastung dieser mit- usw. usf. Der Kunde ist doch an einer sofortigen Leis- telständischen Firmen von einer existenzbedrohenden, tungserfüllung bei sich zu Hause interessiert, aber die bürokratischen Überregulierung, die gerade den Verbrau- Belehrungslitanei wird zum Hauptarbeitsinhalt des Elek- chern, die eigentlich geschützt werden sollen, aufgrund trikers – anstatt die geforderte Steckdose zu verlegen. ihrer Absurdität oft nix nützt. (Beifall bei der AfD) Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit, und ich be- Vergisst der Handwerker nur einen Punkt des Be- danke mich beim Herrn Präsidenten. lehrungsreigens, verlängert sich die Widerrufsfrist von (Beifall bei der AfD) 14 Tagen auf maximal ein Jahr und 14 Tage. Der Vertrag kann während dieser Frist vom Verbraucher ohne Grund

angefochten und das Geld zurückgefordert werden – ein Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Sachmangel muss nicht vorliegen –, wobei ja nicht mehr Jetzt erteile ich dem Kollegen Dr. Hendrik zurückgefordert werden kann, was schon verbaut worden Hoppenstedt, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ist. Das führt dazu, dass viele Betriebe schon um vier- bis (Beifall bei der CDU/CSU) fünfstellige Euro-Beträge geprellt wurden; der Bau gan- zer Treppenhäuser oder Dächer wurden wegen fehlender (CDU/CSU): Belehrung nicht bezahlt. Dr. Hendrik Hoppenstedt Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Dr. Manuela Rottmann [BÜNDNIS 90/DIE Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren auf GRÜNEN]: Was? – Beifall bei Abgeordneten der Zuschauertribüne! Ich möchte es mir nicht nehmen (B) der AfD) lassen, heute Morgen besonders eine Besuchergruppe (D) Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP und auch aus meinem Wahlkreis zu begrüßen. der Mittelstands-Union, ich beschreibe hier eine gemein- (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ same Position von uns allen. Jetzt könnten Sie auch mal DIE GRÜNEN: Oh!) klatschen, obwohl es von der AfD kommt. – Ja, man muss etwas für seine Wiederwahl tun, meine (Beifall bei der AfD – Michael Grosse-Brömer Damen und Herren. – [CDU/CSU]: Wir klatschen, wann wir wollen! Hören Sie sich gleich mal die nächste Rede (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- an! Dann wissen Sie, wer klatschen muss!) wie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Wenn Sie nicht klatschen, dann heißt das: Sie haben das Mittelstandsthema uns, der AfD, schon lange kampfos Sie kommen aus Isernhagen, aus der Wedemark und aus überlassen. Dafür möchte ich mich bei Ihnen bedanken. Wunstorf. (Beifall bei der AfD – Michael Grosse-Brömer (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Nennen [CDU/CSU]: Sie kennen die anderen Reden ja Sie doch mal den Wahlkreis!) noch gar nicht!) Meine Damen und Herren, beim Antrag der AfD muss Das Ganze, um das es sich hier dreht, ist kein Ver- man dreierlei tun: erstens sich die Frage stellen, was im braucherschutz mehr, sondern Unternehmensgängelei – Antrag drinsteht – das ist selbstverständlich –, zweitens bei gleichzeitiger Verwirrung vieler Verbraucher durch sich die Frage stellen, was alles Falsches im Antrag drin- bürokratische Lehrstunden. Daher beantragt die AfD steht, drittens sich die Frage stellen, was alles eigentlich Folgendes: gar nicht drinsteht. Erstens. Die Bundesregierung soll bei der nationalen (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Umsetzung der EU-Richtlinie überprüfen, ob Spielräu- NEN]: Viele wichtige Fragen!) me für eine minder bürokratische Umsetzung vorhanden Zum ersten Punkt: Was steht im Antrag? Das haben sind, und diese legislativ nutzen. wir eben schon ein bisschen gehört: Die AfD kritisiert Zweitens. Falls dies nicht oder nur unzureichend mög- das seit Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie im lich ist, soll die Bundesregierung über den EU-Rat die Jahr 2014 im BGB geregelte Widerrufsrecht der Verbrau- EU-Kommission auffordern, die EU-Richtlinie bürokra- cher und die damit verbundenen Informationspfichten tisch zu entrümpeln. der Werkunternehmer, das heißt der Handwerker. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1253

Dr. Hendrik Hoppenstedt (A) Die Forderungen der AfD haben Sie eben von Herrn Worum geht es in der Sache? Es geht um den Verbrau- (C) Müller vernommen; deswegen möchte ich sie nicht noch cherschutz bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlos- einmal wiederholen. Interessant ist die Frage: Wie wer- senen Werkverträgen. Ein Verbraucher bestellt zum Bei- den diese Forderungen begründet? Auch das wurde kurz spiel einen Handwerker zu sich nach Hause, damit der umrissen. Nach Auffassung der AfD führen Widerrufs- Handwerker sich die Situation vor Ort ansehen kann und recht und Informationspfichten – ich zitiere – „zu einem mit ihm die gewünschten Leistungen besprechen kann. unverhältnismäßigen Zuwachs an bürokratischen Anfor- Wenn es dort zum Vertragsschluss kommt, hat der Ver- derungen“. Mit markigen Worten wie „Vielzahl an Büro- braucher grundsätzlich ein Widerrufsrecht. Die Frist be- kratie“, „Konvolut an Informationspfichten“ und „Bü- trägt 14 Tage, bei fehlender oder nicht ordnungsgemäßer rokratie-Litanei“ malt die AfD das Bild, dass infolge der Widerrufsbelehrung verlängert sich diese auf maximal ausufernden Bürokratiepfichten der Wirtschaftsstandort ein Jahr und 14 Tage. Deutschland in Gänze gefährdet sei. Hat der Handwerker nicht korrekt informiert und be- (Tino Chrupalla [AfD]: Das ist ja auch so!) ginnt mit den Arbeiten, dann hat er nach allgemeinem Werkvertragsrecht tatsächlich keinen Anspruch auf Wert­ Man könnte glauben, der Untergang des Abendlandes ersatz, wenn der Verbraucher von seinem Widerrufsrecht stehe bevor. Gebrauch macht. Der Verbraucher schuldet Wertersatz (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Erst nur dann, wenn der Verbraucher vom Unternehmer aus- mal Deutschlands!) drücklich verlangt hat, dass er vor Ablauf der Widerrufs- frist mit der Arbeit beginnt, wenn er dieses Verlangen auf Meine Damen und Herren, damit eines ganz klar ist einem dauerhaften Datenträger übermittelt hat und wenn und wir uns hier nicht missverstehen: Auch für uns ist der Unternehmer den Verbraucher über das Widerrufs- Bürokratieabbau ein Herzensthema. recht ordnungsgemäß informiert hat. Ich gebe zu, das (Jürgen Braun [AfD]: Oh! Sie haben doch klingt einigermaßen kompliziert. Gelegenheit dazu gehabt!) (Beifall bei der AfD – Tino Chrupalla [AfD]: – Wir loben Sie gerade. Gut erkannt!) (Jürgen Braun [AfD]: Herrlich!) – Es ist, wenn man sich damit befasst, ganz einfach, aber für Freitagmorgen, kurz nach zehn, ist das für solches Die Große Koalition hat deshalb in der letzten Wahlperi- Auditorium in der Tat nicht ganz unkompliziert. ode eine Bürokratiebremse eingeführt. Bei jedem neuen Regelungsvorhaben müssen in gleichem Maße Belastun- (Lachen und Beifall bei Abgeordneten der AfD – Dr. [SPD]: Na, na, (B) gen abgebaut werden; „One in, one out“, das kennen Sie (D) alle. Damit wird ein Anstieg der bürokratischen Belas- na!) tungen für die Wirtschaft vermieden. Das funktioniert Und da fragt man sich natürlich, wer so etwas um diese übrigens ausgesprochen gut. Uhrzeit auf die Tagesordnung setzt. (Zuruf von der AfD: Quatsch!) Die Regelung entspricht übrigens eins zu eins der Auch in dieser Wahlperiode wollen wir Bürokra- Richtlinie und ist Inhalt des Musterwiderrufsformulars. tieabbau weiter voranbringen, unter anderem durch (Jürgen Braun [AfD]: Super!) Eins-zu-eins-Umsetzungen von EU-Vorgaben Keine oder falsche Belehrung führt dazu, dass es kei- (Jürgen Braun [AfD]: Gerade dadurch! Aus nen Wertersatz gibt. Diese Rechtsfolge ist in der Tat ein Brüssel kommt doch die ganze Bürokratie, der scharfes Schwert. Was hat man sich dabei gedacht? Ein ganze Wahnsinn!) Widerrufsrecht, das der Verbraucher nicht kennt, nützt – Hören Sie doch einfach einen Augenblick zu! –, durch ihm nämlich nichts. die Vereinheitlichung von Schwellenwerten und durch (Beifall der Abg. Sarah Ryglewski [SPD]) die „One in, one out“-Regelung auch auf europäischer Ebene. Sie sehen: Auch für uns ist Bürokratieabbau ein Widerrufsrecht und Belehrungspficht sollen Anreize elementares Thema. zur ordnungsgemäßen Belehrung durch Vertragspartner geben. Deshalb ist die von der Richtlinie vorgesehene (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Rechtsfolge so rigoros. Trotzdem scheint die Kritik der AfD ein bisschen dick Was ist also dem Handwerker zu raten? Er sollte Wi- aufgetragen zu sein. Den Informationspfichten kann man derrufsbelehrungen zu Vor-Ort-Terminen mitnehmen mit zwei, höchstens drei Vordrucken nachkommen. Die- und sich vom Besteller die Übergabe schriftlich bestä- se stellt der Gesetzgeber übrigens im EGBGB inklusive tigen lassen. Er sollte mit den Arbeiten möglicherwei- Ausfüllhilfen zur Verfügung. Wenn ein Handwerker die- se erst nach Ablauf der Widerrufsfrist beginnen. Wenn ses Gesetzeswerk nicht zur Hand hat – was ja jetzt keine der Verbraucher den sofortigen Beginn der Arbeiten Schande ist –, dann kann er sich problemlos bei seiner wünscht, dann müssen die von mir eben dargestellten Handwerkskammer vor Ort oder beim ZDH die entspre- drei Voraussetzungen gegeben sein, damit der Handwer- chenden Vordrucke aus dem Internet herunterladen. ker schlimmstenfalls Wertersatz erhält. (Jürgen Braun [AfD]: Na klar! Sie sind eben Man kann sich in der Tat die Frage stellen, ob eine Rege- kein Handwerker!) lung, die beim klassischen Verbrauchsgüterkauf sinnvoll 1254 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Dr. Hendrik Hoppenstedt (A) ist, für alle Werkverträge passt. In Fällen, in denen der folgen als bei dem von Ihnen zitierten. Bei dem Verbrau- (C) Verbraucher den Handwerker ausdrücklich zu sich nach cherbauvertragsrecht haben wir nämlich das berücksich- Hause bestellt hat, kann es tatsächlich unbillig sein, dass tigt, was wir aus der Verbraucherrechterichtlinie gelernt der Handwerker im Ergebnis kostenlos arbeitet, weil haben. Wir haben richtlinienkonform geregelt, dass der er fehlerhaft informiert hat. Allerdings haben sich die Unternehmer, anders als im sonstigen Werkvertragsrecht, Handwerker seit 2014 mit dieser Regelung arrangiert. Anspruch auf Wertersatz hat, wenn der Besteller das Widerrufsrecht wahrnimmt. Der Verbraucher schuldet (Tino Chrupalla [AfD]: Abgefunden, ja!) Wertersatz grundsätzlich in Höhe der vereinbarten Ver- Der Wirtschaftsstandort Deutschland jedenfalls ist da- gütung. Das ist gut für den Unternehmer. Damit ist der durch nicht gefährdet. Der Wirtschaftsstandort Deutsch- Handwerker aus dem Schneider. land ist möglicherweise wesentlich stärker gefährdet Fazit und letzte Bemerkung: Der Zentralverband des durch Ihre ausländerfeindlichen Ausfälle auf Ihren Deutschen Baugewerbes sagt, dass das Baugewerbe kei- Aschermittwochsveranstaltungen. ne großen Auswirkungen des Widerrufsrechts erwartet. (Lachen bei der AfD) Der ZDH sieht das übrigens ganz genauso. In der Praxis ist demnach das Widerrufsrecht bei Bauverträgen und Damit sorgen Sie für Unmut, und das ist ein viel größeres damit auch bei Ihren Steckdosen jedenfalls kein gene- Problem für unsere Wirtschaft. relles Problem, weswegen ich Ihnen auch keine große (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Hoffnung darauf machen kann, dass wir Ihrem Antrag bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- irgendwann einmal zustimmen werden. NISSES 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Braun Vielen Dank. [AfD]: Was anderes fällt Ihnen nicht ein, Herr Hoppenstedt?) (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Grosse- Brömer [CDU/CSU]: Schon gar nicht wegen – Hören Sie doch einfach zu. Regen Sie sich nicht immer der Steckdosen!) so auf! (Jürgen Braun [AfD]: Wenn Sie mal was sa- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: gen würden!) Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Sarah Ryglewski, Was steht eigentlich nicht in dem Antrag? Herr Müller, SPD-Fraktion. jetzt komme ich zu Ihren geliebten Steckdosen. In dem (Beifall bei der SPD) Antrag wird als plastisches Beispiel auf die Installation einer zusätzlichen Steckdose abgestellt; das haben Sie (B) (SPD): (D) ja häufg genug jetzt auch mündlich dargestellt. In über Sarah Ryglewski 95 Prozent aller Fälle werden Steckdosen aber entweder Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! in Neubauten oder aber bei Generalsanierungen von Ge- Meine Damen und Herren von der AfD, Bürokratie- und bäuden verbaut. Für diese gilt aber das seit dem 1. Januar EU-Schelte sind – das haben wir jetzt schon ein paarmal dieses Jahres geltende Bauvertragsrecht. Das ist tatsäch- gehört – sozusagen Ihr Lieblingsstilmittel. lich erst seit wenigen Wochen Gesetzeslage. (Jürgen Braun [AfD]: Wir haben etwas gegen (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das Bürokratie, im Gegensatz zu Ihnen!) weiß der bestimmt noch gar nicht!) Es ist nur blöd, wenn das, wie beim vorliegenden Antrag, Leider fußt Ihr Steckdosenbeispiel, das Sie immer nach vollkommen ins Leere läuft. vorne schieben, auf einer veralteten Rechtslage. Das Schauen wir uns doch einmal ganz genau an, worum wäre mir an Ihrer Stelle ein bisschen peinlich. es hier geht. In Bezug auf die Widerrufsregeln wurde in (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der der Verbraucherrechterichtlinie eigentlich nur Selbstver- FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ständliches geregelt. Ziel war es, Rechtssicherheit für SES 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse- Verbraucherinnen und Verbraucher, aber gerade eben Brömer [CDU/CSU]: Wie der gesamte An- auch für Handwerker und andere Dienstleister zu schaf- trag!) fen. Wir haben das vorhin schon gehört: Das ist keine ganz unkomplizierte Materie; aber dank der vorliegen- Aber ich kann hier ja für Aufhellung sorgen. den Richtlinie ist es möglich, genau zu wissen: Wie muss ich belehren, was muss ich dem Kunden vor Vertragsab- Das Widerrufsrecht des Verbrauchers gemäß schluss mitteilen, und was für Folgen können entstehen? § 312g BGB, das Sie hier kritisieren, und die daraus resul- So zu tun, als wäre das nur einseitig für Verbraucherinnen tierenden Informationspfichten des Werkunternehmers und Verbraucher sinnvoll, ist absoluter Quatsch. Viel- gelten bei Verbraucherbauverträgen gerade nicht. Die mehr befnden wir uns eigentlich in einer guten Situation. Steckdose können Sie sich als Verbraucher schlimmsten- falls über eine einseitige Anordnung legen lassen, ohne Natürlich geht es nicht nur um Vertragsabschlüsse mit dass der Handwerker Sie in irgendeiner Form belehren irgendwelchen windigen Drückerkolonnen. Es gibt auch müsste. Für den gesamten Verbraucherbauvertrag, der Situationen – der Kollege Hoppenstedt hat das beschrie- das ganze Bauvorhaben betrifft und nicht nur eine ein- ben –, wo man, auch fernab der berüchtigten Kaffeefahr- zelne Steckdose, gilt ein spezielles Widerrufsrecht. Bei ten oder des klassischen Haustürgeschäfts, einen Vertrag diesem speziellen Widerrufsrecht gelten andere Rechts- abgeschlossen hat, den man später aus gutem Grund wi- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1255

Sarah Ryglewski (A) derrufen möchte. Vielleicht hat man für die Wandgestal- Rohrbruch habe und dringend jemanden brauche, der mir (C) tung diese oder jene Farbe ausgewählt, weil der Innen- das repariert, und ich der Ausführung ausdrücklich zu- architekt das so schön beschrieben hat, aber sobald man stimme, nachdem mir gesagt wurde, was es kostet und im Rohbau steht, weiß man, dass man diese Farbe doch was genau gemacht wird, und ich darüber informiert nicht haben möchte. Dafür gibt es dieses Widerrufsrecht. wurde, dass ich auf mein Widerrufsrecht verzichte, wenn ich zustimme, dann bin ich raus. Das ist doch absolut pra- Ich nenne einen weiteren klassischen Fall: Man be- xistauglich. stellt den Schlüsseldienst. Der reist an und sagt: Sie sind in einer Notlage; wenn Sie möchten, dass ich Ihnen die (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Tür öffne, kostet das so und so viel Geld. Ich kann dann Dr. Hendrik Hoppenstedt [CDU/CSU]) sagen: Das will ich nicht. Hinzu kommt, dass ich, bevor er den Auftrag ausführt, einen Anspruch darauf habe, zu Ich fnde es interessant, meine sehr geehrten Damen erfahren, wie viel das kostet, und zwar inklusive aller und Herren von der AfD, dass Sie immer so tun, als ob versteckten Nebenkosten. hier Gesetze im luftleeren Raum beschlossen werden. Üblich ist im Deutschen Bundestag ein Gesetzgebungs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verfahren, das betroffene Verbände während des Gesetz- der CDU/CSU und der LINKEN und der Abg. gebungsprozesses einbezieht. Dieses Gesetz ist also nicht Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- entstanden, ohne die Handwerker und ihre Zentralver- NEN]) bände und die Handwerkskammern entsprechend einzu- Auch dass Handwerker ihren Kundinnen und Kunden binden. Vielleicht ist das auch Grund dafür, dass es seit ganze „Sammelmappen“, wie Sie es in Ihrem Antrag ge- der Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie in deut- nannt haben, vorlegen müssen, ist absoluter Quatsch. Der sches Recht eigentlich keine Beschwerden gegeben hat. Zentralverband des Deutschen Handwerks hat eine gute Internetseite. Sie kriegen es hin, in einem kleinen Kasten (Tino Chrupalla [AfD]: Das ist ja unfassbar!) zu beschreiben, über was Kundinnen und Kunden, Ver- – Sowohl der Zentralverband des Deutschen Hand- braucherinnen und Verbraucher belehrt werden müssen. werks – – Man hat die Möglichkeit, sich Musterwiderrufsbelehrun- gen und Musterinformationen herunterzuladen; das alles (Tino Chrupalla [AfD]: Ich bin Handwerker! ist überhaupt kein Problem. Ich kann Ihnen das sagen!) (Tino Chrupalla [AfD]: Das wissen sie doch – Nein, das müssen Sie nicht, und Sie müssen auch nicht gar nicht!) schreien. (B) – Bei dem klassischen Handwerker ist es noch nicht an- (Tino Chrupalla [AfD]: Doch! Weil Sie Un- (D) gekommen, dass es ein Internet und einen Zentralver- sinn erzählen!) band des Deutschen Handwerks gibt? Das fnde ich in- teressant. – Nein, das tue ich nicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Tino Chrupalla [AfD]: Das ist absoluter der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Quatsch!) DIE GRÜNEN) Es gibt immer Einzelfälle, wo es Probleme gibt; Im Wesentlichen geht es darum, dass die Verbrau- cherinnen und Verbraucher wissen, was sie kaufen oder (Tino Chrupalla [AfD]: Einzelfälle! Genau!) bestellen. Vor Vertragsabschluss muss also genau ge- sagt werden, um was es eigentlich geht, wer es anbie- aber wir machen hier Gesetze für die Allgemeinheit und tet oder erbringt – damit im Zweifelsfall klar ist, wem nicht für Einzelfälle. gegenüber Gewährleistungsansprüche bestehen –, unter (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten welchen Bedingungen der Vertrag geschlossen wird, also der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ was die Ausführung eines Auftrags beinhaltet, was die DIE GRÜNEN) Zahlungs-, Liefer- und Leistungsbedingungen sind, und was es kostet. Das sind Dinge, die jeder von uns vor Ab- Wir haben sowohl vom Zentralverband des Deutschen schluss eines Vertrages wissen möchte. Handwerks als auch von den Handwerkskammern, die ja (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten üblicherweise meinungsstark sind – das meine ich in po- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sitivem Sinne –, nichts Negatives gehört. Im Gegenteil: Auf ausdrückliche Nachfrage haben sie betont, dass es Hinzu kommen noch die entsprechenden Informationen aus ihrer Sicht keine Probleme gibt. über das Widerrufsrecht und die Fristen; das hat Herr Hoppenstedt schon ausgeführt. Ein Bürokratiemonster (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Elisabeth sieht anders aus. Auch für Ihre Sammelmappe reicht das Winkelmeier-Becker [CDU/CSU] – Tino bei weitem nicht. Chrupalla [AfD]: Das ist unfassbar! Das ist typisch SPD!) Diese strikten Vorschriften gelten außerdem nicht für alles. Sie entfallen dort, wo sie keinen Sinn machen oder Sie wissen ganz genau, dass es Einzelfälle sind; denn mit erheblichen Nachteilen für den Handwerker ver- Sie haben in Ihrem Antrag keinen einzigen Lösungsvor- bunden wären. Wenn ich beispielsweise zu Hause einen schlag gemacht. Da steht nur, man möge es überprüfen 1256 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Sarah Ryglewski (A) und möglicherweise anpassen. Sagen Sie doch einmal, Regelungen ist das Handwerk großteils zufrieden. Was (C) was eine praxistaugliche Lösung wäre. Sie betreiben, ist schlichtweg Schwarzmalerei. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Elisabeth (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Winkelmeier-Becker [CDU/CSU] – Beatrix der CDU/CSU) von Storch [AfD]: Abschaffen!) Verstehen Sie mich nicht falsch: Uns Freien Demo- – Super. Schaffen wir doch alle Gesetze ab, dann haben kraten ist dieses Thema und sind auch die Belange der wir keine Probleme mehr damit. – Ich kann aber verste- kleinen und mittelständischen Unternehmen sehr wich- hen, dass Sie keine Lösung vorschlagen. Lösungen für tig. Wir stehen aber für ehrliche Lösungen in der parla- Scheinprobleme fallen wahrscheinlich jedem schwer. mentarischen Arbeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Lachen des Abg. [AfD]) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Wären Sie, wie behauptet, wirklich an einer Lösung inte- CDU/CSU) ressiert, dann hätten Sie diese ja fordern können. Ich mache jetzt einmal einen konstruktiven Vorschlag, (Zuruf von der AfD: Haben wir doch!) weil uns allen das Handwerk am Herzen liegt: Ich lade Sie ganz herzlich dazu ein, sich einmal mit einer ganz Das allerdings bleiben Sie uns hier schuldig. Mit einem konkreten Forderung des Zentralverbands des Deutschen Prüfauftrag helfen Sie unserem Handwerk nicht weiter. Handwerks näher zu beschäftigen. Dieser fordert als Bei- Die Probleme müssen hier im Parlament gelöst wer- trag zur Deckung des Fachkräftebedarfs ein Einwande- den. Mit diesem Schnellschuss werden Sie dem An- rungsgesetz. spruch des Hohen Hauses nicht gerecht. Wieso fordern Sie zum Beispiel nicht, § 312 BGB anzupassen? Wieso (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- fordern Sie nicht, die Ausnahmen und Tatbestände des ten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE § 312g BGB genauer zu defnieren? GRÜNEN) (Stephan Brandner [AfD]: Das machen wir Den entsprechenden Gesetzentwurf der SPD-Fraktion im Ausschuss!) kann ich Ihnen bei Interesse gerne zuleiten. Sagen Sie doch wenigstens, dass Verbraucher durch das Vielen Dank. Gesetz vor schwarzen Schafen geschützt werden. Sagen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie wenigstens, dass es zahlreiche Ausnahmen für die DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Betriebe gibt. Schauen Sie sich zum Beispiel einmal Ar- (B) CDU/CSU) tikel 246a § 2 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen (D) Gesetzbuch an. Lesen hilft! Sagen Sie doch wenigstens, dass durch dieses Gesetz die Widerrufsfrist bei mangel- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: hafter Belehrung erstmals konkret begrenzt wurde; denn Jetzt erteile ich dem Kollegen Roman Müller-Böhm, das war vorher unbegrenzt. FDP-Fraktion, das Wort zu seiner ersten Rede im Deut- schen Bundestag. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der FDP sowie des Abg. SPD) Dr. Hendrik Hoppenstedt [CDU/CSU]) Diese Änderungen werden von den Handwerksverbän- den gelobt. Das zu erwähnen, haben Sie aber wohl leider Roman Müller-Böhm (FDP): vergessen. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen Ich habe mir einmal erlaubt, bei den Handwerkskam- und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Immer mern anzurufen, mit dem Zentralverband des Deutschen wieder hören wir vonseiten der AfD-Fraktion, sie sei lö- Handwerks zu sprechen und mit den Verbraucherzent- sungsorientiert und konstruktiv. Noch am Dienstag hat ralen Kontakt aufzunehmen. Meine sehr verehrten Da- die Fraktionsvorsitzende Weidel bei n-tv ebenjenes ge- men und Herren, konstruktive Oppositionsarbeit wäre es sagt. gewesen, Lösungen anzubieten und tatsächliche Ände- (Stephan Brandner [AfD]: Das stimmt auch!) rungen anzustreben. Ihnen aber fehlen Forderungen, die über einen Prüfantrag hinausgehen. Der gestalterische Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, wie Sie darauf kom- Anspruch fehlt, und genau das ist eben nicht konstruktiv. men. Mein Eindruck ist ein gänzlich anderer. Sie zeich- nen hier ein Bild voller Pessimismus. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Tabea Rößner (Beifall bei der FDP) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können sie nicht!) Dabei lassen Sie viele Vorteile für Verbraucher und Un- ternehmen vollkommen außer Acht. Das ist nicht ehrlich. Wissen Sie: Ehrliches Interesse für die Probleme der Schauen Sie sich die Statements der Verbände doch ein- Bürgerinnen und Bürger erfordert auch, Lösungen zu er- mal an, zum Beispiel des Zentralverbandes des Deutschen arbeiten und Vorschläge zu unterbreiten. So könnten zum Handwerks oder des Handwerksblattes. So schrecklich, Beispiel Ihre Abgeordneten im Europäischen Parlament, wie Sie das Bild zeichnen, ist es in Gänze nicht. Mit den welches für die zugrunde liegende Richtlinie verantwort- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1257

Roman Müller-Böhm (A) lich ist, sich für eine entsprechende Änderung einsetzen. rechten geht. Leider ist das bei der AfD wieder einmal (C) Davon habe ich nichts gehört. Sie wälzen stattdessen nur eine irreführende Symbolforderung. Sie schaffen ein diese parlamentarische Aufgabe auf die Bundesregierung bedrohliches Spukgespenst – undurchsichtige, unüber- ab. Es ist natürlich immer leicht, Aufgaben auf andere brückbare bürokratische Hürden – und machen sich da- abzuwälzen. Nehmen Sie Ihre parlamentarischen Rechte bei selbst zum Geisterjäger. und Pfichten doch bitte einmal selber wahr! (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sarah Ryglewski [SPD]) der CDU/CSU) Natürlich gibt es Probleme mit übertriebener Büro- Wenn Sie dem Handwerk wirklich helfen wollten, kratie, die das Handwerk belasten; das stimmt, und das dann würden Sie aufhören, das Handwerk gegen den kritisiert auch Die Linke. Aber hier reden wir über eine Verbraucherschutz auszuspielen. Wir Freien Demokraten Widerrufsbelehrung, die der Gesetzgeber vorformuliert fordern eine Mittelstandsklausel auf Bundesebene. Die hat. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, den Text Istbesteuerung bei der Umsatzsteuer und die Rücknahme auszudrucken, und zwar ganz groß. Sie sehen hier: Das der Vorfälligkeit bei den Sozialversicherungsbeiträgen, ist es, worüber wir reden. Das ist die „übertriebene“ Bü- das ist wahre Handwerkspolitik. rokratie. Also, ich bitte Sie! (Beifall bei der FDP) Die Linke hat einmal mit den Betroffenen über das Hier zeigt sich wieder einmal, dass Sie Ihre Verspre- Gesetz gesprochen. Der Zentralverband des Deutschen chen nicht halten. Sie benennen ein Problem, bleiben uns Baugewerbes sieht in der Umsetzung des Gesetzes keine aber einen eigenen Lösungsansatz schuldig. Das zeugt Herausforderung. Das Beispiel mit der Steckdose wird nicht nur von fehlender Lösungsbereitschaft; es ist vor gerne bemüht; es ist auch gerade schon genannt wor- allem eines: Effekthascherei auf dem Rücken der kleinen den. Aber das ist einfach nicht wahr; natürlich muss die und mittelständischen Unternehmen. Steckdose bezahlt werden. Auch der Zentralverband des Deutschen Handwerks hat uns gesagt, dass man nie auf (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die Idee gekommen wäre, eine Änderung zu fordern. der CDU/CSU) Man hat uns auch gesagt, dass man von der AfD nicht instrumentalisiert werden möchte. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Nächste Rednerin ist die Kollegin Amira Mohamed neten der CDU/CSU und der SPD) Ali, Fraktion Die Linke. Spätestens das macht doch deutlich, dass es der AfD nicht (Beifall bei der LINKEN) (B) um Rechtssicherheit oder um die Sorgen der Verbraucher (D) oder der Handwerker geht. Es geht um eine Selbstinsze- Amira Mohamed Ali (DIE LINKE): nierung als angebliche Beschützerin der kleinen Leute, Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle- und das ist lächerlich. gen! Liebe Gäste! Das Widerrufsrecht bei Handwerker- leistungen, das die AfD ändern möchte, wurde eingeführt, (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. um Verbraucherinnen und Verbraucher vor Überrum- Sarah Ryglewski [SPD]) pelung und Übervorteilung zu schützen. Diese Gefahr Ich muss Ihnen schon sagen: Die Argumentation der besteht bei Gesprächen unter vier Augen in den eigenen AfD, dass das eine so unübersichtliche Anforderung sei, vier Wänden. Das Widerrufsrecht ist ein Schutzrecht für die gerade kleine Handwerksbetriebe überfordert, hat Verbraucherinnen und Verbraucher, die in vielen Le- mich nicht nur überrascht, sondern ärgert mich auch. bensbereichen eben keine Profs sind. Ein Problem, das Mein Schwiegervater ist Malermeister. Er führt zusam- wir Verbraucherschützer haben, ist übrigens, dass viele men mit meinem Schwager einen kleinen Betrieb in Menschen diese Regelung gar nicht kennen und von ihr Ostfriesland. Er hat mir gesagt, dass er mit dem Hand- daher gar keinen Gebrauch machen. Für die Linke ist es werkerwiderruf überhaupt keine Schwierigkeiten hat. Ist wichtig, dass Verbraucherinnen und Verbraucher über Ihnen schon einmal in den Sinn gekommen, dass sowohl ihre Rechte aufgeklärt werden, um nicht von unlauteren Handwerker als auch Kunden von der Widerrufsbeleh- Unternehmen über den Tisch gezogen zu werden. rung proftieren? Sie bietet beiden Seiten Rechtssicher- (Beifall bei der LINKEN) heit. Genau das hat auch der Zentralverband des Deut- schen Handwerks bestätigt. Diese gibt es nämlich leider auch. Sie sind die Ausnah- me, aber es gibt sie, und sie bringen die Branche in Ver- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abge- ruf. Unlautere Unternehmen sind unserer Ansicht nach ordneten der CDU/CSU, der SPD und des nicht schutzbedürftig. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Es wird deutlich: Die AfD hat von der Lebensrealität der Menschen keine Ahnung. Die Handwerker seien zu doof, Nun meint die AfD, dass die Widerrufsregelung insbe- der Kunde überfordert, das ist die Quintessenz der Ar- sondere Handwerksbetrieben Probleme bereiten würde; gumentation. Das zeigt auch, welches Menschenbild Sie Bürokratie müsse abgebaut werden. Das ist ja ein gern pfegen. bemühtes Stichwort – komischerweise dann besonders gern, wenn es um die Beschneidung von Verbraucher- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) 1258 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Amira Mohamed Ali (A) Kolleginnen und Kollegen, reden wir doch über die aber die haben ihre Probleme wahrscheinlich nicht rich- (C) tatsächlichen Probleme des Handwerks: Wie können wir tig geschildert. Das scheinen Lobbyorganisationen gewe- sicherstellen, dass wir europaweit einheitliche Rechts- sen zu sein. und Qualitätsstandards haben und damit dem ruinösen Wir Handwerker haben hauptsächlich darüber zu Unterbietungswettbewerb auf Kosten der Beschäftigten befnden, welche Probleme es gibt. Wir sagen ganz und der Qualität Einhalt gebieten? Verbraucherrechte deutlich – dies gilt auch für die AfD-Fraktion –: Diese schützen auch Qualitätsstandards. Es gibt kein Gegenei- Verbraucherrichtlinie und das Widerrufsrecht können nander von Verbraucherschutz und Handwerk; es ist ein abgeschafft werden, wie so viele andere Gesetze auch; Miteinander. Qualifzierte Handwerker proftieren davon. das ist wohl wahr. Denn dadurch werden wir reguliert, (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. und beides stört und behindert uns bei unserer täglichen Sarah Ryglewski [SPD]) Arbeit. Das ist das Problem. Ein weiteres Problem, das real existiert, ist, dass vie- Vielen Dank. le Betriebe keine Auszubildenden mehr fnden. Das hat (Beifall bei der AfD) nicht nur mit einer veränderten Bildungsstruktur zu tun, sondern auch mit der Bezahlung während der Ausbil- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: dung und im späteren Berufsleben. Auch deshalb streitet Herr Kollege, Sie haben zwar nicht auf die Rede von die Linke für einen höheren gesetzlichen Mindestlohn, Frau Kollegin Mohamed Ali Bezug genommen. Trotz- (Beifall bei der LINKEN) dem hat sie nach unseren Regeln die Möglichkeit, darauf zu antworten, was sie aber nicht muss. – Das wollen Sie für einheitliche und gute Bildungsstandards, eine Stär- nicht. kung der Arbeitnehmerrechte und für ein Verbot der Leiharbeit. Das sind die tatsächlichen Herausforderun- Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin gen. Darüber muss man diskutieren, und sie muss man Dr. Manuela Rottmann zu ihrer ersten Rede im Deut- bewältigen. Damit müssen wir uns befassen, statt Ge- schen Bundestag das Wort. spenster zu jagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Vielen Dank. des Abg. [FDP]) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abge- ordneten der CDU/CSU und der Abg. Sarah Dr. Manuela Rottmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) Ryglewski [SPD]) NEN): (D) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Chrupalla, ich weiß Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: nicht, mit wem Sie reden. Hier haben alle geschrieben, Jetzt erteile ich dem Kollegen Chrupalla von der mit wem sie geredet haben. Vielleicht ist ein Teil des Pro- AfD-Fraktion das Wort zu einer Kurzintervention. blems der AfD, die sich so gerne zur Handwerkerpartei machen möchte, dass Handwerker bei Ihnen Leute wie (Beifall bei der AfD) Herr Poggenburg sind, über den man lesen muss, dass er noch nicht einmal seine Beiträge zur Handwerkskammer Tino Chrupalla (AfD): entrichtet. Vielen Dank, Herr Präsident. – Wir haben ja nun be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- reits von vielen Fraktionen sehr markige Worte in Bezug NEN sowie bei Abgeordneten der CDU/ auf das Handwerk gehört. Leider war bis jetzt kein ein- CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN – ziger Redner am Pult, der das Handwerk vertritt, weder Dr. Alexander Gauland [AfD]: So ein Quatsch! im jetzigen Beruf noch in früheren Berufen. Ich kann von Hören Sie doch auf! So ein Unsinn!) meiner Person sagen: Ich bin seit 15 Jahren Handwerks- meister und bin in meinem Wahlkreis direkt gewählt Die Kolleginnen und Kollegen haben schon die Luft worden. Ich vertrete hier als einer der wenigen in diesem aus diesem Antrag gelassen. Ich weiß gar nicht, ob es Hause das Handwerk. sich lohnt, Ihre und meine Lebenszeit noch einmal vier Minuten lang damit zu verschwenden. (Beifall bei der AfD) (Jürgen Braun [AfD]: Müssen Sie nicht! Sie Wie Sie vielleicht wissen, sind in diesem Hohen müssen ja nichts sagen, Frau Rottmann! – Hause bei 709 Abgeordneten nur 7 Handwerksmeister Weiter Zuruf von der AfD: Dann halten Sie vertreten. Ich kann sehr wohl sagen, wie die Situation den Mund!) im Handwerk ist. Ich stehe mit dem ZDH und mit den Ich will nur einen letzten Punkt klarstellen – das hilft Handwerkskammern in Verbindung. Wir wissen, welche Ihnen vielleicht in Ihrer handwerklichen Praxis –: Sie Probleme es gibt. Ich weiß nicht, mit welchen Leuten Sie vermischen hier die Rechtsfolgen einer Verletzung von geredet haben, Informationspfichten mit den Rechtsfolgen einer Unter- lassung der Widerrufsbelehrung. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Na, mit dem ZDH!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1259

