BULLETIN 2016

ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK

Herausgeber: Christian Nünlist und Oliver Thränert Serienherausgeber: Andreas Wenger Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich

CSS ETH Zurich Das Bulletin und andere Publikationen des Center for Security Studies (CSS) können über http://www.css.ethz.ch bestellt werden und sind dort auch im Volltext verfügbar.

Herausgeber Bulletin 2016: Christian Nünlist und Oliver Thränert Serienherausgeber Bulletin: Andreas Wenger Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich

© 2016 ETH Zürich Center for Security Studies (CSS) Haldeneggsteig 4, IFW CH-8092 Zürich E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und fotomechanische Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich.

Die im «Bulletin zur schweizerischen Sicherheitspolitik» wiedergegebenen­ Auffassungen stellen ausschliesslich die Ansichten der betreffenden Autorinnen und Autoren dar.

Layout: Miriam Dahinden-Ganzoni Lektorat: Benno Zogg Foto auf Seite 137: IKRK

ISSN 1024-0608 ISBN 978-3-905696-56-1 BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort 5 Avant-propos 11

AKTUELLE DISKUSSION Aufwertung der sicherheitspolitischen Beiträge der Schweizer Aussenpolitik 19 Von Andreas Wenger und Christian Nünlist Das Schweizer Engagement in Bosnien: Langfristigkeit unter Druck 49 Von Matthias Bieri Vom Landjäger zum modernen Ordnungshüter: Die Polizeiausbildung in der Schweiz 71 Von Lisa Wildi und Jonas Hagmann Schweizer Sicherheitspolitik in der Praxis: Eine empirische Momentaufnahme 99 Von Jonas Hagmann, Andreas Wenger, Lisa Wildi, Stephan Davidshofer und Amal Tawfik

INTERVIEW «Wir sind in der Logik der Verhinderung des Schlimmsten» 137 Peter Maurer, Präsident des IKRK

AUS DEM CSS Forschungs- und Beratungsleistungen für die Armee im Bereich Cyberdefense 153 Von Myriam Dunn Cavelty und Andreas Wenger Kooperation mit dem Labor : Risiken aus der Konvergenz von Biologie und Chemie 157 Von Claudia Otto

Kurzangaben zu den Autorinnen und Autoren 163

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK

VORWORT

«Die multilaterale Zusammenarbeit ist auch im sicherheitspolitischen Bereich unter Druck geraten.» (Bundesrat, 24.8.2016)1

Die Schweiz ist ein führender Wissenschafts- und Forschungsstandort und gehört weltweit zu den Spitzenreitern in Sachen Wirtschaftskraft, Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit, Infrastruktur, Rechtssicherheit, politische Stabilität, Lebensstandard, internationale Vernetzung und Offenheit sowie Image. Die «Soft Power» der Schweiz ist also beachtlich. Damit gehen jedoch auch Erwartungen einher. Die internationale Ge- meinschaft erwartet, dass sich die Schweiz aktiv und lösungsorientiert einbringt.2 In der Tat pflegt die Schweiz eine aktive, solidarische und kooperative Aussen- und Sicherheitspolitik. Gleichzeitig wollen aber über 95 Prozent der Schweizer Bevölkerung an der immerwährenden Neutralität festhalten.3 Wertemässig fest im Westen verankert, hindert die Neutralität die Schweiz aber nicht daran, immer wieder Nischen für nützliche Gute Dienste zu finden. Somit kann die Schweiz als Nichtmit- glied von EU und Nato ihre eigenständige Aussen- und Sicherheitspo- litik verfolgen. Seit dem Ende des Kalten Krieges wurden die Ziele der Schweizer Politik zudem an das neue Zeitalter angepasst und im Jahr 2000 in der neuen Bundesverfassung verankert. Die Schweizer Aussen- politik ist seither verpflichtet, Armut und Not in der Welt zu lindern, Menschenrechte zu achten, Demokratie zu fördern, sich für ein fried- liches Zusammenleben der Völker einzusetzen und die natürlichen Le- bensgrundlagen zu erhalten.4

1 Bundesrat, Sicherheitspolitischer Bericht 2016, 24.8.2016, 65. 2 Bundesrat, Aussenpolitische Strategie 2016 – 2019, 17.2.2016, 2. 3 Tibor Szvircsev Tresch et al., Sicherheit 2016: Aussen-, sicherheits- und verteidigungspolitische Meinungsbildung im Trend (Zürich: ETH Zürich, 2016), 132. 4 Christian Nünlist, «Umdenken der neutralen Schweiz», in: Josef Braml et al. (Hrsg.), Aussenpolitik mit Autokratien (Berlin: De Gruyter, 2014), 246 – 255.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 6 VORWORT

Heute ist es selbstverständlich, dass sich die Schweiz in multilate- ralen Gremien wie der UNO oder der OSZE an Lösungen für die glo- balen Herausforderungen unserer Zeit beteiligt. Weil die Schweiz keine koloniale Vergangenheit hat, keine versteckte Agenda verfolgt und als überdurchschnittlich globalisiertes Land überall auf der Welt präsent ist, verfügt sie über eine über Jahrzehnte etablierte Glaubwürdigkeit als unparteiische Förderin von Dialog und Frieden. In einer wieder stärker fragmentierten und polarisierten Welt ist der Bedarf nach Schweizer Brückenbau zwischen Konfliktparteien gewachsen.5 2016 markiert einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg der Schweiz zu einer modernen, eigenständigen Aussen- und Sicherheits- politik mit starkem Fokus auf ziviler Friedensförderung. Der Bundes- rat legte gleich zwei wichtige Grundsatzdokumente vor, nämlich den Sicherheitspolitischen Bericht 2016 (SIPOL B 16), die erste Aktu- alisierung dieses Dokuments seit Juni 2010, sowie die Aussenpoli- tische Strategie 2016 – 2019, welche ihr Vorgängerpapier von 2012 überschrieb.

Das erste Bulletin-Kapitel widmet sich vor diesem Hintergrund der Ent- wicklung der Aussensicherheitspolitik der Schweiz. Andreas Wenger und Christian Nünlist reflektieren die Aufwertung der sicherheitspoliti- schen Beiträge der Schweizer Aussenpolitik. Sie argumentieren, dass in der derzeitigen globalen Umbruchsphase der Handlungsspielraum der Schweizer Aussenpolitik, nützliche Beiträge zu Frieden und Sicherheit zu leisten, insgesamt grösser geworden ist. Die pragmatischen und ei- genständigen aussensicherheitspolitischen Beiträge der Schweiz entspre- chen dabei den traditionellen Werten der Schweiz und dem Selbstver- ständnis ihrer Bevölkerung und sind damit bürgernah und weitgehend unkontrovers. Die Autoren plädieren für eine Aufwertung dieser soge- nannt «ausgreifenden Komponente» der Schweizer Sicherheitspolitik, die in Ansätzen bereits vor über 40 Jahren im ersten sicherheitspoliti- schen Strategiepapier der Schweiz, dem «Bericht 73», angelegt war. Sie formulieren drei Leitgedanken für strategische Prioritäten der künftigen

5 «Das Comeback der Schweiz als Vermittlerin: Der zweite Frühling der Guten Dienste», in: Neue Zürcher Zeitung, 28.1.2014.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK VORWORT 7

Schweizer Aussensicherheitspolitik und präsentieren fünf Prinzipien für eine konkrete Umsetzung in die Praxis.

Das zweite Kapitel analysiert die Aktivitäten der Schweiz in Bos- nien, wo die Schweiz vor 20 Jahren, 1996, ihr bis heute andauerndes Nachkriegsengagement im Westbalkan aufnahm. Die Entsendung von Schweizer OSZE-Gelbmützen im Sommer 1996 war ein wichti- ger Meilenstein bezüglich Auslandsengagements der Schweizer Armee. Ab 1999 stand die schweizerische Präsenz in Bosnien stets im Schatten der Bemühungen in Kosovo. Das 20-jährige Engagement der Schweiz in Bosnien ist aber ein Anschauungsbeispiel dafür, wie sich die Bedin- gungen für die Hilfe vor Ort über eine längere Zeit entwickeln und auf welche langfristigen Herausforderungen die Schweizer Auslandshilfe vorbereitet sein muss. Bosnien bleibt als potenzieller Krisenherd in Eu- ropa wichtig. Die Schweizer Friedensförderung und Entwicklungszu- sammenarbeit sollten deshalb in Bosnien engagiert bleiben, fordert Mat- thias Bieri in seinem Beitrag.

In einem Grundlagenbeitrag analysieren Lisa Wildi und Jonas Hag- mann die bisher kaum untersuchte Aus- und Weiterbildung der Poli- zei in der Schweiz. In jüngerer Vergangenheit wurden Bildungsstätten für die Polizeiausbildung neu geschaffen oder fusioniert, ein nationaler Rahmenlehrplan wurde erstellt und der Berufsabschluss «Polizist/Poli- zistin» wurde erstmals eidgenössisch anerkannt. Die Schweizer Polizei- ausbildung wurde damit, wie der Beitrag im Detail nachzeichnet, har- monisiert und professionalisiert, wobei gewisse regionale Unterschiede und bildungspolitische Herausforderungen weiterhin bestehen.

Im vierten Hauptbeitrag werden erstmals die Resultate eines mehrjäh- rigen, vom Schweizer Nationalfonds geförderten Forschungsprojekts (2013 – 2016) zur praktischen sicherheitspolitischen Arbeit in der Schweiz vorgestellt, das von Forschern des Center for Security Stu- dies (CSS) und des Departements für Politikwissenschaft und Inter- nationale Beziehungen der Universität Genf durchgeführt wurde. Das Autorenkollektiv um Jonas Hagmann, Andreas Wenger, Lisa Wildi, Stephan Davidshofer und Amal Tawfik kartierte die Entwicklung des gesamtschweizerischen Sicherheitsbereichs aufgrund einer Befragung

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 8 VORWORT von knapp 600 leitenden Praktikern aus allen relevanten Staatssekre- tariaten, Ämtern, Direktionen, Abteilungen und Korps. Die erhobe- nen Umfrageergebnisse erlauben eine differenzierte und praxisorien- tierte Sicht auf den Wandel der Schweizer Sicherheitspolitik seit Ende des Kalten Krieges. Der vorliegende Beitrag zeigt: 1) wie sehr sich der Bedrohungsfokus der landesweiten Sicherheitssystems von der militä- rischen Abschreckung und territorialen Abwehr hin zu einem aktiven Risikomanagement verschiedener grenzüberschreitender Bedrohungen und Gefahren verschoben hat; 2) wie heute zunehmend zahlreiche eid- genössische und kantonale Akteuren sowohl miteinander als auch mit ausgewählten ausländischen Partnern kooperieren; 3) wie sich die ge- leistete landesweite Sicherheitsarbeit nunmehr auf fünf unterschiedliche Berufsgruppierungen mit speziellen Bildungshintergründen und profes- sionellen Werdegängen abstützt.6

Als Präsident des IKRK kennt Peter Maurer die gegenwärtigen Kriege und Konflikte aus erster Hand. Im Interview spricht er über die Urbani- sierung moderner Kriege und die Auswirkungen dieses Trends auf die humanitäre Arbeit des IKRK. Durch die Verletzlichkeit der urbanen In- frastrukturen sterben Zivilisten etwa in langandauernden Kriegen wie in Syrien, auch weil die Elektrizitäts- und Wasserversorgung von Spi- tälern ausfällt. Maurer betont aber auch Fortschritte, die das IKRK in den letzten Jahren erreicht hat. So wurden Streitkräfte für humanitäre Belange sensibilisiert. Sie ändern daher teilweise ihre Kriegsführung entsprechend und warnen etwa die Zivilbevölkerung vor Luftangriffen. Aus seinen vielen Gesprächen in Syrien schöpft der frühere Schweizer Spitzendiplomat Hoffnung: «Es braucht eine kritische Masse Akteure, die zum Schluss kommen müssen, dass die militärische Lösung zu teuer ist und daher über längere Frist nicht ihren Interessen entspricht.» Im Interview bedauert Maurer auch die grosse begriffliche Konfusion um Flüchtlinge, Migranten und intern Vertriebene in den öffentlichen Dis- kussionen um die «Flüchtlingskrise» in Europa. Er weist darauf hin, dass der grösste Teil der durch Gewalt und Flucht vertriebenen Men-

6 Stephan Davidshofer / Jonas Hagmann / Amal Tawfik, Bound to Cooperate? Mapping Swiss Security in a Changing Global Landscape, SNF-Projekt 143818, Projektübersicht Andreas Wenger / Simon Hug, 2013 – 2016, http://p3.snf.ch/Project-143818.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK VORWORT 9

schen bei Verwandten im eigenen Land oder bei Bekannten in ärmeren Ländern mit schwächeren Infrastrukturen als in Europa leben.

Wie üblich werden auch in diesem Bulletin wieder zwei Projekte aus dem CSS kurz vorgestellt. Das CSS hat seine Forschungs- und Be- ratungsdienstleistungen im Bereich Cyberdefense für die Schweizer Armee intensiviert. Die jüngsten Cyberattacken haben gezeigt, dass auch die Schweiz nicht vor immer professioneller durchgeführten und gravierenderen Vorfällen gefeit ist. Auch wenn die Schweiz seit 2012 eine nationale Cyberstrategie kennt, stellt sich die Frage, welche stra- tegischen Entscheide in Bezug auf Verteidigungskonzepte, aber auch auf Angriffsmöglichkeiten in Kriegszeiten gefällt und welche Kapazi- täten aufgebaut werden sollen, und wie die Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen und der Wirtschaft und Zivilgesellschaft struktu- riert werden soll. Aufgrund der langjährigen Expertise des CSS haben die Schweizer Armee und das CSS vor kurzem eine vierjährige Zusam- menarbeit im Bereich der Cyberverteidigung vereinbart. Das CSS wird dazu Analysen und Berichte verfassen, Seminare und Arbeitstagungen organisieren sowie die breite Öffentlichkeit über die gewonnenen Er- kenntnisse über die CSS-Website informieren. Vorgestellt wird zudem ein Kooperationsprojekt des CSS mit dem Labor Spiez, dem international renommierten nationalen Zentrum für ABC-Schutz in der Schweiz. Drei Elemente wurden für die Zusammen- arbeit vereinbart. Erstens beteiligt sich das CSS an der Vorbereitung und Durchführung der Konferenzreihe «Spiez Convergence», die erstmals (bereits mit Unterstützung des CSS) im Jahr 2014 stattfand. Interna- tionale Vertreter aus Wissenschaft, Industrie, Rüstungskontrolle und Sicherheitspolitik identifizieren in diesem innovativen Format aktuelle Entwicklungen in den Bio- und Chemiewissenschaften, welche künftig relevant für die Biologie- und Chemiewaffenverbote sein könnten und daher weiterer Diskussion und Analysen bedürfen. Zweitens soll zur Unterstützung des UNO-Generalsekretärs der Aufbau eines Netzwer- kes ausgewiesener Laboratorien für die Analytik einer mutmasslichen Verwendung von biologischen Waffen vorangetrieben werden. Drittens sind Sensibilisierungsaktivitäten zugunsten Schweizer Forschenden be- züglich der Möglichkeiten des militärischen Missbrauchs ihrer friedli- chen Forschungen geplant.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK Wir danken allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge. Ein herz- liches Dankeschön geht auch an Benno Zogg für sein sorgfältiges Lek- torat sowie an Miriam Dahinden-Ganzoni für das gewohnt professio- nelle Layouten. Wir freuen uns über Ihr Interesse am Bulletin 2016 und wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

Christian Nünlist und Oliver Thränert Zürich, im Oktober 2016 11

AVANT-PROPOS

«La coopération multilatérale est également sous pression dans le domaine de la politique de sécurité.» (Conseil fédéral, 24.08.2016)1

La Suisse est un site scientifique et de recherche de premier plan et se classe, à l’échelle mondiale, parmi les leaders en termes de force écono- mique, de capacité d’innovation, de compétitivité, d’infrastructure, de sécurité juridique, de stabilité politique, de niveau de vie, de réseau in- ternational, d’ouverture ainsi que d’image de marque. Le «Soft power» de la Suisse est donc considérable. Il n’y a donc rien d’étonnant à ce que les attentes aillent de pair avec cette réputation. La communauté inter- nationale attend de la Suisse qu’elle s’investisse activement et affiche une attitude axée sur la solution de problèmes.2 En effet, la Suisse cultive une politique étrangère et de sécurité active, solidaire et basée sur la coopéra- tion. Dans le même temps toutefois, plus de 95 pour cent de la popula- tion suisse souhaite rester fidèle à la neutralité perpétuelle.3 Fermement attachée à l’Occident sur le plan des valeurs, la neutralité n’empêche tou- tefois pas la Suisse de régulièrement déceler des créneaux lui permettant alors de fournir des services de bons offices. Ainsi, la Suisse, en sa qua- lité de non-membre de l’UE et de l’OTAN, est en mesure de poursuivre sa propre politique étrangère et de sécurité. Depuis la fin de la Guerre froide, les objectifs de la politique Suisse ont en outre été modernisés pour être ancrés, en l’an 2000, dans la nouvelle Constitution fédérale. Depuis lors, la politique étrangère suisse est tenue d’aider les populations dans le besoin et de lutter contre la pauvreté, de respecter les droits de

1 Conseil fédéral, Rapport sur la politique de sécurité 2016, 24.8.2016, 65 2 Conseil fédéral, Stratégie de politique étrangère 2016 – 2019, 17.2.2016, 2. 3 Tibor Szvircsev Tresch et al., Sicherheit 2016: Aussen-, sicherheits- und verteidigungspolitische Meinungsbildung im Trend (Zürich: ETH Zürich, 2016), 132.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 12 AVANT-PROPOS

l’homme, de promouvoir la démocratie, de soutenir la coexistence paci- fique des peuples et de préserver les ressources naturelles.4 Il va aujourd’hui sans dire que la Suisse participe à la recherche de solutions aux défis mondiaux de notre époque au sein de commissions multilatérales comme l’ONU ou l’OSCE. Dépourvue de passé colonial et d’intentions cachées, la Suisse affiche, avec sa globalisation supérieure à la moyenne, une forte présence mondiale et dispose ainsi de crédibilité dans son rôle de facilitatrice impartiale du dialogue et de la paix. Dans un monde où fragmentation et polarisation reprennent du terrain, le be- soin d’établir des ponts entre différentes parties belligérantes s’est accroît. C’est là que la Suisse entre en jeu.5 L’année 2016 marque une étape décisive dans la voie de la Suisse vers une politique étrangère et de sécurité moderne et autonome, largement axée sur la promotion civile de la paix. Le Conseil fédéral a présenté non un, mais deux grands documents stratégiques, à savoir le Rapport sur la politique de sécurité 2016 (RAPOLSEC 2016), la première version remaniée de ce document depuis juin 2010, ainsi que la Stratégie de politique étrangère 2016 – 2019 qui remplace son prédécesseur de 2012.

Dans ce contexte, le premier chapitre de ce bulletin se penche sur l’évo- lution de la dimension sécuritaire de la politique étrangère suisse. Andreas Wenger et Christian Nünlist passent en revue la revalorisation des contributions relevant de la politique de sécurité au sein de la poli- tique étrangère suisse. Ils argumentent que, dans les temps de boulever- sements globaux que nous vivons à l’heure actuelle, la Suisse dispose, en termes de politique étrangère, d’une marge de manœuvre généralement plus large en matière de contribution utile à la paix et à la sécurité. Les contributions suisses de politique étrangère et de sécurité, pragmatiques et autonomes, reflètent ainsi les valeurs traditionnelles de la Suisse et l’identité de sa population; elles sont donc proches du citoyen et large- ment exemptes de toute controverse. Les auteurs plaident pour une re- valorisation des composantes dites «dynamiques» de la politique de sé-

4 Christian Nünlist, «Umdenken der neutralen Schweiz», dans: Josef Braml et al. (ed.), Aussenpolitik mit Autokratien (Berlin: De Gruyter, 2014), 246 – 255. 5 «Das Comeback der Schweiz als Vermittlerin: Der zweite Frühling der Guten Dienste», dans: Neue Zürcher Zeitung, 28.1.2014.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK AVANT-PROPOS 13 curité suisse dont les bases ont d’ores et déjà été établies, voilà plus de 40 ans, dans le premier rapport stratégique de la Suisse sur la politique de sécurité, le «Rapport 73». Ils formulent trois idées directrices quant aux priorités stratégiques que devra revêtir la dimension sécuritaire de la politique étrangère suisse dans le future en présentant cinq principes concrets de mise en œuvre pratique.

Le second chapitre analyse les activités de la Suisse en Bosnie où la Suisse a débuté, voilà vingt ans de cela, en 1996, son engagement d’après-guerre dans les Balkans occidentaux, engagement qui dure en- core aujourd’hui. Le détachement de bérets jaunes suisses de l’OSCE durant l’été 1996 a constitué une étape importante en termes d’engage- ment de l’armée suisse à l’étranger. A partir de 1999, les efforts au Ko- sovo ont continuellement éclipsé la présence suisse en Bosnie. Pourtant, cet engagement de la Suisse en Bosnie pendant vingt ans est un exemple de la manière dont les conditions d’aide sur place évoluent sur une longue période de temps et des défis à long terme auquel l’aide suisse à l’étran- ger doit être préparée à faire face. La Bosnie demeure une poudrière po- tentielle et reste donc importante en Europe. Par conséquent, Matthias Bieri revendique dans son article que la Suisse continue de s’investir en Bosnie en matière de promotion civile de la paix et de coopération au développement.

Lisa Wildi et Jonas Hagmann analysent dans un texte de fond un sujet jusqu’ici plutôt orphelin: la formation et le perfectionnement profes- sionnels de la police en Suisse. On a récemment assisté à la création et à la fusion de centres de formation de police, à l’établissement d’un programme-cadre national et à la reconnaissance par la Confédération, pour la première fois, du diplôme professionnel de «policier/policière». La formation policière suisse a ainsi été, comme l’article le présente en détails, harmonisée et professionnalisée, tout en conservant certaines différences régionales et défis liés à la politique de formation.

