Dienstag 2. Juni 2015 Magazin 23

Spritzfährtli Aufgefallen ohne Chlapf «So fühlt sich Liebe an» THEATER Mike Müller und POP Immer noch gewaltig und bombastisch: Das Album «How sich verlieben und entlieben und Man» über eine unmögliche Be- seine Kollegen bringen die A1 Big How Blue How Beautiful» von Florence + the Machine liefert versuchen, sich ausserhalb des ziehung, mal trotzig-rockig wie auf die Schauspielhaus-Bühne das, worauf Fans sehnsüchtig gewartet haben. Neu ist nur das Tourlebens zurechtzufinden.» bei «Queen of Peace», mal ver- in Zürich. Leider mit angezoge- Aussehen von Frontfrau . spielt wie bei «Third Eye». Zuver- ner Handbremse. Weit und blau und schön lässig wechseln dabei langsame Die grosse Kunst im Popbusiness fühlt sich für mich die Liebe an. Natürlich gehört ebenso zum Passagen mit schnelleren, ruhi- Warum sind Autofahrer Rüpel? ist ja nicht, gute Musik zu ma- Eine endlose Brass-Sektion, die Popmärchen, dass dieses Jahr gere mit kräftigeren, immer dar- «Die Velofahrer stammen von chen. Unverwechselbare Stim- dich mit in eine andere Sphäre schwierig war, aber viel Inspirati- auf bedacht, genug Abwechslung Herrenrittern ab. Die Autofahrer me, eingängige und eigenständi- nimmt», lässt sich die 28-jährige on lieferte. Tragische Liebe, mit zu bieten. dagegen von Fuhrleuten. Da wird ge Melodien, all das hilft. Aber es Britin im Pressetext ihrer Plat- viel Pathos angerichtet. Und alles So bleibt die junge Schöne mit geflucht, gespuckt, geprügelt.» reicht nicht. Es geht um eine ge- tenfirma zitieren. ausgehend von «How Big How der beeindruckenden Stimme Das Publikum lacht kurz, weiss schickte Vermarktung. Eine der Blue How Beautiful». Der Song trotz turbulenter Zeit die Alte. aber nicht recht, wie es das ety- erfolgreichsten Bands in diesem Zurück ins «normale Leben» entstand direkt nach der letzten Liefert die sehnsüchtigen Songs, mologische Autofahrerbashing Sinne sind Florence + the Machi- Womit wir bei der Vermarktung Tour. Der Himmel sei weit und auf die ihre Fans ebenso sehn- einschätzen soll. Dabei sind die ne. Deren drittes Album «How wären: Es ist das beste Album von blau und schön gewesen und alles süchtig gewartet haben. Wirklich Erwartungen hoch: Hintergrün- Big How Blue How Beautiful» Florence Welch. Ein Album, das schien möglich. Freiheitsgefühle. neu ist nur das Albumcover: Flo- dig, lustig und rasant wie eine klingt gewohnt gewaltig und nach einem Jahr Pause entstand. Aber dann ging doch einiges rence Welch sieht anders aus. Po- Fahrt mit 120 Stundenkilome- bombastisch. «Ich mag es gross», Die hatte Florence Welch bitter schief. Bruchlandungen, wie sie siert auf Schwarzweissbildern, tern soll es sein, wenn Mike Mül- betont Frontfrau Florence Welch nötig: Nach dem preisgekrönten in den Jahren zwischen 20 und die ihr Markenzeichen, die roten ler und seine Kollegen sich des bei jeder Gelegenheit. Beispiel Erstling «Lungs» (2009) folgten 30 üblich sind. Entsprechend Haare, verblassen lassen. Das Themas Autobahn annehmen. gefällig? Das Ausgeplänkel des ausgedehnte Tourneen, dann wechseln auf dem Album Hoch- wirkt nachdenklicher und zah- Und man findets grossartig, dass orchestralen Titelsongs dauert gleich Album Nummer zwei gefühle («Delilah») mit dem Ka- mer. Passend zum neuen Kapitel endlich jemand auf die Idee eineinhalb Minuten und besteht («») und Konzerte ter danach («Ship to Wreck») und des Popmärchens. Marina Bolzli kommt, die A1, dieses Symbol für aus hymnisch anmutenden vor immer grösserem Publikum. münden in Verzweiflung («Vari- Tempo und Wachstumseuphorie, Trompetenklängen, die sich ge- Die Pause im Jahr 2013 nutzte ous Storms & Saints»). Die Musik Florence + the Machine: «How TOM HARDY auf die