Dr. Manuela Rottmann (A) Das ist die Methode AfD: Ich suche ein Problem, und Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (C) wenn ich keines fnde, dann denke ich mir eines aus. Sie gestatten also keine Zwischenfrage? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Hendrik Hoppenstedt Dr. Manuela Rottmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- [CDU/CSU] und der Abg. Sarah Ryglewski NEN): [SPD]) Nein; das ist ja auch meine erste Rede. – Der sächsi- sche Landtagsabgeordnete Beger beklagt die Altersarmut Da der AfD keine echten Probleme im deutschen der Handwerker. Seine Analyse ist so tiefschürfend, wie Handwerk einfallen, sie meistens bei der AfD ist: Das liegt an der Alimen- (Lachen des Abg. Dr. Alexander Gauland tierung Griechenlands, an den Kosten für den Unterhalt [AfD]) von Hunderttausenden Einwanderern ohne legitimen Asylgrund und an der Geldfutung der Märkte durch will ich gerne weiterhelfen. Betrachten wir die Vorfällig- die EZB. – Das ist die Analyse aus dem Jahr 2016. Im keit der Sozialversicherungsbeiträge: Die deutschen So- Jahr 2017 hat die „Deutsche Handwerks Zeitung“ die zialkassen sind voll. Weil Sie gestern und heute wieder AfD gefragt, was sie für die Altersvorsorge von Hand- von der schlimmen Zuwanderung in die Sozialsysteme werkern machen will. Im Jahr 2017 hat die AfD gesagt: geredet haben, Da haben wir Beratungsbedarf. (Jürgen Braun [AfD]: Thema! Zur Sache Das ist die AfD, die am Aschermittwoch gesagt hat: bitte!) Wir wollen nicht den Kuchen, sondern die ganze Bäcke- rei. Ihnen fällt zu einem zentralen Problem für die meis- kommt jetzt eine ganz unangenehme Wahrheit: Die So- ten Inhaber von Handwerksbetrieben nichts ein. zialkassen sind voll, weil wir Zuwanderung haben, weil junge Menschen aus dem Ausland kommen und in die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN deutschen Sozialversicherungen einzahlen. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nicht sowie der Abg. [SPD] – La- nur bei dem Thema!) chen bei der AfD – Jürgen Braun [AfD]: Ge- nial!) Der Beratungsbedarf dauert anscheinend noch an. Des- wegen kommen Sie ein Jahr später mit der Verbraucher- Das heißt, wir hätten jetzt die Chance, die Vorfälligkeit rechterichtlinie und einem Nichtproblem um die Ecke. (B) abzuschaffen und zur Rechtslage von vor 2006 zurück- Sie sind nicht die Partei des Mittelstands, Sie sind leider (D) zukehren. nur die AfD. (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Deshalb wol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN len Sie noch mehr Einwanderung! Damit sie sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der wieder leer werden!) SPD, der FDP und der LINKEN) Das heißt, jeder Handwerksbetrieb würde sich einmal im Monat mit dem Thema befassen und hätte kein Liquidi- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: tätsproblem mehr. Das wäre eine Lösung. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Alexander Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn Sie sonst kein Problem fnden, dann gucken Sie doch in die Februarausgabe der „Deutschen Handwerks Zeitung“. Dort steht, dass 60 Prozent aller Inhaber von Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Handwerksbetrieben eine gesetzliche Rente von unter Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen 600 Euro zu erwarten haben. und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Allzu oft bemüht die Politik den Satz: Handwerk hat (Zuruf von der AfD: Ja! Wer ist daran wohl goldenen Boden. – Ich bringe den Satz heute deshalb, schuld?) weil ich glaube, dass der Satz durchaus Verpfichtung für die Politik ist. Wir, die wir hier sitzen, haben die Auf- Dazu gab es von der AfD im letzten Jahr genau zwei Äu- gabe, Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Un- ßerungen. Ich habe jedenfalls nur zwei gefunden; viel- ternehmer, Handwerker in unserem Land gut existieren leicht haben Sie ja mehr dazu gesagt. und arbeiten können. Wir haben die Aufgabe, Rahmen- bedingungen zu schaffen, dass Handwerker rechtssicher Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: agieren können. Wir haben selbstverständlich auch die Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Verpfichtung, Sorge dafür zu tragen, dass wir vor allem die Handwerksbetriebe nicht mit überbordender Büro- kratie erdrücken. Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass Dr. Manuela Rottmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir das als Daueraufgabe begreifen. Deswegen ist es zu- NEN): nächst einmal gut, wenn wir heute im Rahmen dieses An- Frau von Storch kann danach fragen. trags darüber reden, Rückschau halten und bewerten, ob 1260 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Alexander Hoffmann (A) wir vielleicht an der einen oder anderen Stelle über das eher schleicht sich ein Fehler ein. Die fadenscheinigen (C) Ziel hinausgeschossen sind, was die Bürokratie angeht. Argumente, die ich von Handwerkern höre, warum Kun- den nicht zahlen wollen, sind: Das habe ich nicht beauf- (Beifall des Abg. Hansjörg Müller [AfD]) tragt. – Das waren keine fünf Steckdosen, sondern nur Bei Ihrem Antrag haben Sie den Bereich des Wider- eine. – Die Steckdose funktioniert nicht. – Wir hatten rufsrechts, der Widerrufsbelehrung im Blick. Beim Le- einen anderen Preis vereinbart. sen des Antrags war ich positiv gestimmt, weil ich dach- Ein sehr guter Freund von mir hat vor vier Jahren te: Na ja, im Antrag bekennt man sich zunächst einmal als Handwerker ein Unternehmen gegründet. Anfangs ganz klar zur Erforderlichkeit des Widerrufsrechts auch hat er Verträge noch per Handschlag schließen können. im Handwerkerbereich. – Nach der Kurzintervention des Das ging so lange, bis er den ersten Kunden hatte, der Kollegen war ich dann nicht mehr ganz so sicher; denn behauptet hatte: Wir haben einen anderen Preis verein- da hat das ganz anders geklungen. bart. – Seitdem wird alles dokumentiert, von der Farbe Ich glaube schon, dass wir uns einig sind, dass wir das über die Höhe und Breite und das Material bis hin zum Widerrufsrecht auch in diesem Bereich brauchen. Wie Produkt. Die traurige Wahrheit ist, dass Handwerker heu- so oft hat dies die Politik auch auf europäischer Ebene te gar nicht mehr ohne Bürokratie, ohne Dokumentation nicht ohne Not geregelt. Es waren schwarze Schafe, die arbeiten können. dazu geführt haben, dass wir handeln mussten, um Sorge Es ist richtig: §§ 312, 356 ff. BGB sind durchaus kom- dafür zu tragen, dass nicht der Verbraucher der Leidtra- plex. Deswegen ist es auch gut, wenn wir uns die Zeit gende ist. Beispiele gibt es auch heute noch – ich habe nehmen, in einem solchen Verfahren darüber zu reden. ein paar dabei –: „Wenn der Dachhai zweimal klingelt“, Aber wir sollten nicht Probleme konstruieren, wo es kei- „16 500 Euro für falsche Handwerker“, „Die Teer-Betrü- ne gibt. ger fnden immer mehr Opfer“. Aber zunächst einmal ist es wichtig, dass wir differenzieren und nicht alle Hand- Gestatten Sie mir zum Schluss noch eine Bemerkung. werker über einen Kamm scheren. Ich bin etwas verwundert, weil ich mir von Ihrem Antrag in dem Bereich Lösungen erhofft hatte. Tatsächlich ha- Ich glaube, dass es auch im allgemeinen Verbraucher- ben Sie aber keine Idee, wie man das Problem löst. Sie schutz wichtig ist, zu sagen: Wir wollen die Verbraucher umschreiben es vage – wir haben schon gehört, dass es vor Überrumpelung schützen. Wenn wir dann in die un- gar nicht existiert –, und dann soll ausgerechnet die Bun- terschiedlichen Bereiche gehen, müssen wir eben fest- desregierung eine Lösung für Ihr Problem anbieten. Ich stellen, dass gerade im Baubereich oder auch im Bereich erinnere Sie daran, dass das doch die Bundesregierung der Finanzberatungen oftmals weitreichende Entschei- ist, die Sie eigentlich nicht haben wollen. (B) dungen getroffen werden. Deswegen ist es gut, wenn die (D) Menschen 14 Tage Zeit haben, sich zu überlegen, ob sie Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. diesen Vertrag wirklich aufrechterhalten wollen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Sarah Ryglewski [SPD]) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Dennoch muss das oberste Gebot die Ausgewogen- Damit schließe ich die Aussprache. heit sein. Wir müssen zwischen dem Verbraucherschutz auf einen Seite und der Frage, wie hoch die bürokrati- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der schen Anforderungen an Handwerker, an Unternehmer Drucksache 19/828 an die in der Tagesordnung aufge- maximal sein dürfen, auf der anderen Seite abwägen. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Sie schreiben in Ihrem Antrag von „uferlosen Informa- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung tionspfichten“. Der Kollege Hoppenstedt hat es schon so beschlossen. dargestellt: Es ist mit Sicherheit komplex; ich will das Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: gar nicht kleinreden. Aber von „uferlos“ kann man nicht reden. Wenn Sie im Internet nachsehen – das waren nur Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian ein paar Klicks –, dann fnden Sie schnell verschiede- Lindner, Alexander Graf Lambsdorff, Michael ne Musterbeispiele für Widerrufsbelehrungen. Ich habe Georg Link, weiterer Abgeordneter und der Frak- hier ein ganz tolles Beispiel von der Handwerkskammer tion der FDP Frankfurt-Rhein-Main. Da ist die Widerrufsbelehrung Handlungsfähigkeit der europäischen Außen- auf einer Seite zu fnden. „Uferlos“ ist das mit Sicherheit politik verbessern – Rolle der Hohen Vertrete- nicht, sondern durchaus in fassbarem Umfang. rin und des Europäischen Auswärtigen Diens- Natürlich ist die Missbrauchsgefahr da. Wenn Sie tes stärken einen Kunden haben, der nicht zahlungswillig ist, dann Drucksache 19/822 fängt er unter Umständen an, mit fadenscheinigen Ar- gumenten Gründe dafür zu suchen, nicht zu zahlen. Zur Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Ehrlichkeit gehört zunächst einmal aber auch, zu sagen, Auswärtiger Ausschuss dass der Kunde dafür auch andere Gründe heranziehen kann. Natürlich ist das Widerrufsrecht durchaus fehler­ Interfraktionell ist für die Aussprache eine Dauer von anfällig. Wir haben im Bankenbereich erlebt, dass das 38 Minuten vereinbart worden. – Dazu höre ich keinen kompliziert sein kann. Je komplizierter etwas ist, desto Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1261

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen tär der Vereinten Nationen. Die kleinen Nationen spielen (C) Alexander Graf Lambsdorff, FDP-Fraktion, das Wort. also eine wichtige Rolle. Binden wir sie ein! Hören wir mit diesem Direktoriumsansatz auf! (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Alexander Graf Lambsdorff (FDP): Man kann einige Maßnahmen praktischer Art ergrei- Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und fen, um den Europäischen Auswärtigen Dienst zu stär- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir blicken ken. Es ist völlig ausgeschlossen, dass die europäische in diesen Tagen – das ist schon mehrfach gesagt wor- „Außenministerin“ Mogherini ständig überall ist. Bisher den – voller Entsetzen nach Syrien, auf die Angriffe in verhindern die Mitgliedstaaten aber das, was sie national Ost-Ghuta, und stellen fest, wenn wir auf dieses Armage- als selbstverständlich nehmen, nämlich politische Stell- ddon schauen, dass Europa völlig machtlos ist, irgendet- vertretung. Wir haben Staatsminister im Auswärtigen was zu tun, etwas zu verhindern oder zu verbessern. Die Amt. Ich vermute, einer sitzt hier auf der Regierungs- Frage, die wir uns stellen müssen – wir alle in diesem bank. – Nein, das Auswärtige Amt ist gar nicht vertreten. Parlament genauso wie in den anderen nationalen Par- Das ist etwas beunruhigend angesichts dieser Debatte. lamenten und im Europäischen Parlament –, ist: Muss Das zeigt vielleicht auch den Stellenwert, den das Aus- das eigentlich sein? Muss Europa so machtlos auf eine wärtige Amt diesem Thema beimisst. Ich fnde das aus- solche Entwicklung in seiner Nachbarschaft blicken? Ich gesprochen beunruhigend. glaube, die Antwort darauf lautet Nein. Wenn Europa ge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordne- schlossen agiert, dann können wir auch Einfuss nehmen. ten der AfD und des BÜNDNISSES 90/DIE Gestern in der Debatte hier im Haus waren es hilfose GRÜNEN) Appelle an andere, die dafür sorgen sollten, dass sich die Immerhin hat das Auswärtige Amt Staatsminister. Lage verbessert. Wir selber als Europäer spielen keine Solche müssen wir auch der Hohen Vertreterin zur Seite Rolle. Ich glaube, das ist eine Situation, die wir ändern stellen. Wir müssen zu mehr Mehrheitsentscheidungen müssen. Wir können auch in schwierigen Fragen als Eu- kommen, Blockademöglichkeiten aufbrechen und die ropäer gemeinsam etwas erreichen. Denken Sie nur an Finanzstrukturen vereinfachen. Wir brauchen – das ist den Vertrag über die Beendigung des iranischen Nuklear- das große Ziel – eine gemeinsame strategische Kultur in programms oder an die Situation im Kosovo. Europa war der Europäischen Union; so hat es Präsident Macron in da geeint, und deswegen war Europa auch erfolgreich. seiner Rede genannt. Richtig ist: Noch haben wir eine Die Stoßrichtung der Politik, auf europäischer Ebene gemeinsame strategische Kultur nicht auf allen Feldern. Aber wir müssen sie gemeinsam entwickeln. Es kann (B) mehr gemeinsam zu machen, wird im Übrigen von der (D) breiten Bevölkerung getragen. Laut einer Umfrage von nicht sein, dass sich Europa immer auf andere verlässt, Allensbach –, so heißt es heute in der „Frankfurter All- wenn es darum geht, unsere Ideale zu respektieren, un- gemeinen Zeitung“ –, wollen fast drei Viertel der Bürge- sere Werte zu schützen und unsere Interessen zu vertei- rinnen und Bürger in Deutschland, dass die Außenpolitik digen. gemeinsam und europäisch gestaltet wird. Von der Bun- Meine Damen und Herren, stärken wir die europäi- desregierung kommen dazu allerdings eher Lippenbe- sche Außenpolitik! Machen wir aus dem Europäischen kenntnisse als konkrete Handlungen. Auswärtigen Dienst das, wofür er gedacht ist, nämlich die zentrale Plattform, auf der wir eine gemeinsame Poli- Als der Europäische Auswärtige Dienst geschaffen tik für alle Europäerinnen und Europäer entwickeln. wurde, war sein Ziel – so steht es im Vertrag –, die „con- sistency“ der europäischen Außenpolitik herbeizuführen. Herzlichen Dank. Das übersetzt man ins Deutsche mit Kohärenz; auch das versteht kein Mensch. Im Grunde geht es darum, dass (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wir eine Außenpolitik aus einem Guss wollen. Diese der CDU/CSU und der SPD) Außenpolitik aus einem Guss ist das Ziel. Aber was ist die Realität? Die Realität ist, dass auch die Bundesre- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: publik Deutschland ständig in Abstimmungstreffen nur Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Thorsten Frei, mit den Franzosen, Amerikanern und Engländern zusam- CDU/CSU-Fraktion. mensitzt, ohne dass der Europäische Auswärtige Dienst hinzugezogen wird. Das ist ein Direktoriumsansatz, der (Beifall bei der CDU/CSU) dort verfolgt wird; es ist kein europäischer Ansatz. Es ist zwar richtig, sich im kleinen Kreis zu treffen; man muss Thorsten Frei (CDU/CSU): das manchmal tun. Aber dann muss der Europäische Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auswärtige Dienst hinzugezogen werden, auch weil wir Acht Jahre Lissabonner Vertrag, acht Jahre Gemeinsa- in der Europäischen Union viele kleine Mitgliedstaaten me Außen- und Sicherheitspolitik in Europa, das ist in haben, die über den Europäischen Auswärtigen Dienst der Tat eine gute Gelegenheit, eine Bestandsaufnahme gehört werden können. Wer glaubt, dass kleine Mitglied- vorzunehmen, ob wir die vorhandenen Instrumentari- staaten nichts beizutragen hätten, irrt. Ich erinnere an den en nachspitzen müssen, um den Herausforderungen der Harmel-Bericht – Harmel war Belgier – zur Lage der Zeit gerecht zu werden. Vor diesem Hintergrund geht der NATO oder an die Vermittlungsbemühungen des Finnen Antrag der FDP-Fraktion grundsätzlich in die richtige Martti Ahtisaari. Zurzeit ist ein Portugiese Generalsekre- Richtung. 1262 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Thorsten Frei (A) Schauen wir einmal, was wir in die Waagschale wer- Es ist in der Tat mindestens belämmert, wenn wir wie (C) fen können. Auf der Habenseite steht mit Sicherheit, dass am gestrigen Abend hören, wie von „Schande“ gespro- wir gute EU-Trainingsmissionen auf dem afrikanischen chen wird, wenn wir von europäischen, von deutschen, Kontinent haben und dass wir gerade in den letzten Mo- von britischen, von französischen Politikern Konjunktive naten im Bereich der Ständigen Strukturierten Zusam- hören, wir aber letztlich dem, was in Ost-Ghuta passiert, menarbeit wesentliche Fortschritte erzielt haben. Aber es nichts, aber auch gar nichts entgegenzusetzen haben. fällt auch ins Gewicht – Graf Lambsdorff, Sie haben die Situation beschrieben –, dass wir rund um Europa mit ei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU ner Situation konfrontiert sind, in der die Welt in der Tat sowie der Abg. Dr. [SPD]) aus den Fugen geraten zu sein scheint, in der die liberale Es ist gut, wenn das Auswärtige Amt sagt: Wir geben Weltordnung, die wir mit geprägt haben, infrage gestellt 10 Millionen Euro extra für die humanitäre Hilfe in Sy- wird, in der wir uns mit einem Russland auseinanderset- rien. Aber das allein ist natürlich noch keine effektive zen müssen, das die Souveränität der Ukraine beeinträch- Außenpolitik. Wir werden das nur gemeinsam schaffen, tigt, und in der wir uns mit autokratischen Staaten wie und wir müssen es auch schaffen, weil die Konsequenzen der Türkei oder China mit seiner klaren geostrategischen dieser Politik nicht die Russen tragen, nicht die Amerika- Agenda sowie mit neuen Konfiktfeldern wie dem Cy- ner und auch sonst niemand – diese Konsequenzen tra- berspace befassen müssen. Angesichts dessen stellt sich gen wir. Wir haben mit islamistischen Terror in Europa die Frage, ob wir unsere Instrumente besser anpassen zu kämpfen. Wir haben mit ungeordneter Migration zu müssen. kämpfen. Deshalb müssen wir auch Teil der Lösung sein. Dafür müssen wir die Voraussetzungen schaffen. Wenn wir uns mit der Realität befassen, stellen wir fest: Wir kommen bei den wesentlichen außenpolitischen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP so- Themen nicht vor, und zwar nicht irgendwo auf der wie bei Abgeordneten der SPD) Welt, sondern in unmittelbarer Nachbarschaft Europas, beispielsweise in Nordafrika oder – darüber haben wir Ein Punkt war die Frage der Einstimmigkeit oder der gestern diskutiert – im Nahen und Mittleren Osten. Teil- qualifzierten Mehrheit. Wenn wir zu Haltungen gekom- weise gibt es Herausforderungen sogar in Europa. Ich er- men sind, müssen wir diese letztlich auch durchsetzen innere beispielsweise an den westlichen Balkan, auf dem können, und das muss glaubwürdig passieren. Deshalb nicht nur die Europäische Union und ihre Mitgliedstaa- müssen wir natürlich auch berücksichtigen, dass es – ich ten, sondern auch Türken, Araber, Chinesen und Russen will die Worte des Bundesaußenministers vom Wochen- mit jeweils eigener Agenda aktiv sind, die teilweise ver- ende verwenden – in der Tat schwierig ist, in einer Welt suchen, einen Spaltpilz zwischen die europäischen Staa- von Fleischfressern als einziger Vegetarier unterwegs zu (B) ten zu treiben. Wir haben also ein eigenes Interesse da- sein. Auch deswegen müssen wir unsere militärischen (D) ran, uns stärker zu engagieren und zu einer gemeinsamen Möglichkeiten besser ordnen. Wir brauchen mehr Zu- Stimme zu fnden. sammenarbeit und mehr Kooperation, weil es nicht in Ordnung ist, dass wir nur 15 Prozent der militärischen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Leistungsfähigkeit Amerikas erreichen. Aber es ist eben der CDU/CSU) auch richtig, dass wir Europäer zusammen weniger als die Hälfte für Sicherheit und Verteidigung ausgeben als Es geht um unsere Werte, unseren Wohlstand und unsere die Amerikaner. Sicherheit. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir das gemeinsam besser und effektiver verteidigen können als (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Gut so!) getrennt. Insofern ist Zusammenarbeit wichtig; aber es reicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht aus, Magermilch und Magermilch zusammenzu- schütten. Dabei kommt am Ende keine Fettmilch heraus. Dafür gibt es jetzt Instrumentarien. Ich würde es für Dafür muss man mehr tun, da muss man mehr hineinste- gut halten, wenn wir in bestimmten Fragen der Außen- cken, und das sollten wir auch machen. und Sicherheitspolitik ein Stück weit von der Einstim- (Beifall des Abg. Jürgen Braun [AfD]) migkeit weggehen könnten, wenn es gelingen würde, gemeinsame Haltungen zu den Themen und Herausfor- Ich sage das im Übrigen auch vor folgendem Hinter- derungen zu fnden. Jetzt gilt es, den richtigen Weg dahin grund: Unsere Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Ich zu fnden. Ich glaube, wir sind uns darin einig, dass Ver- nehme sehr genau zur Kenntnis, was wir in Koalitions- tragsänderungen – genau das wäre notwendig – mit ganz verträge schreiben; das gilt übrigens auch für das, was besonderen Schwierigkeiten verbunden wären. zwischen den Zeilen steht. Ich nehme auch zur Kenntnis, was der Bundesaußenminister an privaten Äußerungen Wir sind im Rahmen der Ständigen Strukturierten Zu- macht. Aber noch einmal: Die Bundeswehr ist eine Par- sammenarbeit im Bereich Sicherheit und Verteidigung lamentsarmee. Es liegt in unserer Verantwortung, dass gut vorangekommen. Warum nutzen wir Instrumentari- wir diejenigen, die wir in Einsätze schicken, um unsere en, die wir dafür gefunden haben, nicht auch stärker zur Sicherheit und Freiheit wo auch immer zu verteidigen, Bewältigung der Herausforderungen in der Außen- und angemessen ausstatten und ausrüsten. Sicherheitspolitik, damit wir es schaffen, Haltungen zu entwickeln, damit wir es tatsächlich auch schaffen, Kon- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP so- zepte entgegenzusetzen? wie bei Abgeordneten der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1263

Thorsten Frei (A) Deshalb liegt es auch in unserer Verantwortung, dafür Wir müssen uns nach meinem Dafürhalten aber ehr- (C) die Voraussetzungen zu schaffen. Das sollten wir ernst lich machen und sagen, woher die Mittel dann kommen nehmen. Dann werden wir auch als Partner für eine Ge- sollen. meinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa, die effektiv ist, ernst genommen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Herzlichen Dank. Man kann nicht einerseits fordern, dass europäisch im- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- mer mehr Aufgaben übernommen werden sollen, und ordneten der SPD und der FDP) andererseits darauf bestehen, dass das immer mit dem- selben Budget passiert, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Der nächste Redner ist der Kollege Johannes Schraps DIE GRÜNEN – Alexander Graf Lambsdorff für die SPD-Fraktion. [FDP]: Das stimmt doch nicht!) (Beifall bei der SPD) Dabei ist die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik unterfnanziert. Das hat zuletzt auch die Stiftung Wis- Johannes Schraps (SPD): senschaft und Politik in einer Studie wieder anschaulich Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Kolle- ausgeführt. ginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Zunächst auch mein Dank an die FDP-Fraktion dafür, dass sie einen wirklich Sie sprechen in Ihrem Antrag von einer „angemes- proeuropäischen Antrag vorgelegt hat. Ich glaube, dass senen Mittelausstattung der GASP“. Sagen wir es doch wir eine starke und handlungsfähige Gemeinsame Au- ganz konkret: Die Rubrik 4 im mehrjährigen Finanzrah- ßen- und Sicherheitspolitik in der EU brauchen. Ich den- men mit dem Titel „Die EU als globaler Akteur“ muss ke, das ist für die allermeisten hier im Haus vollkommen fnanziell aufgestockt werden. unstrittig. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Die Umsetzung der globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU halte ich deshalb für sehr Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des wichtig. Ein wichtiger Schritt für eine engere Zusam- Kollegen Lambsdorff? menarbeit – das ist gerade schon angesprochen worden – ist mit PESCO bereits gelungen. Ein weiterer muss aus Johannes Schraps (SPD): meiner Sicht die Stärkung des Europäischen Auswärtigen Bitte. (B) Dienstes und vor allen Dingen der Krisenprävention sein. (D) (Beifall bei der SPD) Alexander Graf Lambsdorff (FDP): Deshalb freue ich mich, den vorliegenden Antrag nach Lieber Herr Kollege, ich freue mich erst einmal über der Überweisung an den Ausschuss im Ausschuss zu dis- das Lob für den Antrag. Was den Kritikpunkt angeht, will kutieren. Ich denke dabei beispielsweise an den Punkt ich Sie fragen, ob Sie gestern genau gehört haben, was der „Zivilen Permanenten Zusammenarbeit“. Da lohnt unser Fraktionsvorsitzender zum mehrjährigen Finanz- eine vertiefte Behandlung. Es war schließlich immer ein rahmen ausgeführt hat. Er hat ganz klar gesagt: Wir brau- zentrales Anliegen sozialdemokratischer Außenpolitik, chen erst die Aufgabendefnition. Die Freien Demokraten den Ausbau der zivilen Dimensionen der GASP weiter zu werden sich hier im Deutschen Bundestag nicht gegen fördern. Das sollte auch zukünftig die Priorität Deutsch- eine Aufstockung von Mitteln für die Europäische Uni- lands in der europäischen Außenpolitik sein. on wehren, wenn die Aufgaben, die dort defniert sind, wichtig und richtig sind. Das ist nach unserer Auffassung (Beifall bei der SPD) in der GASP so. Was er auch gesagt hat, ist: Es ist nicht Doch wo Lob ist, liebe FDP-Kolleginnen und Kolle- richtig, pauschal große Finanzierungszusagen zu ma- gen, da ist auch Kritik. Beim Lesen des Antrags hatte ich chen, bevor die Gespräche überhaupt beginnen und die ein paar Fragezeichen auf der Stirn, gerade als es um die Aufgabenkritik anläuft. – Meine Frage ist daher: Haben fnanzielle Basis Ihrer Forderungen ging. Sie das mitbekommen? Die Überschrift Ihrer Nummer 7 lautet: „Für eine an- gemessene Mittelausstattung der GASP“. Da fordern Sie, Johannes Schraps (SPD): dass die Mittel für die Gemeinsame Außen- und Sicher- Selbstverständlich habe ich gestern hier im Plenum heitspolitik als Folge des Brexit nicht gekürzt werden gesessen und habe auch Ihrem Fraktionsvorsitzenden sollen. Das ist grundsätzlich richtig und zu befürworten. zugehört. Ich glaube, im Rahmen der sogenannten Ja- Gleichzeitig hat die gestrige Debatte zum mehrjährigen maika-Sondierungen ist deutlich geworden, dass Europa Finanzrahmen bei der Regierungserklärung leider erneut ein wichtiger Punkt war, an dem es dann gescheitert ist. gezeigt, dass Sie sich gegen jede Erhöhung der deutschen Wenn da ein Sinneswandel in Ihrer Fraktion stattgefun- EU-Beiträge aussprechen. den hat, dann begrüße ich das ausdrücklich und fnde es prima, dass Sie das hier noch einmal betonen. (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Nein, nein! Das stimmt nicht! – Renata Alt [FDP]: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Nein!) DIE GRÜNEN) 1264 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Johannes Schraps (A) Eines muss man ganz klar sagen – damit komme ich Siegbert Droese (AfD): (C) zurück zur fnanziellen Aufstockung des Bereichs „Die Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Gäste EU als globaler Akteur“ –: Wenn wir bereit sind, mehr in auf den Tribünen! Wir fnden es bemerkenswert, dass die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu inves- ausgerechnet die FDP dieses Thema eingebracht hat. tieren, dann können wir auch von ihrer Stärkung reden, Keine Angst, Herr Graf Lambsdorff, ich lobe Ihren An- und dann, liebe Kolleginnen und Kollegen, würden wir trag jetzt nicht. Die FDP hat unbestritten einige deutsche Federica Mogherini auch ganz automatisch den richtigen Außenminister von tadellosem Ruf hervorgebracht. Man Instrumentenkoffer an die Hand geben, damit sie ihre oh- denke nur an den großen Hans-Dietrich Genscher. Da nehin gute Arbeit in Zukunft noch effektiver fortsetzen ist es schon erstaunlich, dass gerade die FDP mit ihrem kann. Antrag sich ihrer früheren Kernkompetenz entledigt. Der Antrag der entkernten FDP enthält bereits in der Über- (Beifall bei der SPD) schrift Aspekte, die zu hinterfragen sind. Der Antrag Das wäre ganz wichtig; denn so, wie sich die globale Si- suggeriert mit der Forderung nach Verbesserung, dass es cherheitslage heute darstellt, müssen wir erkennen: Ein bereits eine gemeinsame europäische Außenpolitik gebe, starkes Europa ist das, was die Welt und was übrigens die es nur zu verbessern gelte. auch wir in Deutschland unbedingt brauchen. Vor wenigen Wochen hatten wir hier in diesem Hohen Haus den Festakt zum Élysée-Vertrag. Darin wird das Eine starke Position Europas in der Weltpolitik ist Europa der Vaterländer beschworen – eine gute Traditi- im Prinzip eine notwendige Voraussetzung, um all die on, an der meine Fraktion gedenkt festzuhalten. Meine Herausforderungen wirksam anzugehen, die in unserer Damen und Herren, Einhalt in Vielfalt – was kann es globalisierten Welt schlicht kein einzelnes Land alleine Besseres geben, eben auch in der europäischen Außen- bewältigen kann – der Kollege Frei hat es gerade auch politik? schon angesprochen –: Klimawandel, Migrationsbewe- gungen, Kampf gegen Terrorismus, Ressourcenzugang, (Beifall bei der AfD) Digitalisierung – alles grenzüberschreitende Fragen, die auch wir Deutschen nicht alleine lösen werden. Und um Die FDP beschwört in ihrem Antrag sehr idealistisch diese Herausforderungen gemeinsam anzugehen, zahlen ein Europa mit einer Stimme in der Außenpolitik, um wir momentan gerade einmal ein einziges Prozent der dann am Ende unter Punkt 5 ganz pragmatisch zu for- europäischen Jahreswirtschaftsleistung. Und um das hier dern: Wir brauchen mehr Entscheidungen mit qualifzier- ganz deutlich zu sagen: Durch Europa kommt ein Vielfa- ter Mehrheit. – Meine Damen und Herren von der FDP, ches davon auch immer direkt zu uns zurück. was denn nun? Europa mit einer Stimme oder mit quali- fzierter Mehrheit? (B) (D) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Frank (Beifall bei der AfD – Alexander Graf Müller-Rosentritt [FDP]) ­Lambsdorff [FDP]: Beides! Kein Wider- Abschließend – Herr Präsident, damit komme ich zum spruch!) Ende –: Die EU-Regierungschefs sitzen gerade zusam- Die früheren Liberalen wollen eine umfassende Stär- men und sprechen zum ersten Mal informell über den kung des Hohen Vertreters. Frau Mogherini, die kaum zukünftigen mehrjährigen Finanzrahmen. Durch den jemand kennt, Austritt der Briten und die vielen zusätzlichen Aufgaben, die die EU auch im außenpolitischen Bereich zusätzlich (Lachen und Widerspruch bei CDU/CSU und übernommen hat und übernehmen soll – das fordern Sie der SPD) ja auch zu Recht –, wird der EU-Haushalt reformiert soll vor der UNO sprechen. Sie soll nach Meinung der werden müssen; wir kommen gar nicht darum herum. Ich FDP für alle Bereiche der europäischen Außenpolitik freue mich deshalb, dass wir gemeinsam mit der CDU/ zuständig sein, und sie soll – so schreiben Sie – den CSU im Koalitionsvertrag ganz klar festgeschrieben ha- größtmöglichen „diplomatischen Freiraum“ bekommen. ben, dass wir bereit sind, mehr Geld in den EU-Haushalt Damit das Ganze nicht so anstrengend wird, schlägt die einzuzahlen. Denn das muss man auch ganz deutlich sa- FDP vor, einen oder mehrere Stellvertreter zu schaf- gen: 1,1 Prozent oder von mir aus sogar mehr sind ein fen, also noch mehr Posten an der Spitze der EU. Frau fairer Preis dafür, dass wir in Europa gemeinsam stark Mogherini – ich sehe das schon vor meinem geistigen sind. Auge – und Frentz als Speerspitze der Weltmacht EU. Vielen herzlichen Dank. Köstlich! (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die FDP fordert auch mehr Geld, so für ein Zivilcorps von Reservisten für Krisenherde. Länder, die dafür kein Geld haben, bekommen das Geld von anderen. Man kann Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: sich als deutscher Steuerzahler schon ausmalen, wer das Zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag erteile bezahlen wird. Die FDP stand früher einmal für weniger ich das Wort jetzt dem Kollegen Siegbert Droese von der Ausgaben des Staates. AfD-Fraktion. Kurios ist auch die Forderung nach einer gemeinsa- (Beifall bei der AfD) men Berichterstattung, also noch mehr Papiere, noch Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1265