La quatrième contribution présente pour la première fois les résul- tats d’un projet de recherche mené sur plusieurs années (2013 – 2016) et financé par le Fonds national suisse, qui porte sur le travail pra- tique de politique de sécurité en Suisse. Ce projet a été réalisé par des

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 14 AVANT-PROPOS

chercheurs du Center for Security Studies (CSS) et du département de sciences politiques et de relations internationales de l’université de Genève.6 Le collectif d’auteurs rassemblé autour de Jonas Hagmann, Andreas Wenger, Lisa Wildi, Stephan Davidshofer et Amal Tawfik a cartographié l’évolution du domaine sécuritaire sur toute la Suisse en se basant sur un sondage effectué auprès de près de 600 praticiens-cadres issus de tous les secrétariats d’Etat, offices, directions, services et corps pertinents. Les résultats du sondage ainsi obtenus permettent d’établir un aperçu différentié et axé sur la pratique qui reflète l’évolution de la politique de sécurité suisse depuis la fin de la Guerre froide: ainsi, l’ar- ticle en question montre 1) à quel point l’axe de la menace du système de sécurité de tout le pays s’est décalé de la dissuasion militaire et de la défense territoriale vers une gestion active des risques de divers menaces et dangers transfrontaliers; 2) de quelle manière aujourd’hui, un nombre croissant d’acteurs, d’ores et déjà nombreux, fédéraux comme cantonaux, coopèrent autant entre eux qu’avec une sélection de partenaires étran- gers; 3) la manière dont le travail de sécurité effectué dans tout le pays repose désormais sur cinq professions différentes, fortes de parcours de formation spécifiques et de carrières professionnelles.

En sa qualité de président du CICR, Peter Maurer est bien placé pour connaître les guerres et conflits actuels. Dans une interview, il parte de l’urbanisation des guerres modernes et des conséquences de cette tendance sur le travail humanitaire du CICR. La vulnérabilité des in- frastructures urbaines entraîne le décès de civils durant, par exemple, des guerres de longue haleine comme en Syrie, entre autres parce que l’ali- mentation des hôpitaux en eau et en électricité est interrompue. Mais P. Maurer souligne également les progrès effectués par le CICR ces dernières années. Ainsi, une sensibilisation humanitaire des forces ar- mées a eu lieu. En conséquence, elles modifient en partie leurs modes opératoires et avertissent par exemple la population civile avant une at- taque aérienne. Les nombreux entretiens que l’ancien diplomate suisse a mené en Syrie lui donnent de l’espoir: «Une masse critique d’acteurs

6 Stephan Davidshofer / Jonas Hagmann / Amal Tawfik, Bound to cooperate? Mapping Swiss Security in a Changing Global Landscape, SNF-Projekt 143818, Projektübersicht Andreas Wenger / Simon Hug, 2013 – 2016, http://p3.snf.ch/Project-143818.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK AVANT-PROPOS 15 devraient conclure qu’une solution militaire serait trop coûteuse et que, par conséquent, cela ne correspondrait donc pas à leurs intérêts à long terme.» Dans l’interview, P. Maurer regrette également l’immense amal- game terminologique fait entre réfugiés, migrants et déplacés internes au sein des discussions publiques qui tournent autour de la «crise des réfugiés» en Europe. Il attire l’attention sur le fait qu’une grande partie des personnes déplacées suite à la violence et à la fuite vivent soit chez des parents dans leur propre pays soit chez des amis dans des pays dotés d’infrastructures plus faibles qu’en Europe.

Comme à l’accoutumée, deux projets du CSS font également l’objet d’une brève présentation dans ce bulletin. Le CSS a intensifié sesser - vices de recherche et de conseil dans le domaine de la cyberdéfense pour l’armée suisse. Les cyberattaques les plus récentes ont montré que la Suisse n’est, elle non plus, pas à l’abri de graves attaques menées par des professionnels. Même si la Suisse dispose d’une cyberstratégie na- tionale depuis 2012, des questions se posent quant aux décisions straté- giques à prendre en matière de concept de défense, mais aussi quant aux possibilités offensives en période de guerre, quant aux capacités devant être établies et quant à la manière de structurer la coopération entre les services étatiques, l’économie et la société civile. Sur la base du large savoir-faire du CSS, l’armée suisse et le CSS sont récemment convenus d’une coopération dans le domaine de la cyberdéfense qui s’étendra sur quatre années. Dans ce cadre, le CSS rédigera des analyses et des rap- ports, organisera des séminaires et des ateliers et se chargera d’informer le grand public des résultats obtenus, via le site Internet du CSS. Le second projet présenté est celui d’une coopération du CSS avec le Laboratoire Spiez, le centre national suisse de protection NBC, fort d’une renommée internationale. Dans le cadre de la coopération, il a été convenu de trois éléments. Premièrement, le CSS participe à la prépa- ration et à la réalisation de la série de conférences «Spiez Convergence» qui s’est tenue pour la première fois en 2014 (d’ores et déjà avec la par- ticipation du CSS). Des représentants internationaux en provenance de divers domaines tels que les sciences, l’industrie, le contrôle de l’arme- ment et la politique de sécurité identifient, au sein de ce format innovant, les développements actuels issus des sciences biologiques et chimiques susceptibles de se révéler pertinents à l’avenir dans le cadre des interdic-

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK tions d’armes biologiques et chimiques et qui, par conséquent, requièrent de plus amples discussions et analyses. Deuxièmement, faire progresser la création d’un réseau regroupant des laboratoires désignés qui seraient alors chargés des analyses en cas d’utilisation présumée d’armes biolo- giques afin de soutenir le secrétaire général de l’ONU.Troisièmement, des activités de sensibilisation sont prévues, en faveur des chercheurs suisses quant aux possibilités d’abus militaire de leurs recherches pacifiques.

Nous remercions toutes les autrices et tous les auteurs de leurs contribu- tions. Nous adressons également nos chaleureux remerciements à Benno Zogg pour sa relecture minutieuse ainsi que Miriam Dahinden-Gan- zoni pour une mise en page très professionnelle, comme à l’accoutumée. Nous nous réjouissons de l’intérêt que vous portez au Bulletin 2016 et vous souhaitons bonne lecture.

Christian Nünlist et Oliver Thränert Zurich, octobre 2016 AKTUELLE DISKUSSION

AUFWERTUNG DER SICHERHEITSPOLITISCHEN BEITRÄGE DER SCHWEIZER AUSSENPOLITIK

Von Andreas Wenger und Christian Nünlist*

Die Aussensicherheitspolitik war lange Zeit ein vernachlässigtes Stiefkind der Schweizer Sicherheitspolitik. Die Beiträge einer aktiven Aussenpolitik für Frieden und Sicherheit im Umfeld der Schweiz haben zuletzt eine spür- bare Aufwertung erfahren, weil sich sowohl äussere als auch innere Rah- menbedingungen markant verändert haben. Die internationale Nachfrage nach pragmatischen und eigenständigen Beiträgen der Schweiz mit ihrem besonderen Profil und ihren jahrzehntelangen Erfahrungen in ziviler Frie- densförderung ist in der derzeitigen von Umbruch und Fragmentierung ge- prägten Welt gestiegen. Eine Aufwertung der sicherheitspolitischen Beiträge der Aussenpolitik ist im Interesse der Schweiz. Welche strategischen Priori- täten soll die Schweiz dabei verfolgen? Welche Prinzipien gilt es bei ihrer Umsetzung zu beachten?

EINLEITUNG In Kontext der sicherheitspolitischen Debatte der letzten Jahre ist die Rolle der Aussensicherheitspolitik – die so genannte «ausgreifende Kom- ponente» der Sicherheitspolitik mit einer aktiven, im internationalen Umfeld wirkenden Aussenpolitik – nur sehr knapp zur Sprache gekom- men. Dies ist bemerkenswert, hat doch die Bedeutung der Aussenpolitik für die Sicherheit der Schweiz durch die Globalisierung und anhaltende Krisen und Gewaltkonflikte zuletzt zugenommen. Die mangelnde kon- zeptuelle und operationelle Verzahnung der Aussen- und der Sicher- heitspolitik ist zumindest teilweise auf Bruchlinien zwischen dem De- partement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) und dem Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) zurückzu- führen, die sich bei der Erarbeitung des Sicherheitspolitischen Berichts

* Die Autoren danken Lukas Meyer-Daetsch und Benno Zogg für die sorgfältige Durch- sicht des Manuskripts.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 20 AKTUELLE DISKUSSION

2010 (SIPOL B 2010) manifestiert hatten. In der Folge verschob sich der Bezugsrahmen der Sicherheitspolitik des Bundes auf die Zusammenar- beit im Bereich der inneren Sicherheit und damit auf das Zusammen- wirken der sicherheitspolizeilichen Mittel der Kantone mit den sicher- heitspolitischen Instrumenten des Bundes.1 Der soeben erschienene Sicherheitspolitische Bericht 2016 (SIPOL B 2016) bietet vor diesem Hintergrund den Anlass, über die sicher- heitspolitischen Beiträge der Aussenpolitik vertieft nachzudenken. Im Vergleich zum Vorgängerbericht von 2010 funktionierte der Konsulta- tions- und Kooperationsprozess der relevanten Departemente des Bun- des sowie verschiedener Vertreter der Kantone im Entstehungsprozess des SIPOL B 2016 insgesamt gut. Entsprechend bietet der Bericht eine umfassende Aufarbeitung der Entwicklungen im globalen und regiona- len Umfeld der Schweiz der letzten sechs Jahre und der damit verbun- denen für die Schweiz relevanten sicherheitspolitischen Bedrohungen und Gefahren. Darüber hinaus offeriert er erstmals eine integrale Dar- stellung der konkreten Beiträge der sicherheitspolitischen Instrumente mit Blick auf die Prävention, Bewältigung und Abwehr dieser Bedro- hungen und Gefahren.2 Was er jedoch nicht zu leisten vermag, ist eine systematische Klärung und Priorisierung der strategischen Beiträge der Aussenpolitik zu Frieden und Sicherheit. Diesbezüglich griffiger fällt die Aussenpolitische Strategie des EDA für die Jahre 2016 – 2019 aus, welche die umfassende Umfeld- und Bedrohungsanalyse des SIPOL B 2016 um strategische Prioritäten im Bereich Frieden und Sicherheit ergänzt.3 Zusammen genommen bilden diese zwei Berichte den politi- schen Rahmen für die folgenden Ausführungen. Eine Aufwertung der Beiträge der Aussenpolitik zu Frieden und Si- cherheit drängt sich auf, weil sich sowohl die äusseren als auch die inne-

1 Andreas Wenger et al., «Sicherheitspolitischer Bericht 2010: Viel Politik, wenig Strate- gie», in: Bulletin zur schweizerischen Sicherheitspolitik (2010), 9 – 26; Andreas Wenger / Da- niel Möckli, «Zur Erarbeitung des neuen sicherheitspolitischen Berichts», in: Bulletin zur schweizerischen Sicherheitspolitik (2009), 9 – 33. 2 Bundesrat, Bericht über die Sicherheitspolitik der Schweiz, 24.8.2016. Vgl. Bruno Lezzi, «Wenig griffige Strategie», in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 30.12.2015; «Ein Auge auf Putin und den IS», in: NZZ, 25.8.2016. 3 Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), Aussenpolitische Strategie 2016 – 2019, 17.2.2016. Vgl. Didier Burkhalter, Welche Aussenpolitik wollen wir für unser Land?, Rede an der ETH Zürich, 27.4.2016.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK AUFWERTUNG DER SICHERHEITSPOLITISCHEN BEITRÄGE DER SCHWEIZER AUSSENPOLITIK 21

ren Rahmenbedingungen der ausgreifenden Komponente der Schweizer Sicherheitspolitik markant verändert haben. Die internationale Sicher- heitsordnung befindet sich in einer Umbruchphase, in der sich die Handlungsspielräume für Beiträge auch mittlerer und kleiner Staaten zur Krisen- und Konfliktbearbeitung sowie zur Mitgestaltung globaler Sicherheitsnormen insgesamt vergrössert haben, auch wenn gleichzei- tig ein Trend zu einer Renaissance einer Grossmächtepolitik in Ad-hoc- Formaten feststellbar ist.4 Die bestehenden multilateralen Institutionen und Regeln und Normen gerieten im letzten Jahrzehnt zunehmend un- ter Anpassungsdruck. Der grenzüberschreitende und langfristige Cha- rakter der aktuellen Sicherheitsherausforderungen erfordert kooperative und präventive Steuerung und Lösungsstrategien. Die Notwendigkeit gemeinsamer pragmatischer Anstrengungen erhöht den aussensicher- heitspolitischen Handlungsspielraum gerade auch für unabhängige Ak- teure wie die Schweiz. Der notwendige innenpolitische Gestaltungswille der Schweiz wiederum entspringt der Erkenntnis, dass es im Eigeninteresse eines stark vernetzten und globalisierten Landes ist, einen eigenständigen und sichtbaren Beitrag zu Frieden und Sicherheit in Es ist im Eigeninteresse der Europa und der Welt zu Schweiz, einen eigenständigen leisten. Sowohl die Wert- und sichtbaren Beitrag zu schöpfung einer stark vom Frieden und Sicherheit in Europa Aussenhandel abhängen- und der Welt zu leisten. den Wirtschaft als auch die soziale Kohäsion einer kulturell durchmischten Gesellschaft sind eng verbunden mit der Stabilität der internationalen Ordnung. Eine global dicht vernetzte Schweiz braucht Erwartungssicherheit in Bezug auf die geltenden Regeln und Normen, an denen sich die grenzüberschreiten- den funktionalen Systeme orientieren. Dass Sicherheit nicht mehr im selben Ausmass an geografische Nähe und staatliche Souveränität ge- bunden ist wie noch vor 25 Jahren, erlaubt der Schweiz pragmatische und eigenständige aussensicherheitspolitische Beiträge, die den Wer- ten der Schweiz und dem Selbstverständnis ihrer Bevölkerung entspre-

4 Vgl. dazu die Ausgaben des CSS-Jahrbuchs Strategic Trends von 2015 und 2016.

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chen.5 Dabei stützt sich eine nachhaltige Aussensicherheitspolitik auf die Stärken der politischen Institutionen, die gesellschaftliche und kul- turelle Vielfalt sowie auf das wissenschaftliche, industrielle und zivil- gesellschaftliche Potential der Schweiz. Weder soll es im Folgenden darum gehen, die Beiträge der Schweiz zu Sicherheit und Frieden vollständig abzubilden, noch diese hinsicht- lich ihrer Effektivität und Effizienz zu evaluieren. Dies ist zwar wichtig sowohl mit Blick auf die innenpolitische Diskussion als auch mit Blick auf ihre internationale Wirksamkeit. Das Ziel dieses Kapitels ist indes bescheidener: Es will den konzeptuellen Rahmen für die Weiterent- wicklung der ausgreifenden Komponente der Schweizer Sicherheitspo- litik abstecken und damit einen Einblick in die Komplexität und Viel- schichtigkeit aktueller Sicherheitsarbeit in der Aussensicherheitspolitik geben.6 Drei Leitfragen stehen im Zentrum der Analyse: Warum ist heute eine Aufwertung der sicherheitspolitischen Beiträge der Aussenpolitik im Inte- resse der Schweiz? In einem ersten Teil soll bezugnehmend auf die Ana- lyse des vorherrschenden ordnungspolitischen Umfeldes und den Cha- rakter der sicherheitspolitischen Bedrohungen aufgezeigt werden, wie sich die ausgreifende Komponente der Schweizer Sicherheitspolitik seit den 1970er-Jahren in Konzeption und Praxis entwickelte. Im Kalten Krieg waren sowohl der Handlungsspielraum für ein Engagement eines neutralen Kleinstaates als auch der diesbezügliche Gestaltungswille der Schweiz sehr beschränkt. Heute hingegen haben sich sowohl der Hand- lungsspielraum als auch der Gestaltungswille der Schweiz in diesem Po- litikfeld markant erweitert. Ein zweiter Teil geht der folgenden Frage nach: Welche strategischen Prioritäten soll die Schweiz ins Zentrum ihrer aussensicherheitspolitischen Beiträge stellen? Der Artikel argumentiert, dass eine Ausdifferenzierung der sicherheitspolitischen Beiträge der Aussenpolitik für eine umfas- sende und vernetzte Sicherheitspolitik entlang von drei konzeptionellen Leitgedanken im Interesse der Schweiz ist : 1) Prävention und Stabili-

5 Andreas Wenger, «Sicherheitspolitik», in: Peter Knoepfel et al. (Hrsg.) Handbuch der Schweizer Politik, 5. Aufl. (Zürich: NZZ, 2014), 645 – 669. 6 Vgl. dazu auch den Beitrag «Schweizer Sicherheitspolitik im Wandel» von Jonas Hag- mann et al. in diesem Bulletin.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK AUFWERTUNG DER SICHERHEITSPOLITISCHEN BEITRÄGE DER SCHWEIZER AUSSENPOLITIK 23 sierung von Krisen und Konflikten; 2) Mitgestaltung globaler Sicher- heitsnormen zugunsten resilienter politischer, wirtschaftlicher und ge- sellschaftlicher Systeme; 3) flexible Interessenvertretung im Rahmen eines effektiven Multi- und Minilateralismus. Im Zentrum des dritten Teils steht die Frage: Welche Prinzipien gilt es bei der konkreten Umsetzung dieser strategischen Prioritäten zu beachten? Hier geht es um die Orientierung der Beiträge an Schweizer Werten, eine vorausschauende Weiterentwicklung der traditionellen Konzepte des Po- litikfeldes, die Frage einer über Departemente und Staatsebenen kohä- renten Politikformulierung sowie um die Berücksichtigung der Beiträge von Wissenschaft und Industrie zur Weiterentwicklung des Politikfeldes.

1 DIE AUSGREIFENDE KOMPONENTE DER SICHERHEITSPOLITIK Die ausgreifende Komponente der Schweizer Sicherheitspolitik wurde im Sicherheitspolitischen Bericht 1973 (SIPOL B 73) konzeptuell veran- kert. Das allererste umfassende Strategiepapier der Schweiz formulierte eine Zweikomponentenstrategie: Eine neu konzipierte, nach aussen ak- tive ausgreifende aussenpolitische Komponente ergänzte die traditionelle bewahrende und defensive, armeelastige Komponente der Schweizer Si- cherheitspolitik. Die Abschreckung und Abwehr militärischer Hand- lungen gegen die Schweiz sollte neu ergänzt werden durch einen aktiven aussenpolitischen Beitrag zur Gestaltung und Sicherung eines dauer- haften Friedens in Europa.7 Der Übergang zu einer Zweikomponenten- strategie reflektierte den einsetzenden Entspannungsprozess zwischen den zwei Blöcken des Kalten Krieges, wie er unter anderem auch im Harmel-Bericht der Nato von 1967 zum Ausdruck gekommen war. In einer Welt zunehmender Interdependenz, so die im Westen um sich greifende Einsicht, mussten Abschreckung und Verteidigung um An- strengungen im Bereich der Krisenbewältigung und Friedenssicherung ergänzt werden.8

7 Bundesrat, Bericht über die Sicherheitspolitik der Schweiz (SIPOL B 73), 27.6.1973; Kurt R. Spillmann et al., Schweizer Sicherheitspolitik seit 1945: Zwischen Autonomie und Kooperation (Zürich: NZZ, 2001). 8 Andreas Wenger, «Crisis and Opportunity: NATO’s Transformation and the Multilatera- lization of Détente, 1966 – 1968», in: Journal of Cold War Studies 6, Nr. 1 (2004), 22 – 74.