Bühne zu fahren. genseitig aufschaukeln und gar Welch dafür, «wieder ein norma- bleibt dabei gross, mal peit- Big How Blue How Beautiful», nicht mehr aufhören wollen. «So les Leben» zu führen: «Ausgehen, schend wie bei «What Kind of Universal Ein guter Schauspieler? Das wäre Kopie der Realität eine glatte Untertreibung. Tom Wie das Spritzfährtli wird, ist für Hardy ist eine der wuchtigsten das Publikum im Schauspielhaus Kinoerscheinungen unserer Zeit Zürich zu Beginn offen. So offen und auf allen Leinwänden prä- wie der Vorhang, der den Blick auf sent. Als endzeitlichen Rächer die leere Bühne freigibt. Die wirkt sieht man den 37-jährigen Eng- schäbig. Schäbiger als die perfekte länder durch «Mad Max: Fury Spur der A1, schäbiger als die Road» brausen. In «The Drop» Raststätten, die man kennt. Die verkörpert er neben James Gan- Fahrt beginnt in St.Margrethen dolfini (in seiner letzten Rolle) und endet in Genf, mit Halt in den einen introvertierten Barkeeper. Fressbalken und bei Leuten ent- Und seine beste Leistung zeigte lang der A1. Das grösste Bauwerk der Schweiz verbindet die SchweizvonOstnachWest,essor- Tom Hardy ist eine ge für Kohäsion im Land, sagt ein Verkehrsplaner ab Leinwand – der wuchtigsten und erntet einige Lacher. Für La- Kinoerscheinungen cher sorgt auch Mike Müller, wenn er, der Oltner, im spitzen unserer Zeit. Ostschweizer Dialekt einen Grenzwächter mimt, der von den Hardy – nein, nicht als maskier- speziellen Einreisewilligen aus ter Bösewicht im Batman-Film Richtung Osten, von Waffenhan- «The Dark Knight Rises», son- del und Menschenschmuggel aus dern als gewissensgeplagter Bau- dem Balkan erzählt. leiter in «Locke». Da sieht man Was wie überspitzte Fiktion ihn 85 Minuten lang ausschliess- anmutet, entpuppt sich als Kopie lich Auto fahren und telefonie- der Realität. Denn Müllers Vor- ren. Die Spannung, die von Hardy bild erscheint auf der Leinwand, ausgeht, ist jedoch elektrisieren- wiederholt Sätze, die der Schau- der als die letzten fünf Tom- spieler an der Rampe eben dekla- Cruise-Filme zusammen. riert hat. Dieses Eins-zu-eins-Zi- Jetzt also «Child 44», eine tieren zieht sich durch das ganze Romanadaption von Tom Rob Stück. So können die drei Schau- Smith, und man muss sagen: Der spieler (Mike Müller, Michael Film von Daniel Espinoza ist ein Neuenschwander und Markus brutales Durcheinander. Tom Scheumann) Distanz, Ironie und Hardy spielt einen sowjetrussi- Verfremdung aufbauen und alle schen Staatssicherheitsbeamten, möglichen Themen mit unter- der während der Stalin-Ära re- schiedlichen Gesprächspartnern gimekritische Subjekte beschat- via Filmmaterial anpeilen. Dank tet. Eine Art Gewissen entwickelt einer Karte und einem Relief der dieser Leo erst, als er die eigene Schweiz wird das Publikum in- Gattin (Noomi Rapace) verhören formiert, wo gerade parkiert muss. Doch während Leo dies wird. Steinzeit-GPS sozusagen. tut, kommt er Verbrechen auf die Spur, die es im Sowjetstaat Zu lang, zu gleichmässig offiziell nicht geben darf: Ein Se- Die aktuellen Aufnahmen dage- Zurück nach turbulenten Zeiten: Florence Welch. zvg rienkiller stellt unschuldigen gen sind schwache Staffage. So Kindern nach. fühlt man sich als Zuschauerin «Child 44», kurz vor dem Kino- selten richtig auf der A1. Abgase, start in Russland verboten, ist Lärm, Temporausch, Stau: Dar- eine Orgie des Misstrauens, aber über wird nur geredet. Der Abend mehr noch ein Fall von Überam- ist mehr Podiumsdiskussion als Porträt einer eigenwilligen Frau bition. Die ersten Filmminuten Dokfilm und auch nicht ganz sind gespickt mit Zeitsprüngen, Theater. Schade. Denn Mike und BIOGRAFIE Einfühlsam por- Platz zu finden. «Es war keine gen. Trotzdem habe ihr Bernhard Bauernhaus