Siegbert Droese (A) mehr Verwaltung. Die FDP stand früher einmal für we- Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit. (C) niger Bürokratie. (Beifall bei der AfD – (Beifall bei der AfD) [SPD]: Jetzt geht es aber rückwärts! – Jürgen Kurzum: Ihr Antrag ist eine Enttäuschung auf ganzer Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sank- Linie. Wenn Europa – Zitat – „‚weltpolitikfähig‘“ ‚wer- tionen gegen Russland aufheben!) den soll, dann gewiss nicht mit einem Hohen Vertreter. Diese EU muss aus unserer Sicht erst einmal ihre ele- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: mentaren Hausaufgaben machen, wie beispielweise die Der nächste Redner für die Fraktion Die Linke ist der Sicherung der Außengrenzen. Kollege Dr. Diether Dehm. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der LINKEN) Meine verehrten Kollegen der FDP, machen Sie sich doch ehrlich und erklären den Deutschen, dass Sie schon Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): längst in den Chor, der das hohe Lied von den Vereinig- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ten Staaten von Europa trällert, eingestimmt haben. Herren! Was verbirgt sich hinter dem Wortgetöse von (Beifall bei Abgeordneten der AfD) der „Weltpolitikfähigkeit“ im Antrag der FDP? Und was meinte Juncker auf der Münchener „Unsicherheitskonfe- Die AfD steht für ein Europa der Vaterländer von freien renz“ damit? Im Grunde nichts anderes als ein militäri- souveränen Staaten und erteilt dem Antrag und der Idee sches Kerneuropa, das nicht mehr an das lästige Prinzip einer zentralistischen europäischen Außenpolitik, die zu- der Einstimmigkeit gebunden ist, sondern koordinierter dem eher in Paris statt hier in Berlin festgelegt wird, eine aufrüstet und leichter bombardiert. Abfuhr. Trumps Forderung, den NATO-Etat auf 2 Prozent (Beifall bei der AfD) der Wirtschaftsleistung zu erhöhen – das bedeutet für Früher sprach man vom gemeinsamen europäischen Deutschland eine Verdoppelung auf fast 70 Milliarden Haus vom Atlantik bis zum Ural. Die AfD würde begrü- Euro –, macht nicht weltpolitikfähig, sondern weltkriegs- ßen, wenn es gemeinsame außenpolitische Initiativen politikfähig. gäbe, die beispielsweise zur Abschaffung der Sanktionen (Beifall bei der LINKEN) gegen Russland führen würden, oder wenn bereits ge- meinsam beschlossene Verträge eingehalten würden, wie Im Wahlkampf hatte Herr Lindner kurzzeitig das Ende (B) beispielsweise Dublin II. der Sanktionen und des Handelskriegs gegen Russland (D) (Beifall bei der AfD) gefordert, weil Petrograd und Moskau genauso europäi- sche Städte sind, wie London und Berlin. Für uns stellt sich auch eine wichtige Frage: Was sa- gen eigentlich die Bürger, die Europäer dazu? Wollen sie (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Petro- ein Einheitseuropa oder ein Europa der Nationen und Re- grad?) gionen? Wir glauben: Letzteres. In Ihrem FDP-Antrag steht jetzt überwiegend nur noch: Verehrte Kollegen, spüren Sie nicht längst auch den EU-Kriegsfähigkeit, GASP, PESCO und EAD. Aber das Wind des Wandels in Europa? Hat Ihnen denn der Brexit ist ebenso wenig politikfähig wie die Rüstungsexporte an als Schuss vor den Bug nicht ausgereicht? Oder haben die Türkei und an Saudi-Arabien Sie gar diesen Schuss gar nicht gehört? (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der AfD – Marianne Schieder oder der jüngste Vorschlag des EU-Superstars Emmanuel [SPD]: Wir schießen nicht!) Macron, einmal eben Syrien zu bombardieren. Das ist kei- Meine Damen und Herren, die AfD ist für ein star- ne Fähigkeit, sondern – mit einem Wort Willy Brandts – kes Europa der Nationen, für ein sicheres Europa, für ein die größte geistige Unfähigkeit: die Ultima Irratio. selbstbewusstes Europa. Wir brauchen kein Europa unter der Dominanz von Präsident Macron, kein Europa, das (Beifall bei der LINKEN) überzentralistisch ist, und vor allem kein Europa, das sich Über 900 Milliarden Euro Militäretats der NATO stehen viel zu wenig um die Belange seiner Bürger kümmert. 60 Milliarden Euro Russlands gegenüber. Und Russland (Beifall bei der AfD) senkt noch weiter. Ich kann mit der Überweisung an den Ausschuss recht Wenn andere Parteien wegen Brexit am Sozialen zu gut leben. Dieser Antrag atmet allerdings nicht den Geist sparen empfehlen, an der Agrarpolitik und den Kohäsi- des freien Europas. Vielmehr schlägt mir der Atem der onsfonds, dann wollen wir an der Hochrüstung sparen. längst untergegangenen Sowjetunion entgegen. (Beifall bei der LINKEN) (Lachen bei der SPD, der FDP, der LINKEN Damit nicht mehr weiter bei unseren Krankenhäusern und und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Hygiene gekürzt wird. Jedes Jahr sterben in deutschen Ich empfehle meiner AfD-Fraktion daher, diesen Antrag Einrichtungen im Gesundheitsbereich 40 000 Menschen mit Bausch und Bogen abzulehnen. an multiresistenten Bakterien. Das entspricht einer Stadt. 1266 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Dr. Diether Dehm (A) Ein Krieg gegen diese Keime und für höhere Hygiene – sein. Aber wir reden hier über Fakten. Zum Glück gibt (C) das wäre ein Krieg, den wir gewinnen könnten. es Umfragen, die ganz eindeutig besagen, dass die große Mehrheit, nämlich über 70 Prozent, der Europäer in allen (Beifall bei der LINKEN) europäischen Mitgliedsländern mehr europäische Au- Im neuen Heft der Zeitschrift „Ossietzky“ wird die ßen- und Sicherheitspolitik will. Vielleicht schauen Sie wichtigste Publikation der westlichen Kapitaleliten zi- sich die einfach einmal an. tiert. „The Economist“ vom 27. Januar 2018 titelt – erst- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, mals nicht ökonomisch, sondern –: „The next War“, und bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜND- schreibt, dass seit dem Zweiten Weltkrieg jetzt erstmals NIS 90/DIE GRÜNEN) wieder die Gefahr – ich zitiere – eines größeren Kon- fikts zwischen den großen Mächten existiert. „The Eco- Wir leben in einer Welt des Umbruchs; das haben nomist“ zitiert die jüngst veröffentlichte Militärstrategie die Vorrednerinnen und Vorredner schon gesagt. Katas- des Pentagon, in der China und Russland noch vor dem trophen über Katastrophen, Krisen über Krisen: Syrien, Dschihadismus als größte Bedrohungen für die USA be- Myanmar, Kongo, Libyen, Ukraine. Man kann sie gar zeichnet werden. Die „Economist“-Analysten plädieren nicht alle aufzählen. Deutschland kann da alleine nicht für die mentale, mediale und materielle Vorbereitung auf viel ausrichten, auch Frankreich nicht – auch nicht an- diesen Krieg mittels beschleunigter Aufrüstungsinvesti- richten. Wir haben mittlerweile einfach eine begrenzte tionen des Westens in elektronisch roboterisierte Militär- Souveränität. Wir haben deswegen als Europäer die Wahl, bauteile, künstliche Intelligenz und Richtenergiewaffen. entweder Spielball der Putins, der Trumps, der Erdogans zu sein und die Konsequenzen auszuhalten, wenn das Wir halten es da eher mit António Guterres, der kürz- Völkerrecht komplett schmilzt, oder gemeinsam wieder lich gefordert hat, alles Erdenkliche gegen diesen neuen Souveränität zu erlangen, um als gestaltender Akteur in Krieg zu tun. der Welt überhaupt wieder eine Rolle zu spielen. (Beifall bei der LINKEN) Wenn wir diese Handlungsmacht wollen, dann brau- Vor 75 Jahren, meine sehr verehrten Damen und Her- chen wir auch institutionelle Veränderungen. Die FDP ren, hat die Rote Armee in Stalingrad die große Schlacht hat in ihrem Antrag richtige Vorschläge gemacht: institu- zur Befreiung der Welt vom Faschismus geschlagen. tionelle Verbesserungen mit Blick auf den Europäischen Auch wegen dieses Siegs können wir heute hier frei reden Auswärtigen Dienst, politische Stellvertretungen – wobei und streiten. Er hat 27 Millionen sowjetischen Menschen Helga Schmid das schon sehr gut macht; aber es wäre gut das Leben gekostet. Sollten wir nicht endlich diesen an- verankert –, eine Stärkung der EU bei den Vereinten Na- tieuropäischen Handelskrieg, diese Sanktionen und die tionen – übrigens könnte Deutschland seinen nicht stän- (B) gehässige Propaganda gegen Russland beenden und die digen Sitz im UN-Sicherheitsrat ja dafür nutzen, einmal (D) NATO von russischen Grenzen abziehen? Wir sollten auszuprobieren, wie ein europäisches Modell aussehen Russland endlich die Freundschaftshand hinstrecken. könnte – (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN neten der AfD) sowie bei Abgeordneten der FDP) Die Welt braucht keine weltkriegspolitikfähige EU und auch die Frage der Entscheidung mit qualifzierter und nicht solche Anträge der FDP. Die Welt braucht eine Mehrheit. große Initiative und Bewegung für Frieden und Abrüs- Das Geld wurde schon angesprochen. Herr Lambsdorf­ f, tung. es freut mich, zu hören, wenn Sie sagen, Sie würden sich (Beifall bei der LINKEN) nicht dagegen wehren, dass es mehr Geld auf europäi- scher Ebene gibt. Das ist noch nicht das Gleiche, wie dies zu fordern; aber vor dem Hintergrund, dass Ihr Kollege Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Schäffer heute Morgen im Deutschlandfunk klipp und Für Bündnis 90/Die Grünen spricht nun Kollegin klar gesagt hat, dass es aus Deutschland nicht einen Cent Dr. Franziska Brantner. mehr geben wird für das, was durch den Brexit wegfallen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wird, (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wünsche ich mir, dass sich in Ihrer Partei die ­Lambsdorffs NEN): durchsetzen und nicht die Schäffers. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Droese, ich musste wirklich lachen, als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie gesagt haben, dass Herr Lambsdorff der Stellvertre- und der SPD sowie bei Abgeordneten der ter der untergegangenen Sowjetunion ist. Ich glaube, da CDU/CSU) kennen Sie ihn wirklich noch nicht. Wir unterstützen auch Ihre Forderung nach einer (Heiterkeit bei der FDP) „Zivilen Permanenten Zusammenarbeit“. Sie sagen richtigerweise: Wir brauchen permanente Reserven für Außerdem haben Sie behauptet, Sie glauben, dass die Polizeibeamte und auch das Personal im Justizbereich. – Mehrheit der Europäer gegen eine stärkere Gemeinsa- Wenn wir ehrlich sind, wissen wir: Natürlich ist das Mi- me Außen- und Sicherheitspolitik ist. Ihr Glaube mag ja litärische die eine Seite; aber wir kommen doch auf der Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1267

Dr. Franziska Brantner (A) anderen Seite ohne das Personal überhaupt nicht weiter Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (C) beim Staatsaufbau, bei den Hilfen für einen langfristigen Der Kollege Dr. Volker Ullrich spricht für die CDU/ Frieden. Da brauchen wir auch auf europäischer Ebene CSU-Fraktion. dringend Verbesserungen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): FDP) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Wir wissen aber auch alle, dass institutionelle Ände- ren! Historisch gesehen war eine gemeinsame Außen- rungen nicht sehr weit reichen. Am Ende kommt es auf und Sicherheitspolitik eines der Gründungsmotive Euro- den politischen Willen an. Das sehen wir in Syrien. Was pas. Zwar ist die europäische Verteidigungsgemeinschaft die Türkei gerade macht, wird Konsequenzen haben, in den 15 Jahren gescheitert, – vielleicht war damals die die wir, glaube ich, alle noch gar nicht bedenken kön- Zeit noch nicht reif für ein gemeinsames Vorgehen im nen. Das eine ist, dass es eine Eskalation zwischen zwei Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik; deswegen hat NATO-Partnern gibt, dass andere, dass es einen Völker- sich Europa erst einmal auf die wirtschaftliche Integra- rechtsbruch gibt und die Europäische Union darauf über- tion konzentriert. –, aber die Ereignisse nach dem Fall haupt keine gemeinsame Antwort gefunden hat. des Eisernen Vorhangs und auch die Vorkommnisse auf dem Balkan, bei denen Europa viel zu lange tatenlos war, Was Ost-Ghuta angeht, möchte ich noch einmal gerne haben dazu geführt, das Bewusstsein zu schärfen, dass daran erinnern, dass gestern vor vier Jahren, am 22. Fe- Europa eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bruar 2014, der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in benötigt, auch zur Verteidigung der oftmals gepriesenen Resolution 2139 Folgendes beschlossen hat: Europäischen Union. Der Sicherheitsrat … fordert alle Parteien auf, die Aus diesem Grund ist im Jahr 2009 berechtigterweise Belagerung bevölkerter Gebiete sofort zu beenden, im Vertrag von Lissabon die Position eines sogenannten einschließlich … Ost-Ghouta …, und verlangt, dass europäischen Außenministers geschaffen worden, übri- alle Parteien die Erbringung humanitärer Hilfe, ein- gens von Anfang an mit hohen Befugnissen ausgestat- schließlich medizinischer Hilfe, gestatten … tet. Ich erinnere daran, dass die jetzige Kommissarin für Vier Jahre später: Ost-Ghuta ist immer noch belagert und Außenpolitik auch gleichzeitig den Europäischen Rat der wird gerade bombardiert, Schulen, Krankenhäuser und Außenminister leitet und damit als einziger Kommissar Bunker brechend. Das ist die Situation nach vier Jahren. einen sogenannten doppelten Hut aufhat. Russland hat selber zugestimmt, hat nichts dafür getan. Ich erinnere auch daran, dass es mit dem gemeinsa- (B) Es ist beschämend, dass wir dem nichts entgegenzuhal- men Europäischen Auswärtigen Dienst seit mittlerweile (D) ten haben. knapp zehn Jahren Botschaften Europas in der Welt gibt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und damit die europäische Flagge in vielen Hauptstädten sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der Welt weht und damit ein Zeichen unserer Integrati- onsbereitschaft setzt, aber auch unserer gemeinsamen Mich macht es wütend, dass in dieser Situation der Werte. noch amtierende Außenminister gegenüber Putin Sank- tionserleichterungen in Aussicht stellt und dass auch Sie Aber das darf uns nicht ruhen lassen, sondern wir hier klatschen, wenn es heißt, wir müssen Russland sozu- müssen diesen Weg weitergehen. Die außenpolitischen sagen aus der Verantwortung lassen. Was wir stattdessen Herausforderungen, vor denen wir in Europa stehen, sind brauchten, sind personenbezogene Sanktionen gegen die groß. Es macht schon ein bisschen wütend, wenn ich so- Verantwortlichen für die aktuellen Bombardierungen auf wohl von der linken als auch von der rechten Seite solche Ost-Ghuta. Das ist es, was wir brauchten. Einlassungen höre. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kollege Droese, Sie sagen, Europa sei ein Europa der sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Vaterländer. Gleichzeitig sprechen Sie den Élysée-Ver- Ursula Groden-Kranich [CDU/CSU]) trag an. Aber Sie sind als AfD-Fraktion nicht bereit, am 55. Jahrestag mit nach Paris zu kommen. Das war ein an- Erlauben Sie mir, am Ende zu sagen, dass wir schon tieuropäisches, ein anti-deutsch-französisches Zeichen. nach Srebrenica gesagt haben: Die Europäische Union Das muss ich Ihnen heute noch einmal klar und deutlich muss als Akteur selbst Verantwortung dafür übernehmen sagen. können. Wir sind jetzt wieder in einer ähnlichen Situati- on. Wir können es immer noch nicht. Ich hoffe einfach (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und sehr, dass wir nicht immer wieder in solche Situationen dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei kommen, dass wir immer wieder ermahnen und sich Abgeordneten der FDP und der LINKEN – trotzdem nichts ändert. Dr. Alexander Gauland [AfD]: Wir waren nicht eingeladen! Dann gehen wir auch nicht!) Von daher werden wir Ihren Antrag im Ausschuss sehr positiv begleiten. Meine Kollegen von der Linkspartei, Sie sprechen hier von einem Handelskrieg Europas gegen Russland. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich will noch einmal deutlich machen, dass das völlig und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der falsch ist. Es handelt sich hier um eine russische Aggres- CDU/CSU und der SPD) sion auf der Krim, um den Bruch des Völkerrechts und 1268 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Dr. Volker Ullrich (A) gleichzeitig auch um einen asymmetrischen Krieg in der Es stimmt auch, dass viele Bürger sich ein starkes und (C) Ostukraine. Darauf hat Europa mit einer einzigen Stim- einiges Europa wünschen. Wir machen hier aber keine me geantwortet, indem die Sanktionen gegenüber Russ- Wünsch-dir-was-Politik, sondern hoffentlich Realpolitik. land von Europa einstimmig beschlossen worden sind. Dann müssen wir feststellen, dass Europa so uneinig ist wie nie. Was Bürger von Europa wollen, ist bürgernahe (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nicht in Politik, Sicherheit, Frieden, Verlässlichkeit und Wohl- unserem Namen!) stand. Was Sie mit der Stärkung der Hohen Vertreterin Das war ein klares und gutes Zeichen gemeinsamen eu- fordern, ist in der Tat zuallererst mehr Geld. Es wäre ropäischen Handelns. Das bitte ich Sie zur Kenntnis zu dann schön gewesen, wenn Sie sich dafür starkgemacht nehmen. hätten, dass weitere 27 Sitze im EU-Parlament nach dem Brexit wegfallen und die entsprechenden Mittel unter (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der anderem dafür verwendet werden; aber sie sollen eben FDP) nicht eingespart werden. – Sie fordern damit, ob Sie es Diese Sanktionen können übrigens aufgehoben wer- wollen oder nicht, am Ende auch mehr Bürokratie. den, wenn das Abkommen von Minsk umgesetzt wird. Ich frage Sie: Wie sieht ein Europa aus, in dem Es liegt auch in der Hand Russlands, diesen Zustand zu Deutschland nicht mehr wie damals, zu Zeiten ­Schröders, beenden und zur Geltung des Völkerrechts zurückzukeh- Nein zum Irakkrieg sagen kann, während andere Ja sa- ren. gen? Erklären Sie den Bürgern, dass Ihre Idee einer Stär- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) kung der Hohen Vertreterin in der Tat heißt, die Uneinig- keit, die es in Demokratien nun einmal gibt, zuzudeckeln, Da hat Europa eine große Rolle zu spielen, und da wird indem Sie das zweitwichtigste Ressort der nationalen Po- Europa nach wie vor nicht lockerlassen. litik vollständig nach Europa verlagern. (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Sie Wie schief es schon gegangen ist, mehr Kompetenzen meinen die EU! – Dr. Diether Dehm [DIE an Europa abzugeben, wissen Sie selbst – in Fragen der LINKE]: Meinen Sie jetzt die EU oder Euro- europäischen Verfassung, die in Europa einhellig abge- pa?) lehnt wurde. Und wohin hat es uns mit dem Euro ge- Über die inhaltlichen Themen, meine Damen und Her- bracht? Ja, das wollen Sie nicht hören, aber das sollten ren, werden wir im Ausschuss diskutieren. Wir müssen Sie zur Kenntnis nehmen: Auch da hat die Uneinigkeit darüber sprechen, wie wir die Gemeinsame Außen- und und die Inkohärenz in Europa zu mehr Verwerfungen und Sicherheitspolitik im mehrjährigen Finanzrahmen mit nicht zu mehr Einigkeit geführt. Mitteln unterlegen können, wie wir die Stellung der (B) Der Außenminister vertritt den Regierungschef. Das (D) Kommissarin weiter stärken können. heißt, aus jedem Land Europas guckt nach dem Regie- (Zuruf von der AfD: Um Gottes willen!) rungschef der Außenminister heraus. Wollen Sie allen Ernstes eine Kommunistin wie Federica Mogherini Denn eines ist deutlich: Die Welt wird irgendwann mal nicht auf Europa warten. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Auf zur zweiten Figur Europas machen, die aus diesem Euro- Europa oder die EU?) pa herausguckt? Das kann doch als Liberaler echt nicht Ihr Ernst sein. Wenn wir unsere Interessen, unsere Werte und unsere gemeinsamen Überzeugungen in der Welt stark vertreten Überdenken Sie diesen Antrag, liebe FDP-Fraktion. sehen wollen, dann müssen wir in vielen Bereichen mit Dafür haben Sie Liberale und Konservative in diesem einer Stimme sprechen. Darauf kommt es an, und dafür Land nicht gewählt. werden wir uns einsetzen. (Beifall bei Abgeordneten der AfD sowie des Vielen Dank. Abg. [fraktionslos]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD und der FDP) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Metin Hakverdi. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Ich erteile der Kollegin Dr. Frauke Petry das Wort. (Beifall bei der SPD)

Dr. Frauke Petry (fraktionslos): Metin Hakverdi (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Das ist ja hier halbe Folklore. – Damen und Herren! Herr Kollege Lambsdorff, es wäre (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: schön, wenn Europa so weit wäre, dass es einen Antrag Halbe?) wie Ihren verträgt. Sie geben dankenswerterweise zu, dass im Zusammenhang mit dem Brexit, Libyen und dem Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Syrien-Konfikt die Uneinigkeit, die wir aktuell in Euro- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, wie pa spüren, ihren Ausdruck gefunden hat. Das ist in der es Ihnen nach der Münchner Sicherheitskonferenz am Tat eine realistische Analyse. letzten Wochenende geht. Ich und viele andere sind ent- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1269

Metin Hakverdi (A) täuscht zurückgelassen worden, fast orientierungslos. Es sehr, dass der Koalitionsvertrag zwischen der SPD und (C) fndet – zu Recht – eine Debatte statt, ob die Sicherheits- der Union den Zusammenhalt Europas ganz nach vorne konferenz überhaupt noch das geeignete Format ist, ob stellt. Der Koalitionsvertrag beinhaltet auch, dass wir die es überhaupt richtige Formate des Austausches in einer außenpolitischen Entscheidungsmechanismen innerhalb Welt gibt, in der Regierungschefs und Staatsoberhäup- der Europäischen Union fortentwickeln wollen. Wir wol- ter entweder gar nicht kommen oder, wenn sie kommen, len auch im zivilen Bereich eine vergleichbare Struktur dann nicht, um sich miteinander auszutauschen, sondern zur militärischen Struktur, zur PESCO, schaffen. um Fensterreden für ihre Wählerinnen und Wähler zu Hause halten. Wir überweisen den Antrag der FDP-Fraktion heute in den Ausschuss. Ich freue mich auf die Debatte über eine Was hat sich seit den Tagen der Wehrkundetagung bessere europäische Außenpolitik. Wir müssen das Mo- verändert? Was bedeutet heute Diplomatie, Sicherheits- mentum nutzen und gemeinsam mit Frankreich und un- und Außenpolitik, in einer Zeit, in der es keine zwei Blö- seren europäischen Partnern mehr Europa wagen; denn cke gibt, sondern ein völlig zerfasertes internationales nur vereint haben wir Europäer in der Welt ein Gewicht. Gefecht von einzelnen nationalen Interessen oder – noch schlimmer – von sogenannten Non-State Actors? Vielen Dank. Fukuyamas Ende der Geschichte fndet nicht statt, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Siegeszug der liberalen Demokratien auch nicht. Im der CDU/CSU und der FDP) Gegenteil: Der Krieg in Syrien geht in sein siebtes Jahr. Diese Weltlage macht eine besser funktionierende und Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: auf gemeinsamen Werten und Normen aufbauende euro- Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt päische Außen- und Sicherheitspolitik unabdingbar. ist der Kollege Matern von Marschall von der CDU/ CSU-Fraktion. Mit dem Vertrag von Lissabon haben wir wichtige Weichenstellungen in den Strukturen der Gemeinsa- (Beifall bei der CDU/CSU) men Außen- und Sicherheitspolitik vorgenommen. Die- se betreffen ganz wesentlich auch die Rolle der Hohen Matern von Marschall (CDU/CSU): Vertreterin. Auch deshalb hat die Hohe Vertreterin eine erfolgreiche Rolle gespielt bei den diplomatischen Be- Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen mühungen um eine Einigung im Atomstreit mit dem Iran. und Kollegen! Manche von Ihnen werden gestern Abend das erschütternde Bild eines blutenden und schreienden (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Kindes gesehen haben, das aus den Trümmern des zer- (B) bombten Ost-Ghuta herausgetragen wird. Ich bin dank- (D) Überhaupt: Das Atomabkommen mit dem Iran ist bar, dass insbesondere Deutschland in der Vergangenheit ein Beispiel gelungener europäischer Außenpolitik, und seinen humanitären Verpfichtungen, die die Europäische das trotz der Frustration nach dem letzten Wochenende Union insgesamt hat, nachgekommen ist. Ich hoffe, dass in München. Aus diesem Erfolg müssen wir lernen, um wir das auch weiterhin tun. Ich muss sagen: Ich bin be- auch andere Konfikte als Europäer gemeinsam einzu- schämt über den Antrag, den die AfD neulich eingereicht dämmen. hat mit dem Ziel, Flüchtlinge in diese Hölle zurückzu- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie das Beispiel schicken. Iran zeigt: Wir haben große Fortschritte in der europä- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der ischen Außen- und Sicherheitspolitik erzielt. Doch wir LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dürfen nicht stehen bleiben. Wir müssen die Strukturen NEN) und Mechanismen in der europäischen Außen- und Si- cherheitspolitik an die sich ständig wandelnde interna- Ich will fragen, was wir als Europäische Union in tionale Lage anpassen. Wir müssen auch innerhalb der Zukunft tun können, um nicht nur die Wunden zu hei- EU den inneren Zusammenhalt herstellen, indem wir uns len oder Symptome zu bekämpfen, sondern um die Ur- der inneren Konfikte der Europäischen Union annehmen sachen zu bekämpfen. Deswegen bin ich Ihnen, Graf und diese lösen. Wir müssen außerdem ein Verständnis ­Lambsdorff, sehr dankbar, dass Sie den vorliegenden An- von den gemeinsamen Interessen der Mitgliedstaaten der trag eingebracht haben, einen Antrag, der im Übrigen – Europäischen Union entwickeln. Und schließlich, darauf darauf haben Sie hingewiesen – klarmacht, dass es zwar aufbauend, benötigen wir dann auch eine gemeinsame sehr viele bilaterale Aktivitäten der großen Staaten der Strategie und gemeinsame Instrumente, um diese Stra- Europäischen Union gibt, dass aber die kleinen Mitglied- tegie auch durchzusetzen. Ein mögliches Instrument zur staaten sich sehr gerne in eine gemeinsame europäische schnelleren Umsetzung außenpolitischer Beschlüsse – es Außenpolitik einbezogen fühlen würden. Dem trägt der ist hier bereits gesagt worden – könnte das Treffen von vorliegende Antrag Rechnung. Insofern hoffe ich, dass Entscheidungen mit qualifzierter Mehrheit in einigen wir ihn gemeinsam konstruktiv voranbringen. Bereichen der europäischen Außenpolitik sein. Kommis- sionspräsident Juncker hat angekündigt, in Kürze hierzu Ich habe mir den Bericht des Berichterstatters Vorschläge zu unterbreiten. ­McAllister vom November letzten Jahres zu dieser Frage angesehen. Auch er kommt in einem wesentlichen Punkt Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch Deutschland zu der Überzeugung, nämlich dass wir die Entschei- muss seinen Beitrag dazu leisten, dass wir zu einer stärke- dungsprozesse in der Europäischen Union beschleunigen ren europäischen Außenpolitik kommen. Ich freue mich müssen. Das kann gegebenenfalls über Entscheidungen 1270 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Matern von Marschall (A) mit qualifzierter Mehrheit gelingen. Denn angesichts der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: (C) rasanten Umwälzungen und Verwerfungen, denen diese Welt ausgesetzt ist, ist die Trägheit bei einstimmigen Ent- Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike scheidungen eben nicht ausreichend, um in hinreichender Hänsel, Michel Brandt, Christine Buchholz, wei- Geschwindigkeit aus der Europäischen Union heraus auf terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE die Probleme zu antworten. Dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten – Atomwaffen abziehen Ich glaube, dass neben der Entscheidungsgeschwin- digkeit vor allen Dingen die Frage der Koordinati- Drucksache 19/98 on eine nennenswerte Rolle spielt. Ich denke, dass die Überweisungsvorschlag: Hohe Vertreterin auch einen Beitrag dazu leisten kann, Auswärtiger Ausschuss (f) die Koordination, also die Abstimmung der Politik zwi- Verteidigungsausschuss schen den Mitgliedstaaten voranzubringen. Da möchte ich nicht nur die Außen- und Sicherheitspolitik, sondern Interfraktionell ist eine Aussprache von 38 Minuten auch die Entwicklungspolitik einschließen. Wenn ich mir vereinbart. – Es gibt dazu keinen Widerspruch. Dann ist den Migrationsdruck aus Afrika, den wir zurzeit erleben, das so beschlossen. ansehe, dann denke ich, dass einzelne Länder besonde- Ich eröffne die Aussprache. Die Aussprache beginnt re Fähigkeiten und Beziehungen zu einzelnen Staaten in mit der Kollegin Christine Buchholz von der Fraktion Afrika haben und eine gut abgestimmte Kooperation der Die Linke. Mitgliedstaaten sinnvollerweise vorangebracht werden muss. Ich bin überzeugt davon, dass die Hohe Vertreterin (Beifall bei der LINKEN) in Zukunft einen guten Beitrag dazu leisten kann, dass die Zusammenarbeit der europäischen Staaten in der Au- Christine Buchholz (DIE LINKE): ßen-, der Sicherheits- und der Verteidigungspolitik bes- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Zeiten ser koordiniert wird. des Kalten Krieges bedrohte der nukleare Rüstungswett- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- lauf die Menschheit mit dem Atomtod. Auch das brachte ordneten der FDP) mich als Schülerin in den 80er-Jahren zur Friedensbewe- gung. Ich hätte es mir nicht träumen lassen, dass heute, Zum Abschluss: Herr Dr. Dehm, Sie wollen Russland fast 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, meine die Hand zur Freundschaft reichen. Das ist schön und Kinder erneut im Schatten eines drohenden Atomkrieges gut, und vielleicht verbindet Sie das mit der AfD. Ich aufwachsen müssen. Die Atommächte der Welt müssen kann nur sagen: Wenn ich mir anschaue, in welcher Wei- endlich abrüsten. (B) se Russland den syrischen Diktator und Mörder Assad (D) unterstützt, sich hinter und vor ihn stellt (Beifall bei der LINKEN – Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Das stimmt!) (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Erdogan!) Doch sie tun das Gegenteil. und in welch schändlicher Weise Russland im UN-­ Deshalb erhielt die Antiatombewegung ICAN zu Sicherheitsrat eine Feuerpause in dieser Hölle bisher Recht den Friedensnobelpreis. ICAN hat sich maßgeb- blockiert, dann meine ich, Sie sollten Ihre Position noch lich dafür eingesetzt, dass im vergangenen Sommer einmal überdenken. die UN-Vollversammlung einen Vertrag zum Verbot von Atomwaffen abgeschlossen hat. 122 Länder haben ( [DIE LINKE]: Ihr unterzeichnet. Doch wer fehlt? Die Atommächte, die ­NATO-Partner Türkei!) ­NATO-Staaten und auch Deutschland haben nicht unter- zeichnet. Ich sage Ihnen: Die Bundesregierung redet von Schon aus diesem Grund brauchen wir eine starke Euro- Frieden und von Abrüstung, doch sie verweigert sich die- päische Union. Ich hoffe, wir werden das auf den Weg sem wichtigen Schritt. Das ist eine Schande, meine Da- bringen. men und Herren. Unterzeichnen Sie endlich den Atom- Vielen Dank. waffenverbotsvertrag! (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- FDP) NIS 90/DIE GRÜNEN) Offziell hat Deutschland keine Atomwaffen; aber auf Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: dem Fliegerhorst im rheinland-pfälzischen Büchel lagern Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord- wahrscheinlich bis zu 20 Atombomben der US-Armee. nungspunkt. Die deutschen Tornados können diese im Ernstfall über Ziele in Osteuropa oder Russland abwerfen. Wir wissen Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage nicht, wie viele Atombomben genau in Büchel lagern; auf der Drucksache 19/822 an die in der Tagesordnung denn die Bundesregierung äußert sich dazu nicht. aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Fe- derführung beim Ausschuss für die Angelegenheiten der Ich war im Januar auf dem Luftwaffenstützpunkt Europäischen Union liegen soll. Sind Sie damit einver- in Büchel. Es ist schon bizarr. Den dort stationierten standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so Bundeswehrsoldaten war es verboten, mit mir über die beschlossen. Atombomben und die sogenannte nukleare Teilhabe zu Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1271

Christine Buchholz (A) sprechen. Und doch bekam ich beim Rundgang durch die Dr. Frank Steffel (CDU/CSU): (C) Hangars die Stellen an den Tornados gezeigt, an denen Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- die Atomwaffen angebracht werden. Die Zusammenar- nen und Kollegen! Uns alle hier eint der Wunsch nach ei- beit mit der US-Armee sei außerordentlich eng, hieß es. ner friedlichen und atomwaffenfreien Welt. Deshalb be- Die Bundesregierung verschleiert die Wahrheit, um sich kennt sich die Bundesrepublik Deutschland ausdrücklich öffentlich nicht rechtfertigen zu müssen. zu einer Welt ohne Atomwaffen. Die Fraktion Die Linke Ich sage: Die Menschen in diesem Land haben ein Recht, fordert nun heute – man muss sagen: einmal mehr – in ih- zu erfahren, wie viele Atombomben hierzulande lagern. rem Antrag die Bundesregierung auf, dem Atomwaffen- verbotsvertrag beizutreten, die Teilnahme Deutschlands (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- an der nuklearen Teilhabe der NATO aufzukündigen und neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) den Abzug – wir haben es eben gehört – der Atomwaffen der Vereinigten Staaten von Amerika von deutschem Bo- Die Linke hat diesen Antrag vorgelegt, der den Ab- den einzuleiten. zug der US-Atomwaffen fordert. SPD-Kanzlerkandidat Schulz hatte im Wahlkampf versprochen, sich genau da- (Beifall bei der LINKEN) für stark zu machen. Doch der GroKo-Vertrag bekennt sich ausdrücklich zur nuklearen Teilhabe und damit auch Um es gleich zu Beginn klar zu sagen: Solange Länder zu den Atomwaffen in Büchel. Zu den Kolleginnen und wie Nordkorea, der Iran, Pakistan, aber auch Russland Kollegen der SPD sage ich: Das ist wirklich mehr als ent- mit Völkerrechtsverletzungen, Kriegsrhetorik und An- täuschend. kündigungen über die Ausweitung ihrer Atomprogram- me drohen, wäre ein einseitiger Verzicht der freien De- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- mokratien dieser Welt gefährlich und verantwortungslos. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Die Bundesregierung zeigt gerne mit dem Finger auf das Atombombenprogramm des nordkoreanischen Dik- Ich wurde 1966 in Berlin, genauer gesagt in West-Ber- tators. Ja, auch dieses Programm ist gefährlich, und auch lin, geboren und habe 23 Jahre meines Lebens den Kalten dieses Programm lehnen wir ab. Tatsache ist aber: Von Krieg und die kommunistische Mauer quer durch meine den weltweit einsatzfähigen Atombomben entfallen nicht Heimatstadt erlebt. Ich habe hier in Berlin zum einen die weniger als 93 Prozent auf die USA und Russland. Nun Bedrohung und zum anderen aber auch das Gefühl des wollen die USA in den nächsten zehn Jahren 400 Milli- Schutzes durch die Westalliierten, unsere französischen, arden Dollar in die Modernisierung, das heißt Aufrüs- britischen und amerikanischen Freunde, gespürt. 1987 habe ich gemeinsam mit Hunderttausenden Berlinern den (B) tung, ihrer Nuklearstreitkräfte investieren. Dann werden (D) in Büchel die modernsten Atomwaffen der Welt lagern. damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan am Branden- Deutschland macht mit bei dieser Aufrüstungsspirale. burger Tor erlebt, als er gesagt hat: „Mister Gorbachev, Die Bundesregierung plant, die atomwaffenfähigen Tor- open this gate! Mister Gorbachev, tear down this wall!“. nados der Luftwaffe durch ein neues Kampffugzeug zu Dass diese Worte 1989, zwei Jahre später, in Europa Re- ersetzen. Das wird Milliarden kosten. Ich sage: Die Bun- alität wurden, lag nicht an Nachgiebigkeit, es lag nicht an desregierung muss endlich vor der eigenen Haustür keh- Anbiederung, und es lag auch nicht an einseitiger Abrüs- ren. Stoppen Sie diesen Aufrüstungswahnsinn! tung. Vielmehr lag es – man könnte sagen: leider – nicht zuletzt daran, dass die NATO Europa, Deutschland und (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- den Westteil Berlins auch durch Nachrüstung, auch durch neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) den NATO-Doppelbeschluss und auch durch atomare Waffen gegen die militärische Bedrohung durch die So- Die Linke fordert: Alle Atombomben müssen unver- wjetunion und den Warschauer Pakt geschützt hat. Auch züglich aus Deutschland abgezogen werden. Deutsch- das ist die historische Wahrheit. land muss endlich dem Atomwaffenverbotsvertrag bei- treten. Deswegen appelliere ich an die Fraktionen in (Beifall bei der CDU/CSU) diesem Hause: Unterstützen Sie unseren Antrag! Ich selbst habe – ich weiß nicht, ob das auch auf Sie (Beifall bei der LINKEN) zutrifft – kleine Kinder. Natürlich würde es mich freuen, wenn meine Kinder eine Welt ohne Waffen, insbesonde- Die Friedensbewegung wird ab dem 26. März 20 Wo- re ohne Atomwaffen, erleben könnten, eine Welt ohne chen gegen die Atombomben in Büchel protestieren. Es Krieg, ohne Terror, ohne Giftgaseinsätze, ohne Extre- ist ermutigend: Viele junge Leute werden sich daran be- mismus, übrigens auch ohne religiösen Fanatismus, eine teiligen. Die Linke unterstützt diese Proteste von ganzem Welt ohne Raketentests und ohne Diktatoren, die andro- Herzen. hen, mit Raketen auf Städte und Menschen zu schießen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege? Dr. Frank Steffel spricht nun für die CDU/CSU-Frak- tion. Dr. Frank Steffel (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU) Von wem auch immer. 1272 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