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Gleichwohl erweiterte sich das aussensicherheitspolitische Enga- gement der Schweiz im Kalten Krieg nur begrenzt; zu sehr verblieb das Konzept der Sicherheitspolitik in der Praxis primär Landesvertei- digung- und Militärpolitik.9 Die Bedeutung der ausgreifenden Kom- ponente der Sicherheitspolitik gewann erst nach dem Ende des Kalten Krieges schrittweise an Bedeutung. Einerseits erweiterten sich die für die Schweiz relevanten sicherheitspolitischen Herausforderungen sowohl in inhaltlicher als auch in geografischer Hinsicht markant. Gemäss der Logik, dass den neuen Gefahren besser frühzeitig und in Kooperation mit gleichgesinnten internationalen Kräften begegnet werden sollte, ver- stärkte sich der nach aussen zielende sicherheitspolitische Gestaltungs- wille des Landes. Andererseits vergrösserte sich aufgrund der sich wan- delnden internationalen Sicherheitsordnung auch für Kleinstaaten der Handlungsspielraum im Bereich der internationalen Friedensförderung. Damit verbunden waren allerdings innenpolitisch umstrittene Positio- nierungsfragen im Spannungsfeld zwischen Integration in die sich er- weiternden und vertiefenden multilateralen Sicherheitsstrukturen (EU, Nato) respektive Kooperation mit eigenständigen Beiträgen als Brücken- bauer mit vielfältigen regionalen und globalen Partnern.10

1.1 KALTER KRIEG: BESCHRÄNKTER GESTALTUNGSWILLE – BESCHRÄNKTER HANDLUNGSSPIELRAUM Während des Kalten Krieges waren die internationalen Beziehungen durch einen tief greifenden bipolaren Antagonismus zwischen Ost- und Westblock gekennzeichnet, der durch starke ideologische, macht- und gesellschaftspolitische Spannungen geprägt war. In sicherheits- und machtpolitischen Fragen dominierten die Supermächte (USA, Sow- jetunion) und die Militärallianzen (Nato, Warschaupakt) die inter- nationale Politik. In diesem strategischen Kontext sahen Schweizer Entscheidungsträger nur sehr beschränkte sicherheitspolitische Hand- lungsspielräume für Kleinstaaten wie die Schweiz. Innenpolitisch domi- nierte zunächst die Sichtweise, dass die Sicherheit des Landes am besten durch eine strikte Neutralitätspolitik – wie sie 1954 in der Bindsched-

9 Christoph Breitenmoser, Strategie ohne Aussenpolitik (Bern: Lang, 2002). 10 Wenger, Sicherheitspolitik, 661 – 67.

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ler-Doktrin festgeschrieben wurde – und eine autonome Landesvertei- digung geschützt werden sollte. Die aussenpolitischen Anstrengungen des Landes konzentrierten sich in dieser Ära des wirtschaftlichen Auf- schwungs primär auf die Aussenwirtschaftspolitik. Der wichtigste Bei- trag der Aussenpolitik zur Sicherheitspolitik war die Stärkung der in- ternationalen Akzeptanz der Neutralität.11 Mit der einsetzenden Entspannung zwischen Ost und West in den 1960er-Jahren erweiterten sich die Handlungsspielräume für die Schwei- zer Aussenpolitik. Unter der Führung der damaligen Aussenminister Willy Spühler und Pierre Graber aktivierte Bern die Aussenbeziehungen der Schweiz sowohl auf der bilateralen als auch auf der multilateralen Ebene.12 In diesem Kontext wurde im SIPOL B 1973 die ausgreifende, nach aussen aktive Komponente der Sicherheitspolitik festgeschrieben. Neu wollte die Schweiz einen Beitrag zur «Gestaltung und Sicherung ei- nes dauerhaften Friedens» leisten.13 Allerdings wurde der Charakter die- ser Beiträge nicht weiter spezifiziert. Entsprechend zögerlich wurde der Ausbau der ausgreifenden Komponente der Sicherheitspolitik bis zum Ende des Kalten Krieges vorangetrieben. In der Praxis beschränkte sich die Beiträge der Schweiz letztlich auf die traditionellen Guten Dienste, das humanitäre Völkerrecht sowie die Entwicklungszusammenarbeit, die neu ebenfalls in den Dienst der Sicherheitspolitik gestellt wurden.14

1.2 DIE 1990ER-JAHRE: WACHSENDER GESTALTUNGSWILLE – BESCHRÄNKTER HANDLUNGSSPIELRAUM Mit dem Ende des Kalten Krieges veränderte sich das strategische Um- feld markant. Neu beschäftigte sich die sicherheitspolitische Debatte in der Schweiz mit Bürgerkriegen auf dem Balkan, humanitären Katastro- phen in Afrika und grenzüberschreitenden Risiken wie der Verbreitung

11 Daniel Trachsler, Bundesrat Max Petitpierre (Zürich: NZZ, 2011); Daniel Möckli, Neutra- lität, Solidarität, Sonderfall (Zürich: ETH Zürich, 2000). 12 Philip Rosin, Die Schweiz im KSZE-Prozess 1972 – 1983: Einfluss durch Neutralität (Mün- chen: Oldenbourg, 2014). 13 Bundesrat, SIPOL B 73, 116. 14 Jon A. Fanzun / Patrick Lehmann, Aussen- und sicherheitspolitische Beiträge der Schweiz zu Frieden, Sicherheit und Stabilität, 1945 – 2000, Zürcher Beiträge zur Sicherheitspolitik, Nr. 57 (Zürich: ETH, 2000), 66 – 70, 99 – 126, 179 – 212, 271 – 286.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 26 AKTUELLE DISKUSSION von Massenvernichtungswaffen und der Ausweitung der organisierten Kriminalität. Gleichzeitig entwickelten die multilateralen Sicherheitsin- stitutionen neuen Schwung: Die Blockade des kollektiven Sicherheits- systems der UNO schien Geschichte zu sein. In der «Agenda für den Frieden» formulierte die UNO einen multilateralen Rahmen für die zi- vile und militärische Friedensförderung, global abgestützt auf den «Wa- shington Konsensus» und das westliche Narrativ einer liberalen Ordnung. Auch auf der regionalen Ebene konzentrierten sich die westlichen Staa- ten auf die Etablierung einer integrativen und liberalen europäischen Si- cherheitsordnung. Zum Ausdruck kam dies in der Verabschiedung der Pariser Charta der KSZE sowie der schrittweisen Vertiefung und Erwei- terung der europäischen Sicherheitsinstitutionen, der Nato (mit der Part- nerschaft für den Frieden, PfP) und der EU (mit der Entwicklung einer gemeinsamen Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik).15 Alter- native sicherheitspolitische Ordnungsvorstellungen rückten in den Hin- tergrund und entsprechend stieg der sicherheitspolitische Kooperations- und Integrationsdruck auf die Schweiz. In diesem neuen strategischen Kontext verstärkte die Schweiz ihr Engagement im aussensicherheitspolitischen Bereich schrittweise. Auf der Ebene der Politikgestaltung erweiterte der Sicherheitspolitische Be- richt 1990 (SIPOL B 90) die sicherheitspolitischen Ziele der Schweiz um einen «Beitrag an die internationale Stabilität, vornehmlich in Europa».16 Nur wenig später reduzierte der Aussenpolitische Bericht 1993 die Neu- tralität auf ihren militärischen Kern und ergänzte die aussenpolitischen Ziele um die Wahrung und Förderung von Sicherheit und Frieden.17 In Rahmen der praktischen Umsetzung erhöhte die Schweiz in den darauf- folgenden Jahren ihr aussensicherheitspolitisches Engagement. Mit der Übernahme des OSZE-Präsidiums und dem Beitritt zur PfP erweiterte

15 Andreas Wenger, «Europe and NATO and Their Role in the Twenty-first Century», in: Robert J. McMahon / Thomas W. Zeiler (Hrsg.),Guide to U.S. Foreign Policy: A Diploma- tic History (New York: CQ Press, 2012), 487 – 502. 16 Bundesrat, Schweizerische Sicherheitspolitik im Wandel (Bericht 90), 1.10.1990. 17 Bundesrat, Bericht über die Aussenpolitik der 90er Jahre, 29.11.1993. Zur Einordnung vgl. Christian Nünlist, «Neutrality for Peace: ’s Independent Foreign Policy», in: Heinz Gärtner (Hrsg.), Neutrality from Cold War to Engaged Neutrality (Lanham: Lexing- ton Books, im Erscheinen).

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK AUFWERTUNG DER SICHERHEITSPOLITISCHEN BEITRÄGE DER SCHWEIZER AUSSENPOLITIK 27 die Schweiz 1996 ihr multilaterales Sicherheitsengagement.18 Gleichzei- tig stärkte Bern die Rüstungskontrollbemühungen der Schweiz in den Bereichen der humanitären Entminung und der Kleinwaffen.19 Wie die Ablehnung der Blauhelm-Initiative (1994), die ein Militärkontingent der Schweiz zugunsten von UNO-Friedenstruppen forderte, allerdings zeigte, blieb das verstärkte aussensicherheitspolitische Engagement zu- mindest mit Blick auf militärische Beiträge innenpolitisch umstritten.20 Zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges wurde die Frage der direkten institutionellen Mitgestaltung in der UNO respektive der EU zur zentralen aussensicherheitspolitischen Herausforderung. Auf kon- zeptioneller Ebene machte dies der Sicherheitspolitische Bericht 2000 (SIPOL B 2000) mit der Betonung der steigenden Bedeutung der mul- tilateralen Sicherheitsko- operation deutlich.21 Auf 1993 reduzierte die Schweiz globaler Ebene brachte der die Neutralität auf ihren schweizerische UNO-Bei- militärischen Kern und ergänzte tritt 2002 eine Klärung.22 die aussenpolitischen Ziele um Auf regionaler Ebene hin- Sicherheit und Frieden. gegen blieb der EU-Beitritt der Schweiz ein innenpolitisch umstrittenes strategisches Ziel des Bun- desrats. Vorläufige Entlastung brachten vorerst die Bilateralen I (1999) und II (2004). Aus sicherheitspolitischer Perspektive zog dies allerdings ein Auseinanderdriften zwischen einer zunehmend europäisierten in-

18 Andreas Wenger et al., «Die Partnerschaft für den Frieden: Eine Chance für die Schweiz», in: Bulletin zur schweizerischen Sicherheitspolitik (1997/98), 66 – 88; Christian Nünlist, «20 Jahre Partnerschaft für den Frieden: Die Schweiz und die Gruppe der WEP-5», in: Bulle- tin zur schweizerischen Sicherheitspolitik (2015), 19 – 40. 19 Marcel Gerber, «Schweizerische Rüstungskontrollpolitik in einem neuen internationalen Umfeld», in: Bulletin zur schweizerischen Sicherheitspolitik (1999), 77 – 98; Martin Dahin- den, «Die Schweiz und die Ächtung der Personenminen», in: Bulletin zur schweizerischen Sicherheitspolitik (2003), 105 – 127. 20 Bruno Lezzi, «Der Kampf für Blauhelme im Rückblick: Neutralitätsparole gegen moderne Sicherheitspolitik», in: NZZ, 6.8.2013; Kurt R. Spillmann et al., «Der Bericht Brunner: Impulse und Reaktionen», in: Bulletin zur schweizerischen Aussenpolitik (1999), 9 – 34. 21 Bundesrat, Bericht über die Sicherheitspolitik der Schweiz (SIPOL B 2000), 7.6.1999. Vgl. Jon A. Fanzun / Andreas Wenger, «Schweizer Sicherheitspolitik im Umbruch: Der Be- richt 2000 vor dem Hintergrund des Kosovo-Konflikts», in: Bulletin zur schweizerischen Si- cherheitspolitik (2000), 9 – 43. 22 Daniel Trachsler, «Die Schweiz in der UNO: Mittendrin statt nur dabei», in: Bulletin zur schweizerischen Sicherheitspolitik (2010), 121 – 156.

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neren Sicherheit und einer weiterhin primär national orientierten Ar- mee nach sich.23 Im neuen Jahrtausend akzentuierten sich die Güterabwägungen zwi- schen einer global ausgerichteten Aussenwirtschaftspolitik und einer pri- mär regional ausgerichteten Sicherheitspolitik. Die nach aussen aktive, ausgreifende Komponente der Sicherheitspolitik sah sich zunehmend in einem innenpolitischen Spannungsfeld gefangen zwischen integra- tionswilligen und auf Unabhängigkeit pochenden politischen Kräften. Integrationswillige Kräfte kritisierten aussensicherheitspolitische Ni- schenstrategien und forderten eine stärkere Ausrichtung und Integra- tion der Schweizer Friedensförderung mit derjenigen der europäischen Nachbarstaaten.24 Eine Mehrheit des Bundesrats hingegen sprach sich 2005 für eine Akzentverschiebung weg von einer einseitig auf Europa fokussierten hin zu einer verstärkt globalen Ausrichtung der Schweizer Aussenpolitik aus, womit eigenständige aussensicherheitspolitische Bei- träge im Vordergrund standen.25

1.3 DAS 21. JAHRHUNDERT: WACHSENDER GESTALTUNGSWILLE – WACHSENDER HANDLUNGSSPIELRAUM Seit einigen Jahren befindet sich die globale und regionale Sicherheits- ordnung in einer erneuten Transformationsphase. Dabei geht die Ent- wicklung in Richtung einer multipolaren Welt und einer zunehmend fragmentierten globalen politischen Ordnung. Strukturell der entschei- dende Trend sind die Machtverschiebungen vom Westen in den Osten durch den Aufstieg Chinas. Offen ist die Frage, wie sich die Beziehun- gen zwischen den USA und China im Spannungsfeld zwischen ord-

23 Andreas Wenger, «Herausforderung Sicherheit: Eine Beurteilung der sicherheitspoliti- schen Grundlagen der Schweiz mit Blick auf die Zukunft», in: Bulletin zur schweizerischen Sicherheitspolitik (2005), 11 – 22; ders., «Von Köln bis Nizza: Die Bedeutung der GSVP für die Schweiz», in: Bulletin zur schweizerischen Sicherheitspolitik (2001), 99 – 124. 24 Karl Haltiner, «Vom schmerzlichen Verlieren alter Feindbilder: Bedrohungs- und Risiko- analysen in der Schweiz», in: Thomas Jäger / Ralph Thiele (Hrsg.),Transformation der Si- cherheitspolitik: Deutschland, Österreich, Schweiz im Vergleich (Wiesbaden: VS Verlag, 2011), 39 – 58. 25 «Erweiterung der aussenpolitischen Pupillen», in: NZZ, 20.5.2005. Vgl. Daniel Möckli, «Aussenpolitik nach Calmy-Rey: Brennpunkte und Perspektiven», in: CSS-Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 106 (2011).

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nungspolitischer Konkurrenz und Kooperation entwickeln werden. Auf regionaler Ebene sind die Beziehungen zwischen Russland und Europa angespannt. Auch im Süden Europas machen sich unterschiedliche Vor- stellungen von Staatlichkeit und Ordnung bemerkbar. Als Folge dieses ordnungspolitischen Wandels steigt der Anpassungsbedarf hinsichtlich Multilateralismus und globaler Regeln und Normen.26 In diesem Umfeld haben sich die für die Schweiz relevanten sicher- heitspolitischen Bedrohungen, Gefahren und Risiken erneut verändert. Auch geografisch weit entfernte Krisenherde können die Sicherheitsin- teressen tangieren. Im Kontext eines Spannungsfeldes, das durch zuneh- mende geopolitische Friktionen und einem Ringen um einen neuen Mul- tilateralismus geprägt ist, werden die zwischenstaatlichen Beziehungen in den so genannten «Global Commons» (See, Weltraum, Cyber) politisiert und militarisiert. Konflikte in diesen Räumen können zu Unterbrüchen in der Globalisierungsinfrastruktur führen. Negative Rückwirkungen auf Kommunikation-, Handel-, Energie- und Finanznetzwerke können auch die Versorgungssicherheit der Schweiz beeinträchtigen.27 Auf regionaler Ebene manifestiert sich ein hybrides Gefahrenbild, von wiederkehrenden, teilweise internationalisierten Bürgerkriegen an der europäischen Peripherie. Diese wiederum werden überlagert durch grenzüberschreitende politische Gewaltphänomene wie Terrorismus, Extremismus/Radikalisierung oder organisierte Kriminalität. Diese Entwicklungen tangieren die Sicherheit der Schweiz aufgrund zweier Dynamiken: Anhaltende Instabilität an der europäischen Peripherie kann indirekte, meist nicht militärische Rückwirkungen auf die Schweiz haben in Form von krisenbedingten Migrationsströmen, Spannungen zwischen sozialen Gruppen oder Unterbrüchen in den Versorgungssys- temen.28 Darüber hinaus steigt aufgrund der Technologieentwicklung

26 Andreas Wenger, «Europäische Sicherheit nach der Zäsur von 2014», in: CSS-Analysen zur Sicherheitspolitik, Nr. 177 (2015). 27 Heiko Borchert, «Von den Chinesen lernen», in: NZZ, 15.2.2012. 28 Alexander Lusenti / Lisa Watanabe, «Irreguläre Einwanderung als Herausforderung für Europa», in: CSS-Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 162 (2014); Roderick Parkes, Integra- ting EU Defence and Migration Policies in the Mediterranean, FRIDE Working Paper Nr. 125 (Madrid: FRIDE, 2014).

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das Gewaltpotenzial, das nicht-staatliche Akteure gegen Schweizer Bür- ger und Einrichtungen im In- und Ausland richten können.29 Die Rückkehr der Geopolitik und Rivalitäten zwischen den Gross- mächten führte zwar zu einer Rückkehr von exklusiven Krisenmanage- mentformaten wie der Normandie-Gruppe in der Ukraine-Krise oder russisch-amerikanischen Verhandlungen im Syrienkonflikt. Insgesamt wachsen aber auch die Handlungsspielräume für eigenständige aussen- sicherheitspolitische Beiträge der Schweiz. Im Kontext geopolitscher Spannungen und eines blockierten Multilateralismus steigt erstens die Bedeutung von regionalen, minilateralen und bilateralen Lösungsan- sätzen. Gleichzeitig wächst auch der Spielraum für eigenständige Ini- tiativen, Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Partnern und Vermitt- lungsaktivitäten zwischen Gleichzeitig wächst der heterogenen staatlichen und Spielraum für eigenständige nichtstaatlichen Akteuren. Initiativen, Zusammenarbeit Aufgrund hoher Komplexität mit gleichgesinnten Partnern und wachsender Verflechtung und Vermittlungsaktivitäten. der wirtschaftlichen und ge- sellschaftlichen Systeme steigt zweitens der Steuerungsbedarf zunehmend globalisierter und techni- sierter Politikfelder. Damit verbunden ist die Notwendigkeit einer wis- senschaftsbasierten Regulierung dieser Systeme, welche die Anstren- gungen des öffentlichen, privaten und zivilgesellschaftlichen Sektors berücksichtigt. Der Wandel grenzüberschreitender und oftmals diffuser Sicherheitsprobleme erfordert drittens eine aktive Politikgestaltung auf der internationalen Ebene. An diesem Prozess zur Etablierung regelba- sierter «Best Practices» zur Bewältigung globaler Sicherheitsfragen kann sich auch die Schweiz beteiligen. Im aktuellen, stark fragmentierten internationalen Umfeld ist die Nachfrage nach dem besonderen Profil der Schweiz als Nichtmitglied von EU und Nato und unparteiischem Brückenbauer ohne koloniale Vergangenheit zuletzt stark gestiegen. Dank Erfahrung und in den letz- ten Jahrzehnten aufgebauter Kompetenz sowie einer dank breitem Au- ssennetz starken globalen Präsenz ergibt sich heute für die Schweiz die

29 Vgl. Christian Nünlist, «Kidnapping for Ransom zur Terrorismusfinanzierung», in: CSS- Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 141 (2013).

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Chance, mit ihrer Aussensicherheitspolitik globale Verantwortung zu übernehmen. Dass die Stärkung der sicherheitspolitischen Beiträge der Aussenpolitik im Interesse der Schweiz ist und wie diese im Kontext ei- ner umfassenden und vernetzten Sicherheitspolitik ausdifferenziert wer- den können, wird im Folgenden dargelegt.

2 DREI STRATEGISCHE PRIORITÄTEN Die Schweizer Aussenpolitik ist ein breit gefächerter Politikbereich mit vielfältigen Aktivitäten. Er umfasst die Beziehungen sowohl zur EU und den europäischen Nachbarstaaten als auch zu den globalen Partnern und konzentriert sich inhaltlich auf die Förderung von Frieden und Si- cherheit, nachhaltiger Entwicklung und Wohlstand.30 Was hier speziell interessiert, sind die sicherheitspolitischen Beiträge der Aussenpolitik zur Mitgestaltung des regionalen und globalen Umfelds der Schweiz. Diese lassen sich entlang der oben skizzierten konzeptuellen Überle- gungen zu drei strategischen Komponenten bündeln: Eine erste Ent- wicklungslinie konzentriert sich auf Beiträge der Schweiz zusammen mit anderen Akteuren zur Krisen- und Konfliktbearbeitung. Einezweite Entwicklungslinie umfasst das Engagement der Schweiz zusammen mit anderen Akteuren im Kontext einer Mitgestaltung globaler Sicherheits- normen. Eine dritte Entwicklungslinie verweist auf die steigende Be- deutung einer flexiblen Interessenvertretung in multi- und minilateralen Gefässen der sicherheitspolitischen Kooperation. Nicht nur das Verhältnis zwischen der Aussen- und der Sicherheits- politik verdient vermehrte Aufmerksamkeit, auch der Zusammenhang zwischen den konkreten Beiträgen der Schweiz zu Frieden und Sicher- heit und der generellen Interessenvertretung der Schweiz im multilate- ralen, minilateralen und bilateralen Rahmen ist bedeutungsvoll für das Land. Mit ihren Beiträgen zu Frieden und Sicherheit in der Welt de- monstriert die Schweiz ihren Willen, zusammen mit anderen Akteuren Verantwortung für eine stabile und regelbasierte internationale Ordnung übernehmen zu wollen. Dies erhöht die Glaubwürdigkeit ihrer Aussen- politik insgesamt und trägt zu einem positiven Bild der Schweiz im Aus- land bei, was wiederum ihre Standortattraktivität erhöht. Darüber hin-

30 Bundesrat, Aussenpolitische Strategie 2016 – 2019, 1.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 32 AKTUELLE DISKUSSION

aus kann sich die Schweiz im Kontext ihrer aussensicherheitspolitischen Aktivitäten ein Netzwerk von Kontakten erarbeiten, auf das zurückge- griffen werden kann, wenn es um Einfluss hinsichtlich politischer Po- sitionierungsfragen oder konkrete diplomatische Initiativen zugunsten spezifischer Interessen des Landes geht.

2.1 KRISEN- UND KONFLIKTBEARBEITUNG: EIGENSTÄNDIGE BEITRÄGE, AKTIVE POLITIKENTWICKLUNG Eigenständige und aktive Beiträge der Schweiz zur internationalen Kri- sen- und Konfliktbearbeitung entsprechen einer strategischen Priorität, weil im Kontext einer fragmentierten Weltordnung mit einer anhal- tenden Häufung von Krisen und Konflikten zu rechnen ist. Politische Gewaltphänomene dürften sich in absehbarer Zeit weiterhin auf die europäische Peripherie konzentrieren. Sie tangieren aufgrund ihrer grenzüberschreitenden Rückwirkungen die Sicherheit in der Schweiz gleichwohl direkt und stellen die operationellen Instrumente der Sicher- heitspolitik des Bundes, der Kantone sowie der Städte und Gemeinden vor neuartige Herausforderungen. Ein Beitrag zur Prävention und Sta- bilisierung dieser Krisen und Konflikte ist daher auch im sicherheitspoli- tischen Interesse der Schweiz. Seit 9/11 pocht die Schweiz Dieser Beitrag sollte sich an in den Bemühungen der den traditionellen Prinzipien Staatengemeinschaft der Schweizer Aussen- und gegen den globalen Sicherheitspolitik (Neutrali- dschihadistischen Terrorismus tät, Solidarität, Disponibilität) stets auf Rechtsstaatlichkeit und den Werten, Stärken und und die Beachtung von Interessen des Landes orien- Menschenrechten. tieren. In der Praxis kann er sich auf ein vielschichtiges In- strumentarium abstützen, das seit dem Ende des Kalten Krieges schritt- weise entwickelt und ausgeweitet worden ist. Aufgrund ihrer Erfahrungen und Kompetenzen ist die Schweiz ers- tens gut positioniert, um eigenständige Beiträge, die den Werten, Stär- ken und Interessen des Landes entsprechen, zur Prävention und Sta- bilisierung von politischen Gewaltkonflikten zu leisten. Die Arbeit in von Bürgerkriegen geplagten Regionen ist anspruchsvoll. Sie erfordert

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das Engagement und den langen Atem vieler öffentlicher und privater Akteure. Mit den etablierten Aktivitäten in den Bereichen Mediation, Friedensförderung und Entwicklung trägt die Schweiz angemessen und nachhaltig zum Aufbau funktionierender Staatlichkeit und robusterer Gesellschaften bei. Der angestrebte Ausbau in der Mediation und Kri- sendiplomatie erfordert eine schrittweise Professionalisierung der Res- sourcen und Kompetenzen und ein langfristiges Engagement. Dies gilt insgesamt für den Bereich der zivilen Friedensförderung, in dem sich die Schweiz als glaubwürdiger Nischenakteur gut etabliert hat. Zunehmend an Bedeutung gewinnt darüber hinaus das Zusammenspiel zwischen Entwicklung und Sicherheit. In fragilen Kontexten muss die Entwick- lungszusammenarbeit den Risikofaktoren von politischen Gewaltkon- flikten vermehrt Rechnung tragen.31 Die Schweiz ist zweitens ebenfalls gut positioniert, um gegen neu- artige Herausforderungen wie dem globalen Terrorismus und dem po- litischen Extremismus einen aktiven Beitrag zur internationalen Po- litikentwicklung zu leisten. Es ist im Interesse der Sicherheit in der Schweiz, dass die sich etablierenden internationalen Lösungsstrategien den Normen und Interessen der Schweiz möglichst entsprechen. Seit 9/11 pocht die Schweiz in den Bemühungen der Staatengemeinschaft gegen den globalen dschihadistischen Terrorismus stets auf Rechtsstaat- lichkeit und die Beachtung von Menschenrechten. Sie betont dabei auch immer die zentrale Rolle der UNO in der Terrorismusbekämpfung und hat die Rhetorik eines «Krieges gegen den Terrorismus» beharrlich ver- mieden. Der Fokus der Schweizer Strategie zur Terrorismusbekämp- fung vom September 2015 liegt vielmehr klar auf der Prävention und konkreten Massnahmen zur Verhinderung von gewalttätigem Extre- mismus in den Bereichen Bildung und (Jugend-)Arbeitslosigkeit, Integ- ration, Religionen, Sozialhilfe sowie Kinder- und Erwachsenenschutz.32

31 Matthias Bieri / Christian Nünlist, «Friedensförderung à la Suisse: Schweizerische Si- cherheitspolitik im 21. Jahrhundert», in: International: Die Zeitschrift für internationale Po- litik 4 (2013), 43 – 48; Daniel Trachsler, «Sicherheit und Entwicklung», in: CSS-Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 40 (2008); Simon Mason, «Lehren aus den Schweizer Media- tions- und Fazilitationsdiensten im Sudan», in: Bulletin zur schweizerischen Sicherheitspoli- tik (2006) 43 – 96; ders., «Combining Best, Good, and Emergent Practice», in: nadelNews Nr. 1 (2016), 3f.; Paul Collier, The Bottom Billion: Why the Poorest Countries are Failing and What Can Be Done About It (Oxford: Oxford University Press, 2007). 32 Bundesrat, Strategie der Schweiz zur Terrorismusbekämpfung, 18.9.2015.