voller Kunst und Ku- Erläuterungen und Zitaten. Und sein Bruder Tobi Müller haben trätiert Fredi Lerch die 86-jäh- Kunstwelt, sondern eine Künst- Luginbühl herablassend geraten, riosem. Den märchenhaften Park irgendwann geht es einem als die richtigen Themen recher- rige Berner Künstlerin Lilly lerwelt», wird sie im Buch zitiert. besser an den Webrahmen zu- mit hundert Bambusarten hat ihr Zuschauer wie bei den zahlrei- chiert. Aber die Interviews sind Keller auf ihrem Weg in einer Als Keller erstmals im Zürcher rückzukehren, erinnert sich Lilly langjähriger Ehemann geschaf- chen Schlägereien: Man ist viel zu lang, der Rhythmus zu gleich- männerdominierten Kunst- Helmhaus ausstellen konnte, tat Keller. Denn: Erste Erfolge hatte fen, der vor sieben Jahren ver- zu nahe dran, als dass man noch mässig: Man fährt wie mit ange- welt. Er lässt dabei eine grosse sie dies als Karl Maria Weber. sie mit leuchtend farbigen Tapis- storbene Künstler Toni Grieb. etwas erkennen könnte. zogener Handbremse über die Epoche der Berner Kulturszene Nach der Ausbildung an der serien gefeiert, die jedoch zu «ty- Nicht zuletzt aufgrund dieses Und Tom Hardy? Der ist, wenn Autobahn. Erst zum Schluss rast wieder aufleben. Kunstgewerbeschule Zürich ge- pischer Frauenkunst» herabge- Rückzugs blieb ihr wohl der gros- man ihn mal machen lässt, einer man. In den dunklen Tunnel. hörte die Tochter aus gutbürger- stuft wurden. Kaum zufällig se Durchbruch verwehrt. «Und der wenigen Lichtblicke in dieser Raucht die Handbremse? Oder Gut vierzigmal besuchte der Ber- lichem Haus zur Berner Boheme, wandte sie sich in den Achtziger- ich habe wohl zu oft einen Trottel Hetzjagd mit russischem Akzent. kollabiert die ganze Verkehr-Mo- ner Journalist und Autor Fredi die sich im Café Commerce traf. jahren härteren Materialien wie Trottel genannt», sagt Lilly Kel- Oder anders gesagt: Würde der bilität-Wachstum-Chose im fina- Lerch Lilly Keller in ihrem ver- Keller war befreundet mit Meret Glas, Metall oder Polyurethan zu. ler im Buch in ihrer typisch di- Mann in «Child 44» nicht wäh- len Chlapf? Nein, man lässt den wunschenen Haus auf dem Mont Oppenheim, und die Liste ihrer Ihre künstlerische Entwicklung rekten Art. rend 140 Minuten durch halb Wagen gemächlich ausrollen, Vully. Aus Tonaufnahmen ihrer Liebhaber, über die sie freimütig hat sie selber dokumentiert in Marie-Louise Zimmermann Russland gescheucht, sondern derweil ein Autoverkäufer er- stundenlangen Gespräche hat er berichtet, liest sich wie ein Who’s über siebzig unverkäuflichen Bü- einfach hinter einen Schreibtisch klärt, warum wir uns in unseren ein literarisches Porträt geschaf- who der damaligen Kunstpromi- chern aus Bild-Text-Collagen. Buch: Fredi Lerch: Lilly Keller, gesetzt, wäre mit Sicherheit ein mobilen Kapseln so wohl fühlen. fen, in dem die Künstlerin ausgie- nenz: Peter von Wattenwil, Fried- Immer spürt man darin einen literarisches Porträt. Ve- besserer Film herausgekommen. Sabine Altorfer big zu Wort kommt. rich Kuhn, Sam Francis, Daniel starken Bezug zur üppigen Natur xer-Verlag, 190 S. Hans Jürg Zinsli Beeindruckend ist Lilly Kellers Spörri, Jean Tinguely. Oft wird ihrer Umgebung. Ausstellung: 13.–15.6., Galerie «A1 – Ein Stück Schweizer beharrliche Konsequenz, exem- sie nur als deren Gefährtin ge- Seit fünfzig Jahren lebt und ar- Balzer, Basel. «Child 44»: Der Film läuft Strasse»: Schauspielhaus plarisch war die Schwierigkeit, nannt, obwohl ihre kühn abstrak- beitet Lilly Keller im Waadtlän- TV: «Sternstunde Kunst», 14.6., ab Donnerstag im Kino. Infos: Zürich, bis 25. Juni. als kreative junge Frau einen ten Gemälde von Begabung zeu- der Dorf Montet in einem alten 11.55h, SRF 1. www.kino.bernerzeitung.ch