(A) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Kindern und Kindeskindern. Wir sind leider nicht auf ei- (C) Von der Kollegin Hänsel. ner kleinen friedlichen Insel in der Karibik, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Kuba!) Dr. Frank Steffel (CDU/CSU): Ja, auch wenn ich sie gegen die Sonne nicht sehe. sondern wir sind mitten im Herzen Europas. Wir sind ei- nes der bedeutendsten Länder Europas, und wir haben die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen, liebe Kollegin- Heike Hänsel (DIE LINKE): nen und Kollegen. Danke schön, Herr Präsident. – Lieber Kollege Steffel, die Zeiten des Kalten Krieges sind vorbei; darüber woll- Realität heißt beispielsweise auch: Russland hat vor te ich Sie informieren. Ich hoffe, Sie wünschen sie sich vier Jahren die Krim annektiert. Völkerrecht wurde ge- nicht zurück. brochen, und es gibt tagtäglich immer noch Tote in der Ukraine, nicht weit von der deutschen Grenze entfernt. Ich habe jetzt eine konkrete Frage: Ist Ihnen bekannt, Auch das gehört zur Wahrheit. dass es bereits einen Beschluss des Bundestages aus dem Jahr 2010 gibt, die Atomwaffen abzuziehen? Wie schät- Damit bin ich wieder bei Ihrer Frage: Auch das habe zen Sie das ein: Wäre es nicht an der Zeit, ihn umzuset- ich mir 1989/90 schlicht und ergreifend nicht vorstellen zen? können. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Insgesamt müssen wir Diplomatie einsetzen. Das ist neten der AfD und des BÜNDNISSES 90/DIE die stärkste Waffe freiheitlich-demokratischer Völker. GRÜNEN) Wir müssen und wollen alles dafür tun, ein jahrzehnte- langes neues Wettrüsten zu verhindern. Das erreichen Dr. Frank Steffel (CDU/CSU): wir durch Diplomatie, aber auch durch Verteidigungsfä- higkeit. Wir erreichen es sicherlich nicht durch einseitige Ihre Zwischenfragen und Ihre Nervosität, wenn man Schwäche gegenüber Diktatoren; denn diese Schwäche, über die glücklichsten Stunden der deutschen Geschichte meine Damen und Herren – das zeigt uns leider die Ge- spricht, entlarven Sie jedes Mal aufs Neue. schichte –, interpretieren Diktatoren zumeist anders als (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ich bin ganz wir. entspannt!) Herzlichen Dank. Ich will Ihnen aber die Antwort bezüglich des Kalten Krieges geben. Auch ich hatte 1989/90 die Hoffnung, (Beifall bei der CDU/CSU) (B) dass die Zeit der Auseinandersetzungen beispielswei- (D) se zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Russland endgültig und für immer vorbei ist. Ich habe Der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner spricht für die heute den Eindruck, wir haben lange Jahre und Jahrzehn- SPD-Fraktion. te nicht so wenig über Abrüstung gesprochen wie zur- zeit, und wir müssen aufpassen, dass nicht wieder eine (Beifall bei der SPD) Situation eintritt, wo man am Ende sprachlos wird und Diplomatie durch Drohungen und Waffen ersetzt wird. Insofern glaube ich, dass wir sehr aufpassen müssen, ge- Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): rade die Europäer, und durch Diplomatie unseren Beitrag Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen leisten müssen, dass das nicht mehr geschieht, was wir und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren auf den in den 70er- und 80er-Jahren, insbesondere übrigens in Zuschauertribünen! Der eine oder andere erinnert sich Berlin, erlebt haben. vielleicht noch: Nur wenige Meter von hier entfernt, am Brandenburger Tor, hielt Barak Obama eine vielbeachte- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. te Rede. Als ich mir zur Vorbereitung auf den heutigen Frank Müller-Rosentritt [FDP] – Heike Tag diese Rede noch einmal ansah, fel mir ein Satz auf, Hänsel [DIE LINKE]: Beantworten Sie doch der damals fast unterging. Er lautete: mal meine Frage!) Solange Nuklearwaffen existieren, sind wir nicht Ich bin leider auch Realist. Auch das gehört zur Wahr- wirklich sicher. heit: Mit Pfugscharen und mit Anbiederung und warmen Worten werden wir die Diktatoren dieser Welt nicht be- Recht hatte er, und recht hat er – damals wie heute. Es eindrucken. war aber nichts Neues; denn Obama hatte das bereits in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – seiner Rede in Prag gesagt, als er den Anspruch der Ver- Niema Movassat [DIE LINKE]: Mit Atom- einigten Staaten formulierte, die Welt in eine nuklearwaf- waffen auch nicht!) fenfreie Zeit zu führen. Nicht zuletzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, weil auf der Ebene der tatsächlichen Po- Auch das ist leider – ich sage ausdrücklich: leider – his- litik hierzu nicht allzu viel geschehen war, konnte man torische Wahrheit. Wir werden die militärische und poli- 2013 leicht zu dem Schluss kommen: Dieser Präsident tische Macht dieses Planeten nicht den Diktatoren über- meint es gut; er hält dies persönlich wohl auch für den lassen können. Das wäre verantwortungslos gegenüber richtigen Weg; aber realpolitisch wird wohl nichts oder denen, die heute leben, insbesondere gegenüber unseren nur wenig passieren. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1273

Dr. Karl-Heinz Brunner (A) Aus heutiger Sicht – nunmehr etwas mehr als vier Jah- aber die Sonne blendet. (C) re später – ist es geradezu eine Wohltat, einem amerikani- schen Präsidenten – wohlgemerkt Barack Obama – zuzu- (Heiterkeit – Zuruf von der CDU/CSU: Der hören, der das Vernichtungspotenzial von Nuklearwaffen Kollege wird erleuchtet! Aber er ist ein Net- wirklich verstanden hat, ter! – Gegenruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das hat nichts Göttliches! Das (Beifall bei Abgeordneten der SPD) kann ich Ihnen versichern!) der verstanden hat, dass die bloße Existenz dieser Waffen ein Sicherheitsrisiko ist, und zwar für uns alle, dass eine Tobias Pfüger (DIE LINKE): dem Frieden und der Freiheit verpfichtete Politik gegen Lieber, geschätzter Kollege Brunner, Sie beschreiben die Bedrohung und die Angst, die auch von diesen Waf- die gesamte Entwicklung gerade sehr gut. Ich habe mir fen ausgehen, vorgehen muss. Heute, meine sehr verehr- einmal den Koalitionsvertrag angesehen und festgestellt, ten Damen und Herren, wünschten wir uns, wir könnten dass zum ersten Mal in einem Koalitionsvertrag expli- uns sicher sein, der Präsident im Weißen Haus würde die- zit ein Bekenntnis zur atomaren Komponente der NATO se Grundüberzeugungen und diese Grundbefürchtungen enthalten ist und eben nicht, wie in früheren Koalitions- teilen oder wenigstens verstehen. Bei Trump glaube ich verträgen – ich erinnere da nur an einen Außenminister dies eher nicht. Westerwelle –, eine klare Absage. Deshalb an Sie direkt die Frage: Warum hat die SPD eigentlich bei diesem Ko- Egal, meine Damen und Herren, wie ernst wir Barack alitionsvertrag nicht darauf bestanden, dass eine Absage Obamas Ankündigung damals genommen haben, egal an die atomare Komponente der NATO und ein Abzug wie wir zu einem Atomwaffenverbotsvertrag stehen, der Atomwaffen explizit enthalten sind? über den wir heute diskutieren und den wir hier in die- sem Hohen Haus beraten: Die dahinterstehende Vision, (Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Weil das die Vision einer nuklearwaffenfreien Welt, war und ist falsch gewesen wäre!) Ziel dieses Hauses, und sie muss sie bleiben. Das ist diesmal nämlich offensichtlich ad acta gelegt (Beifall bei Abgeordneten der SPD) worden. Diese Vision, meine sehr verehrten Damen und Her- ren, muss uns mit Sehnsucht und Mut erfüllen: mit der Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Sehnsucht danach, diese Welt zerstörende Nuklearkriege Lieber Kollege Pfüger, wenn Sie mich die Begrün- wirklich auszuschließen und sicher sein zu können, dass dungen, die ich nunmehr für die Entscheidung der Bun- (B) Terroristen niemals in den Besitz dieser Waffen gelan- desregierung abgeben möchte, hätten ausführen lassen, (D) gen, aber auch mit dem Mut, uns zu trauen, für diese Vi- hätte ich dies darstellen können. Es ist nämlich so, dass sion einzustehen, wir als Bundesrepublik Deutschland diesen Prozess sehr wohl einleiten wollen, aber mit klugen und richtigen (Beifall bei der SPD) Maßnahmen. Diese klugen und richtigen Schritte be- auch dann, wenn wir sie naiv nennen, und auch dann, stehen nicht darin, die Vereinigten Staaten von Amerika wenn die Chancen aufgrund der weltpolitischen Lage und die Russische Föderation aus diesem Prozess her- noch so gering erscheinen. auszunehmen und die Situation von außen zu betrachten, sondern darin, von innen Veränderungen herbeizuführen. Ja, Realpolitik verbietet es oft, uns allzu lange in Visi- (Beifall bei der SPD – Agnieszka Brugger onen zu ergehen. Wir kennen die Worte unseres Altkanz- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war kei- lers, der von Visionen als Krankheiten sprach. Zu schnell ne Antwort auf die Frage!) wird aus einer Vision dann eine schöne, aber irrelevante Utopie, wenn wir uns nur mit der Utopie beschäftigen. Die Begründungen der Bundesregierung, dem Atom- Wir müssen uns deshalb immer auch die Frage stellen: waffenverbotsvertrag nicht beizutreten, kann ich nach- Was ist der richtige Weg, was sind die richtigen Mittel, vollziehen; das wiederhole ich. Dahinter steht nämlich um eine Vision Wirklichkeit werden zu lassen? nicht der Wunsch, Nuklearwaffen zu unterstützen oder an ihnen festhalten zu wollen, wie Sie unterstellt haben, Meine Damen und Herren, die Begründungen der sondern es steht die richtige Überzeugung dahinter, dass Bundesregierung, dem Atomwaffenverbotsvertrag nicht nur ein Verbot unter Einbettung jener Staaten, die Nuk- beizutreten, kann ich sehr wohl nachvollziehen. learwaffen besitzen, überhaupt einen Effekt haben kann. Ebenso möchte ich auch nicht riskieren – und auch wir Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Sozialdemokraten nicht –, dass wir die verschiedenen be- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des reits existierenden Überwachungs- und Verifkationssys- Kollegen Pfüger? teme, die wir haben, aufweichen oder gar schädigen. Wir müssen auf Verträge wie den Atomwaffensperrvertrag, wir müssen auf Verträge wie den Atomteststoppvertrag Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): setzen. Bitte, gerne, wenn ich ihn sehe. Ich stehe zwar gerne im Licht, Dennoch ist es gut und richtig, dass uns die Debatte über den Atomwaffenverbotsvertrag Anlass gibt, die nu- (Zuruf von der CDU/CSU: Im Rampenlicht?) kleare Frage auch hier im Hohen Hause, im Deutschen 1274 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Dr. Karl-Heinz Brunner (A) Bundestag, zu diskutieren. Wir sollten das übrigens, Kol- als Deutschland und als Europa selbst eine Führungsrolle (C) leginnen und Kollegen, viel öfter tun. auf diesem Weg übernehmen müssen. Solange Nuklear- waffen existieren, sind wir nämlich nicht wirklich sicher. Obama sprach 2013 noch davon, dass zwar die Ge- fahr eines nuklearen Krieges weitgehend gebannt sei, die Vielen Dank. Gefahr des Einsatzes von Nuklearwaffen aufgrund ihrer fortschreitenden Verbreitung und der Terrorismusgefahr (Beifall bei der SPD) aber gestiegen sei. Heute ist es wohl kein Alarmismus mehr, wenn ich sage, dass wir in den letzten Jahren ge- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: lernt haben, dass die Gefahr eines nuklearen Konfikts – sei er nun regional begrenzt oder nicht – ebenfalls nicht Für die AfD-Fraktion spricht der Kollege Dr. Robby vollständig ausgeschlossen werden kann. Beatrice Fihn Schlund. von der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von (Beifall bei der AfD) Atomwaffen hat letzte Woche auf der Münchner Sicher- heitskonferenz sehr wohl und richtigerweise darauf hin- gewiesen, dass wir durchaus konkret und nicht nur abs- Dr. Robby Schlund (AfD): trakt über diese Bedrohung sprechen müssen. Herr Präsident! Werte Kollegen! Liebe Gäste auf den Warum kann eine SMS-Warnung vor einem Rake- Rängen! Ich glaube, wir alle, die wir bei diesem wichti- tenangriff im Jahr 2018 Menschen in Hawaii in Panik gen Thema heute hier noch sitzen, sind uns einig: Nie- versetzen? Sicherlich nicht, weil sich diese Menschen mand möchte ein atomares Inferno. Bitte glauben Sie angesichts der Weltlage so sicher fühlen, dass die Ankün- mir: Ich weiß, wovon ich rede; denn ich habe in mei- digung einer Auseinandersetzung zum Beispiel im Pazif- ner Jugend trainiert, Gefechtsköpfe auf Trägerraketen zu schen Ozean sofort als Falschmeldung identifziert wird. schrauben. Dabei hatte ich – werte Anwesende, bitte hö- Die Menschen in Hawaii leben zwischen den USA und ren Sie mir zu! – oft bange Gedanken an meine Heimat, Nordkorea. Wir Europäer leben zwischen Russland und unsere Zukunft und das unendliche Leid im Falle einer den USA, und wir alle wissen, dass diese Länder über gut Apokalypse. 90 Prozent der weltweiten Atomwaffen verfügen. Die US-amerikanischen Atombombenabwürfe auf Auch wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass eine nu- Hiroshima und Nagasaki töteten mit Folgeschäden ins- kleare Aufrüstung bereits in den Startlöchern steckt. Es gesamt circa 300 000 Menschen. Dazu kommen weltweit wird zum Beispiel von taktischen Nuklearwaffen gespro- unzählige Unfälle und zwei Reaktorkatastrophen. Ich chen, deren Einsatz sozusagen nicht ganz so schlimm sei. selbst kenne Menschen in meinem Umkreis, die Ange- (B) Der Einsatz wird also de facto angeblich einfacher – ein hörige bei der Katastrophe in Tschernobyl verloren ha- (D) kleiner Nuklearkrieg statt eines großen. Nein, bei al- ben. Auch als Arzt weiß ich: Die Strahlenkrankheit kann ledem müssen wir uns eingestehen, dass wir dem Ziel den qualvollen Tod innerhalb von Minuten bedeuten. einer nuklearwaffenfreien Welt seit Obamas Rede im Jegliche medizinische Ethik und Versorgung wird hier Jahr 2013 keinen Schritt nähergekommen sind, sondern größtenteils ad absurdum geführt. Deshalb stellt sich die dass wir Gefahr laufen, uns noch weiter davon zu ent- AfD klar auf die Seite des Lebens und der Menschen in fernen. Deutschland, die Kernwaffen, besonders auf deutschem Boden, kategorisch ablehnen. Deutschland und Europa müssen auf dem Weg der Di- plomatie neue Brücken bauen, dort, wo Misstrauen und (Beifall bei der AfD) Aggression diese Logik der Aufrüstung begünstigen. Wir müssen uns für bestehende Abrüstungs- und Kontroll- Die Bundesrepublik verfolgt derzeit eine orientie- regime einsetzen und weiter auf deren Einhaltung und rungslose Anpassungspolitik, die dazu führt, dass zu- Verschärfung drängen. Die vielen Verhandlungsstunden nehmend andere Staaten und Institutionen die deutsche und -nächte, die uns das kosten wird, werden oft frust- Außen- und Sicherheitspolitik beeinfussen und steuern. rierend sein. Aber nur so können wir den Boden für den Es ist vielleicht vielen gar nicht ganz klar: Eine atoma- Zeitpunkt bereiten, an dem wir uns von der nuklearen re Katastrophe ungekannten Ausmaßes ist jederzeit auch Abschreckungslogik endlich verabschieden und eine um- auf deutschem Boden möglich. Niemand möchte, ehrlich fassende Abrüstung weltweit einleiten können. gesagt, in der Nähe eines solchen Zieles sein. Wir, die AfD, fordern deshalb die Bundesregierung wie im An- (Beifall bei der SPD) trag auf, ihrer Pficht gegenüber dem deutschen Volke Die Vision, meine sehr verehrten Damen und Herren, nachzukommen und den seit dem 20. September 2017 ist da; sie ist lebendig. Erreichen können wir sie aber vorliegenden Atomwaffenverbotsvertrag zu unterzeich- nicht mit dem sogenannten einzig großen Wurf – jetzt nen. abziehen, jetzt verbieten –, sondern nur in vielen, vielen (Beifall bei der AfD) kleinen Schritten. Gleichzeitig fordern wir den Abzug aller auf deut- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schem Boden stationierten alliierten Truppen und ins- NEN]: Erst modernisieren und dann abbau- besondere ihrer Atomwaffen. Die Mitgliedschaft in der en!) NATO entspricht zwar unseren und auch den außen- und Darüber müssen wir sprechen, insbesondere deshalb, sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands, aller- weil eben kein Obama unsere Vision mehr teilt und wir dings nur dann, wenn sich die NATO auf ihre Aufgabe Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1275

Dr. Robby Schlund (A) als Verteidigungsbündnis beschränkt, meine Damen und Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (C) Herren. Zu seiner ersten Rede erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Alexander Müller von der FDP. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der FDP) Eine europäische Atommacht unter Frankreichs Führung, die am Atomknopf sitzt, lehnen wir genauso ab wie die Unterstützung der atomaren Teilhabe der NATO, meine Alexander Müller (FDP): Damen und Herren. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Eine Welt ohne Atomwaffen ist ein wichtiges Ziel. Jede ( [DIE LINKE]: Weiß Ihre Anstrengung in diese Richtung ist zu unterstützen. Da- Freundin Marine Le Pen das?) her begrüßen wir diese Debatte ausdrücklich. Die Freien Demokraten setzen sich seit jeher für die Reduktion von Zur Kenntnis. Die neue Militärstrategie der USA um- Massenvernichtungswaffen ein. Wir stehen zu Global fasst Elemente wie Prompt Global Strike mit 32 000 Mar- Zero. schfugkörpern, Cyberwaffen und eine Drohnentaktik mit zigtausend unbemannten Flugkörpern. Außerdem Das Thema ist allerdings kompliziert, und man muss haben die USA in ihrer Militärdoktrin ausdrücklich das wohlüberlegt an diese Aufgabe herangehen. Das wirk- Führen eines atomaren Erstschlages gegen einen belie- samste Mittel, mit dem bis heute die Weiterverbreitung bigen Gegner nicht ausgeschlossen. Dennoch – das muss von Atomwaffen verhindert werden konnte, ist der man in aller Klarheit sagen –: Die USA sind und bleiben Atomwaffensperrvertrag aus dem Jahr 1970. Er ist der trotz starker hegemonialer Eigeninteressen ein wichtiger tragende Pfeiler des nuklearen Nichtverbreitungsregimes Bündnispartner Deutschlands. Deshalb sollte das Leit- und damit das Herzstück aller internationalen Bemühun- bild einer interessengeleiteten deutschen Außen- und gen zur Abrüstung und zur Rüstungskontrolle von Atom- Sicherheitspolitik die Gleichberechtigung beider Partner waffen. und die Kommunikation auf Augenhöhe betonen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der AfD) Der Vertrag gilt verbindlich für 190 Staaten der Welt. Er Der Abzug aller Atomwaffen von deutschem Boden wird fortwährend erneuert und evaluiert. Die unabhän- setzt eine Sicherheitspartnerschaft mit den uns umge- gige Internationale Atomenergie-Organisation sichtet benden Atommächten voraus und sollte in eine globale regelmäßig Waffenlager und Labore in den Geltungs- Gesamtsicherheitsarchitektur eingebettet werden, deren ländern, um die Einhaltung durch Vorortinspektionen zu Ziel die vollständige atomare Abrüstung ist. Dennoch: kontrollieren. (B) Die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr bleibt das A Unter der Ägide des bestehenden Atomwaffensperr- (D) und O, meine Damen und Herren. Aber genau diese Ein- vertrags ist es gelungen, ehemalige Atommächte wie satzbereitschaft lässt zu wünschen übrig. Die Bundesre- Südafrika zur vollständigen Aufgabe bereits entwickelter gierung hat die Interessen der Sicherheit der deutschen Kernwaffen zu bewegen und andere militärisch-nuklea- Bevölkerung nicht nur bei der völlig verfehlten Asylpo- re Entwicklungsprogramme zu beenden, zum Beispiel in litik aus den Augen verloren, sondern lässt auch die Um- Australien, Brasilien, Argentinien und Schweden. Kein setzung solider Verteidigungspolitik vermissen. Von 15 Vertrag hat eine vergleichbare Wirksamkeit gezeigt, kein deutschen Fregatten sind nur 9 einsatzbereit, von sechs Abkommen hat die Zahl der Nuklearmächte dermaßen U-Booten – einst der Stolz der deutschen Marine – ist reduziert. nicht ein einziges einsatzfähig. Flugausfälle sind die Re- gel, und unsere deutschen Soldaten sitzen ohne Flugzeug Der bestehende Atomwaffensperrvertrag bindet in Mali fest. alle 190 Teilnehmerländer. Die Nichtkernwaffenstaa- ten verzichten dauerhaft auf eigene Atomwaffen. Die Zusammengefasst: Das momentane Agieren unserer Atommächte verpfichtet er zu einer Reduzierung ih- Bundesregierung ist ein außen- und verteidigungspoliti- rer Arsenale. Solche Abrüstungsschritte wurden von sches Desaster. Russland und den USA im Rahmen von Initiativen wie START, New START und INF erfolgreich verhandelt (Beifall bei der AfD) und umgesetzt. Diese Abkommen waren die größten Der Wunsch allerdings, unseren Kindern ein Deutsch- nuklearen Abrüstungsprogramme in der Geschichte der land in einer friedlichen Welt ohne Atomwaffen und Menschheit. Massenvernichtungsmitteln zu hinterlassen, teilen wir Diese Erfolge sollten wir uns als Vorbild für die wei- als AfD-Fraktion vollumfänglich – und das sollte auch teren Schritte nehmen. Lassen Sie uns doch aus diesen die Bundesregierung tun. Die Wege dahin und Lösungen konkreten Abkommen lernen, wie man Schritt für Schritt sollten wir im Interesse unseres deutschen Volkes zeitnah weiterkommt auf dem Weg zu einer Welt ohne Massen- und ohne ideologische Schranken konsensual bespre- vernichtungswaffen. chen. Wir stimmen der Überweisung in den Auswärtigen Ausschuss zu. (Beifall bei der FDP) Vielen Dank, meine Damen und Herren, und allen ein Wenn man nun ein neues Vertragswerk etablieren will, schönes Wochenende. dann funktioniert das nur, wenn man die Atommäch- te dazu mit ins Boot bekommt. Der heute zu beratende (Beifall bei der AfD) Atomwaffenverbotsvertrag ist eine Initiative von Staa- 1276 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Alexander Müller (A) ten, die keinerlei Atomwaffen besitzen. Meine Damen Krieg kennen, indem wir Rüstung mit Rüstung beantwor- (C) und Herren, wenn die Bundesvereinigung der Schafe ten“ zu verfahren, aus dieser Problematik herausführt. eine Resolution beschließt, dass allen Wölfen die Zähne Auch bei den Erinnerungen von Frank Steffel an den gezogen werden müssen, was glauben Sie, welche Fol- Kalten Krieg in Reinickendorf gen das hätte? – Keine. (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN – Ja, die Fortentwicklung des Sperrvertrages verspricht Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Der war keine schnellen Erfolge. Es ist eine mühsame Arbeit, die gut!) noch Jahre dauern wird; denn der Sperrvertrag kann auch ins Wanken geraten. Die von der Antragstellerin gefor- wird eines vergessen: Es hat danach eine Phase gegeben, derte Konzentration auf ein völlig neues zweites Ver- in der sowjetische Truppen aus Deutschland abgezogen tragswerk würde uns von der Fortentwicklung des eben wurden und in der massive konventionelle und auch nu- genannten Atomwaffensperrvertrags ablenken. kleare Abrüstung stattgefunden hat. Es stellt sich doch die Frage, warum dieser Prozess der Abrüstung dann am (Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE Ende in eine neue Runde des Aufrüstens umgeschlagen GRÜNEN]: Die Bundesregierung ist multita- ist. skingfähig!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Von der Überprüfungskonferenz 2020 muss ein Signal und bei der LINKEN) der Stärkung und Einigkeit ausgehen. Wir müssen alle darauf hinarbeiten, dass der Sperrvertrag auch unter der Darauf gibt es eine einfache Antwort: Alle Atommäch- Präsidentschaft von Donald Trump verlässlich bleibt und te – ich betone: alle – und auch diejenigen, die teilhaben, fortentwickelt wird. haben Signale gesetzt, nicht abzurüsten, sondern aufzu- rüsten. (Beifall bei der FDP) Das irrste Beispiel ist meines Erachtens Deutschland. Denn wer Massenvernichtungswaffen weiter reduzieren Sie haben auf den Atomwaffensperrvertrag verwiesen. will, der schafft das nur in gemeinsamen Verhandlungen Deutschland ist Teilhaber. Was macht Deutschland? mit den Atommächten, aber nicht gegen sie. Deutschland liefert von Deutschland aus nukleares Ma- Das Vorhandensein der noch verbliebenen atomaren terial, angereichertes Uran, für die US-amerikanischen Potenziale hat heute in erster Linie eine abschreckende Tritiumraketen. Das ist keine friedliche Nutzung der Wirkung. Jeder weiß, dass das Auslösen der nuklearen Atomenergie. Hier ist klar die Grenze zwischen ziviler Eskalation alles Leben auf der Erde auslöschen kann. Die und kriegerischer Nutzung überschritten. (B) aggressive Außenpolitik von Russland und Nordkorea, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) die beide das Völkerrecht bewusst verletzen, beweist, und bei der LINKEN) dass wir auf die nukleare Abschreckung noch nicht ganz verzichten können. Und die Bundesregierung tut überhaupt nichts dagegen. Die Beteiligung Deutschlands am Atomwaffenver- Herr Brunner, Sie haben argumentiert, man solle ver- botsvertrag hätte zwingend zur Folge, dass wir die nu- handeln. Das ist sicherlich immer richtig. Aber wo ver- kleare Teilhabe der NATO aufgeben müssten. Dies wäre handeln Sie denn? Sie lassen weiterhin zu, dass Material nicht nur ein enormer Vertrauensverlust innerhalb unse- für die nukleare Aufrüstung – und zwar exklusiv durch res Bündnisses, Russland könnte es als Einladung verste- Urenco – produziert wird. Das ist Ihre Politik. hen, sich weitere Teile Osteuropas einzuverleiben. Das (Christine Buchholz [DIE LINKE]: So ist es!) kann nicht unsere Intention sein. Sie sagen zwar: Wir wollen kleine Schritte hin zur Abrüs- Vielen Dank. tung machen. – Aber was machen Sie in Wirklichkeit? (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie rüsten auf. Das, was in Büchel passiert, ist nichts an- der CDU/CSU) deres als Aufrüstung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: und bei der LINKEN) Ich erteile das Wort dem Kollegen Jürgen Trittin vom Wenn Waffen und Trägersysteme modernisiert werden, Bündnis 90/Die Grünen. ist das Aufrüstung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nun müssen wir uns plötzlich Sorgen darum machen, dass der INF-Vertrag infrage gestellt wird. Ich habe da Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): den Eindruck, dass in der Nuklearfrage eine Art Sandkas- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Drei Jahr- tenlogik vorherrscht: Der andere hat immer angefangen, zehnte nach dem Ende des Kalten Krieges fürchten sich und deswegen braucht man selbst eine größere Schau- die Menschen wieder vor einem nuklearen Krieg. Da fel. – Die Amerikaner werfen einerseits den Russen vor, muss man doch einmal darüber nachdenken, wie es dazu in Kaliningrad Systeme stationiert zu haben, die sie nach gekommen ist. dem INF-Vertrag nicht hätten stationieren dürfen. Die Bundesregierung hat diese Frage für sich noch nicht be- Ich weiß nicht, ob Ihre Logik, Herr Müller, nach dem antwortet. Die Antwort steht noch aus. Die Russen sagen Motto „Wir machen so weiter, wie wir es aus dem Kalten andererseits: Die Amerikaner haben mit dem Raketenab- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1277

Jürgen Trittin (A) wehrschirm in Bulgarien etwas installiert, was ebenfalls uns an den historischen Schritt Mitte der 1980er-Jahre. (C) nicht mit dem INF-Vertrag in Übereinstimmung zu brin- Wir erinnern uns an den INF-Vertrag und das Wirken von gen ist. Ronald Reagan und Michail Gorbatschow und die damit verbundene strukturelle Abrüstung. Ich fnde, wir müssen aus dieser Geschichte heraus- kommen. Natürlich verfolgen wir das Ziel einer atomwaffen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN freien Welt. Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein sowie bei Abgeordneten der LINKEN) nüchterner Blick auf die Realitäten dieser Welt ist gebo- ten. Russland hat mit seinem militärischen Eingreifen in Dabei hilft ein Blick auf die kurze Phase nach dem Kal- der Ukraine diesem Ziel enorm geschadet. ten Krieg, Herr Steffel. Da haben wir doch gelernt, dass eine Politik, die zu Vereinbarungen und Abrüstung führt, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) für mehr Sicherheit sorgt, und nicht eine Politik, die auf In der Folge sind auch andere Nuklearmächte nicht zu Aufrüstung und Abschreckung setzt. weiteren Abrüstungsmaßnahmen bereit. Schauen wir uns (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Situation an: Russland positioniert landgestützte Mit- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) telstreckenraketen und arbeitet an taktischen Nuklear- waffen. Raketen und Nuklearprogramme im Nahen und Nun wollen die USA 400 Milliarden Dollar für die Mittleren Osten stellen auch eine Bedrohung für Europa Modernisierung ihrer Atomstreitkräfte ausgeben. Mit der dar. Nordkoreas atomare Drohgebärden werden lauter, neuen Nuklearstrategie der USA soll der Atomkrieg – das die Rhetorik der Nuklearmächte wird schärfer, und Re- ist für Menschen meiner Generation ein seltsames Wort; gierungschefs vergleichen die Größe ihres roten Knopfes denn als ich bei der Bundeswehr war, hieß es: der Ernst- wie pubertierende Halbstarke. fall wird nie eintreten, wir schrecken die anderen so ab, dass das nie passiert – führbar gemacht werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist eigentlich wieder einmal das Gleiche: Die Linke holt diesen Antrag (Tobias Pfüger [DIE LINKE]: Genau!) zum Atomwaffenverbot aus der Schublade, wo er meis- Öffentlich wird erzählt, das gehe mit sogenannten klei- tens ganz oben liegt. nen Atombomben, mit Mini-Nukes. Wissen Sie, welche (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So Zerstörungskraft diese Mini-Nukes haben? Sie sind un- lange, bis die Atomwaffen weg sind!) gefähr so schlagkräftig wie die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki. Aber es ist auch symptomatisch, dass ausgerechnet bei der Beratung eines solchen Schaufensterantrags die AfD Ich sage Ihnen: Das ist ein Irrweg, von dem wir uns (B) der Linken beispringt. Hier geht es aber nicht um Schau- (D) verabschieden müssen. fensteranträge; hier geht es um eine klare, vernunftori- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN entierte Politik. Das macht eben den politischen Unter- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten schied in diesem Haus aus. der AfD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Deswegen müssen wir den Vertrag über das Atomwaf- Frank Müller-Rosentritt [FDP] – Widerspruch fenverbot unterschreiben, und deswegen müssen wir bei der LINKEN)) Schluss machen mit der nuklearen Teilhabe hier. Ja, auch wir als Union treten für eine spürbare nukle- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN are Abrüstung ein. Doch für uns muss stets die Sicherheit und bei der LINKEN) unserer Bürgerinnen und Bürger im Vordergrund stehen. Abrüstung darf daher kein politischer Selbstzweck, Si- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: cherheitspolitik keine Frage von ideologischen Ansätzen Zu seiner ersten Rede rufe ich den Kollegen Nikolas sein. Sicherheitspolitik muss stets eine Frage von Not- Löbel von der CDU/CSU-Fraktion auf. wendigkeit und Machbarkeit bleiben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ein ideologiefreier Blick auf die Rea- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- lität lässt dann eben schnell erkennen: Nuklearwaffen ordneten der FDP) spielen nun einmal eine strategisch elementare Rolle in der Sicherheitspolitik weltweit. Daran ändert auch ein Nikolas Löbel (CDU/CSU): schlichtes Verbot schlichtweg nichts, erst recht nicht ein Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verbotsvertrag, an dessen Ausarbeitung keine der neun Atomwaffen sind in der Vorstellung vieler Menschen Atommächte überhaupt teilgenommen hat. überfüssig. Dennoch sind Atomwaffen Bestandteil un- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- serer Realität. Atomwaffen sind Teil der Welt, in der wir wie der Abg. Dr. Marie-Agnes Strack-Zim- leben. Gerade deshalb ist ein vernünftiger, ideologiefrei- mermann [FDP]) er Umgang mit der Frage der nuklearen Abrüstung drin- gend geboten. Dieser Atomwaffenverbotsvertrag wurde in Abwesenheit derer verhandelt, um die es eigentlich geht. Wir leben in einer Zeit, in der sich die globale Sicher- heitsstruktur völlig verändert und in der Atomwaffen wie- (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Ja wa- der verstärkt eine strategische Rolle spielen. Wir erinnern rum denn?) 1278 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Nikolas Löbel (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das zeigt doch das Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (C) eigentliche Problem: Wir müssen die Atommächte wie- Der nächste Redner ist der Kollege Michael Kuffer der zu einem gemeinsamen globalen Sicherheitsver- von der CDU/CSU-Fraktion. ständnis bewegen. Dazu muss Deutschland eine mode- rierende, vermittelnde Rolle – gerade zwischen den USA (Beifall bei der CDU/CSU) und Russland – einnehmen. Michael Kuffer (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Auch der FDP) wenn der vorliegende Antrag der Linken sein Thema ge- Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, wer danklich nicht in dem nötigen Umfang durchdringt, redet denn im Spiel der Großen noch mit einem Spieler, (Lachen der Abg. Christine Buchholz [DIE der gar nicht mehr auf dem Spielfeld steht? Ja, auf deut- LINKE]) schem Boden stehen amerikanische Atomwaffen. Diese Waffen sind ein notwendiges Übel; wichtige Abwägungen nicht vollzieht, sprachlich und in- haltlich über weite Strecken leider auch die Ebene des (Widerspruch bei der LINKEN und dem Populistischen nicht zu verlassen vermag, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der LINKEN: Quatsch!) (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Vielen Dank, Herr Oberlehrer! Das ist doch billig!) denn diese Waffen sichern Deutschland nicht nur eine hat er doch einen positiven Aspekt: Der Antrag gibt die- Teilhabe am nuklearen Schutzschirm der NATO über Eu- sem neugewählten Deutschen Bundestag erneut Gele- ropa, sondern eben auch ein Mitspracherecht im Bündnis. genheit, der unbestrittenen Dramatik der Atomwaffenpo- (Zuruf von der LINKEN: Jetzt kommt es tenziale ins Auge zu sehen, was immer wieder notwendig heraus!) ist; denn an eine existenzielle Herausforderung wie diese kann man sich einfach nicht gewöhnen. Nur durch eine vernünftige nukleare Teilhabe sichern wir Allein die Möglichkeit der totalen Zerstörung unserer uns als Deutschland überhaupt die Möglichkeit der Ein- Welt, allein das Vorhandensein der technischen Mittel für fussnahme auf die Atommächte – mit einem klaren Ziel: den Untergang muss jene heilsame Art der Angst wach- nukleare Abrüstung. Mit einem Beitritt zum Atomwaf- halten, die weder zu Lethargie noch zu Panik führt. Da fenverbotsvertrag würden wir uns selbst unserer Stimme sich der Deutsche Bundestag für diese Legislaturperiode in der NATO in dieser Frage berauben. (B) vorgenommen hat, zentrale Themen der Politik aus eige- (D) (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Absurd!) nem Antrieb zu behandeln und weniger abzuwarten, was ihm die Regierung zur Beschlussfassung anbietet, passt Um es einfach zu sagen: Mit einem solchen Verbotsver- der vorliegende Antrag zumindest insoweit zu diesem trag verlieren wir jeglichen Einfuss auf die künftige Ent- Ansatz. wicklung der nuklearen Auf- oder, was wir eben wollen, Umso bedauerlicher, liebe Kolleginnen und Kollegen, der nuklearen Abrüstung. ist es, dass der Antrag unseren Verfassungsauftrag, näm- lich die Sicherheit unserer Bürger zu gewährleisten, lei- Im Koalitionsvertrag verpfichten wir uns, ein neues der vollständig ausblendet. nukleares Wettrüsten auf unserem Kontinent zu vermei- den. (Christine Buchholz [DIE LINKE]: So ein Quatsch! Im Gegenteil! Fragen Sie mal die (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Passiert doch Nachbarn! – Weitere Zurufe von der LIN- gerade!) KEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist unser aller ge- Die bekannte Wahrheit, dass einfache Dinge polar, meinsames Ziel. schwierigere ambivalent und die schwierigsten paradox sind, zeigt sich auch hier: Die nukleare Abschreckung hat (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Sie den Frieden erhalten und nicht gefährdet. Das ist keine lügen sich selbst was in die Tasche!) bloße Behauptung, sondern das ist ein seit Beginn des Kalten Krieges bis heute für jedermann ersichtlicher Doch sowohl Rüstungskontrolle als auch Abrüstung kön- Sachverhalt. nen nur mit Nuklearmächten funktionieren, weder ohne sie noch gegen sie. Deswegen ist nukleare Teilhabe un- Was die Semantik betrifft, hat die Linke in ihren An- erlässlich. In dieser Weise werden wir als Deutschland trägen seit Jahren ohnehin ein seltsames Verständnis des unserer Verantwortung für Deutschland, für Europa auch Wortes „Frieden“, und in diesem Verständnis liegt eine im Hinblick auf unsere transatlantischen Partner gerecht. gewisse historische Kontinuität bis hinein ins Absur- Folglich lehnen wir diesen Antrag ab, und wir werden bei de insofern, als es beispielsweise ihrer Vorgängerpartei dieser Haltung auch im Ausschuss bleiben. gelungen ist, die Berliner Mauer als „Friedenswall“ zu bezeichnen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das (Beifall bei der CDU/CSU) war die Vorvorvorvorvorgängerpartei!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1279

Michael Kuffer (A) – Das waren Ihre Vorgänger. Überweisungsvorschlag: (C) Auswärtiger Ausschuss (f) Wenn also – und ich kehre zu meinem Gedanken zu- Ausschuss für Wirtschaft und Energie rück – die nukleare Abschreckung den Frieden erhalten Verteidigungsausschuss hat, darf auch in unserer Zeit – darum geht es jetzt – die Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung nicht ge- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stefan fährdet werden, und es darf bei der nuklearen Teilhabe Liebich, Heike Hänsel, Michel Brandt, weiterer der Allianzmitglieder keine nationalen Alleingänge ge- Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE ben. Weitere Aufrüstung der arabischen Halbinsel (Beifall des Abg. Dr. Johann David Wadephul stoppen [CDU/CSU]) Drucksache 19/833 Der Bundestag wäre schlecht beraten, den Doppelansatz aus nuklearer Abrüstung und nuklearer Abschreckung Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) aufzugeben; Ausschuss für Wirtschaft und Energie Verteidigungsausschuss (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, wäre aber die Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Konsequenz dieses Antrags, der uns von den Nuklear- die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Es gibt keinen waffenstaaten der NATO isolieren würde, die wie alle Widerspruch dazu. Dann ist das beschlossen. anderen Nuklearwaffenstaaten weltweit – das ist in der Debatte zu Recht angesprochen worden – den Vertrags- Ich eröffne die Aussprache und rufe als ersten Redner text ablehnen. den Kollegen Omid Nouripour, Bündnis 90/Die Grünen, auf. Bitte schön. Es müsste auf den ersten Blick eigentlich für jeden er- sichtlich sein, dass ein Vertrag ohne die entscheidenden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Atomwaffenstaaten (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Die Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): waren eingeladen! Die haben verweigert!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die fatalen Bilder aus Syrien schaffen es zu Recht wieder in unsere und die diesbezüglichen Schwellenstaaten schlicht sinn- Aufmerksamkeitssphäre. Es ist höchste Zeit, dass wieder los ist. Es bliebe eine rein moralisierende Deklaration, nach Syrien geschaut wird, wobei man sehen muss: Das mit deren Übernahme wir eine politische Spaltung der (B) sind die blutigsten Tage des Krieges. Es gab aber schon (D) NATO herbeiführen und damit unseren Sicherheitsinte- in der Vergangenheit verdammt viele – viel zu viele – ressen deutlich zuwiderhandeln würden, liebe Kollegin- blutige Tage, die wir kaum haben wahrnehmen können. nen und Kollegen. Was es nicht oder zumindest kaum in unsere Auf- Denjenigen, die uns schützen sollen, einen neuen merksamkeitssphäre schafft, ist die Katastrophe im Je- deutschen Moralimperialismus um die Ohren zu schla- men. Darüber wollen wir heute sprechen. Seit nunmehr gen, ist keine gute Idee. Die Annahme des Antrags wäre 35 Monaten wird das Land in die Steinzeit gebombt. Es deshalb nicht nur schlecht, sondern verhängnisvoll, und gibt bisher über 10 000 Tote und über 1 Million Fälle die Mehrheit des Hauses weiß, warum sie ihn ablehnen von Cholera. Mittlerweile ist auch eine Diphterie-Epi- wird. demie ausgebrochen. Es sterben täglich 100 Kinder an Vielen Dank. Unterernährung. Über 11 Millionen Kinder in dem Land brauchen dringend Hilfe. Die gesamte Daseinsvorsorge (Beifall bei der CDU/CSU) im Land ist zusammengebrochen.