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In der internationalen politischen Debatte über Prevention of Violent Extremism (PVE) betont die Schweiz die Bedeutung eines umfassen- den, ganzheitlichen Ansatzes zur Verhinderung von gewalttätigem Ex- tremismus, der die Bereiche Frieden und Sicherheit, Entwicklung und Menschenrechte berücksichtigt. Sie positioniert sich damit auf der Seite der Befürworter einer «weichen Seite» in der Terrorismusbekämpfung und verwendet lieber den Begriff PVE statt des AusdrucksCountering Violent Extremism (CVE), welcher dem Terrorabwehr-Denken näher ist.33 Mit dem internationalen Genf stellt die Schweiz der Staatenwelt generell einen idealen Treffpunkt zur Verfügung, um den Aushand- lungsprozess regelbasierter Best Practices zur Bewältigung globaler Si- cherheitsfragen zu unterstützen.

2.2 MITGESTALTUNG GLOBALER SICHERHEITSNORMEN Das Mitgestalten globaler Sicherheitsnormen entspricht einer strate- gischen Priorität, weil sich der sicherheitspolitische Steuerungsbedarf aufgrund der Komplexität der aktuellen Gefahrenlage und der en- ger werdenden Verflechtungen zwischen sehr unterschiedlichen wirt- schaftlichen und gesellschaftlichen Systemen markant erhöht hat. Als stark globalisiertes Land ist der Wohlstand, aber auch die Sicherheit der Schweiz von Unterbrüchen in den Globalisierungsinfrastrukturen direkt und indirekt betroffen. Die Schweizer Wirtschaft und Gesellschaft ha- ben ein Interesse daran, dass der Zugang zu den Global Commons gesi- chert ist, moderne Technologien friedlich genutzt werden können, die Märkte stabil sind, resiliente Infrastrukturen zur Verfügung stehen und die globale Mobilität sicher und gut funktioniert.34 Das Mitgestalten globaler Sicherheitsnormen ist daher auch im sicherheitspolitischen In- teresse der Schweiz. Der Charakter der Beiträge sollte dabei dem tra- ditionellen Engagement der Schweiz für die Stärkung des Völkerrechts entsprechen. Der Einsatz für eine regel- und normenbasierte Ordnung ist schon seit langem ein Schwerpunkt der Schweizer Aussensicherheits-

33 Owen Frazer / Christian Nünlist, «Countering Violent Extremismus in der Terrorismus- bekämpfung», in: CSS-Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 183 (2015). 34 Vgl. das Sonderheft Globale öffentliche Güter: Die Globalisierung gestalten, Politorbis Nr. 3 (2005).

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK AUFWERTUNG DER SICHERHEITSPOLITISCHEN BEITRÄGE DER SCHWEIZER AUSSENPOLITIK 35

politik.35 In der Praxis fächern sich die sicherheitspolitischen Gouvern- anz-Mechanismen auf und umfassen heute harte und weiche Normen, an deren Erarbeitung immer öfter öffentliche, private und zivilgesell- schaftliche Akteuren mitwirken. Die Schweiz hat erstens ein Interesse daran, dass die Normen, die zur Nutzung der Global Commons – See, Weltraum, Cyber – entwickelt werden, den Werten und Interessen der Schweiz entsprechen. Es handelt sich um noch wenig regulierte Domänen, wobei die politischen Ausein- andersetzungen um die Regulierung dieser Gebiete aufgrund ihrer ge- stiegenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung zunehmen. Als hochentwickeltes und stark von Technologie abhängiges Land ist ein gesicherter Zugang zu einem möglichst offenen Cyberraum im In- teresse der Schweiz, womit ein eigenständiger Beitrag zur Entwicklung von Cyber(sicherheits)normen gefordert ist.36 Aber auch der Weltraum ist von zunehmender sicherheitspolitischer Bedeutung für die Schweiz, da zivile Infrastrukturen und Dienstleistungen immer mehr von welt- raumgestützten Daten und Systemen abhängig sind und auch die Polizei, die zivilen Einsatzkräfte, die Armee und der Nachrichtendienst zuneh- mend von kommerziellen und strategischen Weltraumdaten abhängen. Nun verfügt die Schweiz zwar über keine eigenen Weltraumsysteme. Als Gründungsmitglied der European Space Agency (ESA) setzt sich die Schweiz aber für eine friedliche Nutzung des Weltraums und gegen die Stationierung von Waffen im Weltall ein. Ein aktives Engagement der Schweiz mit Blick auf internationale Regulierung des Weltraums ist im Interesse der Schweiz, wobei das EDA die Beiträge und Bedürf- nisse der unterschiedlichen Akteure bündeln und bei der Entwicklung eigener Initiativen auf das beträchtliche Wissen und die Kontakte der Forschung und Industrie zurückgreifen kann.37 Die Schweiz hat zweitens ein Interesse daran, dass die friedliche Nutzung von Dual-Use-Technologien gefördert und das Risiko eines ge- waltsamen Missbrauchs möglichst minimiert wird. Rüstungskontrolle,

35 Vgl. Fanzun/Lehmann, Aussen- und sicherheitspolitische Beiträge, 179f. 36 Myriam Dunn Cavelty, «Machtentfaltung im Cyberspace», in: NZZ, 29.3.2015. 37 Livio Pigoni, «Weltraum: Sicherheitspolitik in neuen Sphären», in: CSS-Analysen zur Si- cherheitspolitik Nr. 171 (2015); Bundesrat, Revision der schweizerischen Weltraumpolitik, 30.9.2008.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 36 AKTUELLE DISKUSSION

Abrüstung und Exportkontrolle sind daher im Interesse der Sicherheit der Schweiz. Zusammen mit anderen staatlichen und zivilgesellschaft- lichen Akteuren beteiligte sich die Schweiz an der Erarbeitung der Ver- botskonventionen zu Personenminen und Streumunition und leistete innovative Beiträge zur Kontrolle von Kleinwaffen und leichten Waf- fen, den in Bürgerkriegen am häufigsten zur Anwendung kommenden Waffen. 38 Darüber hinaus leistet die Schweiz mit dem Labor Spiez qua- litativ hochstehende Beiträge zur Durchsetzung und Weiterentwicklung der bestehenden Kontrollregime für atomare, konventionelle, chemische und biologische Technologien sowie für Raketentechnologie.39 Nun ist bereits absehbar, dass die Herausforderungen der Regulierung von Dual- Use-Technologien weiter zunehmen werden, weil sich der naturwissen- schaftliche und technologische Fortschritt rasant beschleunigt und weil immer mehr nicht-westliche Länder und nichtstaatliche Akteure Zu- gang zu Dual-Use-Technologien erhalten.40 In neuen technischen The- menfeldern wie Drohnen, Robotik oder Nanotechnologie verfügt die Schweizer Industrie und Forschung über viel Wissen. Koordiniert durch das EDA können diese Stärken wiederum in internationale Normset- zungsprozesse eingebracht werden.41 Die Schweiz hat drittens ein Interesse an resilienten Märkten und Infrastrukturen. Dies ist auch von sicherheitspolitischem Interesse, weil die Schnittstellen zwischen Sicherheitspolitik und anderen Politikbe- reichen wie Gesundheit, Energie und Migration aufgrund der Globali- sierung zunehmen. Herausforderungen wie Klimawandel, Energiever- sorgung oder Pandemie tangieren die Sicherheitspolitik insofern, als sie Auswirkungen auf politische Gewaltphänomene haben und/oder den Einsatz sicherheitspolitscher Mittel erfordern können.42 Eine aktive Mit-

38 Bundesrat, Bericht über die Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik der Schweiz, 30.11.2012. Vgl. auch Dahinden, Schweiz und die Ächtung der Personenminen, 105 – 127; Marcel Gerber, Dynamisierung in einem wechselhaften internationalen Umfeld: Schweizer Rüstungskontrollpo- litik nach dem Kalten Krieg (Bern: Lang, 2006). 39 Federal Office for Civil Protection / Center for Security Studies, Spiez Convergence: Report on the First Workshop 6 – 9 October 2014 (Spiez: Babs, 2014). 40 Pigoni, Weltraum. 41 Matthias Bieri / Marcel Dickow, «Letale autonome Waffensysteme als Herausforderung», in: CSS-Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 164 (2014). Vgl. auch «Jeder, der eine Drohne möchte, wird eine haben», in: NZZ, 29.3.2015. 42 Wenger et al., Sicherheitspolitischer Bericht 2010.

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gestaltung multi- und minilateraler Gouvernanz-Mechanismen zur Si- cherstellung robuster Finanz-, Energie- und Nahrungsmittelmärkte ist daher auch im Sicherheitsinteresse der Schweiz. Im Vordergrund stehen wiederum die Unterstützung inter- nationaler Initiativen unter gleich- Ein innovatives gesinnten Staaten, Beiträge zur Beispiel einer aktiven Politikentwicklung und damit ver- Mitgestaltung globaler bunden die Koordination mit den Normen ist die relevanten öffentlichen, privaten Gesundheitsaussenpolitik und wissenschaftlichen Akteuren der Schweiz, mit der in der Schweiz.43 Als zweites Bei- sie eine internationale spiel kann auf die Beteiligung der Vorreiterrolle einnimmt. Schweiz an der Ausarbeitung eines neuen Rahmenwerks zur Minderung von Katastrophenrisiken anlässlich der dritten UNO-Weltkonferenz in Sendai/Japan hingewiesen werden. Die Zunahme von Katastrophen und Notlagen im Zuge des globalen Klimawandels erfordert neue Anstrengungen in diesem Bereich. Wie- derum war dabei die Aufgabe des EDA, die breiten nationalen Kom- petenzen im öffentlichen Sektor, der Industrie und der Wissenschaft zu bündeln.44 Die Schweiz hat viertens ein Interesse an nachhaltiger Regulierung globaler Mobilität und durchlässiger Grenzen. Moderne und hochtech- nisierte Gesellschaften wie die Schweiz haben ein ambivalentes Verhält- nis zur globalen Mobilität. Sie nehmen Mobilität gleichzeitig wahr als Voraussetzung gesellschaftlicher Modernität und als Quelle von Unsi- cherheit mit Blick auf die organisierte Kriminalität, den globalen Ter- rorismus, die illegale Migration und/oder die Verbreitung ansteckender Krankheiten.45 Der Erfolg der nationalen Anstrengungen zur Präven- tion und Bewältigung dieser grenzüberschreitenden Herausforderungen hängt stark vom regulatorischen Erfolg der internationalen Politik ab.

43 Andreas Wenger / Myriam Dunn Cavelty / Jonas Hagmann, Sicherheitspolitisches Gutach- ten zur Revision des Bundesgesetzes über die wirtschaftliche Landesversorgung (Zürich: ETH Zürich, 2010). 44 Tim Prior / Florian Roth, «Internationale Katastrophen-Politik nach Sendai», in: CSS- Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 173 (2015). 45 Matthias Leese / Stef Wittendorp (Hrsg.), Security/Mobility (Manchester: Manchester University Press, im Erscheinen).

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Die aktive Unterstützung internationaler Initiativen zur Bewältigung unerwünschter, mit Mobilität von Personen, Gütern und Ideen zusam- menhängender Sicherheitsphänomene ist damit auch im Sicherheitsinte- resse der Schweiz. Ein innovatives Beispiel einer aktiven Mitgestaltung globaler Normen ist die Gesundheitsaussenpolitik der Schweiz, mit wel- cher sie eine internationale Vorreiterrolle einnimmt. Die interdeparte- mental erarbeitete Strategie verknüpft Fragen der globalen Gesundheit mit dem Schutz vor Pandemien und einem weltweit gesicherten Zugang zu Medizinprodukten. Sie verbindet die Stärken der Schweiz in der Ge- sundheitsforschung und der Pharmaindustrie mit der humanitären Tra- dition in der Entwicklungszusammenarbeit. Auf diese Weise leistet die Schweiz einen kohärenten Beitrag zu einer globalen Gesundheitspoli- tik, die gleichzeitig die vielfältigen gesundheitspolitischen, wirtschaftli- chen und sicherheitspolitischen Interessen der Schweiz berücksichtigt.46

2.3 FLEXIBLE INTERESSENVERTRETUNG: FUNKTIONIERENDER MULTILATERALISMUS, EFFEKTIVER MINILATERALISMUS Regelbasierte und in institutionell koordinierte Antworten auf globale Si- cherheitsfragen sind im Interesse der Schweiz. Die Wahrung Schweizer Interessen im Ausland ist die Kernaufgabe der Aussenpolitik, auch mit Blick auf die Abwehr politischer Für die Positionierung der und militärischer Druckversuche Schweiz im europäischen aus dem Ausland. In diesem Zu- Umfeld stellt die sammenhang setzt sich das Land Weiterentwicklung der auch für einen funktionierenden Beziehungen zwischen der Multilateralismus ein. Auf der glo- Schweiz und der EU die balen Ebene konzentriert sich das Schlüsselfrage dar. Engagement der Schweiz auf die UNO als entscheidender multila- teraler Anker der globalen Sicherheitsordnung. Die UNO bietet einen gewichtigen institutionellen Rahmen, um Beiträge zur Krisen- und Kon- fliktbearbeitung und zur Mitgestaltung globaler Sicherheitsnormen ein-

46 Schweizerische Eidgenossenschaft, Schweizerische Gesundheitsaussenpolitik (Bern: Bundes- presse, 2012). Vgl. Ilona Kickbusch et al. «Global Health Diplomacy», in: Bulletin of the World Health Organization 85, Nr. 12 (2007).

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zubringen.47 Darüber hinaus kann und soll sich die Schweiz auch aktiv an der Reformdiskussion der UNO beteiligen. Die geplante Schweizer Kandidatur für einen Sitz im Sicherheitsrat bietet weitere Möglichkeiten für eine aktive Interessenvertretung.48 Auf der regionalen Ebene kon- zentriert sich das sicherheitspolitische Engagement der Schweiz auf die OSZE, die aufgrund ihres «universellen» Charakters eine Plattform für den politischen Dialog zur Zukunft europäischer Sicherheit zwischen Russland und dem Westen bietet. Die erneute Übernahme des OSZE- Vorsitzes 2014 bot der Schweiz Gelegenheit, bei der Bewältigung der Ukrainekrise eine bedeutende Rolle einzunehmen.49 Dieses Engagement gilt es weiterzuverfolgen, und mit eigenen Initiativen zur Stärkung der OSZE beizutragen. Mit dem so genannten «Ischinger-Panel», einem Expertenkomitee unter Leitung von Wolfgang Ischinger, das Ende 2015 einen Bericht über Folgen der Ukrainekrise für Europa vorlegte, hat die Schweiz die internationale Debatte über europäische Sicherheit nach der Zäsur der Krim-Annexion wieder massgeblich ins Rollen gebracht. Zudem haben die Schweiz, Deutschland, Österreich und im Sommer 2015 beschlossen, als deutschsprachige Länder ihre OSZE- Politik untereinander zu koordinieren und harmonisieren.50 Für die generelle Positionierung der Schweiz im europäischen Um- feld stellt die Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU die Schlüsselfrage dar, da sie praktisch alle Politikfelder be- einflusst und sensible staatspolitische Fragen sowie wirtschaftliche Inte- ressen tangiert. Aber auch aus sicherheitspolitischer Perspektive bildet

47 Trachsler, Die Schweiz in der UNO. 48 Bundesrat, Die Kandidatur der Schweiz für einen nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in der Periode 2023/24, 5.6.2015. Vgl. Simon Gemperli, «Schweiz prüft Kandidatur für UNO-Sicherheitsrat», in: NZZ, 13.8.2010. 49 Christian Nünlist, «Testfall Ukraine-Krise: Das Konfliktmanagement der OSZE unter Schweizer Vorsitz», in: Bulletin zur schweizerischen Sicherheitspolitik (2014), 35 – 61. Vgl. auch Heidi Tagliavini, «Mediation in the Crisis in Eastern Ukraine up to 23 June 2015», in: OSCE Yearbook (2015), 217 – 227; Fred Tanner, «The OSCE and the Crisis in and around Ukraine: First Lessons for Crisis Management», in: ebd., 241 – 250; EDA, Der Schweizer Bericht in der OSZE 2014: Schlussbericht, 27.5.2015. 50 Petri Hakkarainen / Christian Nünlist, «Trust and Realpolitik: The OSCE in 2016», in: Policy Perspective 4, Nr. 1 (2016); Christian Nünlist, «Zurück im Geschäft: Die OSZE und Konflikte in Europas Nachbarschaft», in: Global Governance Spotlight 1 (2016); Fred Tan- ner, «Die Vorteile ziviler Missionen», in: NZZ, 4.9.2015. Österreich wird 2017 Deutsch- land als OSZE-Vorsitz ablösen.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 40 AKTUELLE DISKUSSION

die EU ein wichtiger Bezugsrahmen für die Schweiz. Dies gilt nicht zuletzt für die innere Sicherheit und die Bewältigung der grenzüber- schreitenden operationellen Herausforderungen in den Bereichen orga- nisierte Kriminalität, globaler Terrorismus, gewalttätiger Extremismus sowie illegale Migration. Ein aktiver Beitrag zu funktionierenden euro- päischen Systemen in den Bereichen europäische Aussengrenzen, grenz- überschreitende Polizeikooperation, innere Sicherheit und Asylwesen sind im Interesse der Sicherheit in der Schweiz.51 Allein schon die geo- grafische Lage inmitten von Europa lässt es darüber hinaus angezeigt erscheinen, dass die Schweiz ihre Beiträge zur Konfliktbearbeitung an der europäischen Peripherie in angemessener Form mit denjenigen ihrer Nachbarstaaten und der EU koordiniert. Dasselbe gilt auch für die Bei- träge der Schweiz im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden (PfP).52 Je stärker der traditionelle Multilateralismus an Grenzen stösst, desto wichtiger werden neue Formen globaler Koordination. Minilate- rale Kooperationsformen können Multilateralismus nicht ersetzen, aber ergänzen. Gleichgesinnte Länder können zusammen eine Vorreiterrolle spielen, Schwung in die internationale politische Agenda bringen und ein ambitionierteres Programm anvisieren.53 Innerhalb der PfP enga- giert sich die Schweiz beispielsweise seit rund fünf Jahren innerhalb der informellen PfP-Gruppe Western European Partners (WEP) zusammen mit Österreich, Schweden, Finnland, Irland und Malta erfolgreich da- für, eine wertgeleitete Sicht zu Themen wie dem Umgang mit privaten Sicherheitsfirmen, dem Schutz von Zivilisten in Konflikten oder der Umsetzung der UNO-Resolution 1325 zu Frauen, Frieden und Sicher- heit in die Nato zu tragen.54 Daraus ergeben sich für die Schweiz neue Möglichkeiten, um die sicherheitspolitische Politik aktiv mitzugestalten. Aufgrund ihrer po-

51 Gert-Joachim Glaessner / Astrid Lorenz (Hrsg.), Europäisierung der inneren Sicherheit (Wiesbaden: VS, 2005). 52 Christian Nünlist, «Die Schweiz und der Wandel der Nato-Partnerschaftspolitik, 1996 – 2016», in: Politorbis 61 (2016), 93 – 96; ders., «Switzerland and NATO: From Non- Relationship to Cautious Partnership», in: Andrew Cottey (Hrsg.), The European Neutrals and NATO (London: Palgrave Macmillan, im Erscheinen). 53 Klaus Dicke (ed.), Wege multilateraler Diplomatie (Baden-Baden: Nomos, 2015); Rainer Baumann, Der Wandel des deutschen Multilateralismus (Baden-Baden: Nomos, 2006). 54 Nünlist, 20 Jahre Partnerschaft für den Frieden, 19 – 40.

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litischen Kultur, die auf Ausgleich, Dialog und Mitbestimmung aus- gerichtet ist, ist die Schweiz gut positioniert, um neue Formen des Regierens einzubringen. Auch sicherheitspolitisch relevante Normset- zungsprozesse sind heute nicht mehr ausschliesslich Sache öffentlicher Akteure. Private und zivilgesellschaftliche Akteure übernehmen eine zu- nehmend aktive Rolle, wenn es beispielsweise um die Erarbeitung von Cyber(sicherheits)normen geht. Die Koordination und Vermittlung an den Schnittstellen zwischen privaten, zivilen und öffentlichen Akteuren wird zunehmend zu einer zentralen Herausforderung sicherheitspoliti- scher Regulierung.55 Dass die Schweizer Diplomatie in dieser Hinsicht auf einige Stärken des Landes zurückgreifen kann, wird im nächsten Kapitel skizziert.

