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Die DDR-Vergangenheit Die Kampagne der CDU gegen Stanislaw Tillich

Manfred Wilke/Udo Baron

Das Superwahl- und Gedenkjahr 2009 tung bestreiten, sondern selbstkritisch hatte noch nicht einmal begonnen, da und selbstbewusst um die richtige Deu- gab es bereits aus Anlass ihres Bundes- tung von Geschichte ringen. Dazu gehört parteitages eine Kontroverse um die dop- die glasklare Zurückweisung der Tota- pelte Vergangenheit der CDU. So drohte litarismustheorie in Politik und Wissen- Gregor Gysi in der „Berliner Zeitung“ vom schaft. Dazu gehört auch das Kenntlich- 3. November 2008 mit Reaktionen der Lin- machen des Einverleibens der Blockflöten ken, sollte die CDU mit Blick auf die Erin- DDR-CDU und der Bauernpartei in die nerung an zwanzig Jahre friedliche Revo- CDU der Bundesrepublik – samt Ver- lution in der DDR eine Debatte über die mögen. Angebracht wäre auch die For- Diktaturgeschichte der deutschen Kom- derung, dass sich die Konservativen ein- munisten in der DDR und die Wurzeln sei- mal mit ihren ehemaligen Mitgliedern ner Partei in der SED anfangen. Globke, Oberländer – und wie sie alle hei- Ganz staatsmännisch erinnerte er die ßen – auseinandersetzen sollten.“ In die- CDU an ihren Weg zur gesamtdeutschen sen vier Sätzen verdeutlicht Korte, wo- Partei 1990: „Wer hat denn zwei Block- rauf die Linke 2009 die Schwerpunkte ih- parteien übernommen – die CDU der rer geschichtspolitischen Auseinander- DDR und die Bauernpartei, die SED für setzung legen wird: auf die „Blockflöten- die Landbevölkerung. Wo ist denn die Biografien“ von heutigen CDU-Politikern kritische Aufarbeitung dieses Prozesses? aus der DDR und die NS-Vergangenheit Mir wäre es lieber, wir würden die Ge- von Politikern der bürgerlichen Parteien, schichte sachlich und kritisch aufarbeiten vor allem von CDU und CSU aus der und sie nicht für blödes parteipolitisches alten Bundesrepublik. Vor allem soll sie Geplänkel nutzen. Ich befürchte aber, sich jedes Ansatzes eines Diktaturver- dass es auf Letzteres hinausläuft. Und gleichs zwischen dem Nationalsozialis- wenn die einen damit anfangen, dann mus und dem sowjetischen Kommunis- werden wir antworten.“ Doch die Linke mus widersetzen. ist nicht wirklich der Anwalt einer sach- lichen historischen Debatte, vielmehr Politischer Kampf setzt sie selbst in der Geschichtspolitik auf Ein erklärtes geschichtspolitisches Ziel Angriff. Anfang Oktober hat der nieder- der Linken ist es, 2009 vor allem die sächsische Bundestagsabgeordnete der Unionsparteien mit ihrer vermeintlich Linken, Jan Korte, diese geschichtspoliti- „dunklen“ Vergangenheit zu konfrontie- sche Konzeption im „Neuen Deutsch- ren. Bei den CDU-Politikern, die in der land“ skizziert und deren Stoßrichtung DDR sozialisiert wurden, zielen Gysi und vorgestellt. „Die Linke insgesamt sollte“, seine Kampagnenplaner auch noch auf so Kortes Forderung, „die kommenden die tief sitzenden Ängste aus der DDR vor Jahrestage 2009 nicht in geduckter Hal- der einstmals allmächtigen Staatspartei.