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Ein Krieg, der vor 35 Monaten von den Huthis mit der Hilfe des Irans begonnen wurde, ist mittlerweile dahin Ich schließe die Aussprache zu TOP 17. gekommen, dass die Genfer Konvention zum Schutz der Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Zivilisten täglich mit Füßen getreten wird. Artikel 18 – Drucksache 19/98 an die in der Tagesordnung aufgeführ- Schutz von Krankenhäusern –: Es gibt kaum mehr wel- ten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einver- che. Artikel 55 und 59 – Zugang zu humanitären Hilfs- standen? – Dann ist das so beschlossen. gütern –: Diese gibt es durch eine massive Blockade des Landes derzeit nicht. Es gibt eine Allianz um Saudi-Ara- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf: bien herum, die auf Einladung einer legitimen Regierung a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid dort ist, die aber dadurch, dass sie jegliches Prinzip von Nouripour, Katja Keul, Claudia Roth (Augs- Verhältnismäßigkeit verletzt, einen völkerrechtswidrigen burg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Krieg im Jemen führt. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Humanitäre Katastrophe in Jemen lindern – sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Rüstungsexporte stoppen Derzeit wäre es notwendig, Äquidistanz zu halten. Drucksache 19/834 Niemand kommt in diesen Tagen auf die Idee – und das 1280 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Omid Nouripour (A) ist auch gut so –, dem Iran Waffen zu verkaufen. Mit besonderes Gewicht beigemessen. – Hören Sie auf, das (C) Saudi-Arabien ist das anders. Was steht jetzt nun in dem zu schreiben! Machen Sie es endlich! Entwurf eines Vertrages für eine Große Koalition? Ich zitiere: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Wir werden ab sofort keine Ausfuhren an Län- der genehmigen, solange diese unmittelbar am Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Jemen-Krieg beteiligt sind. Firmen erhalten Ver- trauensschutz, sofern sie nachweisen, dass bereits Die nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth genehmigte Lieferungen ausschließlich im Empfän- Motschmann, CDU/CSU-Fraktion. gerland verbleiben. (Beifall bei der CDU/CSU) Dafür lässt sich die SPD zurzeit feiern. Es gibt aber vier Fragen, die Sie noch beantworten müssen: Elisabeth Motschmann (CDU/CSU): Erstens. Ist das nicht ein Armutszeugnis, dass Sie jetzt Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol- erst auf die Idee kommen, die Frage des Endverbleibs zu leginnen und Kollegen! Über Rüstungsexporte zu spre- stellen? chen, ist schwer, erst recht wenn es um Rüstungsexporte im Zusammenhang mit dem Jemen geht. Es fällt auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mir schwer; das gebe ich hier gerne zu. Das ist nicht so und bei der LINKEN) einfach. Das liegt daran, dass die Lage im Jemen so ka- Zweitens. Die humanitäre Katastrophe im Jemen hat tastrophal, so verwirrend und so unübersichtlich ist, dass zwei Gründe. Das sind die Bomben von oben und die eine Beurteilung eben schwierig ist. Tatsache, dass von Landesseite und von Seeseite her kei- Wenn wir auf das Elend blicken – Kollege Nouripour hat ne Hilfsgüter mehr reinkommen. Es gibt nämlich eine es eben schon geschildert –, sehen wir neben den vie- Seeblockade. Sie wollen diese Patrouillenboote weiter- len Toten auch die Hungernden. Diese Menschen sind hin liefern und können auf Nachfrage nicht ausschließen, ja nicht von einer Hungerskatastrophe bedroht; denn sie dass sie auch tatsächlich für die Seeblockade eingesetzt befnden sich bereits in einer Katastrophe. werden können. Ist das nicht ein weiteres Armutszeug- nis? Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gestatten Sie eine Zwischenfrage von dem Kollegen und bei der LINKEN) (B) Neu? (D) Drittens. Im Koalitionsvertrag – ich habe es gerade vorgelesen – steht: „unmittelbar am Jemen-Krieg betei- Elisabeth Motschmann (CDU/CSU): ligt“. Im Sondierungspapier stand das Wort „unmittel- Selbstverständlich. bar“ nicht. Wollen Sie uns nicht einmal erzählen, welche Länder jetzt doch beliefert werden und welche nun doch von einem angeblichen Rüstungsexportverbot ausge- Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): nommen werden? Frau Kollegin Motschmann, ich hatte vor kurzem eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frage an die Bundesregierung gestellt: Welche Länder und bei der LINKEN) sind im Koalitionsvertrag damit gemeint, wenn von di- rekt am Jemen-Krieg beteiligten Ländern die Rede ist? Viertens. Die Parteien, die nun einen Koalitionsver- Ich habe die Antwort erhalten: Die geschäftsführende trag aufgeschrieben haben, sind auch die Parteien, die Bundesregierung spekuliere nicht über die Absprachen seit vier Jahren gemeinsam regieren, also in den gesam- und über einen Koalitionsvertragsentwurf der Parteien. ten 35 Monaten, über die wir sprechen. Warum um Got- tes Willen kommen Sie jetzt erst auf diese Idee, nachdem Nun sind Sie ja Mitglied einer Partei – Sie vertreten das Land bereits in die Steinzeit gebombt worden ist? die CDU –, und Sie haben als Parteivertreterin an den Koalitionsgesprächen teilgenommen. Können Sie uns (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sagen, welche Länder damit gemeint sind, die direkt im und bei der LINKEN) Jemen-Konfikt involviert sind und somit nicht mehr mit Rüstungsexporten beglückt werden können? Sie müssten hat vor vier Jahren versprochen, dass dazu in der Lage sein. Ich glaube, das ist von großem In- Rüstungsexporte massiv zurückgefahren werden. Wir teresse für das gesamte Haus. haben die Antworten der Bundesregierung bekommen: 2017 waren es Rüstungsexporte im Umfang von 1,3 Mil- Vielen Dank. liarden Euro in Länder, die am Jemen-Krieg beteiligt sind. Das ist ein Aufwuchs von 9 Prozent. Das ist nicht Elisabeth Motschmann (CDU/CSU): das, was er uns versprochen hat. Ich war an den Koalitionsverhandlungen beteiligt, Es gibt eine weitere Anfrage – auch von uns –, auf die aber in einer Arbeitsgruppe unter der Überschrift „Kunst, die Bundesregierung antwortet: Der Beachtung der Men- Kultur, Kreativwirtschaft und Medien“. Da ging es nicht schenrechte wird bei Rüstungsexportentscheidungen ein um diese Frage. Ich schlage Ihnen vor, dass Sie diejeni- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1281

Elisabeth Motschmann (A) gen befragen, die in dieser Arbeitsgruppe mitgearbeitet die komplizierte Lage in der Region. Daher muss Europa (C) haben. hier zusammenhalten.

(Tobias Pfüger [DIE LINKE]: Wer ist das Deutschland hat – auch das will ich hier noch einmal gewesen?) ausdrücklich betonen – die strengsten Regelwerke im Im Übrigen verweise ich auf den Bundessicherheitsrat, Hinblick auf Rüstungsexporte weltweit. Außen-, sicher- heits- und menschenrechtspolitische Aspekte werden (Tobias Pfüger [DIE LINKE]: Der tagt ge- natürlich sorgfältig abgewogen; das können Sie doch im heim!) Ernst nicht bestreiten. der sehr wohl in der Lage ist, Entscheidungen zu tref- fen unter Berücksichtigung aller Probleme, die es in der Bleibt die Frage, wie wir mit bereits genehmigten Region gibt. Vertrauen gehört irgendwo auch zu unserer Rüstungsexporten – das war ja Ihre Frage –, zum Bei- Gesellschaft. spiel nach Saudi-Arabien, umgehen, deren Stopp in beiden Anträgen gefordert wird. Sie meinen damit Pa- (Tobias Pfüger [DIE LINKE]: Nein!) trouillenboote, Militär-Lkws und ungepanzerte Trans- – Doch. Da bin ich anderer Meinung als Sie. Wir haben portfahrzeuge. Das aber sind keine Waffen, mit denen im dafür gewählte Gremien; die tragen die Verantwortung. Jemen Krieg geführt wird. Wenn im Koalitionsvertrag deutlich steht, es werden ab sofort keine Waffen mehr geliefert, dann vertraue ich da- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rauf, dass das auch so umgesetzt wird. Punkt! NEN]: Frau Motschmann!) (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Wir Sie dienen der Grenzsicherung, der Terrorabwehr und der nicht!) Sicherung von Bohrinseln im Golf. Sie müssen schon un- Die Zahlen, die wir aus dem Jemen bekommen, sind terscheiden zwischen Kampfwaffen und Verteidigungs- grausam, dramatisch. Nun ist die Frage: Was ist zu tun? waffen. Das ist ein großer Unterschied. Deutschland hat 2017 immerhin einen Beitrag in Höhe von 165 Millionen Euro für humanitäre Hilfe geleistet. Natürlich weiß jeder hier im Raum: Saudi-Arabien ist Damit sind wir der drittgrößte Geber weltweit. Natürlich ohne Frage ein schwieriger Partner des Westens. muss es das Ziel sein, Frieden zu schaffen ohne Waffen (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS- und ohne militärische Intervention. Fakt ist aber: Nicht SES 90/DIE GRÜNEN) alle Krisenherde lassen sich diplomatisch befrieden – lei- der. Terroristen verhandeln nicht – sie köpfen, sie mor- (B) Wir wissen um die Menschenrechtsverletzungen in die- (D) den. Deshalb sind Waffen leider immer noch nötig, und sem Land. Die will ich gar nicht schönreden oder unter deshalb kann auf den Einsatz militärischer Mittel nicht den Tisch fallen lassen. Wir wissen aber auch, dass Sau- verzichtet werden. di-Arabien ein Gegengewicht zum Iran ist und damit die Grüne und Linke fordern in ihren Anträgen den sofor- Region einigermaßen stabil hält. tigen Stopp von allen Rüstungsexporten in Länder, die am Krieg beteiligt sind, und werden darin doch durch die (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Aber an den Koalitionsvereinbarung bestätigt. Iran liefern wir keine Waffen!) (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Leider nicht!) Die Saudis führen eine Koalition aus neun Ländern an, Da heißt es – ich will es einmal zum Mitschreiben vorle- die die jemenitische Regierung im Kampf gegen die sen, damit Sie es sich ganz fest einprägen –: Huthi-Rebellen unterstützt. Die Huthi-Rebellen wiede- rum werden vom Iran unterstützt. Wir werden ab sofort keine Ausfuhren an Länder genehmigen, solange diese unmittelbar am Je- Des Weiteren ist Saudi-Arabien ein Verbündeter – men-Krieg beteiligt sind. auch das ist unbestreitbar – im Kampf gegen den Terror. (Tobias Pfüger [DIE LINKE]: Unwahr!) Auch hier wird deutlich, dass Terrorbekämpfung nie- mand alleine machen kann – wir schon gar nicht –, dass Das ist eine ganz klare Aussage. wir Europa brauchen, dass es eine europäische Strategie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – geben muss, um die komplizierten Verwicklungen auf Tobias Pfüger [DIE LINKE]: Was passiert mit der arabischen Halbinsel zu einer politischen Lösung zu den Patrouillenbooten?) führen, damit das Elend endlich ein Ende hat, damit das Sterben der Kinder und natürlich genauso der Erwachse- – Ja, darauf kommen wir gleich. – Außerdem heißt es: nen ein Ende hat. Dafür müssen wir arbeiten. Dafür muss Wir wollen diese restriktive Exportpolitik mit Blick Europa arbeiten. Man kann nur hoffen, dass dies Erfolg auf den Jemen auch mit unseren Partnern im Be- haben wird. reich der europäischen Gemeinschaftsprojekte ver- abreden. Vielen Dank. Das fnde ich übrigens auch wichtig, gerade angesichts (Beifall bei der CDU/CSU – Niema Movassat dessen, was Graf Lambsdorff heute zu Europa gesagt hat. [DIE LINKE]: So ein Unfug! Das ist doch Wir alleine sind doch machtlos, hilfos im Hinblick auf nichts Konkretes!) 1282 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

(A) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: versorgt werden sollen, weil sie in dem Jemen-Konfikt (C) Der Kollege Dr. Nils Schmid spricht für die SPD-Frak- direkt involviert sind. Sie verwies auf den Bundessicher- tion. heitsrat, der natürlich geheim tagt und die Informationen nicht preisgibt. (Beifall bei der SPD) Meine Frage an Sie: Wissen Sie als Teil der SPD und Dr. Nils Schmid (SPD): sicherlich auch als Teil der Arbeitsgruppe, welche Staa- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten ten damit gemeint sind? Wenn Sie nicht Teil der Arbeits- Damen und Herren! Voltaire soll den Jemen einmal als gruppe waren: Können Sie mir die Anschrift eines MdB das angenehmste Land der Erde bezeichnet haben. Lei- oder eines Parteimitgliedes nennen, der Teil dieser Ar- der entspricht die Situation – sie ist vielfach beschrieben beitsgruppe war und diese Auskunft geben könnte? Es ist worden – im Jemen genau dem Gegenteil. Die Menschen, von großem Interesse für die Menschen in Deutschland, ob sie schon lange dort leben oder ob sie dort gestrandet zu wissen, welche Staaten damit gemeint sind. sind, weil sie aus Somalia gefüchtet sind, müssen den (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Jemen seit vielen Monaten eher als Hölle auf Erden be- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) greifen. Deshalb will ich noch einmal einführend kurz darauf hinweisen: Ja, es ist die größte humanitäre Katastrophe, Dr. Nils Schmid (SPD): die sich zurzeit in der Welt abspielt. Es fehlt an allem: Dazu komme ich noch, sehr geehrter Herr Kollege an Nahrung, an sauberem Trinkwasser, an einer funkti- Neu. – Mir geht es jetzt erst einmal darum, dass wir uns onierenden Gesundheitsversorgung. Über 22 Millionen die Lage vor Augen halten. Wir wollen die Lage und die Menschen – zwei Drittel der Bevölkerung – sind auf Rolle des Irans nicht unterschätzen. Wir wissen, dass Hilfe, insbesondere auf Nahrungshilfe, angewiesen. Die er vermutlich die Huthi-Rebellen unterstützt, indem er Vereinten Nationen und ihre Hilfswerke kämpfen gegen Waffen liefert und für Ausbildung sorgt. Wenn man diese Diphtherie und vor allem gegen die weltweit größte Cho- hochkomplexe Gemengelage zusammennimmt, dann ist lera-Epidemie. Mehr als 90 Prozent des Gebietes des Je- eine Engführung auf die Frage deutscher Waffenexporte mens sind hiervon betroffen. einfach unzureichend, auch wenn ich gerne darauf ein- gehen will. Zur Lagebeschreibung gehört auch, zu sagen: Die militärische Intervention der saudi-arabisch geführten Ich will zunächst einmal sagen, was unser Handeln lei- Koalition konnte den Konfikt nicht entscheiden oder gar tet. Wir wollen uns weiterhin für eine politische Lösung (B) lösen. Das Gegenteil ist der Fall. Die humanitäre Lage des Konfikts unter der Leitung der Vereinten Nationen (D) im Land hat sich im Zuge von Seeblockaden und der einsetzen. So ist es auch im Koalitionsvertrag benannt. Zerstörung ziviler Ziele dramatisch verschlechtert. Der Wir unterstützen deshalb auch den neuen UN-Sonder- ehemalige VN-Sondergesandte für den Jemen, Ismail gesandten für den Jemen, Martin Griffths, in seiner Ould Cheikh Ahmed, hat sich drei Jahre lang vergeb- Arbeit. Er wurde in der vorigen Woche zu Gesprächen lich um eine politische Lösung bemüht. Doch trotz der im Auswärtigen Amt empfangen. Wir unterstützen vor wachsenden internationalen Kritik und der katastropha- allem auch die Arbeit der internationalen Expertenkom- len Lage im Land hält die saudisch geführte Koalition mission im Jemen, die dort in alle Gebiete reisen können an ihrem Kurs fest. Auf der anderen Seite tragen auch muss und nicht von bestimmten Gebieten ausgeschlossen die Huthi-Rebellen ihren Teil zur Eskalation bei. Mit werden darf. Wir werden weiterhin die humanitäre Hilfe Raketenangriffen auf Saudi-Arabien nehmen sie zudem im Jemen unterstützen. Wir sind drittgrößter Geber. Die bewusst auch zivile Opfer in Kauf. Kollegin von der CDU/CSU hat darauf hingewiesen. Im Jahr 2017 waren es allein 165 Millionen Euro. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Herr Kollege, Herr Neu hätte noch eine Zwischenfra- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ge. Gestatten Sie das? Die Waffenexporte sind in Deutschland schon mit den restriktivsten und transparentesten Regelungen im Ver- Dr. Nils Schmid (SPD): gleich zur gesamten EU ausgestattet. Bezieht sich die Frage auf meine Ausführungen, oder wollen Sie gleich wieder zu den Rüstungsexporten kom- (Steff Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- men? NEN]: Theoretisch! – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Funktioniert nur nicht!) (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Das können wir machen, wie Sie wollen!) Lassen Sie mich eines festhalten: Sozialdemokraten ha- – Bitte. ben maßgeblich daran mitgewirkt, dass es so weit ge- kommen ist.

Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Herr Kollege Schmid, Frau Motschmann hat sich au- ßerstande gesehen, meine Frage zu beantworten, welche Deshalb haben wir in den Koalitionsverhandlungen Staaten künftig nicht mehr mit deutschen Rüstungsgütern durchgesetzt, dass ab sofort keine Ausfuhren von Rüs- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1283

Dr. Nils Schmid (A) tungsgütern an Länder genehmigt werden, die unmittel- Wir werden diese Passage des Koalitionsvertrages ge- (C) bar am Jemen-Krieg beteiligt sind. nauso getreulich umsetzen wie die anderen 180 Seiten. ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. NEN]: Welche sind das?) (Beifall bei der SPD) Darauf haben Sie zu Recht hingewiesen. Erlauben Sie mir übrigens den Hinweis, dass ich aus den Dokumenten Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: rund um die Jamaika-Sondierungen keinerlei Hinweise auf eine solche Regelung gefunden habe. Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen Trittin. (Beifall bei der SPD) Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Lieber Herr Kollege Schmid, Sie hatten mir zwar ver- Herr Kollege, der Kollege Trittin hat eine Zwischen- sprochen, Sie würden meine Frage beantworten, wollten frage. Lassen Sie sie zu? sie dann aber gar nicht hören. Wenn ich Ihre Rede zusammenfasse, dann stelle ich (SPD): Dr. Nils Schmid Folgendes fest: Sie sagen, die Saudis halten sich nicht an Lassen Sie mich das erst ausführen, dann können Sie die Vorschläge, die die Vereinten Nationen machen, was Ihre Frage stellen. Vielleicht erledigt es sich auch ja, Herr den Zugang zu humanitärer Hilfe angeht. Sie rühmen Kollege Trittin. sich selber dafür, dass die alte Bundesregierung 165 Mil- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lionen Euro für humanitäre Hilfe gegeben hat – ich be- NEN]: Ich fürchte, nicht!) grüße das –, aber Sie verschweigen, dass die Saudis, die sich so verhalten, wie Sie es beschrieben haben, und die Lassen Sie mich darauf hinweisen, dass diese klare anderen am Jemen-Krieg beteiligten Länder allein im Haltung der noch nicht ins Amt gekommenen zukünfti- letzten Jahr fast das Zehnfache für deutsche Waffenliefe- gen Bundesregierung durchaus einige Aufmerksamkeit, rungen ausgegeben haben. Das ist die Wahrheit. insbesondere in Saudi-Arabien, hervorgerufen hat. Wenn Sie die jüngsten Pressemeldungen lesen, dann wissen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie, dass die saudi-arabische Regierung die Botschaft, und bei der LINKEN) die hinter dieser Aussage des Koalitionsvertrages steht, Ich füge noch etwas hinzu: Wir reden hier nicht im verstanden hat. Deshalb werden wir das, was im Koali- (B) abstrakten Raum. Omid Nouripour hat ja aufgegriffen, (D) tionsvertrag vereinbart ist, umsetzen, wenn er angenom- was die Vereinten Nationen vorgelegt haben: Im Jemen men wird. sterben jeden Tag 100 Kinder – sie verhungern –, 11 Mil- Sie fragen, wie es umgesetzt wird. Sie kennen genauso lionen Kinder sind von Nahrungsmittelhilfe abhängig. gut wie ich die Regeln. Und Sie leisten sich eine Koalitionsvereinbarung nach dem Motto: Im Prinzip ja, aber ansonsten geht es so wei- (Ottmar von Holtz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ter. – Nichts anderes ist es, was Sie machen. NEN]: Nennen Sie ein paar Ländernamen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rüstungsexporte sind Einzelfallentscheidungen. Die und bei der LINKEN) werden vom Bundessicherheitsrat getroffen. Wenn wir entscheiden, welche Rüstungsexporte in Drittländer ge- Sie sagen, dass Sie nicht liefern; aber als Erstes kon- nehmigt werden sollen, kommt es entscheidend darauf struieren Sie eine Hintertür, damit Sie die 33 Patrouillen- an, ob sie sich mit den beantragten Rüstungsgütern un- boote der Lürssen-Werft gefälligst abliefern können. Das mittelbar an dem Jemen-Konfikt militärisch beteiligen ist die Situation. werden oder nicht. Da habe ich eine ganz einfache Frage an Sie: Wann (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ hören Sie endlich auf, Patrouillenboote an Staaten zu lie- DIE GRÜNEN]: Das reicht nicht aus!) fern, die jeden Tag Kinder verhungern lassen? Das wird dann jeweils im Einzelfall zu entscheiden sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Jetzt kann man festhalten, dass die wesentliche mi- litärische Beteiligung vonseiten Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate erbracht wird. So Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: ist die Sachlage, wenn ich richtig informiert bin. Des- Herr Kollege Schmid, bevor Sie antworten, erteile ich halb werden zukünftig Rüstungsexporte in diese Länder dem Kollegen Tobias Pfüger das Wort zu einer weiteren besonders genau geprüft und im Zweifel im Einzelfall Kurzintervention. selbstverständlich abgelehnt werden, so wie es Übung in den Entscheidungsgremien der Bundesregierung ist. Da Tobias Pfüger (DIE LINKE): machen Sie sich einmal keine Sorgen. Es macht ja manchmal Sinn, sich die ganz konkreten (Beifall bei der SPD – Tobias Pfüger [DIE Formulierungen anzuschauen. Im Koalitionsvertrag ha- LINKE]: Natürlich!) ben Sie geschrieben: 1284 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Tobias Pfüger (A) Wir werden ab sofort keine Ausfuhren an Länder ßenminister hat gesagt, er wolle gar keine Rüstungsgüter (C) genehmigen, solange diese unmittelbar am Je- mehr. men-Krieg beteiligt sind. Ich sage Ihnen: Wir werden das, was im Koalitionsver- Das zentrale Wort ist offensichtlich „unmittelbar“. trag steht, umsetzen. Wie immer bei Rüstungsexporten Dann folgt die Ergänzung, die im Sondierungspapier wird es Einzelfallentscheidungen geben, und das wird im noch nicht enthalten war: Einzelfall dazu führen, dass in Zukunft Rüstungsexporte Firmen erhalten Vertrauensschutz, sofern sie nach- nach Saudi-Arabien nicht mehr genehmigt werden – so weisen, dass bereits genehmigte Lieferungen aus- wie es auch schon in den vergangenen vier Jahren der schließlich im Empfängerland verbleiben. Wir wol- Fall gewesen ist. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu neh- len diese restriktive Exportpolitik mit Blick auf den men. Ich fnde, das ist ein Fortschritt gegenüber den letz- Jemen auch mit unseren Partnern im Bereich der ten vier Jahren. europäischen Gemeinschaftsprojekte verabreden. Wir sollten alles dafür tun, dass wir dies mit humani- Ich zitiere aus dem militärnahen Blog „Augen gerade- tärer Politik begleiten. Denn wenn man den Menschen aus!“. Dort wird wie folgt kommentiert: wirklich helfen will, muss man den Konfikt politisch lösen. Bereits genehmigte Lieferungen, die ausschließlich im Empfängerland verbleiben: Das klingt doch wie (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der maßgeschneidert für die Lieferung von Küsten- CDU/CSU) schutzbooten an Saudi-Arabien.

So ist es. Genau das ist die Hintertür, die Sie aufgemacht Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: haben. Jetzt folgt noch eine letzte Kurzintervention. Frau Unsere Kritik ist, dass Sie diese Hintertür aufgemacht Kollegin Brugger. haben. Wir wollen nämlich, dass überhaupt keine Rüs- tungsexporte mehr nach Saudi-Arabien stattfnden, weil von dort aus ein unmenschlicher Krieg geführt wird, ins- Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- besondere gegen Zivilisten im Jemen. NEN): (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Vielen Dank. – Im Gegensatz zu SPD und Union ken- NIS 90/DIE GRÜNEN) nen wir Grüne sehr genau den Verhandlungsstand bei Jamaika, besonders bei diesem Punkt, der uns sehr am (B) Herzen lag. (D) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Herr Kollege Schmid, wenn Sie antworten wollen? Lieber Kollege Schmid, wenn hier eines unlauter ist, dann das, was Sie behauptet haben.

Dr. Nils Schmid (SPD): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich verstehe ja, dass sowie des Abg. Dr. Alexander S. Neu [DIE Ihnen die Lage im Jemen zu Herzen geht – mir auch. LINKE]) Aber Sie tun so, als wären es die deutschen Rüstungsex- porte, die allein dafür entscheidend sind, dass wir dort so Denn wir haben in dem Sondierungspapier an jenem letz- ein Elend haben. ten Sonntag vereinbart, dass es einen Rüstungsexport- stopp gibt, und zwar ohne jegliche Hintertür. (Zurufe von der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Ich kann wirklich verstehen, dass Sie hier unter Druck Was mich stört, ist, dass diejenigen, die zum Teil früher stehen. Trotzdem: Es muss endlich Schluss damit sein, selber regiert haben und die es nun nicht zustande ge- dass nach wie vor deutsche Waffen in eine Region ge- bracht haben, eine Regierung zu bilden, uns Kompro- liefert werden, in der Krieg geführt wird, und dann auch misse vorwerfen, die wir unter schwerem Ringen hin- noch Boote – und das sind nun einmal keine Bötchen; bekommen haben, gerade bei dem schwierigen Thema sonst unterläge die Ausfuhr auch keiner Genehmigung Rüstungsexporte. Das ist unlauter. nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz – an ein Land, das eine Seeblockade errichtet und somit hinnimmt, dass die (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kinder im Jemen verhungern. Das ist die Wahrheit. NEN]: Nee!) Übrigens: Sie haben mehr Prozente gehabt als wir, Sie Wer etwas ändern will, muss regieren und Kompromisse hatten auch nicht die FDP mit am Tisch, und trotzdem schließen. haben Sie weniger mit nach Hause gebracht. Ich kann (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- verstehen, dass Sie das ärgert; aber dann sollten Sie das wie des Abg. Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD]) auch so sagen. Der Kompromiss, den wir zum Thema „Rüstungsexporte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Jemen-Konfikt“ geschlossen haben, ist einer, der in und bei der LINKEN – Dr. Nils Schmid Saudi-Arabien angekommen ist: Der saudi-arabische Au- [SPD]: Sie haben gar nichts hinbekommen!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1285

(A) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: desregierung noch Anfang 2017 den Export von Patrouil- (C) Wir fahren fort in der Rednerreihenfolge. Der nächs- lenbooten nach Saudi-Arabien gestattet hat. Es wäre nur te Redner ist der Kollege Dr. Roland Hartwig von der konsequent gewesen, wenn die kommende GroKo ver- AfD-Fraktion. einbart hätte, weitere Lieferungen zu stoppen. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Wobei wir aufhören sollten, in diesem Hohen Hause von Dr. Roland Hartwig (AfD): der „GroKo“ zu sprechen; denn so groß ist die Koalition Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordne- gar nicht mehr. Sie kommt nach aktuellen Umfragen nur te! Liebe Zuschauer auf den Tribünen! Wir haben gestern mit Mühe auf knapp 50 Prozent. schon sehr lange über den Krisenherd Nummer eins in (Beifall bei der AfD) der Welt, nämlich über den Nahen und Mittleren Osten, gesprochen. Und natürlich muss auch der Jemen in den Aber schauen wir auf die Zahlen. Allein in den Jah- Blick genommen werden, um ein vollständiges Bild zu ren 2013 bis 2015 wurden Waffen und Rüstungsgüter im zeichnen. Wert von fast 100 Milliarden Dollar an den Nahen und Mittleren Osten geliefert. Die drei Hauptexporteure wa- Ich möchte die vorliegenden Anträge in zwei Bereiche ren die USA mit circa 75 Milliarden Dollar, die EU mit gliedern, zum einen in den Bereich „humanitäre Hilfe“ fast 12 Milliarden Dollar und Russland mit 7 Milliarden und zum anderen in den Bereich „Stopp von Waffenlie- Dollar. Die Hauptabnehmerländer waren Saudi-Arabi- ferungen in die Region“. en mit 25 Milliarden Dollar und die Vereinigten Arabi- Was die geforderte humanitäre Hilfe im Jemen betrifft, schen Emirate mit über 18 Milliarden Dollar. Beide sind so kann es hier keine zwei Meinungen geben. Die Situ- Konfiktparteien im Jemen. Der Anteil Deutschlands an ation im Land ist dramatisch. Schon vor dem Krieg war den Rüstungsexporten lag bei etwa 1 Prozent. Das heißt, der Jemen eines der ärmsten Länder der Welt. Die Zahl selbst wenn wir diesen Anteil jetzt auf null reduzieren der Opfer durch den Bürgerkrieg – es ist schon angespro- würden, bliebe die Gesamtsituation unverändert. Man chen worden – ist absolut dramatisch. Bislang sind über muss also woanders ansetzen, wenn man wirklich Ver- 10 000 Tote offziell registriert worden; aber wir sind änderungen will. uns alle einig, dass die Dunkelziffer noch deutlich höher Das zeigt auch die heute schon angesprochene Re- liegen dürfte. Über 3 Millionen Menschen sind auf der aktion von Saudi-Arabien auf das, was in der Koaliti- Flucht, über 7 Millionen Menschen, darunter auch Kin- onsvereinbarung steht und möglicherweise gesagt oder der und ältere Menschen, sind von Hungersnot betroffen. auch nicht gesagt worden ist. Man ließ uns wissen, dass (B) Man geht aktuell von 600 000 Choleraerkrankungen aus. man sich die betroffenen Güter mühelos auch woanders (D) Es droht hier also eine humanitäre Katastrophe der aller- beschaffen könne. Wenn man wirklich Veränderungen ersten Größenordnung. Insofern geht der Antrag der Grü- will, muss also bei der Lieferung von Waffen und Rüs- nen ausnahmsweise in die richtige Richtung. – Jetzt wäre tungsmaterialien aus den USA, anderen EU-Ländern und eigentlich Zeit für einen kleinen Applaus, wenn Sie sich Russland angesetzt werden. das bei Beiträgen meiner Partei nicht untersagt hätten. (Beifall bei Abgeordneten der AfD) (Beifall bei der AfD – Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht Wir werden uns die Anträge der Grünen und der Lin- untersagt, aber es reicht dafür nicht! – Steff ken, die in die Ausschüsse wandern werden, ganz genau Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Op- anschauen. Wir sind sehr gespannt, welche konkreten fer! Sie armes Opfer!) Maßnahmen mit Blick auf Washington, London oder Moskau vorgeschlagen werden. Ich fürchte, da wird nicht Der zweite Bereich, die Waffenlieferung in diese Re- viel Konkretes kommen, jedenfalls nichts, was in diesen gion, ist wesentlich schwieriger. Warum das so schwie- drei Städten mehr als Heiterkeit auslöst, sofern man diese rig ist, wird deutlich, wenn wir uns den Hintergrund der Vorschläge dort überhaupt zur Kenntnis nimmt. Situation vor Augen führen. Seit 2015 fndet hier ein Stellvertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien auf der einen Vielen Dank. Seite und dem Iran auf der anderen Seite statt. Das heißt, (Beifall bei der AfD) es sind zwei der vier Länder beteiligt, neben Israel und der Türkei, die derzeit ganz wesentlich die Geschehnisse Vizepräsident : im Nahen und Mittleren Osten bestimmen und die natür- lich auch im Jemen übergeordnete Interessen verfolgen. Vielen Dank, Herr Kollege Hartwig. – Als Nächste für Damit wird auch deutlich, dass die deutsche Außenpoli- die Freien Demokraten die Kollegin Renata Alt mit ihrer tik nur sehr begrenzt, wenn überhaupt, Einfuss auf die ersten Parlamentsrede. Entwicklungen im Jemen nehmen kann. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bekanntermaßen blockiert hier Saudi-Arabien seit der CDU/CSU) 2015 alle Häfen und Flughäfen des Landes. Das hat aber weder die USA noch Großbritannien davon abgehalten, Renata Alt (FDP): Rüstungsgüter im Wert von mehreren Milliarden Dollar Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen an Saudi-Arabien und seine Verbündeten zu liefern. Von und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ja, die daher war es sicherlich mehr als fraglich, dass die Bun- Situation im Jemen ist katastrophal. Wir sind Zeugen ei- 1286 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Renata Alt (A) nes verheerenden Stellvertreterkrieges. Dieser fndet in vorgetragen hat, für eine handlungsfähige europäische (C) der deutschen Öffentlichkeit aber viel zu wenig Beach- Außenpolitik. Dem Vorschlag auf Überweisung in den tung. Ausschuss werden wir zustimmen. Der im Koalitionsvertrag vereinbarte Stopp der Lie- Vielen Dank. ferung von Rüstungsgütern in die Region ist deshalb ein richtiger Schritt. In Anbetracht der Entwicklung in den (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten letzten 48 Monaten war dieser Schritt allerdings schon der CDU/CSU und der Abg. Claudia Roth längst überfällig. [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der FDP) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Wir Freien Demokraten lehnen Waffenlieferungen Herzlichen Dank, Frau Kollegin Alt. – Als Nächstes in Krisengebiete ab. Der Hauptgrund für die humanitä- für die Fraktion Die Linke der Kollege Stefan Liebich. re Katastrophe ist allerdings der Kampf Saudi-Arabiens und seiner Verbündeten gegen die Huthi-Rebellen. Die (Beifall bei der LINKEN) Ausweitung der Luftschläge Saudi-Arabiens auf zivile Einrichtungen lässt die Opferzahlen noch steigen. Stra- Stefan Liebich (DIE LINKE): ßen, Brücken – wir haben es bereits gehört – und kriti- Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich sche Infrastrukturen sind stark beschädigt oder zerstört. bin ja von der SPD viel gewohnt; aber heute haben Sie Darunter leidet insbesondere die Landbevölkerung, die dem Fass den Boden ausgeschlagen. von jeglicher Hilfe abgeschnitten wird. Die Einfuhr von Hilfsgütern verläuft äußerst schleppend. Seit 2015 un- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- terliegt Jemen einer Seeblockade. Mit Ausnahme von NIS 90/DIE GRÜNEN) al-Hudaida kontrolliert Saudi-Arabien alle wichtigen Hä- Ganz ehrlich: Ich glaube, Sie wollen uns alle hier für fen. Für ein Land, das 90 Prozent seiner Nahrungsmittel dumm verkaufen. Ich fand das Ergebnis, das die Grünen importiert, ist das verheerend. bei den Jamaika-Verhandlungen erzielt haben, natürlich Meine Damen und Herren, die Friedensfndung im nicht ausreichend. Logisch. Wir wollen da mehr. Aber Land wird ein langer Weg sein. Die Bevölkerung kann dass das besser ist als das, was vorliegt, das sieht doch aber nicht so lange warten. Deshalb steht jetzt die Ver- jeder. besserung der humanitären Situation im Vordergrund. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Nils Schmid (B) der CDU/CSU und der Abg. Claudia Roth [SPD]: Das war doch kein Ergebnis!) (D) [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich will Ihnen – und damit meine ich Sie von der So- Als Erstes ist es wichtig, die Infrastruktur wiederher- zialdemokratie; von der Union erwarte ich gar nichts – zustellen, um die Verteilung dringend benötigter Hilfs- noch einmal die gesamte Geschichte erzählen. lieferungen zu gewährleisten. Dafür müssen alle Güter die Häfen des Landes erreichen können. Die Bundes- (Dr. Nils Schmid [SPD]: Die Grünen haben regierung ist deshalb aktuell angehalten, Druck auf die doch gar nichts erreicht!) saudi-arabische Regierung auszuüben, damit wenigstens Ihr Außenminister hat doch gesagt, er wolle eine restrik- in dem einzigen zugänglichen Hafen die großen Kräne tivere Rüstungspolitik. Von der Union hat das keiner ge- aufgebaut werden können, damit die humanitäre Hilfe sagt, deswegen spreche ich mit Ihnen. tatsächlich ankommt. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (Beifall bei der FDP) NIS 90/DIE GRÜNEN) Die Mobilität von Waren und Personen sollte in allen Ich will also noch einmal die gesamte Geschichte er- Landesteilen gewährleistet sein. zählen. Sie haben ein Sondierungsergebnis erzielt, das Wir Freien Demokraten sehen als Zweites die Not- viel stärker war als das, was jetzt auf dem Tisch liegt; das wendigkeit eines breiten politischen Engagements; denn wissen Sie alle. Und dann gab es öffentliche Äußerungen neben der unmittelbaren Hilfe gilt es, eine Entwicklungs- von Ministerpräsidenten Ihrer Partei – ich erwähne Frau perspektive und einen funktionierenden Staat zu schaf- Schwesig –, die gesagt haben: Uns geht es um Jobs. fen. Der Gesprächsprozess unter Führung der Vereinten (Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE Nationen ist daher zu unterstützen und weiterzuführen. GRÜNEN]: Richtig!) Alle beteiligten Akteure – staatliche und nichtstaatliche – sind an den Verhandlungstisch zu bringen. Ihr Außenpolitiker Herr Mützenich hat versucht, dage- genzuhalten. Er konnte sich nicht durchsetzen. Und dann Für den Jemen gibt es keine einfachen Lösungen. kam das Ergebnis heraus, das wir jetzt haben. Es enthält Deutschland ist gut beraten, hier im europäischen Ver- so viele Hintertüren; das können Sie hier nicht schönre- bund vorzugehen: bei der einheitlichen Restriktion von den. Rüstungsexporten in Krisenregionen, bei der humanitä- ren Hilfe sowie bei der langfristigen politischen Lösung. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- In diesem Kontext wiederholen wir unseren heutigen Ap- NIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. pell, den mein Kollege Alexander Graf Lambsdorff heute Dr. Nils Schmid [SPD]) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1287