3 FÜNF PRINZIPIEN DER UMSETZUNG: EINE NACH INNEN UND AUSSEN GLAUBWÜRDIGE AUSSENSICHERHEITSPOLITIK Mit Blick auf die konkrete Umsetzung der drei skizzierten strategi- schen Prioritäten werden im Folgenden fünf Prinzipien herausgearbei- tet, die eine nach innen und aussen glaubwürdige Aussensicherheitspo- litik ermöglichen sollen. Wichtig für die innenpolitische Abstützung der ausgreifenden Komponente der Sicherheitspolitik ist erstens, dass diese den Werten der Schweiz und dem Selbstverständnis ihrer Bevöl- kerung entsprechen. Dazu zählen inklusive politische Institutionen, die auf Machtteilung, Rechtssicherheit, Kompromiss und demokratische Mitbestimmung ausgerichtet sind, sowie gesellschaftliche Institutio- nen, die durch kulturelle Vielfalt, soziale Integration von Minderheiten und ein humanitäres Selbstverständnis geprägt sind.56 Auch die Neut- ralität ist ein Element der politischen Identität des Landes. Angesichts der kulturellen, sprachlichen und religiösen Vielfalt des Landes war sie schon immer ein Mittel der inneren Integration. Als flexibles Instru- ment der Aussenpolitik eines Landes, das sich im 19./20. Jahrhundert an geopolitischen Bruchlinien wiederfand, sicherte sie darüber hinaus

55 Andreas Wenger / Daniel Möckli, The Untapped Potential of the Business Sector (Boulder: Lynne Rienner, 2003). 56 Christian Nünlist, «Umdenken der neutralen Schweiz», in: Josef Braml et al. (Hrsg.), Au- ssenpolitik mit Autokratien (Berlin: De Gruyter, 2014), 246 – 255, hier 248 und 255.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 42 AKTUELLE DISKUSSION

die Unabhängigkeit und die eigenständige Handlungsfähigkeit der Re- gierung.57 Auch im 21. Jahrhundert hat die Neutralität nichts von ih- rer normativen Attraktivität eingebüsst, das zeigen die regelmässigen Meinungsumfragen zum aussen-, sicherheits- und verteidigungspoliti- schen Meinungsbild der Schweizer Bevölkerung.58 Als völkerrechtliches Konzept steht die Neutralität einer Die Neutralität kann aktiven Aussensicherheitspolitik die Glaubwürdigkeit der gleichwohl nicht im Wege. Ihr völ- Schweiz als unabhängiger kerrechtlicher Kern will sicherstel- und unparteiischer len, dass das Land nicht in inter- Brückenbauer situativ nationale (militärische) Konflikte sogar erhöhen. hineingezogen wird und bedeutet im Wesentlichen Allianzfreiheit. Mit Blick auf eine aktive Dialog-, Mediations- und Vermittlungspo- litik kann sie die Glaubwürdigkeit der Schweiz als unabhängiger und unparteiischer Brückenbauer situativ sogar erhöhen.59 Ein konzeptuell vorausschauender Auf- und Ausbau der ausgrei- fenden Komponente der Schweizer Sicherheitspolitik erfordert zweitens, dass er bezugnehmend auf die traditionellen Prinzipien der Schweizer Aussenpolitik angegangen wird und diese den sich verändernden inne- ren und äusseren Rahmenbedingungen anpasst werden. Dabei gilt es, die richtige Balance zwischen Kontinuität und Wandel zu finden, wel- che sowohl die innere als auch die äussere Glaubwürdigkeit der Bei- träge zu Frieden und Sicherheit im Auge behält. Die Stabilisierung von schwachen Staaten, das Management grenzüberschreitender operati- oneller Herausforderungen und die Transformation globaler Instituti- onen und Normen sind allesamt langsame Prozesse, die einen langen Atem erfordern. Solidarität und Disponibilität bildeten den traditio- nellen Ausgangspunkt für die Beiträge der Schweiz zur Krisen- und Konfliktbearbeitung. Seit Mitte der 1990er-Jahre haben sich die Guten

57 Jürg Martin Gabriel, Sackgasse Neutralität (Zürich: ETH, 1997); Bundesrat, Bericht zur Neutralität, Anhang zum Bericht des Bundesrates über die Aussenpolitik der Schweiz in den 90er Jahren, 29.11.1993. Vgl. auch Alois Riklin, «Neutralität am Ende? 500 Jahre Neutralität der Schweiz», in: Zeitschrift für schweizerisches Recht 125 (2006), 583 – 598. 58 Tibor Szvircsev Tresch et al., Sicherheit 2016: Aussen-, sicherheits- und verteidigungspolitische Meinungsbildung im Trend (Zürich: ETH Zürich, 2016), 131. 59 Nünlist, Neutrality for Peace.

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Dienste der Schweiz im Kontext eines vermehrten Engagements für die menschliche Sicherheit schrittweise erweitert.60 Heute geht es da- rum, vermehrt Verantwortung zu übernehmen und das internationale Sicherheitsumfeld aktiv mitzugestalten. Das Engagement zur Stärkung des Völkerrechts wiederum bildete den traditionellen Ausgangspunkt für die Mitgestaltung einer regelbasierten internationalen Ordnung. In einer globalisierten und vernetzten Welt, in der Sicherheitsfragen zuneh- mend auch private und zivilgesellschaftliche Akteure betreffen, haben sich die Gouvernanz-Mechanismen aufgefächert. Heute geht es um die aktive Mitgestaltung vielschichtiger Sicherheitsnormen zusammen mit Staaten, privaten und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Effiziente und effektive sicherheitspolitische Beiträge der Aussenpo- litik erfordern drittens ein kohärentes Auftreten der Schweiz im multi-, mini- und bilateralen Rahmen. Sowohl bei der Krisen- und Konflikt- bearbeitung als auch bei Mitgestaltung globaler Sicherheitsnormen gilt es die gesamten Stärken der Schweiz als hochentwickeltes Land ein- bringen und zwar unabhängig von sektoriellen Verwaltungsansprüchen. Kohärenz in der Politikgestaltung erfordert multidimensionale Lösun- gen, welche die wechselseitigen Abhängigkeiten und Synergiepotenti- ale zwischen sektoriellen Zielen miteinbeziehen. Dies wiederum setzt bei allen sicherheitspolitischen Instrumenten klare Konzepte und stra- tegische Prioritäten voraus. Eine gezielte Interessenvertretung erfordert eine aktive Koordination der Kontakte mit dem Ausland. Dabei sind die Beiträge verschiedener staatlicher Ebenen ebenso zu koordinieren wie die Beiträge von privater und zivilgesellschaftlicher Seite.61 Das interna- tionale Genf bietet der Schweiz eine ideale Plattform, um das interna- tionale Sicherheitsumfeld mitzugestalten.62 Dies setzt allerdings voraus,

60 Daniel Trachsler, «Menschliche Sicherheit: Entstehung, Debatten, Trends», in: CSS-Ana- lysen zur Sicherheitspolitik Nr. 90 (2011); «Der zweite Frühling der Guten Dienste», in: NZZ, 28.1.2014; «Gute Dienste im neuen Kleid», in: Neue Luzerner Zeitung, 9.4.2016. Vgl. auch Didier Burkhalter, Good Offices: A Swiss Speciality, Valetta, 9.3.2016; Daniel Trachsler, «Gute Dienste: Mythen, Fakten, Perspektiven», in: Bulletin zur schweizerischen Sicherheitspolitik (2004), 33 – 64. 61 Wenger, Sicherheitspolitik, 656 – 666. Vgl. zu Kohärenz und Konditionalität der Schweizer Aussenpolitik seit 1990 Jörg Künzi, Vom Umgang des Rechtsstaats mit Unrechtsregimes (Bern: Stämpfli, 2008), 513 – 540. 62 Bundesrat, Botschaft zu den Massnahmen zur Stärkung der Rolle der Schweiz als Gaststaat, 19.11.2014. Vgl. auch Valentino Arico et al., Das internationale Genf, ein Schweizer Trumpf, foraus-Diskussionspapier Nr. 18 (2013).

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dass sich das Land aktiv am sicherheitspolitischen Gestaltungsprozess der Staatengemeinschaft beteiligt. Als führender Forschungsstandort ist es viertens im Interesse der Schweiz, bei der Entwicklung, Umsetzung und Evaluation ihrer au- ssensicherheitspolitischen Beiträge eng mit der Wissenschaft zusam- menzuarbeiten. Aufgrund der technologischen Entwicklung und der Komplexität der sicherheitspolitischen Herausforderungen steigt die Be- deutung wissenschaftsbasierter Politikansätze. Aufgrund der Kompeten- zen und Fähigkeiten der Schweizer Universitäten und Fachhochschu- len stehen dabei Beiträge zur Politikentwicklung, zur Ausbildung und Kapazitätsentwicklung und zur Politikevaluation im Vordergrund. Zur Professionalisierung der internationalen Mediation bietet sich beispiels- weise eine Zusammenarbeit für eine praxisorientierte Ausbildung an.63 Die Ergebnisse der systematischen Erforschung von Friedensprozessen erlauben auch für die Praxis relevante Rückschlüsse, zum Beispiel da- rüber, wie der Zeitpunkt der Gespräche oder der Stil eines Mediators Einfluss hat auf einen Spannungsabbau oder das Zustandekommen ei- nes Friedensabkommens oder wie die technische Qualität eines Ab- kommens Auswirkungen auf die Dauerhaftigkeit eines Friedens hat.64 Auch die Technologieentwicklung, um ein anderes Beispiel zu nennen, bietet sowohl umfassende Chancen als auch neue Risiken mit Blick auf den Frieden und die Sicherheit in der Welt. Neue Sicherheitstech- nologien tragen zum Schutz kritischer Infrastrukturen, zur Verbesse- rung des Katastrophenmanagements sowie zur Effizienzsteigerung von Nachrichtendiensten, Polizei und Armeen bei. Gleichzeitig bestehen Risiken, was die Verletzung von Freiheitsrechten oder die kriegerische Nutzung anbelangt. Auch bei der Entwicklung neuer Kontrollmecha- nismen scheint eine enge Zusammenarbeit zwischen Politik und For- schung erfolgversprechend.

63 Burkhalter, Welche Aussenpolitik? (vgl. Fn. 3). 64 Constantin Ruhe, «Anticipating Mediated Talks: Predicting the Timing of Mediation with Disaggregated Conflict Dynamics», in:Journal of Peace Research 52, Nr. 2 (2015), 243 – 257; Ramzi Badran, «Intrastate Peace Agreements and the Durability of Peace», in: Conflict Management and Peace Science 31, Nr. 2 (2014), 193 – 217; Cyle C. Beardsley et al., «Mediation Style and Crisis Outcomes», in: Journal of Conflict Resolution 50, Nr. 1 (2006), 58 – 86.

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Als hochentwickelter Staat ist es fünftens im Interesse der Schweiz, bei der Mitgestaltung des sicherheitspolitischen Umfeldes auch auf die Beiträge einer innovativen Industrie und einer lebendigen Zivilgesell- schaft zurückzugreifen. So wird beispielsweise die Entwicklung von Normen im Cyberbereich auch von zivilgesellschaftlichen Akteuren vo- rangetrieben. Die in Genf ansässige Stiftung «ICT4peace» etwa wurde ursprünglich als Schweizer Beitrag zum zweiten Welt-Informations- gipfel der UNO 2005 als Internetplattform ins Leben gerufen, auf der Experten Ideen und Wissen austauschen konnten, wie neue Informa- tions- und Kommunikationstechnologien zur Friedensförderung einge- setzt werden konnten.65 Auch im Bereich der Mediation und Friedens- förderung engagieren sich viele zivilgesellschaftliche Akteure (etwa das Centre for Humanitarian Dialogue oder Swisspeace) und Netzwerke wie das vom EDA finanzierte Mediation Support Network.66 Die Industrie wiederum ist ein wichtiger Partner bei der Entwicklung und dem Un- terhalt von Sicherheitstechnologien, sei dies in der Pharmaindustrie, bei der Überwachung, der Datenanalyse, der Fernerkundung oder der satel- litengestützten Navigation. Nicht zu übersehen ist die Bedeutung pri- vater Akteure darüber hinaus für den Schutz kritischer Infrastrukturen oder wirtschaftliche Landesversorgung. Hier kennt die Schweiz auch im internationalen Vergleich innovative Beispiele der engen Zusammenar- beit zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor (zum Beispiel die Melde- und Analysestelle Informationssicherung «Melani»67 oder die Organisation der wirtschaftlichen Landesversorgung68).

65 «Mit Technologie zum Frieden», in: Swissinfo, 23.2.2005. 66 Vgl. www.mediationsupportnetwork.net. Dieses Netzwerk wird vom CSS und von Swiss- peace koordiniert. 67 In der Melde- und Analysestelle Informationssicherung «Melani» arbeiten Partner zusam- men, die im Umfeld der Sicherheit von Computersystemen und des Internets sowie des Schutzes der schweizerischen kritischen Infrastrukturen tätig sind. MELANI richtet sich an private Computer- und Internetbenutzer sowie an kleinere und mittlere Unternehmen der Schweiz. Vgl. www.melani.admin.ch. 68 Alfred Fliessenkämper, «Die Strategie der wirtschaftlichen Landesversorgung im Lichte veränderter weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen», in: Die Volkswirtschaft 11 (2010), 24 – 27. An der Schnittstelle zwischen Staat und Wirtschaft arbeiten ein kleiner profes- sioneller Bundesstab, das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) mit 300 Milizvertretern aus der Privatwirtschaft und verschiedenen Verwaltungszweigen zusammen.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 46 AKTUELLE DISKUSSION

SCHLUSSBEMERKUNGEN Im 21. Jahrhundert hat die ausgreifende Komponente der Schweizer Si- cherheitspolitik eine markante Aufwertung erfahren. In einer fragmen- tierten und sich im Umbruch befindenden internationalen Sicherheits- ordnung haben sich letztlich die Handlungsspielräume für eine aktive Mitgestaltung des sicherheitspolitischen Umfelds für die Schweiz er- weitert. Aufgrund der engen internationalen Vernetzung und Verflech- tung können auch geografisch weit entfernte Krisenherde aufgrund des komplexen und dynamischen Charakters aktueller Bedrohungen eine Rückwirkung auf die Sicherheit der Schweiz haben. Weil diese grenzüberschreitenden Herausforderungen die traditionelle organisa- torische Trennung zwischen äusserer und innerer Sicherheit transzen- dieren, hängt die Sicherheit der Schweiz immer enger zusammen mit eigenständigen Beiträgen des Landes zu Frieden und Sicherheit in Eu- ropa und in der Welt. Drei strategische Prioritäten bieten sich für die künftige Schweizer Aussensicherheitspolitik an: Erstens eigenständige, innovative Beiträge der Schweiz zur internationalen Krisen- und Konfliktbearbeitung mit Fokus auf Mediation, menschliche Sicherheit, Fragilität und Präven- tion von gewalttätigem Extremismus. Zweitens das Mitgestalten glo- baler Sicherheitsnormen wie der Zugang zur den Global Commons, die friedliche Nutzung moderner Technologie, stabile Märkte und gesi- cherte Mobilität. Drittens die flexible Interessenvertretung durch den Einsatz der Schweiz für einen funktionierenden Multilateralismus und einen effektiven Minilateralismus in Zusammenarbeit mit gleichgesinn- ten Partnern. Diese moderne Schweizer Aussensicherheitspolitik wird dann nach innen und aussen glaubwürdig sein, wenn sie sich an Schwei- zer Werten orientiert, traditionelle Konzepte weiterentwickelt und über Departemente und Staatsebenen hinweg koordiniert und kohärent um- gesetzt wird. Mit Blick auf Politikentwicklung, Politikevaluation sowie Ausbildung und Kapazitätsentwicklung muss sie wissenschaftsbasiert sein und das Potenzial der innovativen Schweizer Industrie und der le- bendigen Schweizer Zivilgesellschaft berücksichtigen. Im Unterschied zum Kalten Krieg und den vermeintlich «goldenen» Jahren des sicherheitspolitischen Aufbruchs der Schweiz nach 1990 ist der Handlungsspielraum für eine derartige moderne Schweizer Aussen- sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert grösser geworden. Eine pragma-

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK AUFWERTUNG DER SICHERHEITSPOLITISCHEN BEITRÄGE DER SCHWEIZER AUSSENPOLITIK 47 tische, eigenständige und bürgernahe Aussensicherheitspolitik, die den Werten der Schweiz und dem Selbstverständnis ihrer Bevölkerung ent- spricht, ist letztlich innenpolitisch mehrheitsfähig. Die spürbare Auf- wertung der sicherheitspolitischen Beiträge der Aussenpolitik seit dem Ende des Kalten Krieges ist im Interesse der Schweiz und verdient es, fortgesetzt und weiter entwickelt zu werden.

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DAS SCHWEIZER ENGAGEMENT IN BOSNIEN: LANGFRISTIGKEIT UNTER DRUCK

Von Matthias Bieri

2016 jährt sich der Beginn des Nachkriegs-Engagements der Schweiz in Bos- nien-Herzegowina zum zwanzigsten Mal. Zeit, zurückzublicken auf die Schweizer Präsenz im Land. Da in Bosnien nach wie vor drängende Prob- leme bestehen, scheint ein baldiges Ende des zivilen und militärischen Enga- gements unwahrscheinlich. Die Schweiz will ihrem langfristigen Ansatz treu bleiben, wird in Zukunft aber vor wichtige Entscheidungen gestellt werden.

EINLEITUNG Am 14. Dezember 1995 beendete die Unterzeichnung des Friedensver- trags von Dayton den Bosnienkrieg, welcher über 100 000 Todesopfer gefordert hatte. Für die internationale Gemeinschaft begann damit ihr Nachkriegsengagement, wobei zwei Ziele im Vordergrund standen: Die militärische Sicherung des Friedens und der Wiederaufbau des Lan- des. Dem Abkommen folgte die Stationierung der UNO-mandatierten Nato-Mission Implementation Force (IFOR), die Ende 1996 von der Fol- gemission SFOR (Stabilization Force) abgelöst wurde. Zugleich lief auch die internationale Stabilisierungs- und Wiederaufbauhilfe im Land an; bilaterale und multilaterale Entwicklungsprojekte wurden aufgegleist. Seit den 1990er-Jahren ist der Westbalkan eine Schwerpunktregion der Schweizer Aussenpolitik. Die Region im Allgemeinen und Bosnien im Speziellen sind für die Schweiz aus verschiedenen Gründen von Be- deutung. Insbesondere die geografische Nähe und die rund 60 000 Ein- wohner der Schweiz mit Wurzeln in Bosnien begründen das Schweizer Interesse an der Entwicklung des Landes.1 Die Schweiz will mit ihrem Engagement die Sicherheit in ihrer Nachbarschaft fördern, deren er-

1 Bundesrat, Aussenpolitischer Bericht 2000, 15.11.2000; Bundesrat, Aussenpolitische Südost- europa-Strategie der Schweiz, 24.4.2002; Bashkim Iseni et al., Die Bevölkerung von Bosnien und Herzegowina in der Schweiz (Bern: BFM/Deza, 2014), hier 35 sowie 96 – 101.

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neute Instabilität sie auf verschiedene Art und Weise beeinträchtigen würde.2 Die Unabhängigkeit Bosniens hatte die Schweiz 1992 anerkannt, während des Krieges leistete sie Nothilfe und nahm vorübergehend bis zu 70 000 Flüchtlinge auf.3 1996 begann dann auch für die Schweiz ein neuer Abschnitt in Bosnien. In den Jahren nach dem Krieg beteiligte sie sich substanziell am Wiederaufbau des Landes. Dieses Engagement wurde nach Beseitigung der unmittelbaren Kriegsfolgen fortgesetzt. Die Schweiz fördert seither auf verschiedene Weisen die Entwicklung Bos- niens als Schwerpunktland ihrer Entwicklungszusammenarbeit in Ost- europa. Auch die Armee ist heute noch mit 26 Angehörigen vor Ort. In Bosnien konzentriert sich die Schweiz auf Nischenbereiche. Dies unter anderem, weil ihr durchaus beachtlicher Beitrag verglichen mit dem internationalen Hauptakteur vor Ort, der EU, klein ausfällt. Die EU-Institutionen und die EU-Mitgliedsländer investierten 2014 mehr als 423 Mio. USD in die Entwicklungszusammenarbeit, die Schweiz als fünftgrösstes Geberland rund 28 Mio. USD. Insgesamt hat der Bund seit 1996 in Bosnien Unterstützung in Höhe von rund 600 Mio. CHF geleistet. Daneben sind auch der Internationale Währungsfond (IWF), die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) und die Weltbank wichtige finanzielle Unterstützer des Landes.4 Die Absprache mit den multilateralen Akteuren, insbesondere der EU, ist darum für die Schweiz stets vonnöten, um Doppelungen zu verhindern und die Kohärenz der Aktivitäten sicherzustellen. Die EU hatte Mitte der 2000er-Jahre die Führung bei der euro-at- lantischen Integration Bosniens, die als Mittel zur nachhaltigen Befrie- dung des Landes gilt, von den USA übernommen. Dies äusserte sich in der 2004 erfolgten Überführung der militärischen Mission von der

2 Bundesrat, Botschaft zur internationalen Zusammenarbeit 2017 – 2020 (Vorabdruck), 17.2.2016, 229 – 230. 3 Andreas Wenger / Jeronim Perovic, Das schweizerische Engagement im ehemaligen Jugosla- wien: über Grenzen und Möglichkeiten der Aussenpolitik eines neutralen Kleinstaates (Zürich: ETH Zürich, 1995); Michael Meier, Das Engagement der Schweiz in den Konflikten im ehe- maligen Jugoslawien (Bern: Lang, 2006). 4 OECD, Aid (ODA) Disbursements to Countries and Regions, 22.9.2016, http://stats.oecd. org; Deza, Interview mit Elisabeth von Capeller, Chefin des Direktionsbereichs Ostzusammen- arbeit der Deza, 14.7.2016; Internationaler Währungsfond, Bosnia and Herzegovina: Tur- ning the Economy Around, 9.11.2016; EBRD, The Strategy for Bosnia and Herzegovina, 15.1.2014; Weltbank, World Bank Group in Bosnia and Herzegovina: Partner for a Better Fu- ture, 21.9.2016.