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Manfred Wilke/Udo Baron

Die Ängste von gestern sollen sich mi- sind nicht etwa historische Debatten, schen mit der heutigen Furcht dieser Po- sondern politischer Kampf, für den die litiker vor öffentlichen Skandalen, die Geschichte das Material liefert. In his- die eigene Person betreffen und sie zum torischen Debatten versuchen Historiker Schweigen veranlassen. Der Zweck die- kontrovers Sachverhalte einer Biogra- ses geschichtspolitischen Ansatzes ist of- fie zu klären, um das Handeln histori- fenkundig, die Verantwortung der SED scher Persönlichkeiten zu verstehen. Un- für die Diktatur soll verkleinert und die abdingbar ist in diesem Zusammenhang der von ihr ab 1950 geführten unselbst- die Einbeziehung der jeweiligen Zeitum- ständigen Blockparteien vergrößert wer- stände und der damaligen Wahrneh- den. Mit dieser Intention, die CDU im Os- mung der Außenwelt durch den han- ten mit ihrer DDR-Vergangenheit zu dis- delnden Akteur. Der historische Kontext, kreditieren, ist die Linke nicht allein, wie in dem die Person handelt, ist von aus- die Kampagne gegen den sächsischen Mi- schlaggebender Bedeutung. Dadurch sol- nisterpräsidenten zeigt. len Lebensentscheidungen nachvollzo- Die öffentliche Debatte um die Tä- gen und gewürdigt werden. Die politi- tigkeit von Stanislaw Tillich im Staats- sche Kampagne dagegen löst die Zielper- apparat der DDR wurde durch den säch- son aus ihrem historischen Umfeld und sischen SPD-Landtagsabgeordneten Karl isoliert ihre Tätigkeit. Sie will nicht ver- Nolle inszeniert, den der Mitteldeutsche stehen, sondern primär verurteilen. So Rundfunk (MDR) als „sächsischen Affä- ging Nolle vor, er wollte mit seinem An- renmacher“ bezeichnete. Nolle konzen- griff auf Tillich eine Affäre inszenieren. trierte sich auf die regionale Karriere des Ministerpräsidenten in den letzten Ost-West-Vergleich drei Jahren der DDR. 1989 war Tillich als Das Leben von Tillich in der DDR und CDU-Vertreter einer der fünf Stellvertre- das von Nolle in der Bundesrepublik eig- ter des Vorsitzenden des Rates des Krei- nen sich für eine deutsch-deutsche Ge- ses für Handel und Versorgung. schichtsstunde. Eine redliche Debatte Wie er mit diesen Jahren nach 1990 um- über die beiden unterschiedlichen Le- ging, dass er dem Besuch eines Lehrgangs benswelten, in denen diese beiden deut- an der vom Ministerrat der DDR unter- schen Politiker bis 1990 lebten, könnte haltenen Akademie für Staat und Recht ein wichtiger Beitrag zum Gedenkjahr 1989 nicht angab, daraus wollte Nolle ihm 2009 sein. Daran war aber Nolle erklärter- und der CDU einen Strick drehen. Offen maßen nicht interessiert. Die politische erklärte Nolle im November 2008, er habe Biografie von Tillich beginnt 1987. Zu die- ganz bewusst die vermeintlichen Lücken sem Zeitpunkt betrieb Nolle in Nieder- in Tillichs offiziellen Biografien zum jet- sachsen eine Druckerei, an der der spätere zigen Zeitpunkt in die Medien lanciert. Bundeskanzler Gerhard Schröder betei- „Ziel sei es gewesen, der CDU vor ihrem ligt war. Unter ihm war Nolle Mitte der Stuttgarter Bundesparteitag eine Debatte 1970er-Jahre stellvertretender Vorsitzen- über die Vergangenheit der ostdeutschen der der Jungsozialisten in Hannover. Landesverbände aufzuzwingen.“ Dem Das Schlüsseljahr für diesen biogra- MDR sagte er zufrieden, „und dass ist fischen Ost-West-Vergleich ist 1987. Um wohl gelungen“. Nolle wollte den politi- eine vergleichende Debatte zu führen, ist schen Gegner, mit dem seine Partei in es notwendig, die politische Wahrneh- Sachsen koaliert, diskreditieren. Sowohl mung der DDR durch den SPD-Abgeord- die Absicht der Linken als auch das Vor- neten einzubeziehen. Schließlich urteilt gehen des „sächsischen Affärenmachers“ Nolle aus einer anderen Lebenswelt über