Stefan Liebich (A) Ich gehe einmal etwas grundsätzlicher heran. Ich habe fe auf Kinder in Konfikten verüben. Frau Motschmann, (C) darüber gesprochen, was Herr Gabriel am Anfang der so ein Land kann doch nicht unser Verbündeter sein! letzten Wahlperiode versprochen hat. Es liegen vier Jahre hinter uns, in denen die Sozialdemokraten den Außen- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- minister und den Wirtschaftsminister – aktuell: die Wirt- NIS 90/DIE GRÜNEN – Elisabeth schaftsministerin – gestellt haben. Letztere sind ja ver- Motschmann [CDU/CSU]: Aber die Huthi antwortlich für die Genehmigung von Rüstungsexporten. schicken doch auch ihre Raketen!) Das war die Wahlperiode mit den meisten Waffenexpor- Hier gibt es nur eine Forderung: Stoppen Sie endlich die ten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Waffenexporte, und zwar ohne Wenn und Aber und so- Das waren die letzten vier Jahre. fort! (Tobias Pfüger [DIE LINKE]: So ist es!) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Alleine nach Saudi-Arabien sind Waffen aus Deutsch- land im Wert von 1,7 Milliarden Euro geliefert worden. Ein Letztes. Ich habe die Bundesregierung einmal ge- An die Adresse der Sozialdemokraten sage ich: Wenn Sie fragt, was sie eigentlich über die Waffenexporte weiß, die wieder regieren sollten – das müssen Ihre Mitglieder ja genehmigt sind, wo die Waffen aber noch nicht ausgelie- noch entscheiden –, haben Sie ein paar Hausaufgaben zu fert sind; um die geht es ja. erledigen. (Elisabeth Motschmann [CDU/CSU]: Ge- nau!) (Dr. Nils Schmid [SPD]: Von Ihnen brauche ich keine Hausaufgaben!) Die Antwort des Bundeswirtschaftsministeriums lautet, dass sie dazu keine belastbaren Daten haben. Das heißt In diesen 1,7 Milliarden Euro ist noch nicht enthalten, in meinen Worten: Wir, die Bundesregierung, haben dass Rheinmetall in Sardinien deutsche Bomben herstellt gar keinen Schimmer, was mit den Waffen, deren Aus- und an die Saudis verkauft. Kümmern Sie sich einmal fuhr genehmigt ist, die aber noch nicht ausgeliefert sind, darum! passiert. Sind sie noch hier in Deutschland? Sind sie per Schiff auf dem Weg nach Saudi-Arabien? (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Nils Schmid Das, was Sie hier erzählen – im Übrigen auch Ihren [SPD]: Sie sind nicht mein Lehrer!) Mitgliedern, die jetzt über den Koalitionsvertrag abstim- men –, ist Augenwischerei. Sie wissen gar nicht, was mit (B) Darin ist auch nicht enthalten, dass eine Munitionsfabrik, den Waffen passiert. Und an der Politik der letzten vier (D) eine südafrikanische Tochterfrma von Rheinmetall, in Jahre haben Sie mit diesem Koalitionsvertrag im Grund- die saudische Wüste eine Waffenfabrik baut. Da können satz auch nichts geändert. wir gar nichts mehr kontrollieren. Wie wollen wir das (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- stoppen? Das ist eine weitere Hausaufgabe. NIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vielen Dank, Herr Kollege Liebich. – Als Nächster für In diesen 1,7 Milliarden Euro sind auch die Waffen – die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Thomas Erndl. und da kommen die Bezeichnungen „unmittelbar“ oder „nicht unmittelbar“ ins Spiel – noch nicht enthalten, die (Beifall bei der CDU/CSU) nicht direkt am Krieg beteiligt sind, sondern die diesen Krieg mittelbar unterstützen. Zusätzlich zu den Waffen Thomas Erndl (CDU/CSU): im Wert von 1,7 Milliarden Euro liefern Sie an Ägypten, an die Vereinigten Arabischen Emirate, an Katar; aber Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! eben auch an Großbritannien, USA und Frankreich, die Durchschnittlich 150 000 Menschen pro Jahr starben eine ausgesprochen zweifelhafte Rolle in diesem Krieg in den letzten Jahren in bewaffneten Konfikten. Jedes spielen. An diesem Punkt stellt sich die Frage: Wo ist es einzelne Opfer ist eines zu viel. Wir leisten mit unserer unmittelbar, und wo ist es mittelbar? Sicherheitspolitik bei Abrüstung und auch bei der wirt- schaftlichen Zusammenarbeit unseren Beitrag zu einer (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- friedlicheren Welt. Da hilft auch keine naive Sichtweise, NIS 90/DIE GRÜNEN) wie wir sie von der Linken und von den Grünen hören, sondern da müssen wir Verantwortung wahrnehmen. Frau Motschmann, was da passiert, ist kein Kampf ge- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ gen den Terror. Saudi-Arabien bombardiert alles wahllos DIE GRÜNEN]: Ach, Herr Erndl!) nieder: Hochzeiten, Wohnviertel, Schulen, Krankenhäu- ser, Märkte, Kulturschätze wie den Marib-Staudamm, Dazu gehört auch der verantwortungsvolle Umgang den ältesten Staudamm der Menschheit. 92 Prozent der mit Rüstungsexporten. Das heißt, dass wir Partner wie Opfer in diesem Krieg sind Zivilisten. Der UN-Men- Saudi-Arabien in vielen Fragen unterstützen, aber natür- schenrechtsrat hat Saudi-Arabien gerade auf die schwar- lich bei jedem einzelnen Projekt genau hinschauen müs- ze Liste der Länder gesetzt, die die schwersten Übergrif- sen und uns auch selber ständig hinterfragen müssen. 1288 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Thomas Erndl (A) Dabei wenden wir eines der strengsten Regelwerke zu Meine Kolleginnen und Kollegen, die eingangs er- (C) Rüstungsexporten an, das im Übrigen in der heute gülti- wähnten durchschnittlich 150 000 Opfer gewaltsamer gen Form durch die frühere rot-grüne Regierung festge- Konfikte pro Jahr bedeuten ein Opfer alle vier Minuten. legt wurde. Wir müssen also während meiner Redezeit statistisch ein weiteres beklagen. Eine verantwortungsvolle und restrik- (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tive Rüstungspolitik, zu der wir uns auch im Koalitions- NEN]: Sie wenden sie nicht an! – Tobias vertrag bekennen, ist unser Beitrag zu mehr Sicherheit Pfüger [DIE LINKE]: Das ist unglaublich!) und mehr Frieden in der Welt. Hier brauchen wir auch Mit Blick auf die Situation im Jemen haben wir deshalb keine Nachhilfe von den Kolleginnen und Kollegen von im Koalitionsvertrag verantwortungsvoll bestimmt, dass Linken und Grünen. ab sofort keine weiteren Ausfuhren an Länder genehmigt werden, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das passiert GRÜNEN]: Offensichtlich schon!) doch nicht! Wir habe es gerade nachgewie- sen!) Die humanitären Forderungen in Ihren Anträgen sind si- cherlich zu unterstützen, die Anträge insgesamt wegen solange sie unmittelbar am Jemen-Krieg beteiligt sind. – nicht ausreichender Ausgewogenheit abzulehnen. Ich lasse dazu keine Zwischenfragen zu; ich denke, dazu ist alles gesagt. Vielen Dank. Meine Damen und Herren, kurzfristig entscheidend (Beifall bei der CDU/CSU – Claudia Roth für die Situation im Jemen ist ohnehin nicht die Frage der [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lieferung von Patrouillenbooten, sondern entscheidend Haben Sie das denn überhaupt gelesen? Ich ist die Frage der humanitären Hilfe. zeige Ihnen noch mal genau, was da drinsteht!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Die Lage ist katastrophal; es ist die derzeit größte hu- Vielen Dank, Herr Kollege Erndl. – Erlauben Sie mir manitäre Katastrophe. Mehr als drei Viertel der knapp den Hinweis, dass Sie die Erklärung, keine Zwischen- 30 Millionen Einwohner sind auf humanitäre Hilfe an- frage zuzulassen, sinnvollerweise erst dann abgeben gewiesen. Fast das ganze Land leidet unter einer Chole- sollten, wenn das Präsidium Sie gefragt hat, ob Sie eine ra-Epidemie. Jeden Tag sterben Kinder an Krankheiten, Zwischenfrage zulassen. Aber ich kann Ihnen versichern: die nach unseren Maßstäben leicht zu behandeln wären. Es gab nicht einmal eine Meldung. (B) Es müssen deshalb alle Kanäle genutzt werden, um für (D) die Menschen Zugang zu humanitärer Hilfe zu gewähr- (Heiterkeit) leisten – Gesprächskanäle, die übrigens auch durch Rüs- tungspartnerschaften vorhanden sind. Als nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Markus Koob. Die Bundesrepublik hat von Anfang an den Kon- fikt verurteilt und alle Konfiktparteien zum Stopp der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kriegshandlungen aufgerufen. (Tobias Pfüger [DIE LINKE]: Und dafür Markus Koob (CDU/CSU): Waffen geliefert!) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir Das Verhältnis zu den Saudis ist auf einem Tiefpunkt; das beschäftigen uns heute nicht zum ersten Mal und wohl zeigt auch der Rückruf des Botschafters. Es ist schon an- leider auch nicht zum letzten Mal mit der katastropha- gesprochen worden: Die Kritik ist angekommen. len humanitären Situation im Jemen. Die diplomatischen (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Quatsch!) Anstrengungen der letzten Jahre dienten alleine dem Ziel der Befriedung des so unheimlich stark gebeutelten Je- Die aktuelle Info ist, dass Ende Januar die von Sau- mens und seiner zivilen Bevölkerung. Wir haben hier di-Arabien geführte Koalition einen umfassenden Hilfs- sehr viel darüber gehört, wie sehr die Bevölkerung leidet plan angekündigt hat. Dazu gehören die Öffnung von und wie viele Menschen keinen Zugang zu Wasser und Häfen für humanitäre Hilfslieferungen für einen Korri- dringend notwendigen Lebensmitteln haben; ich will die dor von 30 Tagen und Luftbrücken zur Versorgung der Zahlen nicht wiederholen. Zivilbevölkerung. Es bleibt zu hoffen, dass dies auch so umgesetzt wird und dass damit die drohende Hungers- Es wurde auch mehrfach über die Blockade gespro- not für einen Großteil der Bevölkerung abgewendet und chen, die verhindert, dass Nahrungsmittel in das Land vor allem die Situation der Kinder, die nach UN-Anga- kommen können, auch wenn es dem Welternährungspro- ben einen großen Teil der Binnenfüchtlinge ausmachen, gramm der Vereinten Nationen mittlerweile gelungen ist, verbessert werden kann. Alle Akteure in der Region sind kleinste Erfolge zu erzielen, die aber im Moment leider aufgefordert, die Stellvertreterkriege zu beenden und für nicht viel mehr als ein sehr kleiner Tropfen auf einen sehr einen Friedensplan und eine stabile Zukunftsperspektive großen, heißen Stein sein können. zu sorgen. Die Anträge von Linken und Grünen, die uns heu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) te vorliegen, haben das gleiche übergeordnete Ziel wie Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1289

Markus Koob (A) auch meine Bundestagsfraktion: nachhaltigen Frieden im Die Einfussfaktoren im Hinblick auf den Krieg im Je- (C) Jemen und in der gesamten Golfregion. men sind so vielfältig wie dessen Akteure, sowohl was die Innenpolitik im Jemen angeht als auch bezüglich der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Religion und des machtpolitischen Einfusses der betei- ordneten der FDP) ligten Mächte und der Koalitionstruppen in der Region. Der Unterschied aber ist, dass wir hinter der Bundesregie- Der eine oder andere wird sich vielleicht fragen: Wa- rung stehen, die schon in der Vergangenheit versucht hat, rum interessiert uns eigentlich, was im Jemen passiert? den Sondergesandten der Vereinten Nationen umfassend Sind wir davon überhaupt betroffen? Hier geht es nicht zu unterstützen und Anstrengungen zu unternehmen, die nur um Fragen von Menschlichkeit und Empathie, wobei Kriegsparteien an einen Tisch zu bekommen und zumin- einen die grausamen Geschehnisse im Jemen erschau- dest über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Ihre An- dern lassen, sondern auch um die Stabilität der gesamten träge aber suggerieren, die Bundesregierung hätte noch Region. Der Jemen steht heute vor der Gefahr, wieder in nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt. Das ist ein falscher das Schicksal von vor 1990 zurückzufallen, nämlich in Eindruck. Sie tut dies beständig, nachdrücklich und seit eine Teilung des Landes. Dieses Problem sollte gerade mehreren Jahren. uns Deutsche besonders bewegen. Deshalb müssen all (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und unsere Anstrengungen darauf gerichtet sein, die Stabili- der FDP) tät wiederherzustellen. Wir müssen die dort beteiligten Mächte an den Verhandlungstisch bekommen. Wir müs- – Danke. sen natürlich auch über Rüstungsexporte reden – keine Es müssen Kompromisse gefunden und geschlossen Frage –, dürfen dieses Thema aber nicht nur auf Rüs- werden; denn eine militärische Lösung des Konfikts tungsexporte verengen und beschränken. Vielmehr müs- kann es nicht geben. Wir brauchen auf allen Seiten den sen wir einen internationalen Ansatz fnden, um dafür zu Willen zu einer politischen Lösung, sorgen, dass den Menschen im Jemen in diesem Jahr und vor allem in der weiteren Zukunft wieder ein sicheres Le- (Beifall der Abg. [CDU/CSU]) ben ermöglicht werden kann. zuvorderst natürlich bei Saudi-Arabien, beim Iran und Vielen Dank. bei den innenpolitischen Akteuren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Sicher ist es auch wichtig, die enorme Zahl der Rüs- Renata Alt [FDP]) tungsgüter in diesem Konfikt in größtmöglichem Um- fang zu reduzieren. Auch deshalb haben wir gemeinsam Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (B) mit der SPD im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass (D) es für Deutschland keine weiteren Ausfuhren an Länder, Vielen Dank, Herr Kollege Koob. – Damit schließe die unmittelbar am Krieg im Jemen beteiligt sind, geben ich die Aussprache zu den Tagesordnungspunkten 18 a wird; wir haben das heute schon mehrfach gehört. und 18 b. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf der FDP) den Drucksachen 19/834 und 19/833 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Das ist ein richtiger Schritt, und doch ist ein solcher Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind Schritt alleine nicht ausreichend, um diesen Krieg zu die Überweisungen so beschlossen. beenden, zumal viele dieser Rüstungsgüter eben nicht notwendigerweise Angriffswaffen sind. Unter Rüstungs- Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 6 auf: gütern befnden sich auch Güter für den Grenz- und Zi- Aktuelle Stunde vilschutz. Übrigens sind auch Geräte zur Beseitigung von Kriegsfolgen allgemeine Rüstungsgüter. So wurden auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE im Rahmen der von Ihnen, liebe Grüne, kritisierten Rüs- GRÜNEN tungsexporte im Jahr 2010 unter anderem auch Minen- Demokratie und Erinnerungskultur in räumfahrzeuge in den Jemen geliefert. Deutschland angesichts rechtsextremistischer Wir haben heute schon mehrfach darauf Bezug ge- Angriffe nommen, dass die Saudis verstanden haben, wie die Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Botschaft, die SPD und Union an dieser Stelle verein- Kollege Dr. Konstantin von Notz für die Fraktion Bünd- bart haben, lautet. Wenn der saudi-arabische Außenmi- nis 90/Die Grünen. nister sagt: „Wir brauchen eure Rüstungsgüter nicht; wir werden sie woanders fnden“, dann sollte uns dieser (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Satz nicht gefallen, und er entbindet uns auch nicht von sowie des Abg. Dr. Stefan Ruppert [FDP]) unserer Verantwortung, was unsere Rüstungsexporte an- geht. Er zeigt aber eben auch, dass wir tatsächlich den Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Anspruch haben müssen, eine europäische Haltung zu NEN): entwickeln, und nicht nur einseitig über deutsche Rüs- tungsexporte reden können. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- ren! 2009 erklärte Bundestagspräsident (Thomas Erndl [CDU/CSU]: Sehr richtig!) an dieser Stelle: 1290 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Dr. Konstantin von Notz (A) Als Zeugen der Geschichte unseres Landes bleiben Sie sitzen in zahlreichen Landtagen und seit kurzem (C) wir sensibel für alle Entwicklungen, die Demokra- auch hier im Deutschen Bundestag. tie und Menschenrechte gefährden. Als Zeugen von (Jürgen Braun [AfD]: Sie hatten lange genug Ereignissen, die niemals hätten stattfnden dürfen, Zeit, Wahlkampf zu führen!) wenden wir uns gegen Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit jeder Art. Als Zeugen ge- Sie sind Teil eines Verfassungsorgans, und damit geht ben wir die Lehren, die wir aus unserer Geschichte eben Verantwortung einher. gezogen haben, an die nächste Generation weiter. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei der SPD und der LINKEN – Jürgen Braun sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der [AfD]: Hören Sie mal auf mit Ihren Wahl- SPD, der AfD, der FDP und der LINKEN) kampfsprüchen!) Sie agieren aber in höchstem Maße verantwortungslos Dieses Gebäude mit seiner abgründigen Geschichte und radikalisieren sich im Minutentakt. und seinen Kunstwerken bis hin zu den Grafftis der Be- freier an den Wänden atmet genau dieses Selbstverständ- (Jürgen Braun [AfD]: Es sind nur Wahl- nis aus jeder Pore. kampfsprüche, die Sie hier heraushauen!)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Spirale dreht sich immer schneller. Frau Weidel sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der und Herr Gauland – wo sind sie eigentlich? – sind nicht SPD, der FDP und der LINKEN) Getriebene, sondern längst Treiber dieser zutiefst antide- mokratischen Entwicklung. Sie von der AfD brechen aber mit diesem Konsens, und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Sie tun es vorsätzlich. bei der SPD und der LINKEN sowie bei Ab- geordneten der CDU/CSU – Jürgen Braun (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – [AfD]: Wahlkampfsprüche sind das von Ih- Stephan Brandner [AfD]: Wir haben doch gar nen! Sie sind die kleinste Fraktion hier und nichts gesagt!) bringen Ihre Wahlkampfsprüche, Herr von Wir sind nicht bereit, angesichts Ihrer täglichen unsäg- Notz! Wegen Ihrer Wahlkampfsprüche sind lichen Tabubrüche hier einfach zur Tagesordnung über- Sie so klein!) zugehen. Ihre beiden Fraktionsvorsitzenden hetzen inzwischen (B) fast täglich nach Aussehen, nach Namensklang und nach (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, vermeintlichem Stammbaum, und damit stehen sie in bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- direkter Tradition der Schlimmsten, die nichts als Tod, ordneten der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Elend, Schimpf und Schande über dieses Land gebracht Braun [AfD]: Wir haben doch noch gar nichts haben. gesagt, Herr von Notz!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie benutzen fast täglich Nazivokabular, Sie plakatie- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der ren im Wahlkampf NPD-Parolen und versuchen, unsere FDP – [AfD]: Kommen Sie Gesellschaft zu spalten und zu entsolidarisieren. doch mal mit Fakten! Sie lügen gerade! Fak- ten bitte!) (Jürgen Braun [AfD]: Alles Unsinn, Herr von Notz!) Dass es in diesem Haus in Ihrer Fraktion Abgeordne- te gibt, die einer Auschwitz-Überlebenden den Applaus Das sind keine Missverständnisse, da ist keine böse Pres- verweigern, ist eine Schande. se, die irgendetwas verzerrt, und da ist auch niemand von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der Maus abgerutscht, Frau von Storch. Es gibt einfach bei der CDU/CSU, der SPD und der LIN- nur eines dazu zu sagen: Diese Aussagen sind menschen- KEN – Jürgen Braun [AfD]: Das ist doch alles verachtend. Geschwafel!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Stattdessen faseln Sie vom Schuldkult, von einer Erinne- bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der rungsdiktatur, von einem Denkmal der Schande. LINKEN – [AfD]: Sie ha- ben eine Macke!) ( [AfD]: Richtig!) Das ist unerträglicher Geschichtsrevisionismus in Rein- Es handelt sich schlicht um offenen und ekelhaften Ras- form. sismus, und der ist mit den konstituierenden Werten die- ses Hohen Hauses nicht vereinbar. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, LINKEN – Kay Gottschalk [AfD]: Machen bei der SPD und der LINKEN sowie bei Ab- Sie nicht Einzelmeinungen zu Parteimeinun- geordneten der CDU/CSU und der FDP – Zu- gen! Dann könnte ich hier auch Äußerungen ruf von der AfD: Heuchler!) aus Ihrer Partei nehmen!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1291

Dr. Konstantin von Notz (A) Sie diffamieren immer wieder Menschen in unserem tion empfnden, Frau von Storch, ist der Zuruf „Sie haben (C) Land als Deutschlandhasser: eine Macke!“ unparlamentarisch. (Jürgen Braun [AfD]: Lenken Sie nicht vom (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, Antisemitismus der Grünen ab!) der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deniz Yücel, die Merkel-CDU, die Kirchen, schändliche Liberale, die Altparteien und natürlich die linksversifften Im Übrigen erteile ich dem Abgeordneten aus der Grünen. AfD-Fraktion, dessen Name mir leider entfallen ist – wir werden ihn identifzieren –, einen Ordnungsruf für den (Jürgen Braun [AfD]: Lenken Sie nicht vom Zuruf „Richtig!“ nach dem Zitieren der Aussage, das Antisemitismus bei den Grünen ab!) Mahnmal zum Gedenken der jüdischen Opfer sei ein Mahnmal der Schande. – Dafür erteile ich Ihnen einen Ich sage Ihnen aber: Wie die überwältigende Mehrheit Ordnungsruf. der Menschen in diesem Land bin ich stolz auf dieses Land – wegen seiner rechtsstaatlichen und demokra- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, tischen Verfasstheit und gerade wegen des glasklaren der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Bekenntnisses zu den dunkelsten Kapiteln unserer Ge- GRÜNEN) schichte und der daraus erwachsenen Verantwortung für Ich gebe zu Protokoll: Das ist der Abgeordnete Seitz von uns alle. der AfD. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Als nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Frau bei der SPD und der LINKEN sowie bei Ab- Marian Wendt. geordneten der CDU/CSU und der FDP) (Zurufe von der CDU/CSU: Herr!) Sie lehnen all das ab. – Gut, das sehe ich jetzt. Ich bitte vielmals um Entschul- (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Die lehnen digung. Herr Marian Wendt. Das war keine Anspielung, wir ab! Da haben Sie völlig recht!) Herr Wendt. Sie bekämpfen es offensiv. Wir aber werden es mit aller (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kraft verteidigen, auch und gerade für die kommenden Generationen. Ich verspreche Ihnen: Wir haben mit die- Marian Wendt (CDU/CSU): ser Auseinandersetzung gerade erst begonnen, meine Da- Kein Problem, Herr Präsident. Sie sind nicht der Erste (B) men und Herren. in meinem Leben, dem das passiert ist. Aber damit ist mir (D) (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Wir auch!) Ihre Aufmerksamkeit sicher. Herr Präsident! Vielen Dank für Ihre klaren Worte und Ganz herzlichen Dank. auch für den Ordnungsruf. Ich glaube, es ist in einer sol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, chen Debatte richtig und wichtig, dass hier durchgegrif- bei der SPD und der LINKEN sowie bei Ab- fen wird und der Rechtsstaat funktioniert. geordneten der CDU/CSU und der FDP) Liebe Kolleginnen und Kollegen: Es ist geschehen, und folglich kann es wieder ge- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: schehen. Darin liegt der Kern dessen, was wir zu Vielen Dank, Herr Kollege von Notz. sagen haben. Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass während Prägnant und eindringlich wie kein anderer fasste der der Aktuellen Stunde Zwischenfragen nicht zulässig Schoah-Überlebende Primo Levi somit Sinn, Zweck und sind. Das geht an die Fraktion der AfD, weil da mehrere Auftrag unserer Erinnerungskultur und Gedenkarbeit Meldungen waren. zusammen. Das, was die AfD immer intensiver infrage stellt, nämlich unser Geschichtsbewusstsein, ist ein un- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- entbehrlicher Teil unserer Identität. NEN]: Einfach mal die Geschäftsordnung ler- nen!) (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Ach du lieber Gott!) – Frau Kollegin Haßelmann, momentan habe ich das Wort. Demokratie geht nicht ohne Erinnerungskultur. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LIN- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN]: Ja!) sowie bei Abgeordneten der FDP) – Gut. Das gilt auch für Sie. Wir sind nicht persönlich für die Verbrechen unserer (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Vorfahren verantwortlich. Uns trifft keine persönliche Schuld. Wir sind aber durch Sprache, Kultur und Ab- Das Zweite ist: Bei aller Erregung, die nachvollzieh- stammung mit diesen Taten verbunden. Aus der Erinne- bar ist angesichts der Angriffe, die Sie von der AfD-Frak- rung erwächst eine Verantwortung – auch für unsere, für 1292 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Marian Wendt (A) meine Generation. Niemals dürfen Menschen in unserem Nie wurden Mauertote beklagt. Nie haben Sie hörbar (C) Land wieder wegen ihres Aussehens, ihrer Religion, ih- die blutige Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni rer Meinung, 1953 verurteilt. (Stephan Brandner [AfD]: Mit Ausnahme der (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Natürlich! AfD!) Selbstverständlich! – Petra Pau [DIE LINKE]: ihrer Herkunft oder wegen ihres Drangs nach Freiheit Selbstverständlich! – [DIE getötet werden. LINKE]: Meine Güte!) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LIN- Und nie hat es eine Entschuldigung für die in der dama- KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ligen sowjetischen Besatzungszone getöteten Deutschen sowie bei Abgeordneten der FDP – Stephan gegeben. Brandner [AfD]: Sie dreschen billige Phra- Mein Urgroßvater wurde 1948 im Lager Mühlberg sen!) durch die Sowjetbesatzer systematisch getötet. Dazu Die beiden Diktaturen auf deutschem Boden, die kom- höre ich leider nie etwas von Ihnen. munistische wie die nationalsozialistische, müssen uns (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Wenn Sie hier so Mahnung sein. Leider müssen wir aber häufger feststel- reden, wie Sie es machen, dann sollten Sie die len, dass der Respekt vor den Opfern dieser beiden Dik- Dinge lesen, die es dazu gibt!) taturen immer wieder verloren geht. So hat zum Beispiel die AfD die Erinnerung an die Opfer des Holocaust mit Sie können aber in dieser Debatte nicht glaubhaft gegen Füßen getreten. die AfD argumentieren, solange Sie auf dem linken Auge der Geschichte blind sind. (Zurufe von der AfD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Der Thüringer Fraktionsvorsitzende der AfD, Björn Hö- ordneten der FDP) cke, bezeichnete das Denkmal für die ermordeten Juden Europas als – Zitat – „Denkmal der Schande“. Wenn linke und rechte Parteien im Bundestag wirk- lich ein Interesse an der Debatte zur Erinnerungspolitik (Dr. Alexander Gauland [AfD]: „Als Mahnmal haben, dann würde ich Ihnen sagen: Auschwitz, Sachsen- unserer Schande“! Das ist gesagt worden!) hausen und Hohenschönhausen sind nach wie vor Teil Alle dachten, dass diese Verunglimpfung, die nicht unseres kollektiven Gedächtnisses. einmal innerparteilich geahndet wurde – das werfe ich Ihnen hier vor –, die unterste Schublade ist. (Beifall des Abg. Jürgen Trittin [BÜND- (B) NIS 90/DIE GRÜNEN]) (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD, der FDP und des BÜND- Wir Deutschen können stolz auf die Aufarbeitung unse- NISSES 90/DIE GRÜNEN) rer Geschichte sein, auf die Lehren, die wir gezogen ha- ben, und auf das bleibende Gedenken an die Opfer. Wir dachten, es wiederholt sich nicht. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Höcke hat BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- nur Rudolf Augstein zitiert!) geordneten der SPD) Aber nein: Der AfD-Abgeordnete Gedeon fordert ein In den Staaten, wo der offene und ehrliche Umgang mit Ende der Stolpersteinaktion. Mit solchen Aussagen ver- der eigenen Geschichte fehlt, wird er durch nationalisti- höhnen Sie das Gedenken an die Toten. Schämen Sie sche Propaganda und Chauvinismus ersetzt, wie wir lei- sich! der bei Putins Krieg gegen die Ukraine sehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- Erinnerungskultur ist ein andauernder Lernprozess. wie bei Abgeordneten der LINKEN und des Das betrifft auch und insbesondere Menschen, die zu uns BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wider- zuwandern und womöglich antisemitische Vorurteile und spruch bei der AfD) Ressentiments mitbringen. Diesen Menschen sage ich Wenn die Stolpersteine und das Holocaustmahnmal ganz klar: Deutschland ist das falsche Zielland für Sie. – eine Schande für Sie sind, was halten Sie dann von den Hier wird Antisemitismus nicht geduldet. russischen Inschriften der Sowjetsoldaten, die sich im (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, Reichstagsgebäude fnden? Aber ich glaube, diese als der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Schande zu bezeichnen, hat Ihnen Herr Putin verboten. GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der AfD) An einer tiefen und vor allem ehrlichen Auseinander- Meine Damen und Herren, bald gibt es keinen Ausch­ setzung mit der Vergangenheit und mit der zeitgenössi- witz-Überlebenden mehr, der mit seiner auf den Arm schen Erinnerungskultur sind Sie gar nicht interessiert. tätowierten Häftlingsnummer sein Leid und die Un- Sie begehen dabei den gleichen Fehler wie damals die menschlichkeit des Dritten Reiches bezeugen kann. Bald PDS. Auch sie konnte sich nie dazu durchringen, die gibt es keine Menschen mehr, die von der Verfolgung kommunistische Diktatur in Deutschland aufzuarbeiten. durch die Stasi, der Inhaftierung in Hohenschönhausen (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Einfach mal und der Gefahr des Todes an der innerdeutschen Grenze schlaumachen!) berichten können. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1293

Marian Wendt (A) Es liegt also an uns, Primo Levis Mahnung und Auftrag Schicksals müssen wir uns Nationalismen und vergifte- (C) mit Leben zu erfüllen und jeder Form der Geschichtsklit- ten Debatten immer wieder neu entgegenstellen. terung von rechts wie von links entgegenzutreten. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, Vielen Dank. der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alexander Gauland [AfD]: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Hätten die Geschwister Scholl auch gemacht!) ordneten der SPD, der FDP und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) An die Adresse der AfD: Sie haben von einem Denk- mal der Schande und einer erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad gesprochen. Ich sage: Es gilt, die geistige