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Nato zur EU und der Übernahme der Polizeimission von der UNO 2003 – die EU-Polizeimission European Union Police Mission (EUPM) löste die International Police Task Force (IPTF) ab – aber auch im politischen Bereich. Die USA haben zwar in Bosnien immer noch ein auf die Ju- goslawienkriege zurückgehendes Pres- tige, nur hatten sich ihre Präsenz, ihr Ein baldiges Ende der Interesse und damit auch ihr Einfluss Schweizer Präsenz auf die Geschicke des Landes verrin- in Bosnien scheint gert.5 Die EU ihrerseits war im letzten vorläufig unrealistisch. Jahrzehnt stark von Krisen abgelenkt. Sie hat sich in ihrer Bosnien-Politik zudem öfters uneinig gezeigt und der eigenen Arbeit damit geschadet. Eine 2014 lancierte Initiative zur Revitalisierung der europäischen Integration des Westbalkans sollte die EU-Politik kohärenter machen. Der aus der Initiative hervorgegangene und auf fünf Jahre angelegte «Berlin-Prozess» soll mit jährlichen Gip- feltreffen neuen Schwung erzeugen. Der Prozess steht stellvertretend für die deutsche Führungsrolle innerhalb der EU in Bosnien.6 Ein baldiges Ende der Schweizer Präsenz in Bosnien scheint vorläu- fig unrealistisch. Für Bosnien ist die internationale Unterstützung nach wie vor vital, die Zukunft des Landes ist ungewiss. Wirtschaftlich, so- zial und auch im rechtsstaatlichen Bereich sind nur wenig Fortschritte erkennbar. Bosnien ist auch nach Ansicht des Schweizer Bundesrates noch immer krisengefährdet und noch nicht soweit reformiert, dass es ohne fremde Hilfe seinen Bürgern ein Leben in Würde und Sicherheit garantieren könnte.7 Der Graben zwischen den Ethnien hat sich zudem seit dem Krieg nicht geschlossen. Das Dayton-Abkommen etablierte Einflusszonen für die drei Ethnien im Land – die bosnischen Serben, die bosnischen Kroaten und die Bosniaken – inklusive zahlreicher Veto­ rechte für die Volksgruppen. Diese Konstellation führte dazu, dass bis

5 Steve Woehrel, Bosnia and Herzegovina: Current Issues and U.S. Policy, Congressional Re- search Service, 24.1.2013. 6 Kurt Bassuener / Bodo Weber, EU Policies Boomerang: Bosnia and Herzegovina’s Social Un- rest (Sarajevo/Berlin: Democratization Policy Council, 2014); Andreas Ernst, «Autori- täre Tendenzen auf dem Westbalkan: Gipfel in Berlin», in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 28.8.2014; Erich Rathfelder, «Durchbruch dank Merkel. EU und Bosnien-Herzegowina», in: Die Tageszeitung, 19.7.2016; Igor Jovanovic, «Vienna Summit Binds Balkan States to Broad Reforms», in: Balkan Investigative Reporting Network, 28.8.2015. 7 Bundesrat, Bericht über die Sicherheitspolitik der Schweiz, 24.8.2016.

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heute keine neue Verfassung ausgearbeitet werden konnte, die den Staat effizienter und reformfähiger gemacht hätte. Da die drei Bevölkerungs- gruppen nach wie vor unterschiedliche Vorstellungen von ihrer staatli- chen Zukunft haben, ist der Zusammenhalt weiterhin nicht garantiert, auch wenn ein gänzlicher Zerfall Bosniens unwahrscheinlich scheint. Die internationale Präsenz dient aber auch als Absicherung für diesen nicht gänzlich auszuschliessenden Fall. Verschärfend kommt hinzu, dass Russland über die bosnische Teilrepublik (Republika Srpska, kurz RS) dem Westen Probleme bereiten kann. Es unterhält enge Kontakte zu diesem Landesteil, unterstützt dessen separatistische Tendenzen und stellt die euro-atlantische Integration des gesamten Landes infrage. Die bosnisch-serbische Führung kokettiert seit einigen Jahren mit der Se- parationsdrohung. Mit einem Referendum im September 2016 liess sie den Jahrestag der Gründung der RS 1992 als Feiertag der Teilrepublik bestätigen und verstiess damit gegen ein Verbot des Verfassungsgerichts, welches das Referendum für illegal erklärt hatte. Mit der Ignorierung der Verfassungsgerichtsentscheide geht auch eine Schwächung der Ver- fassung einher, welche die bosnischen Serben in Bosnien-Herzegowina hält. Die Führung lenkte damit von ihren Misserfolgen ab und vergrös­ serte ihren Rückhalt in der Bevölkerung mit Blick auf die Lokalwahlen Anfang Oktober. Zugleich schafft sie es trotzdem, dringend benötigte Hilfsgelder aus dem Westen zu akquirieren. Ebenfalls für Unruhe sorgt die in den letzten Jahren gewachsene Relevanz islamistischer Gruppie- rungen in Bosnien. Die Missionierungsaktivität dieser Gruppierungen in Kombination mit einer perspektivlosen Jugend haben Befürchtungen geweckt. Auch die internationalen Akteure im Land interessieren sich für dieses Thema, nicht zuletzt auch die Schweiz, welche sich bei der Prävention von gewalttätigem Extremismus einbringt. Das zwanzigjährige «Jubiläum» bietet sich an, um Bilanz zu ziehen und die Perspektiven des Schweizer Engagements in Bosnien näher zu analysieren. Die Schweiz hat sich durch ihre langfristigen Anstrengun- gen und konkrete, sich auf die Lebensqualität der Bevölkerung auswir- kende Projekte einen guten Ruf verschafft. Die Relevanz der Präsenz in Bosnien wird sich für die Schweiz in den kommenden Jahren wohl nicht gross verändern. Hingegen ist von einem Verlust an Aufmerk- samkeit und Interesse auszugehen, welcher – jenseits der Bedarfsent- wicklung – den Druck zur Reduzierung des Engagements vergrössern

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK DAS SCHWEIZER ENGAGEMENT IN BOSNIEN: LANGFRISTIGKEIT UNTER DRUCK 53 könnte. Das Schwinden der Migration aus Bosnien in die Schweiz – trotz nach wie vor grosser Auswanderungsbereitschaft im Land – wird dazu beitragen.

1 DIE SCHWEIZ IN BOSNIEN SEIT DEM KRIEG Das Engagement der Schweiz in Bosnien schloss an die Unterstützung während des Krieges an. Für die humanitäre Hilfe während des Kon- flikts stellte die Eidgenossenschaft mehr Mittel für ein einzelnes Krisen- gebiet zur Verfügung als je zuvor in ihrer Geschichte. Auch an den Mis- sionen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) in Bosnien, etwa zur besseren Kontrolle von Gefangenenlagern, waren Schweizer beteiligt, wie auch an der UNO-Mission UNPROFOR, wo unbewaffnete Zivilpolizisten und Militärbeobachter zum Einsatz kamen. Die humanitäre Hilfe während des Krieges belief sich auf über 145 Mio. CHF. 8 Die finanzielle Hilfe gleich nach dem Krieg übertraf diesen Be- trag: Zwischen 1996 und 1998 leistete die Schweiz Wiederaufbauhilfe in Höhe von 220 Mio. CHF.9 In der Folge sollen zuerst die Anfänge des Nachkriegsengagements sowie abgeschlossene Projekte betrachtet werden, gefolgt von den aktu- ellen Aktivitäten. Die Analyse der momentanen Lage in Bosnien führt dann über zu den Perspektiven des Schweizer Engagements.

1.1 VOM ENDE DES KRIEGS BIS ZUM ENDE DER 2000ER-JAHRE Den umfangreichsten Schweizer Beitrag in Bosnien leistete von Be- ginn an die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza). Zwischen 1996 und 1999, der direkten Nachkriegszeit, lag ihr Fokus auf humanitärer Hilfe und Wiederaufbau. In den ersten beiden Jah- ren ging es für die internationale Gemeinschaft vor allem darum, der Bevölkerung das zum Leben Notwendige zugänglich zu machen. An- schliessend standen die Rückkehr der Flüchtlinge und der Aufbau der staatlichen Strukturen im Mittelpunkt. Auch für die Schweizer Ent-

8 Wenger/Perovic, Schweizerisches Engagement. 9 Eidgenössische Militärbibliothek, Forschungsdienst, Bosnien und Herzegowina: Historische Betrachtung und Aspekte der Beziehung zur Schweiz (Bern 2010), 13.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 54 AKTUELLE DISKUSSION wicklungszusammenarbeit rückte im Zuge dessen die langfristige Ent- wicklung in den Vordergrund. Dazu gehörte die Förderung der sozia- len Marktwirtschaft zur Überwindung der ökonomischen Probleme des Landes, aber auch das Fördern von Demokratie und Menschenrechten wurde in der zerrütteten Nachkriegsgesellschaft zur Priorität. Das Ziel einer europäischen Integration Die LOT-Teams dienen der Bosnien-Herzegowinas und des Eufor als Frühwarnsysteme gesamten Westbalkans gewann für potenzielle Konflikte. in dieser Zeit an Bedeutung, im Jahre 2000 begann der EU-In- tegrationsprozess mit dem Start des Stabilisierungs- und Assoziierungs- prozesses. Auch die Schweiz trägt dieses Entwicklungsziel seitdem mit, da die europäische Integration als von der Bevölkerung gewünscht ange- sehen wird und man sich nicht zuletzt dadurch eine nachhaltige Über- windung der regionalen Konflikte verspricht.10 Bosnien hatte für die Schweiz mit Blick auf die militärische Frie- densförderung in den 1990er-Jahren besondere Bedeutung. Am 31. Ja- nuar 1996 beschloss der Bundesrat, unbewaffnete Schweizer «Gelbmüt- zen» (welche ihre Umgangsbezeichnung von den sie kennzeichnenden gelben Bérets erhielten) als logistische Unterstützung für die OSZE- Mission in Bosnien zu entsenden. Im Juli 1996 traf der Hauptteil der Gelbmützen ein. Dies war ein wichtiger Meilenstein für das Ausland- sengagement der Schweizer Armee und letztlich ein entscheidender Schritt hin zur Mitgliedschaft der Schweiz im Nato-Programm Part- nership for Peace. Der Einsatz war auch ein wichtiger Erfahrungswert zur Aufgleisung weiterer Auslandseinsätze, so etwa der Beteiligung an der Nato-Mission KFOR in Kosovo. Die durchschnittlich 55 Schweizer Soldaten boten der OSZE-Mission in Bosnien bis ins Jahr 2000 logis- tische Unterstützung. Dieser Einsatz war anfangs innenpolitisch nicht unumstritten. Zwei Jahre zuvor hatten die Schweizer Stimmbürger die Entsendung von bewaffneten Schweizer Soldaten für UNO-Friedens- missionen abgelehnt. Letztlich war die Gelbmützen-Mission aber ein

10 Wolfgang Petritsch, «Herbst in Bosnien-Herzegowina: Erfahrungen und Perspektiven», in: Europäische Rundschau 43, Nr. 4 (2015), 23 – 32; Vedran Dzihic, «Vermessungen der Angst- und Freiheitszonen: 20 Jahre nach Dayton», in: Europäische Rundschau 43, Nr. 4 (2015), 15 – 22; Deza, Interview mit Elisabeth von Capeller.

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voller Erfolg und die Schweizer Armee konnte wertvolle Einsatzerfah- rung im Westbalkan sammeln.11 Nach einer kurzen Pause war die Schweiz ab 2004 wieder militä- risch präsent in Bosnien. In diesem Jahr wurde die UNO-mandatierte Nato-Mission SFOR durch die EU-Mission «Eufor Althea» ersetzt. Auf Anfrage Grossbritanniens beteiligte sich die Schweiz an dieser Mission. Seit 2005 sind maximal 20 bewaffnete Soldaten, vier Stabsoffiziere so- wie zwei Verbindungs- und Beobachtungsteams (Liaison and Observa- tion Team, kurz LOT) à acht Armeeangehörigen im Einsatz. Die beiden LOT-Teams dienen heute in Mostar und Trebinje und sind zwei von noch insgesamt 17 Teams. 2004 waren noch 47 Teams über das Land verteilt, insgesamt hat sich die Präsenz der Eufor von 7000 Mann (2004) auf 600 2016 reduziert. Die LOT-Teams dienen der Eufor als Früh- warnsysteme für potenzielle Konflikte. Sie pflegen den Kontakt mit der Zivilbevölkerung und den lokalen Behörden in ihren Einsatzgebieten und dienen als deren Ansprechpersonen. Eine Stärke der Schweiz ist in dieser Hinsicht ihr Milizsystem. Den Milizsoldaten fällt der Umgang mit Zivilisten leichter als Berufssoldaten anderer Nationen, die sich im Alltag vor allem an andere Soldaten gewohnt sind.12 Darüber hinaus stellte die Schweiz zwischen 2005 und 2009 der Mission ein Helikop- terdetachement mit zwei Transporthubschraubern zur Verfügung. Auch dieser Einsatz der Schweizer Armee entsprach dem Nischenansatz der Schweiz in Bosnien.13 Im Rückblick darf auch der Schweizer Beitrag via internationale Or- ganisationen nicht vergessen werden. So organisierte und überwachte die OSZE im September 1996 unter Schweizer Vorsitz die ersten Nach- kriegswahlen im Land.14 Wiederholt war die Schweiz auch hochrangig in internationalen Organisationen in Bosnien präsent. Die vormalige

11 Bruno Lezzi, «Neutralitätsparole gegen moderne Sicherheitspolitik: Der Kampf für Blauhelme im Rückblick», in: NZZ, 6.8.2013; Schweizer Armee, SHQSU (Bosnien-Herzegowina). 12 Interview mit Oberst i Gst Fredy Keller, Kommandant Komp Zen , , 23.8.2016; sowie Schweizer Armee, Factsheet: EUFOR LOT und EUFOR MTT in Bosnien-Herzegowina. 13 «Rückkehr nach vier Jahren», in: Armee.ch 2 (2009), 8 – 9. 14 Marie-Janine Calic, «Der Beitrag der OSZE zur Demokratisierung Bosnien-Herzegowi- nas», in: OSZE-Jahrbuch 3 (1997), 143 – 156, hier 145 – 149.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 56 AKTUELLE DISKUSSION

Nationalratspräsidentin Gret Haller etwa war zwischen 1996 und 2000 Ombudsfrau für Menschenrechte in Bosnien-Herzegowina.15 Die vielfältige Präsenz in den 2000er-Jahren ergänzten weitere Be- teiligungen: Von Anfang 2003 bis Mitte 2012 war die Schweiz auch an der zivilen EU-Polizeimission EUPM (European Union Police Mission) mit einzelnen Experten vertreten. Zwischen 1999 und 2012 wurde fer- ner ein umfangreiches Kulturförderungsprogramm unterhalten.16

1.2 AKTUELLE ENTWICKLUNG DES ENGAGEMENTS Das Ende der Polizeimission EUPM 2012 steht für die Absicht der in- ternationalen Akteure, ihr Engagement schrittweise zu reduzieren und den bosnischen Behörden allmählich die Verantwortung für ihr Land zu überlassen. Einerseits können so Ressourcen eingespart werden, ande- rerseits können nur so nachhaltige lokale Strukturen aufgebaut werden. Diese Absicht lässt sich aber längst nicht in allen Bereichen umsetzen. Die Schweiz ihrerseits betont bei ihren Aktivitäten stets den langfristi- gen und nachhhaltigen Ansatz. Dies hat ihrem Engagement in Bosnien Glaubwürdigkeit und einen guten Ruf verschafft.17 Auch die Schweizer Aktivitäten haben sich jedoch in den letzten Jahren weiterentwickelt. Im Sinne der Bündelung der Anstrengungen wurde 2009 erstmals eine auf vier Jahre ausgelegte, interdepartemen- tale Kooperationsstrategie für Bosnien in Angriff genommen. An die- ser ersten Strategie waren die Deza und das Staatssekretariat für Wirt- schaft (Seco) beteiligt. Sie legte bis heute gültige Schwerpunkte fest: erstens die Unterstützung von Rechtstaatlichkeit und Demokratie im Land, zweitens die Förderung der Wirtschaft und drittens Hilfe in den Bereichen Gesundheit und Infrastruktur. Konkret heisst das, dass die Schweiz sich auf den Aufbau einer bürgernahen lokalen Verwaltung, die Verbesserung des Gesundheitswesens sowie wirtschaftliches Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen, insbesondere für Jugendliche,

15 Gret Haller, Die Grenzen der Solidarität (Berlin: Aufbau-Verlag, 2002); Bundesrat, Die Schweiz verstärkt ihre Präsenz in der OSZE, 20.9.2013. 16 François Matarasso, Cultural Encounters. Swiss Cultural Programme in South Eastern Europe 1999 – 2012, 2013. 17 Interview mit Irène Kränzlin, Programmbeauftragte der Deza für Bosnien und Herzego- wina, Bern, 10.8.2016.

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konzentriert. Dabei will sie auf das Know-how der Schweiz in diesen Bereichen bauen. So soll etwa das duale Bildungssystem der Schweiz Anknüpfungspunkte für Bosnien bieten und die Einbindung der Dias- pora in der Schweiz, etwa durch die Förderung deren wirtschaftlichen Aktivitäten in Bosnien, neue Arbeitsplätze schaffen.18 2013 wurden an der Kooperationsstrategie nur kleine Anpassungen vorgenommen, ins- gesamt wollte man die Kontinuität wahren.19 Im militärischen Bereich wurde das Engagement 2011 über die LMTs und die vier Stabsoffiziere hinaus erweitert. Seit diesem Jahr bil- den sechs Schweizer Experten im Rahmen eines multinationalen Mobile Training Teams (MTT) die bosnischen Streitkräfte im sicheren Betrieb von Munitions- und Waffenlagern aus. Dieses Projekt könnte bereits 2018 zum Abschluss gebracht werden. Die bosnische Armee soll dann die vollumfängliche Verantwortung für die Lager übernehmen, sodass sich die Eufor aus diesem Bereich zurückziehen kann.20 Die Überschwemmungen 2014 brachten dem Land neue Aufmerk- samkeit. In diesem Jahr leistete auch die Schweiz wieder substanzielle humanitäre Hilfe. Zudem gerieten Bosniens Probleme für einmal wie- Auch auf diplomatischer der an die internationale Öffentlich- Ebene ist die Schweiz keit, etwa die Armut des Landes und weiterhin aktiv. die Tatsache, dass die Minenproble- matik im Land auch 20 Jahre nach dem Kriegsende noch nicht behoben ist. Die Fluthilfe 2014 hat auch zur Aufgleisung neuer Kooperationspro- jekte geführt. Diese zielen darauf ab, die Katastrophenmanagementka- pazitäten zu erweitern und die Armutsreduktion voranzutreiben.21 Auch auf diplomatischer Ebene ist die Schweiz weiterhin aktiv. Während des Schweizer OSZE-Doppelvorsitzes mit Serbien 2014/15 war Gérard Stoudmann OSZE-Sonderbeauftragter für den Westbal- kan. Unter seiner Vermittlung wurde von den Präsidenten von Bosnien, Kroatien, Montenegro und Serbien 2014 eine gemeinsame Erklärung

18 Deza, Interview mit Elisabeth von Capeller. 19 Deza/Seco, Swiss Cooperation Strategy Bosnia and Herzegovina 2013 – 2016. 20 Interview mit Oberst i Gst Fredy Keller; Factsheet, EUFOR LOT und EUFOR MTT in Bosnien-Herzegowina. 21 EDA, History of the Swiss Cooperation Programme.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 58 AKTUELLE DISKUSSION

zur Frage der vermissten Personen unterzeichnet – ein wichtiger Schritt Richtung regionaler Aussöhnung, ist doch das Verbleiben von noch im- mer rund 10 000 Vermissten unklar.22 In der neusten interdepartementalen Kooperationsstrategie, welche ab 2017 den Rahmen für die entwicklungspolitischen Aktivitäten der Schweiz vorgeben wird, soll das Thema Vergangenheitsheitsbewältigung abgebaut werden. Der Abbau in Bosnien überrascht, da noch anfangs 2016 die Fortsetzung dieses Engagements in Bosnien angekündigt wor- den war. Die Deza wird in der Folge allenfalls gewisse Aspekte der humanitären Sicherheit in ihr Programm einbeziehen. Die neue Ko- operationsstrategie für Bosnien und Herzegowina wird darüber hinaus auf Kontinuität setzen, wobei mit etwa 70 Mio. CHF ungefähr Mit- tel im bisherigen Umfang zur Verfügung stehen werden.23 Für die Ent- wicklungszusammenarbeit bleibt auch die soziale Inklusion ein wichti- ges Thema in Bosnien und Herzegowina, Minderheiten jeglicher Art erhalten vom Staat nur sehr wenig Unterstützung. Die Unterstützung nationaler Reformen ist ein Hauptanliegen der Deza, etwa im Gesund- heitssektor, aber auch in den anderen Bereichen.24 Eine jüngere Kooperation mit Bosnien stellt die Migrationspartner- schaft dar. Bosnien ist eines von fünf Ländern, mit denen die Schweiz eine solche Partnerschaft unterhält. Auch wenn sie bewusst breit gefasst sind, zielen diese seit 2009 existierenden Partnerschaften grob zusam- mengefasst darauf ab, dass die Partnerländer finanzielle Unterstützung im Migrationsbereich erhalten und sich dafür kooperativ zeigen. In Bos- nien unterstützt die Schweiz die Professionalisierung der mit Migration beschäftigten bosnischen Stellen, im Gegenzug erfolgt eine korrekte Be- treuung rückgeschaffter Migranten sowie eine bessere Eingliederung von Rückkehrern. Auch die schnellen Asylentscheide innert 48 Stunden für Menschen aus Serbien, Kosovo und Bosnien hat die Schweiz dank der

22 Task-Force OSZE-Vorsitz, Der Schweizer Vorsitz in der OSZE 2014: Schlussbericht, 27.5.2015; Internationales Komitee vom Roten Kreuz, Missing Persons in the Western Bal- kans, 2.6.2015. 23 Bundesrat, Botschaft zur internationalen Zusammenarbeit 2017 – 2020, 2632; Interview mit Irène Kränzlin; EDA, History of the Swiss Cooperation Programme in Bosnia and Herzeg- ovina, 18.3.2016. 24 Interview mit Irène Kränzlin.