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Die Kampagne gegen Stanislaw Tillich

die Entscheidungen von Tillich in der tatur geworden waren. Es ging um das DDR. Persönliche Äußerungen von Nolle Erinnern für die nun wieder gemein- sind hierzu nicht bekannt, wir müssen same Zukunft Deutschlands. Eine De- uns daher an die damalige Linie seiner batte über die Herrschaft der Kommunis- Partei halten. ten war für ihn unausweichlich, setzte 1987 trat Tillich in seiner Heimatstadt aber „Wahrhaftigkeit“ voraus. Mit Nach- der CDU bei, um als katholischer Christ druck mahnte er zum demokratischen den Eintritt in die SED zu vermeiden. Im Konsens in dieser historischen Debatte, in gleichen Jahr stattete der Generalsekre- der „es um das Unglück geht, das dem tär der SED, Erich Honecker, der Bun- anderen Teil Deutschlands widerfuhr, als desrepublik einen Staatsbesuch ab. Die wir miteinander die Nazi-Herrschaft hin- Grundwerte-Kommission der SPD und ter uns hatten. […] Es kann jetzt schon gar die Akademie für Gesellschaftswissen- nicht angehen, dass die Landsleute in den schaften beim Zentralkomitee der SED missverständlich so genannten neuen vereinbarten das Grundsatzpapier „Der Ländern alleingelassen werden, wo es da- Streit der Ideologien und die gemeinsame rum geht, das ihnen unter sowjetischer Sicherheit“. In ihm formulierte die SPD Herrschaft und kommunistischer Dikta- auch ihre Wahrnehmung der DDR. Sie ist tur auferlegte, bedrückende Kapitel deut- geeignet, um die biografische Debatte um scher Geschichte aufzuarbeiten und so or- die drei letzten Lebensjahre des sächsi- dentlich wie möglich hinter sich zu brin- schen Ministerpräsidenten in der DDR gen.“ Wichtig war für ihn vorrangig die auf deutsch-deutscher Augenhöhe zu „Aufdeckung und Aufklärung“ über führen. Strukturen und Methoden der SED-Dik- tatur. Es kam ihm darauf an, die unter- Demokratischer Konsens schiedliche „Verantwortung“ für die Eine solche vergleichende Debatte bedarf Diktatur historisch exakt festzuhalten. nachvollziehbarer Regeln. Zugleich forderte er mit Nachdruck: „Es hat dazu einen wichtigen Beitrag geleis- kann aber auch nicht darum gehen, tet, wie in der Diskussion über das Schuld dort abzuladen, wo sie nicht hin- Schicksal der Menschen in der SED- gehört.“ Das tat die Enquete-Kommission Diktatur zu verfahren ist. Kurz vor sei- auch und formulierte die Grundwahrheit nem Tod 1992 begrüßte er in seiner letz- über die politische Geschichte der DDR: ten Bundestagsrede die Einsetzung der der „totalitäre Machtanspruch der sow- Enquete-Kommission zur „Aufarbeitung jetischen und deutschen Kommunisten“ von Geschichte und Folgen der SED-Dik- war die „wesentliche Grundlage der über tatur in Deutschland“ durch das Parla- vierzigjährigen SED-Diktatur“. ment. Die Auseinandersetzung mit dem Der Altkanzler wollte keinen Schluss- SED-Erbe verstand er nach der Vereini- strich unter dieses Kapitel deutscher Ge- gung richtigerweise „als gesamtdeutsche schichte ziehen. Ihm ging es darum, über Aufgabe“. Im Interesse der Zukunft der die Diktatur, ihre Strukturen und Metho- deutschen Demokratie war es notwendig, den aufzuklären, um Wahrhaftigkeit und historisch klarzustellen, dass die zweite die genaue Verortung von Verantwort- Diktatur in Deutschland im zwanzigsten lichkeiten. Von den Westdeutschen ver- Jahrhundert von Anfang an illegitim war. langte er Empathie, zugleich sollte die Er- Die Kommission sollte für ihn aber auch innerung an diese überwundene Diktatur zu jener Aussöhnung unter den Deut- der Aussöhnung dienen, die Wahrhaftig- schen beitragen, die unter der Teilung ge- keit voraussetzt, um der Zukunft des ver- litten hatten oder gar Opfer dieser Dik- einten Deutschlands willens. Nolle dage-