Vizepräsident Wolfgang Kubicki: und die kulturelle Freiheit unseres Landes zu bewahren. Vielen Dank, Herr Kollege Wendt. – Als Nächstes für die SPD-Fraktion: Frau Michelle Müntefering. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Am besten gelingt das übrigens durch Aufklärung und Bildung der jungen Generation, durch internationalen Michelle Müntefering (SPD): Austausch, durch die Erfahrung des anderen, durch die Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kollegin- Erkenntnis, dass einfache Antworten nicht richtig sind, nen und Kollegen! Lieber Kollege von Notz, in der Tat, die Wege in diesem Saal führen uns an den Wänden vor- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bei, auf denen immer noch die Inschriften derjenigen ste- DIE GRÜNEN) hen, die uns alle befreiten. durch mutige junge Menschen, die Haltung zeigen und (Dr. [AfD]: Und vergewaltig- sich nicht von den rechten Verführern unserer Zeit kö- ten! – Widerspruch vom BÜNDNIS 90/DIE dern lassen. Ich wünsche mir, dass die junge Generation GRÜNEN – Gegenruf des Abg. Dr. Bernd in Deutschland unsere Kultur des Erinnerns weiterträgt Baumann [AfD]: Das ist so! Nicht abstrei- und dass sie ihren eigenen Umgang damit fndet. ten! Tausende! Keine Geschichtsklitterung! – Es gibt bestimmte Ereignisse, die einen besonders Gegenruf Abg. Britta Haßelmann [BÜND- prägen. Für mich waren das der Besuch in Bergen-Bel- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Schämen Sie sich!) sen und die Diskussion mit einer Zeitzeugin, die unter schlimmsten Umständen überlebt hatte und dann nach (B) Ich zitiere den ehemaligen Bundespräsidenten von (D) ­Weizsäcker: Sie befreiten uns „von dem menschen- Amerika gefohen war. Sie erzählte uns Neuntklässlern, verachtenden System der nationalsozialistischen Ge- wie sie Jahre nach dem Ende des Krieges plötzlich die waltherrschaft“. gewalttätige und sadistische Aufseherin des Lagers – mit Pelz bekleidet – beim Shopping in einem Kaufhaus in (Jürgen Braun [AfD]: Bitte die Geschichte New York zufällig wiedersah. Mich hat diese Vorstellung differenziert sehen, Frau Müntefering!) als Teenager zutiefst schockiert. Ich habe es nie verges- sen. In den letzten Wochen gab es eine Debatte darüber, Es sind die Spuren des Kampfes um das Reichstags- ob junge Leute, ob Schülerinnen und Schüler Gedenk- gebäude im April 1945, die erhalten geblieben sind, da- stätten verpfichtend besuchen sollten. Ich meine, dass runter die Graffti sowjetischer Soldaten. Ich habe schon das kein Zwang, sondern eine Selbstverständlichkeit sein manchen Besucher aus dem Ausland ungläubig staunend sollte. davor stehen gesehen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Man kann auf den Internetseiten des Bundestages BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- nachlesen: Der Architekt Sir Norman Foster, gebo- geordneten der CDU/CSU und der FDP) ren 1935, begann unmittelbar nach der Verhüllung des Reichstags, die alten Gipsfaserplatten der 60er-Jahre Junge Menschen brauchen dabei aber Unterstützung. abzunehmen, die vor die Wände des historischen Baus Deswegen bin ich froh, dass wir im Koalitionsvertrag gesetzt worden waren. Heute sind die wiederentdeckten gute Festlegungen getroffen haben. Wir legen insbeson- kyrillischen Inschriften Teil des demokratischen Alltags dere das Programm „Jugend erinnert“ auf, das noch mehr in diesem Parlament – weil wir es so wollen, Möglichkeiten eröffnen soll, Gedenkstätten und Work- shops zu besuchen, um den Blick für wachsenden Anti- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, semitismus und Fremdenfeindlichkeit zu schärfen. Das der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE ist umso wichtiger, weil die letzten Zeitzeugen gehen. GRÜNEN) Wir haben im Koalitionsvertrag im Sinne des Erinnerns weil dieses Gebäude eine Geschichte hat: eine Geschich- konkret – das war, ist und bleibt ein Prozess – die Unter- te, die einen Teil deutscher Vergangenheit ausmacht, der stützung dezentraler, kleiner Initiativen, die Stärkung der sich tief in das kollektive Bewusstsein und in unser Ge- Gedenkstätten und ihre Weiterentwicklung sowie nicht dächtnis eingeprägt hat. zuletzt die Aufarbeitung unseres kolonialen Erbes in Zu- sammenarbeit mit anderen Ländern festgeschrieben. Wir Wir erinnern uns in diesen Tagen an den mutigen Wi- tun das, weil die Kulturarbeit unser Leben und die Demo- derstand der Geschwister Scholl. Auch eingedenk ihres kratie bereichert. 1294 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Michelle Müntefering (A) An die Adresse meiner SPD: Das allein ist Grund ge- Ja, einzelne Stimmen aus dem Gesamtkonzert der Par- (C) nug, Ja zu Regierung und Verantwortung zu sagen. tei haben in den roten Bereich hinein übersteuert; so viel Selbstkritik muss sein. Herzlichen Dank. (Beifall bei der AfD – Katrin Göring-Eckardt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Höcke der CDU/CSU) ist keine einzelne Stimme! Herr Höcke ist kei- ne einzelne Stimme!) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Aber ich sage mit ebensolcher Klarheit, dass wir uns Vielen Dank, Frau Müntefering. – Als nächster Redner sicher keine Moralpredigten über Hetze und Rassismus hat der Kollege Dr. Marc Jongen von der AfD das Wort. von einer Partei anhören müssen, (Beifall bei der AfD) (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Wir müssen Herr Kollege, entschuldigen Sie, aber ich werde von uns alles anhören!) der AfD-Fraktion darauf hingewiesen, dass es sich um die es wie die Grünen nicht für nötig empfndet, die von Ihre erste Rede handelt. Deutschlandhass triefenden Tiraden eines Deniz Yücel (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ mit einer Silbe zu kritisieren, der den Deutschen ganz of- DIE GRÜNEN]: Das ist seine zweite!) fen das Volkssterben wünscht. – Wie ich höre, soll es schon die zweite sein. Da müssen (Beifall bei der AfD – Michael Brand [Fulda] Sie in Ihrer Fraktion vielleicht für Aufklärung sorgen. [CDU/CSU]: Sie haben es nicht begriffen! – Michelle Müntefering [SPD]: In Deutschland (Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]: Schon herrscht Pressefreiheit!) wieder geirrt!) Verurteilen Sie das endlich als die rassistische Hetze, die Bitte, Herr Jongen. es ist; dann können wir ernsthaft mit Ihnen über diese Themen diskutieren – vorher nicht. (AfD): Dr. Marc Jongen Ich schweige jetzt von Frau Bundestagsvizepräsiden- Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und tin Claudia Roth, die auf einer Demonstration mitlief, Kollegen! Es war vorauszusehen, dass Sie unter dem bei der ein Schild mit der Aufschrift „Deutschland, du Vorwand, sich gegen Hetze zu wenden, heute Hetze ge- mieses Stück Scheiße“ zu lesen war. Das ist ein Kapitel gen die AfD betreiben würden. für sich, und das ist eine Schande für dieses Hohe Haus! (B) (D) (Beifall bei der AfD – Michael Brand [Fulda] (Beifall bei der AfD – Widerspruch beim [CDU/CSU]: Das arme Opferlamm!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Genauso ist es gekommen. Ich will das gerne aufnehmen Birkwald [DIE LINKE]: Nein! Das ist keine und ein paar Worte in eigener Sache verlieren. Die Al- Schande! Eine Schande sind Sie!) ternative für Deutschland steht in einem schweren poli- Dann hörten wir hier heute allen Ernstes den Vorwurf, tischen Kampf. wir träten das Gedenken an den Holocaust mit Füßen. (Zurufe von SPD und BÜNDNIS 90/DIE Also, sind Sie von Sinnen? GRÜNEN: Oh! Oh!) (Beifall bei der AfD) Wir kämpfen, wie es unser Name sagt, für Deutschland, Lesen Sie unsere heutige Pressemitteilung, und Sie wer- für eine Alternative zur Abschaffung dieses Landes als den sehen: Wir haben die Stolpersteine als eine würdige staatliche und kulturelle Einheit, die Sie alle betreiben, und eindrückliche Form des Erinnerns an die Opfer des wie Sie von den Altparteien hier sitzen, Naziterrors bezeichnet. (Beifall bei der AfD) (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- durch Ihre EU-Politik, durch Ihre Politik der Massenein- NEN]: Außer Herr Gedeon! – Michael Brand wanderung, auch durch Ihre Energiepolitik. Da schenken [Fulda] [CDU/CSU]: Wer immer missverstan- Sie sich wenig. den wird, muss sich mal fragen, woran das liegt!) (Zuruf von der LINKEN: Schämen Sie sich Ihrer Lügen!) Aber von einer solchen Partei wie den Grünen, bei denen führende Exponenten eng mit dem Linksterro- Es geht also buchstäblich um alles, und da kann es risten und notorischen Antisemiten Dieter Kunzelmann geschehen, dass in der Hitze des Gefechts verbunden waren, müssen wir uns nicht Antisemitismus vorwerfen lassen. (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der AfD) GRÜNEN) Eine Partei, die eine hirnrissige Migrationspolitik beju- und unter dem Eindruck permanenter Diffamierung un- belt und beklatscht, die dafür sorgt, dass der arabische serer Partei Dinge geäußert werden, die im Ton unange- Antisemitismus nach Deutschland importiert wird, dass messen sind. auf Deutschlands Straßen „Hamas, Hamas, Juden ins Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1295

Dr. Marc Jongen (A) Gas“ gerufen wird, verantwortet einen himmelschreien- Bei Ihnen ist der Rassismus eben immer nur ein Rassis- (C) den Skandal. Von ihr lassen wir uns hier keinen Vorwurf mus von Deutschen, aber nie ein Rassismus gegen Deut- des Antisemitismus machen. sche. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Heul doch!) Die AfD ist die einzige Partei, die dagegen wirklich effektive Maßnahmen zu unternehmen verspricht, die da- Solange Sie einen solchen faulen, weil halbierten Ras- für sorgen wird, dass sich Juden in Deutschland wieder sismusbegriff kultivieren, kommen Sie nicht einmal in sicher fühlen können. Also schweigen Sie uns gegenüber die Nähe des Verständnisses dessen, was in diesem Land von Antisemitismus. wirklich im Argen liegt. (Dr. [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der AfD – Stefan Liebich [DIE GRÜNEN]: Das wird Ihnen alles nichts hel- LINKE]: Die werden sich bedanken!) fen!) Ich sehe heute Herrn Özdemir nicht. Ich sage es ihm So werden Sie weiterhin eine Politik betreiben, die viel- in Abwesenheit: leicht nicht in der Absicht, aber im Ergebnis letztlich auf einen Rassismus gegen Deutsche hinausläuft. Das ist die (Abg. Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE traurige Wahrheit. GRÜNEN] erhebt sich) (Beifall bei der AfD – Lachen des Abg. Schweigen Sie auch von Heimat, werter Herr Özdemir. Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]) Wer seine Heimat wirklich liebt, wie Sie es von sich be- haupten, Ein Wort zur Erinnerungskultur.

(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsident Wolfgang Kubicki: GRÜNEN]: Wir werden weiter Heimat sa- Herr Kollege, kommen Sie bitte zu Ihrem letzten Satz. gen!) Sie sind bereits mit 20 Sekunden über der Zeit. der zerstört sie nicht systematisch wie Sie mit Ihrem (Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]: So eine Windradwahn, mit Ihrer Politik der Masseneinwande- perfde Rede! – Zuruf von der LINKEN: Das rung, die unbegrenzt kulturfremde Menschen ins Land sind schon wieder drei Minuten mehr!) holt. Das hat die Kriminalität schon jetzt massiv steigen lassen. Das wird unser Land bis zur Unkenntlichkeit ver- (AfD): (B) ändern, Dr. Marc Jongen (D) Gut. Lassen Sie mich noch diesen Satz zur Erinne- (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE rungskultur zu Ende bringen. – Wir brauchen eine würdi- GRÜNEN]: Nein, Sie wollen die Heimat spal- ge Erinnerung an die fürchterlichen Gräueltaten der Na- ten! Das ist der Unterschied!) zis – ja –; aber die kann nicht gleichbedeutend sein mit der Kultivierung eines Schuldkomplexes, der das Land und nicht zum Besseren, Frau Göring-Eckardt, weil diese wehrlos macht – Menschen in dieser hohen Zahl beim besten Willen nicht integrierbar sind. (Beifall bei der AfD – Widerspruch bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der AfD – Zuruf von der LIN- DIE GRÜNEN) KEN: Heul doch!) Also ersparen Sie uns dieses Schmierentheater von ges- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: tern. Herr Kollege, jetzt Ihr letzter Satz.

(Beifall bei der AfD) Dr. Marc Jongen (AfD): Bleiben Sie lieber bei Toleranz, Weltoffenheit, An- – gegen jede Beleidigung, jede Vergewaltigung und tidiskriminierung. Auf diesen moralistischen Neusprech jede Überrollung. verstehen Sie sich besser als auf Heimat. Sie glauben Vielen Dank. doch selbst nicht, was Sie da erzählen. (Beifall bei der AfD – Widerspruch bei Abge- (Dr . Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Sagen Sie ordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP, mal, ob Sie für Stolpersteine sind! Ist die AfD der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE dafür?) GRÜNEN) Mit einer atemberaubenden Arroganz werfen Sie de- nen, die die Heimat bewahren wollen, vor, Rassisten zu Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sein. Erlauben Sie mir, bevor ich den nächsten Redner auf- rufe, eine geschäftsleitende Bemerkung. – Ich verstehe, (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD, der dass die Debatte, die wir hier führen, sehr emotionsgela- LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE den ist. Aber ich möchte meine liebste Bundestagsvize- GRÜNEN) präsidentinkollegin Claudia Roth und auch Frau Göring- 1296 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Eckardt gern darauf hinweisen, dass Zwischenrufe die Ich glaube, wir haben noch keine endgültige Antwort ge- (C) Debatte beleben können, aber in aller Regel aus nicht funden. mehr als einem Satz bestehen sollen. Zwischenbemer- kungen, die drei, vier Sätze umfassen, sind in der Aktuel- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Stephan len Stunde irgendwie nicht angemessen. Brandner [AfD]: Sie fnden auch keine! – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Das ist wohl (Beifall bei der AfD – Katrin Göring-Eckardt wahr!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe im- mer nur einen Satz gesagt!) Ich habe mir gesagt: Wir wollen keine Ächtung durch Verfahren. – Ich habe Sie deswegen in Ausschussvorsitze – Ich bitte nur darum, das zu bedenken. gewählt, Der nächste Redner: der Kollege Dr. Stefan Ruppert (Stephan Brandner [AfD]: Danke schön!) von der FDP. mit meiner Stimme, weil ich mir gesagt habe: Wir müssen (Beifall bei der FDP) den Schmerz, den diese Positionen uns zufügen, im Ver- fahren aushalten. Ich habe gesagt: Ich gucke mir genau Dr. Stefan Ruppert (FDP): an, wie Sie dort agieren. – Ich musste feststellen: Sie tun Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- alles, um letztlich die Ängste, von denen Sie anscheinend ren! Ich fürchte, mit dem Eintritt der AfD in die Parla- selbst ergriffen worden sind, auf andere zu übertragen, mente und in den Deutschen Bundestag tritt die deutsche um Ambivalenzen, um Entartungen und Formulierungen, Erinnerungskultur, ein Phänomen, auf das wir sehr stolz die jenseits allen Geschmacks sind, in dieses Parlament sein können, in eine neue Phase ein. zu tragen, (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Gott sei Dank!) (Stephan Brandner [AfD]: Zum Beispiel?) Wir alle spüren, dass die repräsentative Demokratie unter und das ist einfach erbärmlich. Druck geraten ist, dass allein der Umstand, dass Sie hier (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, sitzen, auch immer eine Anfrage an uns alle ist, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE (Jürgen Braun [AfD]: Das stimmt!) GRÜNEN) was wir tun können, um unsere Politik zu erklären und Wenn es etwas gibt, worauf dieses Land besonders zu transportieren. stolz sein kann, dann ist es seine Erinnerungskultur. (B) (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Stephan (Beifall der Abg. Susann Rüthrich [SPD]) (D) Brandner [AfD]: Wie ist die Antwort, Herr Wir haben es geschafft, von einer Phase des Verschwei- Kollege?) gens, des Nichtthematisierens in eine Phase des Ankla- Ich will meine Rede etwas anders intonieren, als das in gens und dann sogar in eine Phase des Verstehens, des der von mir geschätzten Rede von Konstantin von Notz Den-Schmerz-Aushaltens in unserer Erinnerungskultur geschehen ist. Ich habe mir in den Monaten, die wir jetzt zu kommen. Wir können wie kaum andere Länder, die nebeneinandersitzen müssen, angeschaut, wie Sie sich eine solche Vergangenheitspolitik, wie der Historiker verhalten. Norbert Frei sagte, betreiben, stolz darauf sein, dass wir aushalten und dass wir verstehen wollen, wie es dazu (Stephan Brandner [AfD]: Und?) kam. Sie aber wollen instrumentalisieren. Sie wollen Ich habe am Anfang gedacht: Sie befassen sich mit ein- nicht verstehen, sondern Sie wollen Geschichte klittern, zelnen Themen, Sie steigen in Sachdebatten ein. – Ich und das ist erbärmlich. habe merken müssen, wie Sie die Ambivalenz kultivie- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, ren, das Schillernde des Begriffs, wie Sie sich daran der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE begeistern, dass das Wort „entartet“ in einer Rede von GRÜNEN – Michael Brand [Fulda] [CDU/ Ihnen untergebracht worden ist – entartete Pässe –, und CSU]: Gute Analyse! Sehr gute Analyse!) am Ende dann vorbereitete Zitate von anderen haben, die das auch benutzen. Sie legen es immer darauf an, in einer Wie also reagieren wir darauf? Art Ambivalenz (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Tja! – Jürgen (Stephan Brandner [AfD]: Sie fallen immer Braun [AfD]: Gute Frage!) wieder darauf rein!) Ich glaube, wir alle müssen uns selbst hinterfragen, wie Ihre im Kern letztlich menschenfeindlichen Positionen wir besser werden können, wie wir Menschen besser er- am Ende durchzusetzen und uns hier vorher vorzutragen. reichen, wie wir ihre Probleme lösen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordne- der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE ten der CDU/CSU – Dr. Alexander Gauland GRÜNEN) [AfD]: Das ist eine gute Idee!) Ich habe – ich glaube, das machen viele in diesem Ich glaube in der Tat: Ihre parlamentarische Existenz ist Parlament – mit mir gerungen, wie ich damit umgehe. nicht so sehr Ihren Positionen geschuldet, sondern sie ist Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1297

Dr. Stefan Ruppert (A) auch eine Anfrage an uns selbst, was wir besser machen vielfältig sein, und wir brauchen diese Erinnerung mehr (C) können, denn je – (Beatrix von Storch [AfD]: Anders!) (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. welche Probleme wir lösen müssen. Insofern empfnde Renata Alt [FDP]) ich diesen Schmerz, den Ihre Anwesenheit hier macht, zwar nur ungern, aber als reife, plurale Gesellschaft wer- einladend, in pädagogisch wertvoll ausgestatteten Ge- den wir ihn aushalten, und wir werden auch darüber hin- denkstätten – es sind Gedenkstätten des Grauens –, aber wegkommen. Ich bin optimistisch, dass Sie sich irgend- auch alltäglich, durch Stolpersteine und mehr in authen- wann als politisches Phänomen erledigen werden. tischer Umgebung. Denn all das geschah inmitten der (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, Gesellschaft, und – das dürfen wir nicht vergessen – es der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE wurde vom Gros der Bevölkerung geduldet. Weil das nie GRÜNEN – Zurufe von der FDP: Bravo!) mehr geschehen darf, darf man diese Geschichte nicht verdrängen – nicht leichtfertig und erst recht nicht mut- Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, wie Sie nachts willig. am Computer sitzen und Mails über Frau Merkel schrei- ben mit Begriffen, die meine bürgerliche Erziehung mir (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem verbietet überhaupt in den Mund zu nehmen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geordneten der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Sie kennen die Zahlen. Im Holocaust wurden 6 Mil- GRÜNEN) lionen europäische Jüdinnen und Juden umgebracht, nur weil sie Jüdinnen und Juden waren. Sie wurden er- Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, wie Sie sich daran schlagen, erschossen, vergast. Totalitärer Antisemitismus ergötzen, Formulierungen zu fnden, die andere diskre- mündete im Völkermord. Wollte man übrigens jeder und ditieren, die Angst schüren und die Menschen kleinma- jedem der ermordeten Jüdinnen und Juden eine Gedenk- chen. minute widmen, so würde elf Jahre lang Stille herrschen, (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sie diskreditie- Totenstille. Das muss nicht sein. Aber daran müssen wir ren hier doch die ganze Zeit, Sie Heuchler!) erinnern. Es muss Ihnen wohl eine tiefe Befriedigung verschaffen, Historiker haben errechnet, dass unmittelbar am so etwas zu tun. Meine bürgerliche Erziehung verbietet Holocaust – von der Deportation über die Ermordung bis zur Ausraubung und Entsorgung der Leichname – (B) mir, offen gesagt, einige der Vokabeln, die Sie in diesem (D) Parlament schon in den Mund genommen haben. 500 000 Deutsche direkt beteiligt waren. Dieses Verbre- chen darf man also nicht auf ein paar Naziführer reduzie- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD, ren. Deshalb rufe ich hier Imre Kertesz in Erinnerung. Er der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE war Ungar, Schriftsteller, Literaturnobelpreisträger, Jude GRÜNEN) und Holocaustüberlebender. Im Januar 2007 stand er hier Wir werden also darum ringen, besser zu werden. Wir an dieser Stelle. Er sagte damals: werden die von Ihnen aufgeworfenen Probleme lösen; Vor Auschwitz war Auschwitz unvorstellbar, heute denn daran haben Sie ja kein Interesse. Wir werden da- ist es das nicht mehr. Da Auschwitz in Wirklichkeit rum kämpfen, dass am Ende eine plurale, eine tolerante passierte, ist es in unsere Fantasie eingedrungen und und eine weltoffene Gesellschaft – denn das ist im Kern wurde so ein fester Bestandteil von uns. Was wir uns das, worauf Deutschland stolz sein kann – siegt und nicht vorstellen können, weil es in Wirklichkeit passiert Ihre Angstmacherei und Ihre Kleinmacherei. ist, kann wieder passieren. Vielen Dank. Seine Mahnung meint uns Nachgeborene – und zwar (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD, alle. Wir erinnern nicht aus Folklore, sondern aus Verant- der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE wortung für die Gegenwart und die Zukunft. GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: geordneten der AfD und der FDP) Vielen Dank, Herr Kollege Ruppert. – Als Nächstes Zur Nazibarbarei gehörte auch der Zweite Weltkrieg, für die Fraktion Die Linke die Kollegin Petra Pau. um nur ein weiteres Beispiel zu nennen. Er begann mit (Beifall bei der LINKEN) dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen und kostete schließlich weltweit über 50 Millionen Menschen das Leben, darunter 20 Millionen Bürgerinnen und Bür- Petra Pau (DIE LINKE): ger der Sowjetunion. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Diese Aktuelle Stunde gibt Raum für Mitglieder meiner Fraktion Die Linke waren erst kürz- ein paar grundsätzliche Bemerkungen: Wir brauchen lich in Wolgograd. Die Schlacht von 1943 um Stalingrad, eine ansprechende Erinnerungskultur, eine Erinnerung wie die Metropole damals hieß, gilt als der Wendepunkt an die Barbarei der Nazizeit. Diese muss zeitgemäß und im Zweiten Weltkrieg und führte schließlich 1945 zum 1298 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Petra Pau (A) alliierten Sieg über Nazideutschland. Auch diese Erinne- Sinne ist Erinnerungskultur selbstverständlich weit mehr (C) rung gehört dazu. als das bloße Zurschaustellen von Symbolen oder Erin- nerungsstücken. Erinnerungskultur ist Präventionskultur Lassen Sie mich mit Richard von Weizsäcker schlie- und ist insofern nicht weniger als eine Frage der Haltung. ßen, dem Bundespräsidenten, der am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag den 8. Mai 1945 erstmals als das Die Lehre aus den Verbrechen des Holocaust und bezeichnete, was er war: der Tag der Befreiung vom Fa- aus den beiden Weltkriegen besteht doch nicht nur in schismus. der immer wieder erschreckenden Erkenntnis, wozu der Mensch fähig ist, sondern sie besteht auch vor allem in (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem einem einfachen, aber wahren Satz, nämlich: Wehret den BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Anfängen! geordneten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- Er mahnte uns: NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feind- ten der AfD und der LINKEN) schaften und Haß zu schüren. Die Bitte an die Auch diese Frage nach den Anfängen könnte aktueller jungen Menschen lautet: Lassen Sie sich nicht hi- nicht sein. Sie ist eine der Fragen, die uns auch und - neintreiben in Feindschaft und Haß gegen andere de der parlamentarische Alltag in diesem 19. Deutschen Menschen, gegen Russen oder Amerikaner, gegen Bundestag stellt. Wir können von dieser Nation keine ge- Juden oder Türken, gegen Alternative oder Konser- lebte Erinnerungskultur erwarten, wenn wir unsererseits vative, gegen Schwarz oder Weiß. Lernen Sie, mit- in der Art und Weise, wie wir uns hier auseinandersetzen, einander zu leben, nicht gegeneinander. Lassen Sie kein Beispiel für die Präventionskultur im Sinne der Er- auch uns als demokratisch gewählte Politiker dies innerungskultur geben. immer wieder beherzigen und ein Beispiel geben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leben in einer (Beifall bei der LINKEN, der CDU/CSU, der Zeit, in der sich nach vielen Jahren, in denen die Unter- SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schiede zwischen den Parteien eher im Graduellen lagen, sowie bei Abgeordneten der AfD und der FDP) wieder große Richtungsfragen stellen. Aber je größer die politisch-sachlichen Unterschiede werden, desto mehr Vizepräsident Wolfgang Kubicki: müssen wir uns daran erinnern, welche Gemeinsamkei- Vielen Dank, Frau Kollegin Pau. – Als Nächstes für ten wir als Demokraten in uns tragen, nämlich die Suche die CDU/CSU-Fraktion: der Kollege Michael Kuffer. nach dem Besten, nach der richtigen Lösung in Verant- wortung – die wir auch unseren politischen Gegnern, (B) (Beifall bei der CDU/CSU) wenn sie andere Mittel als wir wählen wollen, nicht ab- (D) sprechen sollten. Michael Kuffer (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei vielem, was in diesen Tagen in der vermeintlichen Die andere Meinung, liebe Kolleginnen und Kolle- politischen Auseinandersetzung gesagt wird – ja, augen- gen, ist keine Unverschämtheit, sondern ein Beitrag un- scheinlich wieder gesagt werden darf –, bei vielem, was ter mehreren zur Findung der Lösung. Ich sage es noch daraus hier im Hause und draußen im Land unrefektiert einmal – ich habe es hier in diesem Haus schon einmal nachgeplappert wird, möchte man geradezu schreien: gesagt und kann es nicht oft genug wiederholen –: Der Wisst ihr denn nicht, wozu das führen kann? Aktueller politische Gegner ist kein Feind. Er ist ein Mitstreiter für kann deshalb die Diskussion um die Erinnerungskultur – unsere gemeinsame demokratische Sache. ich füge hinzu: leider – kaum sein. (Beifall bei der AfD sowie des Abg. Michael Uns zu erinnern, um für alle Zeit zu verhindern, dass Brand [Fulda] [CDU/CSU]) noch einmal alle Dämme der Menschlichkeit brechen, Wir wollen für unser Argument streiten, aber nicht das aber auch, um zu verhindern, dass Demokratie zum Argument des anderen verstummen lassen. Spielball verbrecherischer Absichten wird, das ist unsere immerwährende Verantwortung. Es gehört gewisserma- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ßen zur DNA unseres Volkes. ordneten der SPD, der AfD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Gefahr, diesen feinen, aber wichtigen Unterschied Erinnerung ist Verantwortung und Verantwortung wiede- zu missachten, fängt im Kleinen an: beim Überschreiten rum die beste Prävention dagegen, dass sich die dunkels- der Grenze vom Sachlich-Politischen, gerne auch vom ten Kapitel der deutschen Geschichte jemals wiederholen Zugespitzten, zum Persönlichen; beim Ausweichen auf können, liebe Kolleginnen und Kollegen. den persönlichen Angriff, wo man sich politisch unter- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der legen fühlt. Es fängt an, indem wir unserem Gegenüber SPD, der AfD und der LINKEN) seine Motive absprechen, nur weil er andere Mittel wählt, als wir sie selbst wählen wollen. Es fängt an beim Hoch- In diesem Sinne ist das Erinnern nichts Rückwärts- mut, bei der Häme über den Verlierer, es geht weiter beim gewandtes, nichts Historisches, sondern eine sich im- Überschreiten der Grenze von der Emotion zur Aggressi- mer wieder erneuernde Zukunftsaufgabe. Und in diesem on. Wir dürfen nie vergessen, liebe Kolleginnen und Kol- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1299

Michael Kuffer (A) legen: Ohne Gegner gibt es keinen Wettstreit – das gilt vom „Denkmal der Schande“ die Rede ist, wie ich eben (C) in der Demokratie wie im Sport –, und ohne Wettstreit hörte, vom Schuldkomplex, „Schuldkult“ in den Pro- fnden wir nicht das Beste. Aber genau das sollten wir grammen der AfD, von einer „Verengung der deutschen hier suchen. Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus“, dann ist das, was an die Wand gemalt wird, ein Hirnge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und spinst, eine Phantasmagorie. Das gibt es nicht. Dieser der AfD) „Schuldkult“ existiert nicht, und zwar nicht nur, weil der Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen wir gesunde Menschenverstand es uns allen sagt. Schauen eines nie vergessen: Die Auseinandersetzung mit dem Sie bitte alle einmal in eine jüngst erschienene Studie, Argument des anderen ist das Salz in der Suppe. Diese die die Stiftung EVZ zusammen mit der Uni Bielefeld er- schönste Sache der Demokratie müssen wir gemeinsam stellt hat. Dort steht: Weit über 80 Prozent der Menschen verteidigen, für unsere demokratische Sache, für die Res erachten Geschichtsunterricht als wichtig, als Mahnung publica, ja, für unser Land überhaupt, um genau jenes vor einer Wiederholung des Nationalsozialismus. Aber Vorbild im Kontext der Erinnerungskultur zu geben, das fast niemand empfndet persönliche Schuld oder empfn- zeigt, dass Ausgrenzung, die Bedrohung Andersdenken- det gar einen Schuldkomplex oder erlebt einen Schuld- der oder Gewalt als politisches Mittel in unserem Land kult. Nein, das ist alles eine Fata Morgana der AfD. nie wieder einen Platz haben dürfen und dass wir jeden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Anfang in diese Richtung – DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Herr Kollege. Was wir erleben, ist, glaube ich, auch gar kein Angriff auf konkrete Stolpersteine oder konkrete Denkmäler. Nein, es ist ein Angriff auf das Mahnmal des Denkens Michael Kuffer (CDU/CSU): und des Fühlens in uns selbst. Darauf zielt der Angriff – jeden Tag gemeinsam bekämpfen. der Rechtspopulisten: auf das Mahnmal des Denkens und des Fühlens in uns selbst, von dem von Weizsäcker da- Vielen Dank. mals gesprochen hat. Es ist ein Kampf um die angebliche (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- deutsche Identität, der dort begonnen hat. ordneten der SPD, der AfD und der FDP) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (B) Herzlichen Dank, Herr Kollege Kuffer. – Als Nächstes Es gibt von dem Berliner Peter Fox, einem sehr iro- (D) für die SPD-Fraktion der Kollege Helge Lindh. nischen augenzwinkernden Menschen, eine Liedzeile, die ungefähr so lautet: „Ich bin die Abrissbirne für die (Beifall bei der SPD) deutsche Szene“. Da die AfD-Fraktion dafür bekannt ist, augenzwinkernd-, humor- und ironiefrei zu sein, Helge Lindh (SPD): (Jürgen Braun [AfD]: Ja, Sie aber!) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Warum können wir alle hier sit- kann man hier auch ohne Sorge sagen, dass Sie eines zen, auch diejenigen, die die Demokratie und die Erinne- sind: Sie sind die Abrissbirne der deutschen Seele, und rungskultur nicht wirklich schätzen? Sie sind es in beiden Punkten. (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Jetzt reicht es!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Wir können alle hier sitzen, weil wir die Gnade der De- LINKEN) mokratie unverdient vor Jahrzehnten geschenkt bekom- men haben. Wir können hier sitzen, weil wir die Gnade Ihr Deutschsein, das Sie uns verkaufen, ist eine Karika- der Erinnerung erfahren dürfen und weil wir vor wenigen tur, ist eine Fratze des Deutschseins. Wochen hier durch Anita Lasker Wallfsch die Gnade der (Beifall des Abg. Dr. [SPD]) Versöhnung erfahren durften. Deswegen dürfen wir alle hier sitzen. Man kann Ihnen viel unterstellen und viel vorwerfen, aber dass Ihre Politik und Sie selbst Seele hätten, diesen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vorwurf kann man Ihnen nun wirklich nicht machen. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich wünschte, es müsste diese heutige Aktuelle Stunde nicht geben. Ich habe verstanden, dass es Ihnen um so etwas wie (Jürgen Braun [AfD]: Die haben Sie ja bean- positive identitätsbildende Aspekte geht, die Sie suchen. tragt!) Aber machen Sie sich doch auf die Suche! Suchen Sie doch nach der deutschen Familie, dem deutschen Wald, Ich wünschte, wir müssten nicht auf die abermaligen Pro- der deutschen Literatur, den deutschen Bäumen und vokationen reagieren; denn das ist ja letztlich gewünscht. Stammbäumen und, siehe, Sie werden fündig werden. Aber es geht nicht anders: Wir müssen reagieren. Wenn Sie werden sehen: Nichts ist rein, überall ist Mischung, 1300 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Helge Lindh (A) Transfer von Kulturen; alles hängt miteinander zusam- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) men. Das werden Sie fnden, nichts anderes. Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. – Wenn ich mir er- lauben darf, Herr Kollege Gauland: Ich fnde es schön, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass auch Sie diese Rede bemerkenswert fanden. der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Als nächster Redner für die AfD: der Kollege . Das ist seine erste Parlamentsrede. Wenn dann – hinten sitzt er – einer von uns Abgeord- neten hier, Cem Özdemir, nur weil er Özdemir heißt und (Beifall bei der AfD) nicht Jünger oder Hindenburg, bei einer Veranstaltung der AfD verhetzt wird und die Meute „Abschiebung“ Martin Erwin Renner (AfD): ruft, dann sind wir, alle Abgeordnete, aufgefordert, laut- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- hals aufzustehen und alle an seiner Seite zu stehen. ren! Liebe Kollegen! Ich begrüße Sie mit den Worten aus (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der katholischen Liturgie: „Pax vobiscum“ – „Der Frie- der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE de sei mit euch“. Wer die Antwort nicht mehr so richtig GRÜNEN) kennt, dem sage ich sie auch, normalerweise lautet sie dann: „Und mit deinem Geiste“. Ich selber rufe dieser Meute im Saal zu: Ich bitte um die Ehre, von euch abgeschoben werden zu dürfen. – Das (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wäre mir eine große Ehre. NEN]: Wir sind hier nicht in der Kirche! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Wir (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Das werden brauchen Ihre Nachhilfe nicht! – Weiterer wir nie machen! – Dr. Bernd Baumann [AfD]: Zuruf von der CDU/CSU: Das kennen wir Da verheben Sie sich aber! – Dr. Alexander schon!) Gauland [AfD]: Wir brauchen die Reden!) Und ihr, die ihr AfD-Bashing betreibt – das sei Ihnen fürs Wenn das so nun mal ist, erinnere ich daran, dass vor Erste geschenkt. wenigen Tagen Anita Lasker Wallfsch hier gesprochen Ich höre seit Monaten beständig Ihr Tremolo, Ihr un- hat. Ich kontrastiere ihre Worte mit dem, was auch in entwegtes Erregungsbeben. Wahrhaftig, es nimmt in- diesem Raum zu hören war. Hier war nämlich die Rede zwischen fast den Charakter einer Gruppentherapie mit von – ich zitiere – „Kameltreibern“. Es ist unser aller Urschrei an und gleitet immer öfter ins Infantile, ins Irra- Aufgabe, an der Seite dieser türkischen und muslimi- tionale und ins Selbstreferenzielle ab. schen Einwanderer zu stehen, die in diesem Moment dif- (B) famiert und verhöhnt wurden. Es ist unsere Aufgabe, für (Beifall bei der AfD) (D) sie und mit ihnen unsere Stimme zu erheben. Wenn Sie von der Altparteiengemeinschaft glauben, da- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem mit Ihre bröckelnden Parteibasen zusammenhalten zu BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- können – auch das sei Ihnen geschenkt. Ich sage Ihnen: geordneten der CDU/CSU und der FDP) Sie werden den Wähler damit nicht für Sie positiv stim- men können. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Herr Kollege, kommen Sie bitte zum letzten Satz. Es ist doch gerade die von den Grünen und anderen aktiv betriebene Ideologie der faktischen Abschaffung Helge Lindh (SPD): der Nation, Sie sind nämlich inzwischen genauso Teil unserer Er- (Lachen der Abg. Claudia Roth [Augsburg] innerungskultur, sie sind Teil unserer Geschichte, und [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) sie sind Teil von uns. Wenn sie angegriffen werden und der Negierung der nationalen Identität, der Aufösung un- wenn auch diejenigen, die verfolgt wurden, angegriffen serer kulturellen Fundamente, die, zu Recht, auf immer werden, so werden wir angegriffen. Sie haben es nicht mehr Ablehnung in unserer Gesellschaft stößt. verstanden. Selbst die „Tagesthemen“ haben berichtet, dass in unserem Land ein einzigartiges Experiment am Laufen Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sei – Zitat, wörtlich –: der Umbau unserer monokultu- Herr Kollege, bitte. rellen Gemeinschaft in eine multiethnische Gesellschaft, bei dem es zwangsläufg auch zu schmerzlichen Verwer- Helge Lindh (SPD): fungen kommen werde. Aber das Geheimnis der Erlösung ist die Erinnerung. (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Vielleicht bedenken Sie das einmal. Das kam in den „Tagesthemen“. Herzlichen Dank. Selbst die Kanzlerin Merkel – manchmal sage ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten „Kaiserin Merkel“, jetzt sage ich „Kanzlerin Merkel“ – der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des hat das links-grün-sozialistische bunte Multikulti für ge- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) scheitert erklärt, damals, vor einigen Jahren, als sie an- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1301

Martin Erwin Renner (A) scheinend noch die Interessen unseres Landes im Blick eine Partei für Freiheit, für Demokratie, für Selbstbestim- (C) hatte. mung, für Identität, (Beifall bei der AfD) (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für einige, aber nicht für jeden! Außerdem, meine Damen und Herren: Täuschen Sie Für Identitäre!) doch nicht ständig die Bürger! Diese bunte Multikulti- welt ist mitnichten bunt, sondern in Wirklichkeit burka- für Kultur, für Tradition und, wie der Name schon sagt, schwarz. für Deutschland ist. (Beifall bei der AfD – Lachen des Abg. (Beifall bei der AfD) Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU] – Michael Wir sind doch geradezu die politische Gegenthese zu Ih- Brand [Fulda] [CDU/CSU]: Es ist Fastenzeit!) ren sozialistischen und kollektivistischen Ideologien. Damit zum Thema. Es gibt rechtsextremistische An- (Marian Wendt [CDU/CSU]: Sie sind so spin- griffe; ich will das nicht beschönigen. Genauso gibt es nert! Also wirklich! – Katrin Göring-Eckardt aber auch linksextremistische Angriffe, die ebenso ge- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Gegenthe- meingefährlich und demokratiezerstörend sind. Doch se“ ist richtig!) linke Extremisten werden von Ihnen beschwiegen oder ihre Taten beschönigt. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]: Jetzt Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte. reicht’s aber! – Marian Wendt [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Haben Sie meine Rede gehört? Sie müssen mal zuhören!) Martin Erwin Renner (AfD): Sie wissen, dass das Thema der heutigen Debatte ei- Aber freiheitlich fühlende, bürgerlich agierende, konser- gentlich „Demokratie und Erinnerungskultur angesichts vativ denkende Menschen wie wir linksideologischer Instrumentalisierung“ hätte lauten (Marian Wendt [CDU/CSU]: Das sind Sie sollen. alles nicht! Keine Angst!) sollen zu Rechtsradikalen gemacht werden, damit diffa- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: miert und aus dem Raum des politischen Diskurses ent- Sie haben noch einen Satz, bitte. fernt und verwiesen werden. Martin Erwin Renner (AfD): (B) (Beifall bei der AfD) (D) Die Messe ist gelesen. Ite, missa est! Linksextreme gibt es in Ihrem Weltbild doch gar nicht; denn das sind doch nach Ihrer Meinung nur rührige Akti- Danke schön. visten und niedliche Autonome. Real existierender linker (Beifall bei der AfD) Terror wird von Ihnen zum staatlich geförderten Kampf gegen rechts veredelt. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]: Diese Vielen Dank. – Als Nächstes für die Fraktion der Grü- Rede beleidigt mein Hirn!) nen die Kollegin Britta Haßelmann. Echt jetzt: Mit Erinnerungskultur haben genau diese An- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) griffe von links und von rechts gar nichts zu tun. (Beifall bei der AfD) Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Ja, auch wir plädieren für eine Erinnerungskultur, die Kollegen! Manchmal glaube ich, man muss Sie einfach ja auch eine Verantwortungskultur zu sein hat. Aber die nur reden lassen, dann sieht man, wes Geistes Kind Sie sozialistische, kollektivistische Gemeinschaft aller Alt- sind. parteien hier im Hause missbraucht die Erinnerung an die schrecklichen Verbrechen der Naziherrschaft. Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, instrumentalisieren in schändlicher Weise diese Erinne- bei der SPD und der LINKEN sowie bei Ab- rungskultur, um sich aufkommenden gesellschaftlichen geordneten der CDU/CSU und der FDP) und politischen Widerstand moralisierend vom Halse zu Mehr gibt es zu dem gerade Gesagten eigentlich nicht schaffen. zu sagen. (Beifall bei der AfD) Zu Herrn Jongen will ich ganz kurz sagen: Als einer, Vergessen Sie doch nicht, dass das verbrecherische Na- der angetreten ist, den Kulturbetrieb in Deutschland zu ziregime Kollektivisten und Sozialisten waren, eben na- „entsiffen“ – so drückte er sich neulich aus, Zitat –, tionale Sozialisten! (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der AfD) DIE GRÜNEN]: Zitat!) Ich kann Ihnen als einer der 16 Mitgründer der Al- und als einer, der sein Geschichtsbewusstsein und seine ternative bestätigen, dass die Alternative für Deutschland Einstellung hier vermittelt hat, haben Sie sich mit dem 1302 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Britta Haßelmann (A) heutigen Tag doch schon aus der kulturpolitischen De- Wir sind hier im Deutschen Bundestag. Ich fühle mich (C) batte des Deutschen Bundestages verabschiedet. manchmal beschämt, im Parlament solches völkische und diffamierende Gerede zu hören, und deshalb müssen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir heute auch einmal darüber sprechen. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN – Dr. Bernd (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Baumann [AfD]: Das glauben aber nur Sie! bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- Wir fangen erst an!) ordneten der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Die Verantwortung vor unserer Geschichte kennt Braun [AfD]: Sie halten das ja nicht aus, das keinen Schlussstrich. Gesprochene! Mit freier Rede haben Sie ein Problem!) Das hat uns Frank-Walter Steinmeier als Bundespräsi- dent mit auf den Weg gegeben, und ich bin froh, dass Wir müssen wachsam sein; denn mit Sprache fängt es sich alle fünf Fraktionen der demokratischen Parteien im an. Wir erleben jeden Tag in den Debatten eine Radikali- Deutschen Bundestag auf diesen Grundsatz beziehen und sierung der Sprache und eine Verschiebung des Sagbaren. ihn heute bekräftigt haben. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Ab- Deshalb müssen wir es einmal aussprechen: Was Abge- geordneten der CDU/CSU und der FDP – La- ordnete der AfD innerhalb und außerhalb des Parlamen- chen bei Abgeordneten der AfD) tes treiben, das sind keine Zufälle, meine Damen und Meine Damen und Herren, wir müssen darüber spre- Herren, das hat Methode. Es ist Teil Ihrer Strategie, die- chen, was in den letzten Wochen hier im Parlament und ses Sagbare immer weiter zu verschieben. Deshalb müs- auch in anderen Parlamenten unseres Landes passiert ist. sen wir darüber reden und das entlarven. Die Maske fällt. Gewählte Abgeordnete aus Landtagen und auch aus dem Bundestag diffamieren Menschen, die in unserem Land (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, leben. Sie beleidigen sie und sprechen ihnen ihre Grund- bei der SPD und der LINKEN sowie bei Ab- rechte ab. geordneten der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Braun [AfD]: Sie entlarven sich selbst, (Zuruf von der AfD: Das machen Sie!) Frau Haßelmann!)