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Migrationspartnerschaften einführen können.25 Aufgrund der Flücht- lingskrise auf der Balkanroute 2015 wurde die Partnerschaft zuletzt aus- geweitet. Die Partnerländer im Westbalkan werden dabei unterstützt, ihre eigenen Kapazitäten auszubauen, etwa zur Unterbringung und Be- treuung von Flüchtlingen. Bosnien lag bislang nicht auf der Flüchtlings- route im Westbalkan.26 Relevant ist die Migrationspartnerschaft darüber hinaus, weil seit 2010 bosnische Staatsangehörige ohne Visum in den Schengen-Raum und damit auch in die Schweiz einreisen können. 2015 bestätigte eine externe Evaluation den Sinn dieser Partnerschaften.27

2 HEUTIGE SITUATION IN BOSNIEN Für die Perspektiven des Schweizer Engagements spielt die heutige Lage Bosniens die zentrale Rolle. Verbessert sich die Lage soweit, dass der Staat ohne internationale Unterstützung funktioniert, so wird auch die Schweizer Präsenz zu einem Ende kommen. Dabei wird seit langem eine erfolgreiche europäische Integration des Landes als Schlusspunkt für die internationale Präsenz gesehen.28 Nun hat das Land 2016 wichtige Hürden Richtung EU-Beitritt genommen: Das Beitrittsgesuch wurde eingereicht und von den Aussen- und Europaministern der EU ange- nommen. Der Beitrittsprozess hat damit offiziell begonnen. Für den technischen Fortschritt ist ein Politikwandel der EU verantwortlich. Sie hat keine strikte Konditionalität mehr angewandt, sondern den Fort- schritt Richtung EU trotz ausbleibenden Reformen gewährt. Diese Ent- scheidung traf sie vor dem Hintergrund, dass die EU-Perspektive in Bosnien zuletzt an Strahlkraft verloren hatte. Der langsame Integrati- onsfortschritt sowie die Krise der EU und ihre Erweiterungsmüdigkeit haben in Bosnien das Gefühl verstärkt, dass ein EU-Beitritt sowieso unrealistisch sei.29 Den Beitritt halten mittlerweile nur noch 33 Prozent

25 Deza, Interview mit Elisabeth von Capeller. 26 «Die Schweiz eilt dem Balkan zur Hilfe», in: NZZ am Sonntag, 30.8.2015. 27 Maastricht Graduate School of Governance, Independent Evaluation of Swiss Migration Partnerships: Final Report, 6.2.2015. 28 Christophe Solioz, Turning-Points in Post-War Bosnia: Ownership Process and European In- tegration (Baden-Baden: Nomos, 2005), 17 – 22. 29 Adelheid Wölfl, «EU prüft Bosniens Beitrittsantrag», in: Der Standard, 20.9.2016.

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der bosnischen Bevölkerung für eine gute Sache, 41 Prozent erwarten sich von diesem keine grossen Veränderungen und 21 Prozent würden ihn nicht begrüssen.30 Die Lücke zwischen der effektiven Entwicklung und derjenigen auf dem Papier birgt die Gefahr, dass sich aufgrund einer zu guten Lageeinschätzung die internationale Unterstützung reduzieren wird. Klar scheint auch, dass ethno-nationalistische Ambitionen wieder grösseren Rückhalt gewinnen, wenn die EU-Perspektive verblasst. Diese Entwicklung konnte bereits in den letzten Jahren beobachtet werden.31

2.1 SEIT DEM KRIEG UNGELÖSTE FRAGEN Die Probleme Bosniens sind in den letzten Jahren nicht weniger ge- worden. Die Institutionen bleiben schwach, die Justiz ist in weiten Tei- len politisch beeinflusst und korruptionsanfällig. Dies beeinträchtigt nicht zuletzt auch die Attraktivität für wirtschaftliche Investitionen. Die Wirtschaft bleibt abhängig von ausländischer Hilfe; und die Poli- tik ist entsprechend auf den Erhalt dieser Hilfe ausgerichtet. Die wirt- schaftliche Transition hat noch keine funktionierende Wirtschaft her- beigeführt. Die Arbeitslosigkeit, insbesondere unter Jugendlichen, bleibt schwindelerregend hoch. Die jüngsten wirtschaftlichen Schwierigkeiten zeigt etwa die Entwicklung des Importvolumens aus der Schweiz: 2013 importierte Bosnien Schweizer Waren im Wert von 690 Mio. EUR, 2015 nur noch 389 Mio. EUR. Das 2015 in Kraft getretene Freihan- delsabkommen mit der Efta soll den Handel wieder anwachsen lassen.32 Trotz Fortschritten in einigen Bereichen sind die grossen Fragen, insbesondere die Frage nach dem Zusammenleben der drei Ethnien, nach wie vor ungeklärt. Das Ausbleiben von Reformen, die den Staat effizienter und funktionsfähiger machen würden, wird oft mit der im Friedensabkommen von Dayton festgeschriebenen Verfassung in Verbin- dung gebracht. Sie etablierte die Teilung des Landes in ethnisch-domi- nierte Einheiten und die politische Trennung der Volksgruppen, räumte

30 Regional Cooperation Council, Balkan Barometer 2016: Public Opinion Survey (Sarajevo: Regional Cooperation Council Secretariat, 2016), 50. 31 Dzihic, Vermessungen der Angst- und Freiheitszonen, 17. 32 Schweizerische Botschaft in Bosnien und Herzegowina, Wirtschaftsbericht: Bosnien und Herzegowina, 8.6.2016, 5; Matthias Bieri, «Bosnien: Stillstand trotz neuer strategischer Bedeutung», in: CSS Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 190 (2016).

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ihnen aber Vetorechte ein. Rückblickend erfüllte die Verfassung in den ersten zehn Jahren nach dem Krieg ihren Zweck gut, als es in erster Li- nie darum ging, neue Gewalt zu verhindern und das Land durch Wie- deraufbau auf den Weg Richtung einer funktionierenden Demokratie zu bringen. Die Verfassung bot dafür die richtigen Rahmenbedingungen. Der Hohe Repräsentant und das ihm unterstellte Büro des Hohen Re- präsentanten (engl. Office of the High Representative, kurz OHR), welche gestützt auf eine UNO-Resolution die Umsetzung der zivilen Aspekte des Friedensabkommens von Dayton überwachen, nutzten ihre weitrei- chenden Kompetenzen, um die bosnischen Politiker zur Kooperation zu zwingen. Die bosnische Politik wurde durch den internationalen Druck zu Reformen und Kompromissen bewegt. Die Idee war eigent- lich, dass die Dayton-Verfassung die ersten Jahre der Nachkriegszeit re- geln würde und anschliessend die euro-atlantische Perspektive die Ent- wicklung Bosniens steuern würde, dies weniger mit Druck wie in den Anfangsjahren, sondern mehr durch Anziehungskraft.33 Die wachsende Uneinigkeit über die gemeinsame EU-Politik, eine inkonsequente Anwendung der Konditionalitätspolitik sowie schwin- dendes Interesse am «Sorgenkind» Bosnien führten jedoch zu immer weniger Fortschritten. Für die Entwicklung Bosniens wurde die Ver- fassung nach diesem ersten Jahrzehnt immer mehr zu einem Hindernis. Dass der Hohe Repräsentant seine Kompetenzen nicht mehr nutzt, da- mit die bosnische Politik selber Verantwortung übernehmen kann, und zugleich die Ethnien ihre verfassungsmässigen Vetorechte behielten und nutzten, führte zum Reformstillstand. Bereits 2005 wurde Dayton als Hindernis für den Fortschritt der Demokratie in Bosnien bezeichnet. Trotz internationalem Druck und Bemühungen misslangen in der Folge mehrere Verfassungsreformen. Die bosnischen Politiker waren nicht zu Kompromissen bereit, sondern beharren bis heute auf ihren Privilegien und ihren Vorstellungen der staatlichen Zukunft.34 Die seit zehn Jah- ren verfolgte Politik der internationalen Gemeinschaft, dass die lokalen

33 Werner Wnendt, «Die zukünftige Rolle der Internationalen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina», in: Erich Reiter / Predrag Jureković (Hrsg.), Europas Balkanpolitik auf dem Prüfstand (Baden-Baden: Nomos, 2005), 75 – 86. 34 Anton Bebler, «Bosnien und Herzegowina nach Dayton», in: Europäische Rundschau 34, Nr. 2 (2006), 101 – 124, hier 116; Florian Bieber, «Bosnien: Zu Dayton verdammt?», in Europäische Rundschau 43, Nr. 4 (2015), 59 – 62.

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Politiker Verantwortung für die Entwicklung des Landes übernehmen sollen, trägt wenige Früchte. Nachhaltige Lösungen können nur von einheimischen Akteuren geschaffen werden. Diese haben aber bislang keinen konstruktiven Willen gezeigt und Politik vor allem zum eigenen Machterhalt betrieben. Sie bedienen in erster Linie die eigene Klientel, nicht die Bürger des Landes. Die drei Ethnien hegen allesamt unter- schiedliche Vorstellungen ihrer staatlichen Zukunft. Da die ethnische Trennung durch Dayton bestätigt wurde, ändert sich dies auch nicht. Jeweilige lokale Minderheiten werden nicht integriert oder politisch berücksichtigt. Die Gräben zwischen den drei Ethnien werden aufgrund dessen nicht kleiner und die Wunden des Krieges sind auch darum noch nicht verheilt. Die Politik baut darauf auf und hat aufgrund der Verfas- sung auch jeweils nur die eigene Ethnie als Politklientel zu bedienen; der ethnische Populismus blüht. Die sozialen Probleme hingegen wach- sen. Die Fassade ist der wichtigste Aspekt für die bosnischen Politiker. Sie gerieren sich gerne als gute Demokraten, die den europäischen Weg unterstützen. Zugleich setzen sie sich jedoch nur für das Wohl der ei- genen Ethnie ein, befeuern ethnischen Populismus und missachten de- mokratische und rechtsstaatliche Werte. Das Referendum im September 2016 in der RS über den zum Feiertag erhobenen Jahrestags des Kriegs- ausbruchs ist nur das jüngste Beispiel. Die internationalen Akteure ak- zeptieren dies teilweise, da die einflussreichen Politiker vor Ort ihnen zumindest Stabilität bieten können. Die langfristige Etablierung von europäischen Werten gelingt so jedoch nicht.35

2.2 NEUE PROBLEME GEWINNEN AN BEDEUTUNG Die grossen Probleme Bosniens sind somit noch nicht bewältigt. Hinzu kommen jedoch neue Themenbereiche, welche die Stabilität des Lan- des gefährden. Die Problematik der Foreign Fighters, Dschihadisten aus Europa, die nach Syrien und Irak ziehen, um sich dem Islamischen Staat anzuschliessen, erhöhte die internationale Aufmerksamkeit für Bosnien. Dass sich in Bosnien nach dem Krieg islamistische Zirkel bil- deten, war zwar schon lange bekannt, gewann aber gerade im Zuge der

35 Nikola Dimitrov / Florian Bieber, «Europe Needs US to Keep the Peace in the Balkans», in: Politico: Europe Edition, 30.7.2016.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK DAS SCHWEIZER ENGAGEMENT IN BOSNIEN: LANGFRISTIGKEIT UNTER DRUCK 63 dschihadistisch motivierten Attentate in Westeuropa erneut an Aktu- alität.36 Die religiöse Zugehörigkeit hat für die bosnische Jugend aller Glaubensrichtungen heute ein wesentlich grösseres Identifikationsmerk- mal als vor Ausbruch des Bosnienkriegs.37 Traditionell praktizieren die Bosniaken eine tolerante Form des Islams. Während des Bosnienkriegs kamen jedoch ausländische Kämpfer ins Land, die teilweise im Land blieben, ihre radikale Auslegung des Islams lebten und auch bosni- sche Muslime für ihre Glaubensauffassung begeistern konnten. Schon in den 2000er-Jahren war Islamismus in Bosnien ein Thema. Bereits damals wurde aber auch festgehal- ten, dass Bosnien keine «klassischen» Damit Bosnien ein Rückzugsorte für Terroristen bietet, funktionierender Staat sich Radikalisierte aber in abgeschlos- wird, braucht es einen senen Gemeinschaften bewegen kön- Kulturwandel. nen. Bosnien gilt als eines der europä- ischen Länder, aus dem prozentual am meisten Dschihadkämpfer nach Syrien zogen.38 Rückkehrer nach Bosnien stellen in dieser Hinsicht eine Gefahr dar, gerade in der immer noch vom Krieg und der ethnischen Trennung geprägten Gesellschaft. Gewaltbereite Islamisten sind darum nicht nur eine konkrete Bedrohung, sondern bieten auch eine Projek- tionsfläche für Ängste der nicht-muslimischen Bevölkerung Bosniens. Zu den neueren Herausforderungen gehört auch der gestiegene Einfluss nicht-westlicher Mächte im Land. die Türkei hat ihre Akti- vitäten ausgebaut und versteht sich als Schutzmacht der muslimischen Bosniaken. Dabei kreiert die osmanische Vergangenheit Bosniens eine historische Verbundenheit. Die SDA, die grösste bosniakische Partei, pflegt ein enges Verhältnis zur AKP des türkischen Präsidenten Recip Erdoğan.39 Auch Saudi-Arabien, Katar und die Arabischen Emirate ha-

36 Vlado Azinović / Muhamed Jusić, The New Lure of the Syrian War: The Foreign Fighters’ Bosnian Contingent (Sarajevo: The Atlantic Initiative, 2016). 37 Jusuf Žiga et al., Youth Study Bosnia and Herzegovina (Sarajevo: Friedrich-Ebert-Stiftung 2015), 38 – 43. 38 Michael A. Innes, «Terrorist Sanctuaries and Bosnia-Herzegovina: Challenging Con- ventional Assumptions», in: Studies in Conflict & Terrorism 28, Nr. 4 (2005), 295 – 305; Azinović/Jusić, The New Lure, 17ff. 39 Adelheid Wölfl, «Gülen-Universität in Bosnien unter Druck», in: Der Standard (19.8.2016); Michael Birnbaum, «Turkey brings a gentle version of the Ottoman empire back to the Balkans», in: The Guardian, 2.4.2013.

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ben sich in den letzten Jahren durch kulturelles und wirtschaftliches En- gagement hervorgetan. Das kulturelle Engagement geschieht dabei auch zur Förderung bestimmter islamischer Glaubensgemeinschaften. Darü- ber hinaus bleiben auch die Nachbarländer Kroatien und Serbien wich- tige Akteure. Ihr Einfluss auf die jeweilige ihnen zugewandte Volks- gruppe in Bosnien ist nach wie vor gross.40 Auch Russland intensivierte seit einiger Zeit seine Beziehungen zur Republika Srpska und baut dabei auf die historische Nähe zwischen Russ- land und dem serbischen Volk. Spätestens seit der verstärkten Konfron- tation mit dem Westen nach dem Ausbruch der Ukraine-Krise 2014 nutzt Russland seinen Einfluss in diesem Landesteil sowie seinen Sitz im Friedensimplementierungsrat (Peace Implementation Council, PIC), um die euro-atlantische Integration Bosniens infrage zu stellen – nach- dem es diese jahrelang unterstützt hatte.41 Dass andere Länder sich in Bosnien einbringen, ist nicht per se als negative Entwicklung zu werten. Im Gegenteil ist jede wirtschaftliche Unterstützung im krisengeschüttelten Land willkommen. Das Prob- lem liegt jedoch darin, dass ihr auf einzelne Landesteile beschränktes Engagement sowie die Einflussnahme auf Politik und Kultur die Grä- ben zwischen den Ethnien im Land vertieft.42 Damit Bosnien zu einem funktionierenden Staat wird, braucht es einen Kulturwandel und eine lokale Steuerung der Entwicklung des Landes. Dies wurde bereits in den ersten Jahren nach dem Krieg als Problem erkannt, man ist in die- ser Hinsicht allerdings bis heute nicht viel weiter gekommen.43 Einige Beobachter sehen Bosnien ausserdem an einer politischen Wegscheide: Autoritäre Politik habe an Unterstützung gewonnen, die Dysfunktio- nalität des politischen Systems habe sich verfestigt. Der Übergang zur Demokratie sei nicht abgeschlossen und besitze keinesfalls eine Erfolgs-

40 Mirna Buljugic, «Wealthy Arabs Buy Slice of ‹Heaven› in Bosnia», in: BIRN, 13.5.2016; «Ottoman Comfort: Bosnia’s new visitors», in: Economist, 23.1.2016. 41 Matthias Bieri, «Der Westbalkan zwischen Europa und Russland», in: CSS Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 170 (2015). 42 Bieri, Bosnien. 43 Solioz, Turning-Points, 17 – 22.

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garantie. Zugleich schwinde das Vertrauen in die Demokratie, da sich der Lebensstandard der Bevölkerung nicht verbessere.44 Trotz allem ist die Bedeutung Bosniens für die internationale Ge- meinschaft in den letzten Jahren gesunken. Lange Zeit wurde der West- balkan als bedeutendstes Sicherheitsrisiko für die Stabilität Europas ge- sehen. Dies hat sich spätestens infolge der Ukraine-Krise 2014/15 und der Flüchtlingskrise geändert. Auch gab es schon 2010 Abspaltungs- pläne in der Republika Srpska. Die jüngsten Drohungen haben insofern nicht mehr für die gleiche Aufregung gesorgt wie vor einigen Jahren, ist die Schockwirkung doch nicht mehr die gleiche.45 Darüber hinaus wird die Realisierbarkeit einer Abspaltung, sprich die Etablierung eines funk- tionierenden, von der internationalen Gemeinschaft anerkannten Staa- tes stark angezweifelt. Die Abspaltungsdrohung und die damit verbun- denen Auswirkungen auf die politische Situation in Bosnien sind aber eine Tatsache. Die Stimmung wird dadurch vergiftet und der staatliche Zusammenhalt infrage gestellt.46

3 PERSPEKTIVEN DES SCHWEIZER ENGAGEMENTS Anfang 2016 bestätigte der Bundesrat seinen Willen zur Fortsetzung des langjährigen Engagements im Westbalkan. Zugleich ist grundsätzlich nicht zu erwarten, dass der Bedarf an Hilfe in Bosnien bald abnimmt.47 Der Druck auf die verschiedenen Zweige des Schweizer Engagements könnte jedoch in den kommenden Jahren wachsen. Der Bund strebt nämlich in der Transitionszusammenarbeit in Osteuropa eine verstärkte Mittelkonzentration an. Hauptziel davon ist es, im politischen Dialog einen grösseren Hebeleffekt zu erzeugen. Die Erfolgsaussichten dafür sind in Bosnien, wo sich die EU und die USA schwer damit tun, eine Hebelwirkung zu erzielen, nicht sehr gross.48 Die Schweiz hätte jedoch

44 Dzihic, Vermessungen der Angst- und Freiheitszonen, 16f. 45 Oliver Rolofs, «Bosnien-Herzegowina: Internationale Strategielosigkeit», in: Europäische Sicherheit 59, Nr. 5 (2010), 19 – 23. 46 James Ker-Lindsay, The Hollow Threat of Secession in Bosnia and Herzegovina (London: LSE, 2015). 47 Bundesrat, Botschaft zur internationalen Zusammenarbeit 2017 – 2020, 2632. 48 Ebd., 2382.

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ein Interesse an der Überwindung dieser Blockadesituation: Die aus- bleibenden Reformen des Staats beeinflussen nämlich auch die Effizienz der Schweizer Entwicklungsprojekte. Der schwache Zentralstaat und die unterschiedlichen Gesetzeslagen in den verschiedenen Landesteilen sind hinderlich bei einer koordinierten und kohärenten Umsetzung von systemrelevanten Veränderungen in den Kantonen und Gemeinden.49 Auch im wirtschaftlichen Bereich bieten sich aus diesem Grund wenige Anreize für eine intensivere Kooperation. Das wirtschaftliche Engagement der Schweiz wird darum wohl erst dann wieder intensi- viert werden, wenn die Rahmenbedingungen Erfolge versprechen. Das Thema Beschäftigung und Einkommen bleibt hingegen gerade aus die- sem Blickwinkel relevant. Die Unterstützung durch die Schweiz wird dabei jedoch stets nur einen kleinen Beitrag zur Veränderung der Si- tuation leisten können. Bosnien braucht einen breiten wirtschaftlichen Aufschwung, um aus der wirt- Bosnien braucht einen breiten schaftlichen Misere und der wirtschaftlichen Aufschwung, Abhängigkeit internationaler um aus der Abhängigkeit Unterstützung zu gelangen. internationaler Unterstützung Die Schweiz hat darum ein zu gelangen. starkes Interesse daran, dass die Reformblockade im Land überwunden wird. Wie sie sich jedoch auf politischer Ebene einbringen soll, ist fraglich. Durch ein Engagement jenseits einer Vermittlerrolle könnte sie den restlichen Aktivitäten im Land eher schaden, indem ihr Ruf der Unparteilichkeit beschädigt wird. Damit würde ein grosser Vor- teil der Schweiz verlorengehen. Im militärischen Bereich wird sich vorab nicht viel ändern. Die LOT-Teams werden auf absehbare Zeit benötigt werden. Sie werden bleiben, bis Bosnien den entsprechenden Entwicklungsstand erreicht hat, sprich bis es nachhaltig stabilisiert ist und die Staatlichkeit gefestigt ist. Dieser Moment ist derzeit noch nicht absehbar.50 Zudem scheinen für die Schweiz keine neuen Auslandseinsätze anzustehen. Die Einsätze auf dem Westbalkan behalten damit ihre Funktion, der Schweizer Armee Einsatzerfahrung zu bringen. Sie kommt damit auch ihrer aus der Bun-

49 Interview mit Irène Kränzlin. 50 Interview mit Oberst i Gst Fredy Keller.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK DAS SCHWEIZER ENGAGEMENT IN BOSNIEN: LANGFRISTIGKEIT UNTER DRUCK 67 desverfassung abgeleiteten und im Militärgesetz verankerten Aufgabe zur Friedensförderung im internationalen Rahmen nach. Weitere technische Fortschritte Bosniens Richtung EU werden Fra- gen aufwerfen. Im Vergleich zu Bosnien, das seit 20 Jahren keinen Kon- flikt mehr erlebte, gibt es akutere Krisengebiete. Der langfristige Ansatz hat teilweise einen schweren Stand gegenüber der kurzfristigen Hilfe in Krisengebieten. Kommt es also zu einem Verteilkampf um Gelder, dann gibt es für Projekte in Bosnien weniger an die Tagesaktualität ge- bundene Gründe zu ihrer Weiterführung. Ein solches Szenario könnte sich in naher Zukunft etwa im Falle der Entwicklungszusammenarbeit entwickeln, deren Budget im Parlament wiederholt Anlass zu Debat- ten gibt. Der Wunsch nach einer grösseren Fokussierung der Entwick- lungszusammenarbeit könnte sich in diesem Sinne negativ auf das En- gagement in Bosnien auswirken. Andererseits muss sich die Schweiz die Frage stellen, wie sie reagieren würde, sollte die europäische Integrati- onsperspektive tatsächlich verblassen. Das bis anhin geltende entwick- lungspolitische Ziel der internationalen Zusammenarbeit müsste dann eventuell neu definiert werden. Wie die Parlamentsdebatte um die Verlängerung des Kredits der in- ternationalen Zusammenarbeit gezeigt hat, spielt für die Verteilung der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit nach wie vor die Bekämpfung von Migrationsursachen eine zentrale Rolle. Dies ist kein neues Phäno- men. Während das Budget für Bosnien in der Vergangenheit aus die- sem Grund erhöht worden war, zieht dieses Argument heute für andere Länder mehr.51 Bosnien hat vor allem als potenzielles Transitland an Gewicht gewonnen, wie die Entwicklung der Migrationspartnerschaft zeigt. Diese Bedeutung könnte sich jedoch bald wieder verringern, sollte etwa der Balkan längerfristig keine Migrationsroute mehr beherbergen. Trotz der nach wie vor hohen Migrationswilligkeit in Bosnien könnte sich aufgrund dessen die Entwicklungszusammenarbeit neu orientieren. Spätestens 2024 könnte dann eine Grundsatzdebatte anstehen. Das Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit Staaten, welches den Rah- men für die Transitionszusammenarbeit in Osteuropa vorgibt, wird bis zu diesem Jahr gelten. Anschliessend wird die Hilfe für Osteuropa über

51 Andreas Ernst, «Strategien der Schweizer Entwicklungspolitik im Westbalkan», in: Schweizerisches Jahrbuch für Entwicklungspolitik 25, Nr. 2 (2006), 221 – 235.