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gen unternimmt das genaue Gegenteil. Er auf das humanistische Erbe Europas. versucht erkennbar, in seiner Kampagne Beide nehmen für sich in Anspruch, die- gegen den Ministerpräsidenten „Schuld ses Erbe weiterzutragen, den Interessen dort abzuladen, wo sie nicht hingehört“. der arbeitenden Menschen verpflichtet zu sein, die Demokratie und Menschen- Fixierung auf die SED rechte zu verwirklichen. Aber sie leben Der Ausgangspunkt des SPD-SED-Pa- seit sieben Jahrzehnten in bitterem Streit piers von 1987 war die Prämisse, dass die darüber, in welcher Weise dies zu gesche- Deutschen auf unabsehbare Zeit in einem hen hat.“ Um gemeinsam mit der SED geteilten Land und damit in zwei Staaten den europäischen Frieden zu sichern, war leben müssen. Viele Menschen in der Bun- die SPD bestrebt, Regeln für diesen Streit desrepublik, aber auch in der DDR sahen mit der SED zu vereinbaren, um trotz der das auch so. In dem Grundsatzpapier heißt bestehenden Differenzen mit ihr koope- es: „Beide Seiten müssen sich auf einen lan- rieren zu können. Nach dem für viele gen Zeitraum einrichten, während dessen sozialdemokratische Politiker unerwarte- sie nebeneinander bestehen und mitein- ten Ende der DDR 1990 gab es eine andere ander auskommen müssen. Keine Seite Lesart dieser Feststellung. Sie wies noch darf der anderen die Existenzberechti- den historischen Schönheitsfehler auf, gung absprechen. Unsere Hoffnung kann dass die Berliner SPD im Juni 1945 mit der sich nicht darauf richten, daß ein System KPD ein Aktionsbündnis geschlossen das andere abschafft. Sie richtet sich da- hatte, als sie ebenso wie die KPD von der rauf, daß beide Systeme reformfähig sind sowjetischen Besatzungsmacht zugelas- und der Wettbewerb der Systeme den sen wurde. Es war der erste Schritt dieser Willen zur Reform auf beiden Seiten Sozialdemokraten um Otto Grotewohl stärkt. Koexistenz und gemeinsame Si- auf dem Weg zur Sozialistischen Ein- cherheit gelten also ohne zeitliche Be- heitspartei Deutschlands in der sowjeti- grenzung.“ Die Sozialdemokraten gingen schen Besatzungszone 1946. Nach 1990 damals von einer dauerhaften Existenz pochten die sozialdemokratischen Mit- der DDR aus. Das war ein Triumph für die verfasser des SPD-SED-Papiers auf ihre SED. Realpolitisch hatte die SPD-Grund- guten Absichten, wollten sie doch den Re- werte-Kommission im Einverständnis mit formkommunisten in der SED eine Platt- dem Parteivorstand das Wiedervereini- form schaffen, um innerparteiliche Gor- gungsgebot des Grundgesetzes für obso- batschow-Anhänger zur DDR-Reform zu let erklärt. Das war aus Sicht der SED auch ermutigen. die Anerkennung ihrer diktatorischen Macht über „ihre Menschen“, eine durch- Westliche Illusionen aus ernst gemeinte Phrase in der Propa- Es war 1987 eine illusionäre Wahr- ganda der SED, wenn die Partei für die nehmung der politischen Verhältnisse in DDR sprach. der DDR durch die westdeutsche SPD, Es war gerade die Fixierung der SPD auf der sich diese Hoffnungen stützten. auf die SED, die das Problem in dieser Das SPD-SED-Grundsatzpapier über den Vereinbarung war. Viele Menschen in Streit der Ideologien musste damals zwei der DDR verstanden es so, dass die west- grundlegende Wahrheiten ausklammern, deutschen Sozialdemokraten die Dikta- wollte sich die SPD mit der SED auf ein turpartei der DDR als Partner endgültig gemeinsames Dokument einigen: akzeptiert hatten. Eine Aussage dieses Erstens: Die SED-Führung unter Hone- Papiers bezeugte dies: „Sozialdemokra- cker war zu Reformen nicht bereit, und sie ten und Kommunisten berufen sich beide wollte auch keine Debatte über die Zu-