Da wird hier im Haus von „entarteten Pässen“ gespro- Es soll auch – das sei nur nebenbei gesagt – darüber chen. Um eine doppelte Staatsbürgerschaft geht es. Sie (B) hinwegtäuschen, dass Sie in der Sache nichts zu bieten (D) versuchen doch, damit zu spalten. Sie beleidigen die rund haben, weder beim Thema Rentenversorgung noch bei 2 Millionen Menschen mit mehr als einem Pass. Sie ma- sozialpolitischen Fragen, chen das ganz bewusst und ganz gezielt. Meine Damen und Herren, das ist nicht hinnehmbar. (Jürgen Braun [AfD]: Gerade eine Grüne sagt (Beifall der Abg. Steff Lemke [BÜND- das, die nie in einer Sachfrage mitreden kann!) NIS 90/DIE GRÜNEN]) nicht beim Thema Steuerpolitik und schon gar nicht bei Das ist nicht stillschweigend zu dulden. Fragen der Ökologie. Als wir heute Morgen über das Thema Handwerk redeten: Luft, nichts als heiße Luft! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Ab- (Jürgen Braun [AfD]: Grüner Populismus, geordneten der CDU/CSU und der FDP) Frau Haßelmann! Nichts als links-grüner Po- Denn es geht nicht nur um die 2 Millionen betroffenen pulismus!) Menschen in unserem Land, sondern es geht auch um un- sere Kolleginnen und Kollegen hier im Haus, und es geht Die rassistischen Angriffe sollen auch darüber hinweg- damit auch um die Würde in diesem Haus. täuschen, dass Sie in der Sache keinen Beitrag zu leisten haben. Wir sind doch hier nicht in irgendeiner Bude, Herr Gauland, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Ab- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – geordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Da halten Sie Jürgen Braun [AfD]: Sie machen grünen Po- sich einmal dran!) pulismus!) in der Sie Ihre Hetze und Ihren Geifer, Sie wissen ganz genau, was Sie damit bezwecken. (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das machen Sie Wenn Sie den Özoğuz’, den Yücels, den Boatengs und doch gerade!) den Özdemirs – egal wie sie heißen; ich konnte jetzt nur an dem Sie sich berauschen, ablassen können. einige aufzählen – mangelnde Integration vorwerfen, (Beifall der Abg. Claudia Roth [Augsburg] (Jürgen Braun [AfD]: Links-grüner Populis- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) mus!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1303

Britta Haßelmann (A) wenn Sie ihnen die Staatsbürgerschaft aberkennen wol- Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) len, sie abschieben wollen oder sogar als „Kameltreiber“ Was ist das für ein Verhalten? Meine Damen und Her- diffamieren ren, darüber müssen wir sprechen. Wir müssen Sie damit konfrontieren. Die Maske ist gefallen. (Jürgen Braun [AfD]: Links-grüner Popu- lismus! – Gegenruf der Abg. Steff Lemke (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt holen bei der SPD und der LINKEN sowie bei Ab- Sie doch mal Luft da drüben! – Gegenruf des geordneten der CDU/CSU und der FDP – Abg. Jürgen Braun [AfD]: Links-grüner Popu- Lachen bei Abgeordneten der AfD – Jürgen lismus, Frau Lemke!) Braun [AfD]: Ihre Maske ist gefallen, Frau Haßelmann! Eine Hassrede! Eine blanke Has- – und Gauland setzt dann noch einen drauf und meint, srede!) Aydan Özuguz sogar „entsorgen“ zu können –, frage ich Sie: Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Jürgen Braun [AfD]: Links-grüner Populis- Frau Kollegin Haßelmann, ich erlaube mir einige ge- mus!) schäftsleitende Bemerkungen. Wo leben wir hier denn? Da muss es Widerspruch geben! Zunächst einmal: Während der Aktuellen Stunde sind Das ist doch klar. Zwischenfragen nicht zulässig. Ich wiederhole mich, sage es aber noch einmal, weil wir dauernd Wortmeldungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sehen . – Das ist nicht an Sie gerichtet, Frau Haßelmann. bei der SPD und der LINKEN sowie bei Ab- Ich musste nur das Ende Ihrer Rede abwarten. geordneten der CDU/CSU und der FDP – La- chen bei der AfD) Das Zweite ist: „Zur Sache!“ ruft nur der Präsident, der amtiert. Sie hetzen hier gegen Menschen mit deutscher Staats- Das Dritte ist, Frau Kollegin Haßelmann, und das liegt bürgerschaft innerhalb und außerhalb des Parlaments. mir am Herzen: Das Präsidium des Deutschen Bundesta- Manchmal frage ich mich, ob es Ihren intellektuellen ges wird sehr sorgsam darauf achten, dass die Grenzen Horizont überschreitet, der Meinungsfreiheit hier nicht überschritten werden. (Lachen bei der AfD) Es ist manchmal schmerzlich, Meinungen ertragen zu müssen, die man selbst nicht teilt. Aber dem Eindruck, (B) dass Menschen mit einer deutschen Staatsbürgerschaft wir würden hier Äußerungen zulassen, die außerhalb des (D) nicht nur Meier, Müller, Haßelmann oder Schmidt hei- Spektrums liegen, muss ich entgegentreten. ßen. (Beifall bei der AfD sowie bei Abgeordneten (Jürgen Braun [AfD]: Das sagt gerade eine der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Braun Grüne! Intellektueller Horizont bei den Grü- [AfD]: Zensur durch die Grünen! Das hätte sie nen! Heuchelei!) gerne! Eine grüne Zensur im Bundestag!) Als Nächstes hat der Kollege Christoph Bernstiel, Ich habe das Gefühl, das verstehen die gar nicht. CDU/CSU-Fraktion, das Wort. Das ist seine erste Rede. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN) Christoph Bernstiel (CDU/CSU): Meine Damen und Herren, das ist eine eiskalte Strategie. Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wer mit einem Brett vor dem Ich will Ihnen zum Schluss noch sagen: Wenn man Sie Kopf durch das Leben geht, braucht sich nicht zu wun- damit konfrontiert, dann legen Sie sich in die Furche und dern, wenn er über Steine stolpert. tun so, als wären Sie es nicht gewesen. Als man Sie da- mit konfrontiert hat, dass MdB Maier Noah Becker ras- Die heutige Aktuelle Stunde trägt den Titel „Demo- sistisch angegriffen hat oder MdB Müller das Gedenken kratie und Erinnerungskultur in Deutschland angesichts hier mit Frau Lasker Wallfsch und ihrer Schwester als rechtsextremistischer Angriffe“. Auslöser für die Debatte „heuchlerisch“ und „aufgesetzt“ bezeichnet hat, waren jedoch die jüngsten Äußerungen des AfD-Land- tagsabgeordneten Wolfgang Gedeon, der kürzlich das (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Nicht ihre Ein- Ende der äußerst erfolgreichen Stolperstein-Aktion for- lassungen! Sie verdrehen das völlig!) derte, da diese – Zitat – den Menschen eine „bestimmte Erinnerungskultur“ aufzwinge. haben Sie sich in die Furche gelegt und so getan, als wä- ren Sie es nicht gewesen. (Lachen bei Abgeordneten der AfD) Mit seiner Meinung befndet er sich in seiner Partei of- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: fensichtlich in bester Gesellschaft; Frau Kollegin, Ihr letzter Satz, bitte. (Jürgen Braun [AfD]: Nein!) 1304 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Christoph Bernstiel (A) denn bereits im letzten Jahr forderte Björn Höcke – ich immer auch an 40 Jahre SED-Diktatur, an über 200 000 (C) zitiere erneut – das Ende der lächerlichen Bewältigungs- politische Häftlinge der DDR sowie an die unzähligen politik. Das ist ein Zitat. Toten an der innerdeutschen Grenze. (Jürgen Braun [AfD]: Der Landesvorstand hat (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und das verurteilt! Nehmen Sie das zur Kenntnis! – der AfD) Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD]) Wer über Demokratie und Erinnerungskultur in Deutsch- Zu dieser Form der Bewältigungspolitik, werte Kollegin land spricht, der muss immer über zwei deutsche Dikta- von der AfD, gehört offensichtlich auch die Gedenkstun- turen sprechen. de im Deutschen Bundestag zur Erinnerung an die Be- freiung des Konzentrationslagers Ausschwitz durch die (Marian Wendt [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Rote-Armee-Fraktion, Eine Verkürzung auf den Rechtsextremismus wird die- (Lachen und Beifall bei Abgeordneten der ser Debatte im Übrigen auch nicht gerecht; denn laut den AfD) jüngsten Zahlen des Bundesamtes für Verfassungsschutz gab es im letzten Jahr mehr linksextreme als rechtsextre- durch die Rote Armee. – Hören Sie zu! Der Parlamentari- me Gewalttaten. sche Geschäftsführer der AfD-Fraktion Hansjörg Müller äußerte sich an diesem Dienstag in einem „Spiegel“-In- (Beifall bei Abgeordneten der AfD sowie des terview wie folgt – ich zitiere erneut –: Abg. Marian Wendt [CDU/CSU] – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bitte? – Zuruf Ich habe mit dieser Art Gedenken ein Problem, weil von der LINKEN: Es war genau umgekehrt! – es nicht aufrichtig ist, weil es aufgesetzt ist und weil Gegenruf des Abg. Marian Wendt [CDU/ es heuchlerisch ist. CSU]: Gewalttaten!) Das hören wir aus Ihrer Fraktion. – Gewalttaten. Lesen Sie es nach. – Es muss daher unser Meine Damen und Herren, mit solchen Äußerungen aller Ziel sein, gemeinsam gegen Hetze und jede Form zeigt die AfD, dass sie weder über ausreichend Erinne- von Extremismus zu kämpfen. rung noch über genügend Kultur verfügt, um an einer Die Bundesregierung unterstützt diesen Kampf mit ernsthaften Debatte über unsere Geschichte teilnehmen zahlreichen Programmen wie „Vielfalt tut gut“, „Tole- zu können. ranz fördern – Kompetenz stärken“ oder die „Initiative (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Demokratie stärken“. Für uns als CDU/CSU-Fraktion ist klar, dass solche Programme nicht dazu missbraucht (B) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (D) GRÜNEN) werden dürfen, um antidemokratische Gruppierungen zu fnanzieren. Aus diesem Grund haben wir 2011 die so- Man kann daher nur hoffen, dass diese Partei nach 2021 genannte Extremismusklausel eingeführt. Damit mussten selbst ein Teil der Erinnerungskultur sein wird. sich Personen und Organisationen zur freiheitlich-demo- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und kratischen Grundordnung bekennen und zusichern, dass der LINKEN – Dr. Alexander Gauland [AfD]: sie nicht mit antidemokratischen Kräften kooperieren – Das könnte Ihnen so passen! Das kann ich mir an sich eine Selbstverständlichkeit, aber offenbar nicht vorstellen!) für Ex-Familienministerin Schwesig; denn aufgrund ihrer Initiative wurde diese Klausel 2014 wieder abge- Wir als CDU/CSU-Fraktion verurteilen jede Form schafft. von Geschichtsverklärung, von Verharmlosung des po- litischen Extremismus. Der Umgang mit den Verbrechen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Nationalsozialismus ist eine Verantwortung, die wir der AfD) Parlamentarier gemeinsam tragen sollten. Ich kann daher Liebe Genossinnen und Genossen der SPD, ist die Unter- nicht verstehen, warum sich ausgerechnet die Kollegin- stützung von Linksextremisten wirklich so unverzichtbar nen und Kollegen der Linken kürzlich bei der Abstim- für Ihre politische Präventionsarbeit? mung über die Einsetzung des Antisemitismusbeauftrag- ten hier im Deutschen Bundestag enthalten haben. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Worum geht es hier eigentlich in (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das der Debatte? – Gegenruf des Abg. Marian haben wir doch klar gesagt!) Wendt [CDU/CSU]: Um Extremismus!) Sie hätten hier die Chance gehabt, ein überparteiliches Ich wünsche mir, dass künftige Debatten zur deut- Signal gegen Antisemitismus zu setzen. Aber die haben schen Erinnerungskultur weder ideologisch noch einsei- Sie nicht genutzt. Mit Ihrem Abstimmungsverhalten ha- tig verkürzt geführt werden; ben Sie gezeigt, dass Ihnen innerparteiliches Klein-Klein offenbar wichtiger ist, als gegen Antisemitismus vorzu- (Beifall bei der AfD sowie des Abg. Marian gehen. Wendt [CDU/CSU]) (Beifall bei der CDU/CSU) denn nur so kann man Geschichte authentisch vermitteln und Extremismus den Nährboden entziehen. Apropos Linkspartei: Als ostdeutscher Abgeordneter denkt man beim Thema Erinnerungskultur zwangsläufg (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1305

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Wir alle kennen diese großen und kleinen Beispiele des (C) Herzlichen Dank, Herr Kollege Bernstiel. – Selbst- aktiven Erinnerns; denn sie zeigen, dass wir nicht bereit verständlich ist jedem bei seiner ersten Parlamentsrede sind, einen Schlussstrich zu ziehen. Unter anderem dieser wegen der emotionalen Anspannung ein Versprecher er- Beispiele wegen hat unser Land wieder einen guten Ruf laubt, ohne dass Nachteiliges folgen sollte. in der Welt. Diese Beispiele zeigen, dass wir unsere Ge- schichte annehmen; denn wir haben keine andere. Als nächste Rednerin die Kollegin Susann Rüthrich von der SPD. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei der SPD) CDU/CSU) Wir können sie nicht ändern, aber unsere Zukunft schon. Susann Rüthrich (SPD): Die Debatte zur Extremismusklausel haben wir in der Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Abwehr dieser letzten Sitzungswoche geführt. Sie können ja noch ein- uns so tief prägenden Erinnerungskultur greift leider mal nachlesen, was die Argumente dagegen waren. um sich. Ich komme aus der Stadt, in der jahrelang der größte rechtsextreme Aufmarsch Europas vermeintlich Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und der Zerstörung der Stadt gedenken wollte. Vom „Bom- Kollegen! „Wir vermissen euch“, das sagte der Pfarrer ben-Holocaust“ war zynisch die Rede. Die Stadt wurde meiner Heimatstadt bei der Verlegung der Stolpersteine. als unschuldiges Opfer dargestellt. Das stimmt vielleicht Jugendliche haben sich mit dem Leben der Ermordeten für die getöteten Personen. Das eigene Land, die eigene beschäftigt: Es waren Kinder, es waren alte Leute, es wa- Stadt aber nur als Opfer darzustellen und zu verdrängen, ren Leute in der Mitte des Lebens, es waren Meißner, dass von hier der Vernichtungskrieg und der Holocaust Sachsen, Deutsche. Die Jugendlichen sehen: Sie waren ausgingen, ist das Gegenteil verantwortungsbewusster ein ganz normaler Teil unserer Gesellschaft, bis sie zu Erinnerungskultur. „anderen“ gemacht wurden. Deshalb wurde ihnen ihr Le- ben genommen. Die Enkel und Urenkel dieser Menschen (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem wären heute die Mitschüler unserer Kinder. Sie sind nicht BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) da. Wir vermissen euch! Und wen sehen wir da 2010 auf dem Versammlungs- Meine Kinder sahen die goldenen Steine im Boden platz in Dresden? Herrn Höcke, heute AfD. Kommt das und fragten: Was steht denn da? Ich habe es ihnen vor- vor, dass man ganz aus Versehen in eine Nazidemo gerät gelesen und erklärt. Danach wollten sie auch die anderen und mitbrüllt – als Geschichtslehrer? Bei Ihnen schon. Steine in der Stadt besuchen. „Penetranter Moralismus“, In diesem Jahr meldet ein verurteilter Volksverhetzer (B) so nennt das ein Mitglied der AfD. Ist das wirklich nur und Holocaustleugner eine Demonstration in Dresden (D) eine Einzelmeinung? Oder ist das schon Schuldkult, wie an. Und was macht der stellvertretende Vorsitzende der wir gerade gehört haben? AfD-Landtagsfraktion? Er postet eine Anzeige dieses Holocaustleugners auf seiner Facebook-Seite. Wieso Wir brauchen das Erinnern, damit das Ungeheuerli- bringen Sie sich selbst mit solchen Leuten in Verbindung, che, das so schleichend begann, nie wieder geschehen wenn Sie doch angeblich gar nichts mit denen zu tun ha- kann. ben? (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) GRÜNEN) Glücklicherweise gibt es bei uns eine ganz breite Palette Damit nicht genug. Beim Aschermittwoch der AfD des Erinnerns. Die jungen Leute der AG Geschichte vom in Sachsen werden unsere Nachbarn und Freunde aufs Treibhaus in Döbeln zum Beispiel tragen die Geschichte Übelste rassistisch beleidigt, zu „anderen“ gemacht; wir des jüdischen Lebens vor und in der Zeit des NS in dieser erinnern uns. Statt einer Entschuldigung höre ich aus Region Mittelsachsens zusammen. Mit einer App kann dem Mund desjenigen, man solle das doch mit ein biss- man durch die Stadt gehen und die entsprechenden Orte chen Humor nehmen. Rassismus ist aber niemals witzig. aufsuchen. In Pirna standen graue Busse als begehbares (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, Kunstwerk, um an die Tötung von Menschen mit Behin- der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE derungen auf dem Sonnenstein zu erinnern. Und mit der GRÜNEN) Aktion Sühnezeichen entsenden wir junge Menschen in die Welt. Ich unterstütze eine dieser Freiwilligen aus Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sprach von den Dresden. Sie ist derzeit in Chicago am Illinois Holocaust vielen Beispielen im Land, die uns heute daran erinnern, Museum aktiv. Sie berichtet von der beindruckenden wie es damals begann und wozu es führte. Diejenigen, Möglichkeit, sich mit Hologrammen von Überlebenden die heute wieder Nachbarn zu „anderen“ machen, sollten unterhalten zu können. Das ist ein Weg, um die Erinne- öfter einmal offenen Herzens und Denkens diese Projek- rung wachzuhalten, wenn die letzten Überlebenden lei- te miterleben. Vielleicht würde ihnen dann klar werden, der nicht mehr unter uns sein werden. warum die Abwertung anderer Menschen nie normal werden darf. Wenn ich mit meinen Kindern zur Menschenkette am 13. Februar in Dresden gehe, dann fragen sie: Hier war Wir jedenfalls werden, unter anderem mit dem Bun- einmal Krieg? Warum? Kann das wieder passieren? – desprogramm „Demokratie leben!“, die vielen Aktiven 1306 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

Susann Rüthrich (A) weiter stärken. Wir werden weiter künstlerische, krea- 2015 in der Stadt Arnsberg, ebenfalls in meinem Wahl- (C) tive, laute, leise, große und kleine Ansätze der aktiven kreis. Wieder nur ein Einzelfall? Erinnerungskultur unterstützen. (Marian Wendt [CDU/CSU]: Bedauerlicher Vielen Dank. Einzelfall!) Nein, das ist strukturell bei Ihnen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, GRÜNEN) der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Entweder kennen Sie Ihre Leute nicht, Vielen Dank, Frau Kollegin Rüthrich. – Als letzter (Jürgen Braun [AfD]: Wir kennen nicht Redner in der heutigen Aktuellen Stunde rufe ich Herrn 30 000!) Professor Patrick Sensburg auf. oder Sie sollten erkennen, dass Sie ein strukturelles Pro- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. blem mit der Rechtsradikalisierung der Themen haben [FDP]) und es absichtlich machen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen! An diesem Diens- Das Projekt Stolpersteine, das Gunter Demnig 1993 tag hat mich eine Besuchergruppe aus dem Hochsauer- ins Leben gerufen hat, ist ein Projekt mitten in der Be- landkreis besucht und mit mir diskutiert. Ohne dass sie völkerung, mit vielen, vielen Engagierten. Es geht um geahnt hat, dass wir heute eine Aktuelle Stunde zu die- die deutsche Historie, die Geschichte von uns allen. Es sem Thema haben, hat sie mir ein Buch aus Schmallen- macht Menschen persönlich, nimmt sie aus der Masse berg mitgebracht: „Stolpersteine“. Das war eine Gruppe heraus und macht sie zu Menschen mitten unter uns. von Bürgerinnen und Bürgern, die sich, wie sehr viele in Deutschland, mitten im gesellschaftlichen Leben für In dem Buch geht es um die Familie Max und ­Adele die deutsche Geschichte und das Thema Stolpersteine Frankenthal. Da heißt es: Im Schützenverein war er, engagieren, sich dazu einbringen und sehr viel machen, nämlich Max Frankenthal, 1910 der erste jüdische Vi- unterstützt übrigens lokal in Schmallenberg vom Heimat- zekönig. Auf dem Foto, das in dem Buch zu sehen ist, sehen Sie – wie im Sauerland bei Schützenfesten ty- (B) und Geschichtsverein Schmallenberg, vom Historischen (D) Verein, vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe und pisch –, dass sich die halbe Dorfgemeinschaft engagiert. vom Sauerländer Heimatbund, Bürgerinnen und Bürger Max Frankenthal wurde im Ersten Weltkrieg, wie auch mitten in unserer Gesellschaft. seine Brüder, als Soldat eingezogen und kehrte erst am 19. Dezember 1918 nach Hause zurück, auch er mit dem Es ist unverständlich und auch nicht nachvollziehbar, Tapferkeitsorden, dem Eisernen Kreuz, dekoriert. – Das warum einige dies immer wieder infrage stellen, aufösen sind Menschen mitten in unserer Gesellschaft, von denen wollen und Geschichte hier verschieben wollen. Sie – nicht nur in Einzelfällen – sagen, dass Sie ihnen die Würdigung und die Personalisierung nehmen wollen. (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Ach was! Da ha- ten der SPD – Jürgen Braun [AfD]: Das war ben wir doch gar nichts dagegen! Was reden einer! Nicht einige! – Gegenruf der Abg. Britta Sie denn da? – Jürgen Braun [AfD]: Unsinn! Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind doch für diese Leute!) Einige, von denen Sie sich nicht distanzieren!) Sie wollen das abschaffen. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich fnde, das ist eine Schande für dieses Haus. – Jetzt sagen Sie „einer“. – Herr Dr. Jongen, Sie haben eben gesagt – ich habe es mir aufgeschrieben –: Da hat (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, einer übersteuert. – Ich habe mehrmals dazwischenge- der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE rufen – das ist vielleicht nicht ganz höfich –: Ich hätte GRÜNEN) gerne gewusst, ob die AfD jetzt für Stolpersteine ist oder Als letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde habe ich dagegen. Darauf haben Sie nicht geantwortet. einen Wunsch. Ich glaube, Sie haben gemerkt, dass wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hier im Deutschen Bundestag keine Radikalisierung dul- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – den und keinen Extremismus tolerieren. [AfD]: Wir sind für Stolperstei- (Jürgen Braun [AfD]: Von den anderen Frak- ne! – Jürgen Braun [AfD]: Wir haben selber tionen da drüben schon!) gesagt, wir sind für Stolpersteine!) – Warten Sie doch ab, und hören Sie sich meinen Wunsch Sie haben gesagt: Da hat einer übersteuert. – Ich frage erst einmal an; vielleicht hilft es. – Ich wünsche mir, dass mich, wie es dann sein kann, dass in den kommunalen Sie in Ihrer Fraktion eine interne Debatte darüber füh- Parlamenten AfD-Mitglieder immer wieder die Beendi- ren, ob es wirklich richtig ist, dass, wie Sie sagen, ei- gung der Stolpersteinaktion fordern, wie beispielsweise nige wenige in extremistischen Jargon verfallen, diese Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. Februar 2018 1307

Dr. Patrick Sensburg (A) Dinge auspacken und Sie alle damit identifziert werden. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) Ich habe nämlich die Hoffnung, dass vielleicht auch bei Herzlichen Dank, Herr Professor Sensburg. – Damit Ihnen der eine oder andere vernünftig ist und nicht mit ist die Aktuelle Stunde beendet. rechtsradikalem oder rechtsextremem Gedankengut in Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. einen Topf geworfen werden will. Diesen Dialog wün- sche und gönne ich Ihnen in Ihrer Fraktion. Ich wünsche Ihnen allen ein frohes Wochenende zur Erholung und zum Gewinnen neuer Einsichten. Danke schön. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- tages auf Mittwoch, den 28. Februar 2018, 13 Uhr, ein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Die Sitzung ist geschlossen. NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Schluss: 14.42 Uhr)

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018 1309

(A) Anlagen zum Stenografschen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Altenkamp, Norbert CDU/CSU 23.02.2018 Lezius, Antje CDU/CSU 23.02.2018

Dağdelen, Sevim DIE LINKE 23.02.2018 Lutze, Thomas DIE LINKE 23.02.2018

Daldrup, Bernhard SPD 23.02.2018 Mattheis, Hilde SPD 23.02.2018

Ebner, Harald BÜNDNIS 90/ 23.02.2018 Merkel, Dr. Angela CDU/CSU 23.02.2018 DIE GRÜNEN Müller, Dr. Gerd CDU/CSU 23.02.2018 Esdar, Dr. Wiebke SPD 23.02.2018 Petry, Christian SPD 23.02.2018 Esken, Saskia SPD 23.02.2018 Pilger, Detlev SPD 23.02.2018 Frohnmaier, Markus AfD 23.02.2018 Poschmann, Sabine SPD 23.02.2018 Gebhart, Dr. Thomas CDU/CSU 23.02.2018 Post, Florian SPD 23.02.2018 Groß, Michael SPD 23.02.2018 Rosemann, Dr. Martin SPD 23.02.2018 Grötsch, Uli SPD 23.02.2018 (B) (D) Schmidtke, Dr. Claudia CDU/CSU 23.02.2018 Grundl, Erhard BÜNDNIS 90/ 23.02.2018 DIE GRÜNEN Schulz, Jimmy FDP 23.02.2018

Hampel, Armin-Paulus AfD 23.02.2018 Schulz, Martin SPD 23.02.2018

Hartmann, Sebastian SPD 23.02.2018 Solms, Dr. Hermann FDP 23.02.2018 Otto Hartmann, Verena AfD 23.02.2018 Tackmann, Dr. Kirsten DIE LINKE 23.02.2018 Held, Marcus SPD 23.02.2018 Tauber, Dr. Peter CDU/CSU 23.02.2018 Herrmann, Lars AfD 23.02.2018 Vaatz, Arnold CDU/CSU 23.02.2018 Kaczmarek, Oliver SPD 23.02.2018 Vogt, Ute SPD 23.02.2018 Kemmerich, Thomas L. FDP 23.02.2018 Vries, Kees de CDU/CSU 23.02.2018 Kindler, Sven-Christian BÜNDNIS 90/ 23.02.2018 DIE GRÜNEN Weidel, Dr. Alice AfD 23.02.2018

Kipping, Katja DIE LINKE 23.02.2018 Werner, Katrin DIE LINKE 23.02.2018

Kotting-Uhl, Sylvia BÜNDNIS 90/ 23.02.2018 Whittaker, Kai CDU/CSU 23.02.2018 DIE GRÜNEN Wiese, Dirk SPD 23.02.2018 Kühn (Tübingen), BÜNDNIS 90/ 23.02.2018 Christian DIE GRÜNEN Zimmermann, Pia DIE LINKE 23.02.2018

Lechte, Ulrich FDP 23.02.2018 Zypries, Brigitte SPD 23.02.2018 1310 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018

(A) Anlage 2 Nach Artikel 21 Absatz 3 Satz 1 des Grundgeset- (C) zes sind Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet sind, Der Bundesrat hat in seiner 964. Sitzung am 2. Febru- die freiheitliche demokratische Grundordnung zu ar 2018 den nachfolgenden Beschluss gefasst: beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, von A. Der Bundesrat beschließt, beim Bundesverfas- staatlicher Finanzierung ausgeschlossen. sungsgericht gemäß Artikel 21 Absatz 3 GG in Ver- bindung mit § 13 Nummer 2a, §§ 43 ff. BVerfGG Eine auf Beeinträchtigung oder Beseitigung der folgende Entscheidung zu beantragen: freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder auf die Gefährdung des Bestandes der Bundesre- 1. Die „Nationaldemokratische Partei Deutsch- publik Deutschland ausgerichtete Zielsetzung oder lands“ ist für sechs Jahre von der staatlichen ein diesbezügliches Verhalten der Anhänger sind Finanzierung nach § 18 PartG ausgeschlossen. die zentralen Tatbestandsvoraussetzungen für einen 2 . Der Ausschluss nach Nummer 1 erstreckt sich Ausschluss der Partei von der staatlichen Parteien- auch auf Ersatzparteien. fnanzierung. Dabei kommt es auf die Wahrschein- lichkeit eines Erfolges nicht an. B. Der Präsident des Bundesrates wird beauftragt, möglichst die beiden Prozessbevollmächtigten aus Die NPD erhält Leistungen aus der staatlichen Partei- dem vorangegangenen NPD-Verbotsverfahren mit enfnanzierung. So wurde zu deren Gunsten im Jahr Antragstellung, Begründung und Prozessführung, 2016 ein Betrag in Höhe von 1 137 520,67 Euro fest- jeweils in enger Abstimmung mit der bereits ein- gesetzt. Beispielsweise entfelen auf die NPD bei der gerichteten länderoffenen Arbeitsgruppe der IMK Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern (4. Sep- unter Vorsitz des jeweiligen Bundesratspräsident- tember 2016) 3,0 Prozent der Stimmen, woraus ein schaftslandes, zu betrauen Anspruch auf staatliche Teilfnanzierung folgt. C. Der Bundesratspräsident unterrichtet den Deutschen Allein der Umstand, dass die Partei bei der letzten Bundestag und die Bundesregierung nach Fertig- Bundestags- und einigen vorangegangenen Land- stellung der Antragsschrift. tagswahlen das nach § 18 Absatz 4 PartG jeweils nötige Quorum nicht erreicht hat, steht der Zuläs- D. Die Begründung des Antrages soll sich an folgenden sigkeit eines Antrags nach Artikel 21 Absatz 3 GG, Tatsachen und Wertungen orientieren: § 46a BVerfGG nicht entgegen. In seiner Entscheidung vom 17. Januar 2017 (2 BvB (B) Wird das jeweilige Quorum bei einer einzelnen (D) 1/13) hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, Wahl erreicht, hat die Partei einen Anspruch auf dass die Nationaldemokratische Partei Deutschlands staatliche Parteienfnanzierung. (NPD) die freiheitlich demokratische Grundordnung missachtet und verfassungsfeindliche Ziele verfolgt. Der Ausschluss von der staatlichen Parteienfnanzie- rung erfolgt für die Zukunft für die Dauer von sechs Sie vertritt ein auf die Beseitigung der bestehenden Jahren. Überdies entfällt bei einem Ausschluss von freiheitlichen demokratischen Grundordnung ge- der staatlichen Parteienfnanzierung auch die steuer- richtetes politisches Konzept. Sie will die bestehen- liche Begünstigung der Partei und von Zuwendun- de Verfassungsordnung durch einen an der ethnisch gen an die Partei. defnierten „Volksgemeinschaft“ ausgerichteten au- toritären Nationalstaat ersetzen. Ihr politisches Kon- Das Verfahren zum Ausschluss von der staatli- zept missachtet die Menschenwürde und ist mit dem chen Teilfnanzierung dient daher vorwiegend dem Demokratieprinzip unvereinbar. Sie arbeitet planvoll Zweck, zu verhindern, dass eine Partei, die die frei- und mit hinreichender Intensität auf die Erreichung heitlich demokratische Grundordnung missachtet, ihrer gegen die freiheitlich demokratische Grundord- mit Hilfe von Steuergeldern – gleichgültig in wel- nung gerichteten Ziele hin. Einzig aufgrund (derzeit) cher Höhe – von dem Staat unterstützt werden muss, fehlender Potentialität zur tatsächlichen Umsetzung dessen wesentliche Verfassungswerte sie ablehnt. ihrer Ziele hat das Bundesverfassungsgericht das Verbot der NPD nicht ausgesprochen. Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht die gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von Möglichkeit aufgezeigt, dass es dem Gesetzgeber einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen unbenommen bleibt, gegenüber Parteien, die ver- absehen: fassungsfeindliche Ziele verfolgen, gestufte Sank- Auswärtiger Ausschuss tionsmöglichkeiten zu eröffnen. Von dieser Mög- lichkeit hat der verfassungsändernde Gesetzgeber – Unterrichtung durch die Delegation des Deutschen durch das „Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes Bundestages in der Ostseeparlamentarierkonferenz (Artikel 21 Absatz 3)“ vom 13. Juli 2017 (BGBl. I 26. Jahrestagung der Ostseeparlamentarierkon- Seite 2346) und durch „Gesetz zum Ausschluss ver- ferenz vom 3. bis 5. September 2017 in Hamburg, fassungsfeindlicher Parteien von der Parteienfnan- Deutschland zierung“ vom 18. Juli 2017 (BGBl. I, Seite 2790) Gebrauch gemacht. Drucksachen 19/366, 19/491 Nr. 1.15 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 15 Sitzung Berlin, Freitag, den 23 Februar 2018 1311

(A) – Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Ausschuss für Wirtschaft und Energie (C) Parlamentarischen Versammlung der OSZE – Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregie- 25. Jahrestagung der Parlamentarischen Ver- rung sammlung der OSZE vom 1. bis 5. Juli 2016 in Tif- lis, Georgien Bericht über die Inanspruchnahme der Fördermit- tel aus dem ERP-Sondervermögen im Jahr 2016 Drucksachen 19/452, 19/607 Nr. 2 Drucksache 19/196 – Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Parlamentarischen Versammlung der OSZE – Unterrichtung durch die Bundesregierung 26. Jahrestagung der Parlamentarischen Versamm- lung der OSZE vom 5. bis 9. Juli 2017 in Minsk, Jahreswirtschaftsbericht 2018 der Bundesregie- Belarus rung Drucksachen 19/453, 19/607 Nr. 3 Drucksache 19/580

(B) (D)

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