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Die Kampagne gegen Stanislaw Tillich

stände in der DDR zulassen, die sie zu gen, weil die sowjetischen Truppen dies- verantworten hatte. Die Feindschaft zur mal in den Kasernen blieben. sowjetischen Reformpolitik von General- So weit zu den „Illusionen“ der west- sekretär Michail S. Gorbatschow war ein deutschen Sozialdemokraten über die offenes Geheimnis. Die DDR-Bürger nah- DDR 1987. Die Diskussion um diese Il- men es wahr, dass 1988 der Sputnik, lusionen verlangte schon 1992 Angela eine sowjetische Zeitschrift, verboten Merkel im Bundestag, und zwar im Zu- wurde, in der damals russische Historiker sammenhang mit der Einsetzung der über die Mitschuld von Stalin an Hitlers Enquete-Kommission. Vor dem Hinter- Machtergreifung diskutierten. Zweitens: grund ihrer Erfahrungen mit dem „realen Die SED wurde von der SPD als souve- Sozialismus in den Farben der DDR“ war räne Staatspartei der DDR behandelt. Das sie verwundert, „welche Illusionen man war eine Fiktion. Erst 1990 wurde das sich im Westen über die DDR machte. Protokoll des Gesprächs von Leonid I. Auch darüber müssen wir, so meine ich, Breschnew mit Honecker bekannt. In ihm diskutieren. Wie war es denn möglich, legte der Generalsekretär der KPdSU daß im Westen die sogenannten fort- gegenüber dem Nachfolger von Walter schrittlichen Gruppierungen den Dikta- Ulbricht an der Spitze der SED die Staats- turen im Osten einen Bonus einräumten, räson der DDR fest, an die Honecker den sich rechte Diktaturen in anderen gebunden blieb: „Wir haben doch Trup- Staaten nur erträumen konnten?“ Ein Bei- pen bei ihnen. Erich, ich sage dir offen, spiel von mehreren, das sie dann an- vergesse das nie: Die DDR kann ohne führte, betraf das Verhältnis des dama- uns, ohne die Sowjetunion, ihre Macht ligen Ministerpräsidenten von Nieder- und Stärke – nicht existieren. Ohne uns sachsen zum SED-Generalsekretär: „Hat gibt es keine DDR. Die Existenz der DDR man sich jemals gefragt, wie auf uns die entspricht unseren Interessen, den Inte- Aussagen des heutigen Ministerpräsi- ressen aller sozialistischen Staaten. Sie denten Schröder wirkten, daß Honecker‚ ist das Ergebnis unseres Sieges gegen- ein ,zutiefst redlicher Mann‘ war?“ Auch über Hitlerdeutschland.Deutschland gibt wenn im Nachhinein sich die Einschät- es nicht mehr, das ist gut so.“ (Proto- zung der DDR und ihrer Lebensdauer als kolle einer Unterredung zwischen L. I. illusionär erwies, 1987 war sie der Aus- Breschnew und Erich Honecker am 28. 7. gangspunkt für die Deutschlandpolitik 1970, in: Peter Przybyski: Tatort Politbüro. der Sozialdemokraten. Die Akte Honecker, Berlin 1991, Seite 281.) „Gelernte DDR-Bürger“ wie Tillich muss- Betrachtung des Kontextes ten dieses Parteigeheimnis der SED aus Die DDR schien somit 1987 als Staat un- dem Jahre 1970 nicht kennen, um die Re- gefährdet, in diesem Kontext müssen alität der DDR als sowjetischer Vasallen- aber auch die damaligen beruflichen Ent- staat tief verinnerlicht zu haben. Un- scheidungen von Tillich in der DDR ein- vergessen war die Präsenz sowjetischer geordnet werden. Sie war seine Lebens- Truppen am 17. Juni 1953 und am 13. Au- welt, in der er seine beruflichen Entschei- gust 1961, auch 1987 waren diese Trup- dungen treffen musste. Weil er keine pen in der DDR allgegenwärtig. Zumal Verantwortung in der SED übernehmen jeder interessierte DDR-Bürger wusste, wollte, trat er in die CDU ein, von der er dass die SED auf diese Armee zählte, soll- wusste, ihr hauptamtlicher Apparat wird ten sich einmal „polnische Ereignisse“ in von der Abteilung „befreundete Par- der DDR abspielen. Die friedliche Revo- teien“ in der SED gesteuert. Das galt auch lution in der DDR 1989 konnte nur gelin- für Kamenz, wo diese Aufgabe die SED-

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Kreisleitung wahrnahm. Aber für ihn als nale Verwaltungskarriere des Diplom- katholischer Christ war die CDU in dem Ingenieurs zu erheben. geschlossenen Land namens DDR das Der Staatsapparat der DDR lässt sich kleinere Übel. Da er seinen Wehrdienst nicht allein auf seine Sicherheitsorgane re- in den Grenztruppen abgeleistet hatte, duzieren, er war auch für die Daseinsvor- kannte er diese Grenze, an der immer sorge zuständig. Die Frage der Versorgung noch Menschen starben, wenn sie ver- war in der DDR von Anbeginn eines der suchten zu fliehen. Heimatverbunden Schlüsselprobleme des Alltags für die Bür- wie er war, wollte er trotzdem bleiben. ger und die SED. In vielen Bereichen der Der Aufstieg des Diplom-Ingenieurs in Güter des täglichen Bedarfs überwand die die untere Ebene des DDR-Staatsappara- DDR niemals ihre Mangelwirtschaft. Alle tes wurde erst durch die CDU-Mitglied- Menschen in der Bundesrepublik, die Ver- schaft möglich. Der Stadtrat für Versor- wandte oder Freunde in der DDR hatten, gungen in Kamenz und die letzten Funk- wussten um die dortigen Vorsorgungs- tionen des für Versorgung zuständigen engpässe. Die „Päckchen nach drüben“ mit Stellvertreters des Vorsitzenden des Krei- Kaffee und Schokolade gehörten in vielen ses standen der CDU im Rahmen der Na- Familien zum Alltag. Die von SED, FDGB tionalen Front zu. Diese Ämterverteilung oder FDJ empfangenen Delegationen aus galt im Prinzip seit der sowjetischen Be- dem Westen erlebten dagegen diese Ver- satzungszeit. Für diese Positionen durfte sorgungsmängel in der Regel nicht. Sie die CDU die Kandidaten benennen, aber wurden in Gästehäusern untergebracht, sie hatte nicht das letzte Wort. die sie vor den Versorgungsproblemen der Die SED herrschte durch zentrale Per- normalen DDR-Bürger bewarten. sonalsteuerung. Nach sowjetischem Vor- Diese Aspekte verdeutlichen auch den bild waren in der Nomenklatur, die sich entscheidenden Unterschied zwischen in drei Ebenen gliederte, alle Führungs- den Biografien von Nolle und Tillich. positionen verzeichnet, die nicht ohne Während Nolle als Bundesbürger schon „Bestätigung“ durch die SED besetzt wer- vor 1989 Politik machte und sich mit sei- den durften. Als Tillich zum Stellvertreter ner Partei auf die herrschenden Kreise in des Vorsitzenden des Rates des Kreises der DDR als Partner orientierte, hat Til- 1988 ernannt wurde, war lich für sich diesen Weg ausgeschlagen. erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Er mied die SED, verzichtete auf eine Kar- , und sein Apparat hatte die- riere und ging den Weg in die Nische. se Ernennung „bestätigt“. Für den An- Statt große Politik in oder mit der SED zu gestellten der Kreisverwaltung von Ka- betreiben, kümmerte er sich vielmehr auf menz als Mitglied der „befreundeten Par- kommunaler beziehungsweise regionaler teien“, wie die SED die anderen Blockpar- Ebene in seiner Heimat um die Versor- teien titulierte, gab es selbstverständlich gung der dortigen Bevölkerung. Sicher- auch ein Gutachten des Ministeriums für lich keine unehrenhafte Beschäftigung in Staatssicherheit (MfS). Es liegt heute vor der DDR. Für Tillich besteht daher heute und hält fest, dass gegen Tillich aus Sicht keine Veranlassung, sich ausgerechnet der „Organe“ nichts vorlag. Er führte das von einem westdeutschen Vertreter der unpolitische Leben eines Angehörigen der Partei, die bis zuletzt mehrheitlich auf die technischen Intelligenz. SED und die deutsche Zweistaatlichkeit Die Partei hatte also keinen Grund, ihr gesetzt hat, seine Vergangenheit vorhal- Veto gegen diese kommunale und regio- ten zu lassen.

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