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die reguläre Entwicklungszusammenarbeit finanziert und koordiniert werden. Die für dann zu erwartende Parlamentsdebatte könnte einen Einschnitt für die Entwicklungszusammenarbeit in Osteuropa bedeu- ten. Das Engagement ist aber bereits darüber hinaus angelegt: Gewisse Projekte, die jetzt anlaufen, sind bis ins Jahr 2027 vorgesehen.52 Ein Zeichen für die verringerte Bedeutung der Region ist die jüngste aussenpolitische Strategie des Bundesrats. In der Strategie 2010 – 2015 ist die Rede davon, dass die Beziehungen mit den Balkanländern einen besonderen Platz einnehmen und die Schweiz im Balkan alle verfügba- ren Instrumente einsetzen will. In der neuen Strategie 2016 – 2019 erhält die Region keine solche Erwähnung mehr.53 Wichtig scheint es, dass die Schweiz ihre Projekte in den Nischen fortsetzt, die der Bevölkerung in Bosnien einen konkreten Mehrwert bieten. Das Engagement im Gesundheitsbereich etwa hat schon beacht- liche Resultate gezeitigt. Andererseits Spätestens 2024 könnte könnte der Einbezug der bosnischen eine Grundsatzdebatte Diaspora in der Schweiz in die Ent- anstehen. wicklungszusammenarbeit je länger je schwieriger werden. Während der Ansatz durchaus sinnvoll ist, nimmt die Bereitschaft der Diaspora, zur Entwicklung der Heimat beizutragen, ab, wie eine vom Bund in Auf- trag gegebene Studie feststellte. Die wenig optimistische Lage Bosniens lässt auch Leute mit Wurzeln in Bosnien von einem stärken Engage- ment absehen. Darüber hinaus ist es vor allem die erste Generation der Diaspora, welche die Heimat finanziell unterstützt. Die nachfolgenden Generationen unterhalten zum Heimatland der Gross(-eltern) eine we- niger enge Beziehung.54 Es könnte darüber hinaus auch Sinn machen, dass die Schweiz sich in neuen Bereichen einbringt. Das Engagement der Schweiz zur Prä- vention von gewaltsamem Extremismus (PVE) wird auf absehbare Zeit relevant bleiben. Dass sie sich in Bosnien aktiv einbringen will, hat die

52 Bundesrat, Botschaft zur internationalen Zusammenarbeit 2017 – 2020; Interview mit Irène Kränzlin. 53 EDA, Aussenpolitische Strategie 2012 – 2015, 2.3.2012; EDA, Aussenpolitische Strategie 2016 – 2019, 17.2.2016. 54 Iseni et al., Bevölkerung von Bosnien und Herzegowina, 99f.

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Schweiz bereits im Aktionsplan zur Prävention von gewaltsamen Ext- remismus angekündigt. Im Zentrum werden dabei die Stärkung der Zi- vilgesellschaft und die Hilfe bei der Nutzung von sozialen Medien und Kommunikationsmitteln stehen.55 Zwanzig Jahre nach Beginn des Schweizer Engagements in Bos- nien ist das Land nach wie vor ein Schwerpunktland der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit und Schauplatz militärischer Schweizer Friedensförderung. Insgesamt kann die Schweiz eine erfolgreiche Bi- lanz ziehen, ihr Beitrag hat Resultate gezeitigt und wird vor Ort ge- schätzt. Die Stabilität Bosniens ist jedoch nach wie vor nicht nachhaltig gesichert. Hinzu kommt, dass das Land trotz Krisenpotenzial nicht im Fokus des Westens steht, der sich mit anderen Brennpunkten und im Falle der EU auch mit der eigenen Situation zu beschäftigen hat. Zu- gleich bauen insbesondere Russland und die Türkei ihren Einfluss aus. Die Partnerschaft mit Bosnien sollte nicht zuletzt darum fortgesetzt werden und die europäische Integration so gut es geht vorangebracht werden. Die alternativen Szenarien bergen aus westeuropäischer Sicht wenig Verheissungsvolles und würden wohl von autoritärer Politik ge- prägte Staaten hervorbringen. Die von Beginn an langfristig geplante Begleitung des Landes sollte darum nicht zu einem vorschnellen Ende kommen. Auch die Schweiz sollte ihr Engagement fortsetzen, auf ihre langjährigen Erfahrungen bauen und ihre Aktivitäten den Bedürfnis- sen vor Ort anpassen, wie dies im Falle der Prävention von gewalttäti- gem Extremismus geschehen ist. Abseits der aktuellen Krisenherde und Brennpunkte kommt der Sicherung der Stabilität Bosniens nach wie vor grosse Bedeutung für die Schweizer Aussen- und Sicherheitspolitik zu. Die möglichen Auswirkungen eines gescheiterten Staates in weniger als zwei Stunden Flugentfernung unterstreichen die Relevanz des fortge- setzten Engagements.

55 EDA, Aussenpolitischer Aktionsplan der Schweiz zur Prävention von gewalttätigem Extremis- mus, 8.4.2016, 18.

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VOM LANDJÄGER ZUM MODERNEN ORDNUNGSHÜTER: DIE POLIZEIAUSBILDUNG IN DER SCHWEIZ

Von Lisa Wildi und Jonas Hagmann

Die Aus- und Weiterbildung der Polizei hat sich in den letzten fünfzehn Jah- ren stark gewandelt. Bildungsstätten wurden fusioniert oder neu geschaffen. Ein nationaler Rahmenlehrplan wurde erstellt und der Berufsabschluss «Po- lizistin/Polizist» erstmals eidgenössisch anerkannt. Gleichzeitig wurden die Lehrinhalte auf das Erlangen umfassender, spezialisierter Handlungskompe- tenzen für einen zunehmend komplexen und vernetzten Arbeitsbereich ausge- richtet. Dieses Kapitel zeichnet die Geschichte und die jüngsten Entwicklungen der Schweizer Polizeiausbildung nach. Es zeigt auf, dass trotz Harmonisie- rung und Professionalisierung gewisse regionale Unterschiede und bildungs- politische Herausforderungen fortbestehen.

EINLEITUNG Die schweizerische Polizeiarbeit hat sich seit den 1990er-Jahren stark verändert. Neue oder stärker ausgeprägte Herausforderungen wie grenz- überschreitende organisierte Straftaten, Wirtschafts-, Jugend- und Cy- berkriminalität haben dazu geführt, dass sich Polizisten komplexes Fachwissen aneignen und moderne Technologien anwenden müssen.1 Gleichzeitig erfordern sie, dass Polizisten vermehrt mit Kollegen aus «Bundesbern», aus anderen Fachbereichen, Kantonen und Ländern zu- sammenarbeiten. Die neuen vernetzten Polizeiaufgaben verlangen nach vielfältigem Expertenwissen und verschiedenen Technologie-, Sozial- und Handlungskompetenzen, welche heute zunehmend in die profes- sionelle Polizeiaus- und Weiterbildung einfliessen. Doch wie stark ist diese Tendenz zur Spezialisierung, Technologisierung und zur Koope- ration tatsächlich in der Polizeiarbeit und in der schweizerischen Po-

1 Christoph Ebnöther, «Polizei», in: Historisches Lexikon der Schweiz, 28.9.2010, www.hls- dhs-dss.ch, 5; Fritz Lehmann, Der Polizei-Kompass: Eine kleine Orientierungshilfe in der föderalistischen Polizeilandschaft der Schweiz (Neuenburg: SPI, 2007), 13 – 18.

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lizeibildungslandschaft vorhanden? Wie bildet die Polizei heute ihre Mitarbeitenden aus? Die Frage nach der polizeilichen Aus- und Weiterbildung ist nicht zuletzt von systemischer Relevanz. Die polizeiliche Schulung ist ein zentrales Instrument zur Selbsterneuerung des schweizerischen Systems der Inneren Sicherheit und ein wichtiges Mittel für seine Anpassung an neue Heraus- und Anforderungen. Dieses Kapitel legt das Augenmerk auf die Entwicklung und den heutigen Stand der polizeilichen Bildungs- landschaft und soll somit diese strategische Funktion der Ausbildung unterstreichen. Hierzu werden insbesondere die Entstehung fachspe- zifischer Bildungsgänge, der Einfluss neuer Technologien und der -zu nehmende Bedarf zur Kooperation hervorgehoben. Diese drei zentra- len Elemente sind im Berufsalltag eng miteinander verstrickt, sind aber in der einschlägigen Literatur bisher kaum systematisch aufgearbeitet worden. Überhaupt sind Beiträge zu Aus- und Weiterbildungen im Si- cherheitsbereich bisher kaum zu finden.2 Dieses Kapitel gewährt nun Einblick in die historischen und jüngsten Entwicklungen im Polizeiaus- bildungsbereich. Es veranschaulicht, wie sich die polizeiliche Grundaus- bildung verändert hat und legt dar, dass in den letzten fünfzehn Jahren trotz kantonaler Polizeihoheit – und deshalb vielleicht wider Erwarten – vermehrt Professionalisierungs- und Harmonisierungsprozesse auf na- tionaler und regionaler Ebene stattgefunden haben.

1. ENTWICKLUNG ZUR MODERNEN POLIZEIAUSBILDUNG Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich die Schweizer Polizeiausbil- dung in den letzten 200 Jahren stark gewandelt hat. Vor dem 19. Jahr- hundert gab es noch keine Kantons- und Stadtpolizeien wie heute und somit auch keine Polizeiausbildung. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit sorgten im Allgemeinen Soldaten für Recht und Ordnung. In

2 Die Angaben zur historischen Entwicklung stammen aus der einschlägigen Literatur und Quellen des Dokumentationszentrums des Schweizerischen Polizei-Instituts (SPI), die Informationen zum heutigen Stand von Websites Schweizer Polizeischulen und aus Be- fragungen mit Ausbildungsverantwortlichen. Die Autoren bedanken sich herzlich bei den Interviewpartnern verschiedener Institutionen und Unternehmen (SPI, Zürcher Polizei- schule, Interkantonale Polizeischule Hitzkirch, Académie de Police Savatan, Berner Poli- zeikorps, Militärpolizei, Grenzwachkorps, Verband Schweizer Sicherheitsdienstleistungs- Unternehmen, Securitas) für ihre Zeit und freundliche Unterstützung.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK DIE POLIZEIAUSBILDUNG IN DER SCHWEIZ 73 den Städten waren Bürgerwächter, Wachtmeister, Stadtknechte, Wei- bel, Amtsleute, Vögte oder Schultheisse für die öffentliche Sicherheit verantwortlich, auf dem Land Dorfwächter und Harschiere (Patrouil- lenwächter). Die Sicherheit von Kaufleuten wurde durch Geleitzüge ge- währleistet. Erst im 17. Jahrhundert wurde nach dem Muster der fran- zösischen Gendarmerie eine Art Polizei eingeführt: die Landjägerkorps. Diese hatten die Aufgabe, Räuberbanden, Bettler und fahrendes Volk zu vertreiben. Bis zum 19. Jahrhundert wurden die Landjäger jedoch nicht systematisch ausgebildet.3 Erst 1803 mit der Gründung eines eidgenössischen Staatenbunds entstanden kantonale Landjäger- und Gendarmenkorps, die Vorläufer der heutigen Kantonspolizeien. Diese rekrutierten ehemalige Söldner und galten als weitgehend disziplinlos, nachlässig und korrupt. Eine systematische, militärisch geprägte Ausbildung und regelmässige Lohn- zahlungen sollten dem entgegenwirken. Im Ausbildungsbereich arbei- teten die kantonalen Landjägerkorps nicht zusammen, sie kooperierten aber in anderen Bereichen wie etwa der Fahndung und Auslieferung von Tätern. Die kantonalen Korps waren bis zur Bundesverfassung von 1848, welche sie für die Innere Sicherheit der Kantone verantwortlich machte, weiterhin nur für Bettel- und Räuberjagden zuständig. Die Erhaltung von Sicherheit und Ordnung oblag bis Mitte des 19. Jahrhunderts den kantonalen Militärtruppen. Mit den erweiterten Pflichtenheften kamen neue Namen, aus den Landjägerkorps wurden «Kantonspolizeien», aus den Bürger- und Stadtwachen «Stadtpolizeien».4 Da die Disziplin und der Bildungsstand der Polizisten auch im spä- ten 19. Jahrhundert noch bemängelt wurden, führten die Schulen Aus- bildungsordnungen und verstärkt militärische Führungsstrukturen ein. Polizeiaspiranten wurden fortan in Kasernen in den Kantonshauptorten ausgebildet, wo auch Teile der Korps untergebracht waren. Mit dem Be- völkerungswachstum und der zunehmenden Mobilität erweiterte sich das Aufgabenspektrum der Polizei stetig. Auf dem Land wurden kom- munale Polizeikorps gegründet, wo Dörfer zu stattlichen Gemeinden

3 G.A. Schmoll, «Polizeigeschichte der Schweiz: Ein Überblick», in: G.A. Schmoll (Hrsg.), Geschichte der Schweizer Polizei (Muttenz: Verlag Bürger und Polizei, 1990), 68 – 70; Ebnöther, Polizei, 1f.; A. Ramseyer, «Die Entwicklung der Polizei in der Schweiz», in: Franz J. Frey (Hrsg.), Mein Einsatz, deine Sicherheit (Zürich: Frey & Hügi, 1947), 30f. 4 Schmoll, Polizeigeschichte der Schweiz, 69 – 76; Ebnöther, Polizei, 2.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 74 AKTUELLE DISKUSSION

herangewachsen waren. In den Städten wurden die Korps ausdifferen- ziert. So entstanden beispielsweise erste kriminalpolizeiliche Abteilun- gen, in denen sich spezialisierte Polizisten neuen Kriminaltechniken wie dem Bertillonage-System oder der Daktyloskopie widmeten.5 Die Ausrüstung der Polizei entwickelte sich damals nur langsam weiter. Als Transportmittel standen bestenfalls Fahrräder zur Verfügung und die Kommunikation lief meist noch über Telegrafen. Ab 1880 gab es erste Telefonverbindungen zwischen Hauptwachen und Polizeiposten auf dem Land.6 Die Polizeistationen wurden erst nach der Jahrhundertwende allmählich an das entstehende Telefonnetz angeschlossen. Die Polizei- funknetze entstanden in den 1930er-Jahren.7 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kann von einer eigentlichen Po- lizeiausbildung gesprochen werden. Diese bestand aus einem militä- risch organisierten Grundkurs, gefolgt von einer praktischen Ausbildung durch ältere Polizeikameraden. Sie war weitgehend formalisiert, blieb aber schweizweit uneinheitlich. Versuche der Tessiner Kantonspolizei (1920), der Kommandanten der Städte und Kantone (1930) sowie des Verbands Schweizerischer Polizeibeamter VSPB (1932), eine schweize- rische Polizeischule zu gründen und so die Ausbildung landesweit zu vereinheitlichen, scheiterten allesamt.8 So blieben Intensität und Qua- lität der Aus- und Fortbildungen bis Mitte des 20. Jahrhunderts von Kanton zu Kanton und von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlich. Meist hing die Ausbildungsqualität von der Stärke des Polizeikorps ab. Den grossen Polizeikorps war es dank mehr Ausbildnern und Ressourcen eher möglich, ihre Aspiranten angemessen auszubilden.9 Nach dem Zweiten Weltkrieg wandelten sich die Polizeiorganisati- onen und mit ihnen die Ausbildungen. Polizisten sollten «nicht nur aus-

5 Bertillonage (genannt nach seinem Erfinder Bertillon) bezeichnet ein Körpervermes- sungssystem, Daktyloskopie das Verfahren zum Abnehmen von Fingerabdrücken. Beide Systeme dienen der Identifizierung von Tätern. Ebnöther, Polizei, 3f. 6 Ebd.; Schmoll, Polizeigeschichte der Schweiz, 78. 7 G.A. Schmoll, «Polizei und Technik: Leistungssteigerung durch Technologienutzung», in: G.A. Schmoll (Hrsg.), Geschichte der Schweizer Polizei (Muttenz: Verlag Bürger und Polizei, 1990), 109. 8 Walter Meichtry, «Die Zeit der Kurse oder die Kurse im Wandel der Zeit», in: INFO Informationsorgan des SPI (1996), 30. 9 J. Nievergelt / A. Wiesendanger, «Ausbildung der Polizei – Rekrutierung und Eignung», in: Franz J. Frey (Hrsg.), Mein Einsatz, deine Sicherheit (Zürich: Frey & Hügi, 1947), 189.

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gebildet, sondern auch für alle menschlichen und charakterlichen Erfor- dernisse ihres zukünftigen Berufes erzogen werden.»10 Im Bereich der Weiterbildung wurde nun eine nationale Bildungsstätte verlangt, weil der Krieg es verunmöglichte, sich im Ausland fortzubilden. Zudem wa- ren die Anforderungen im Polizeiberuf gestiegen und neue Technologien wie Polizeifunk, Fernschreiber und Alarmzentralen bedurften In den 1950er-Jahren wurden entsprechender Schulung. So die Führungsstrukturen und wurde 1946 das Schweizerische die Ausbildungen der Polizei Polizei-Institut (SPI) in Neu- allmählich entmilitarisiert. enburg gegründet mit dem Ziel, Weiterbildungskurse anzubieten und eine Grundschule sowie Institute für Gerichtsmedizin, Gerichts-Chemie und internationales Strafrecht zu schaffen. Nur das erste Ziel wurde schnell umgesetzt, ab 1948 wur- den am SPI Führungs- und Spezialistenkurse angeboten. Für die Schaf- fung einer Grundschule fehlten jedoch lange die Ressourcen, und gegen die Gründung wissenschaftlicher Institute wehrten sich die Universitä- ten erfolgreich.11 In den 1950er-Jahren wurden die Führungsstrukturen und die Ausbildungen der Polizei allmählich entmilitarisiert und erste Frauen traten in den Polizeidienst ein. Weil zu der Zeit neue Straf- und Strassenverkehrsgesetze in Kraft traten, wurde bei der Ausbildung ver- mehrt auf Rechtskenntnisse gesetzt.12 1958 stellte der VSPB einen weiteren Antrag für die Gründung einer schweizerischen Polizeischule. Grundausbildungen existierten zwar bei grösseren Korps, doch kleinere Verbände hatten weiterhin Mühe, die nötigen Ausbildner zu stellen. In gewissen Regionen etablierte sich eine Ausbildungszusammenarbeit, häufig boten grössere Korps den kleineren Formationen Ausbildungsteile an oder übernahmen ihre Aspiranten.13

10 Nievergelt/Wiesendanger, Ausbildung der Polizei, 190f. 11 O. Härdy, «Schweizerisches Polizeiinstitut», in: Franz J. Frey (Hrsg.), Mein Einsatz, deine Sicherheit (Zürich: Frey & Hügi, 1947), 178; Kurt Heusser, «Die polizeilichen Meldemit- tel», in: Franz J. Frey (Hrsg.), Mein Einsatz, deine Sicherheit (Zürich: Frey & Hügi, 1947), 105 – 109; Peter-Martin Meier, «Das Schweizerische Polizei-Institut im Dienste der Poli- zei», in: 60 Jahre Schweizerisches Polizei-Institut (Neuenburg: SPI Verlag, 2006), 15f. 12 «Der Direktor spricht von einem Jubiläum», in: INFO Informationsorgan des SPI (1996), 4; Ebnöther, Polizei, 4. 13 Walter Meichtry, «Unsere Schulen», in: INFO Informationsorgan des SPI (1996), 30ff.; Nievergelt/Wiesendanger, Ausbildung der Polizei, 189f.

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1970 wurde schliesslich in Le Chanet (NE) die Polizeischule des SPI, die erste schweizerische Polizeischule für Aspiranten kleinerer Korps, eröffnet.14 1985 bildeten dort nicht nur Gemeindepolizeien ihre Aspi- ranten aus, sondern auch einige Stadtpolizeien und die Polizeikorps der Kantone Baselland, Jura, Neuenburg und Schaffhausen.15 Zwischen 1970 und 1994 schulte die Schweizerische Polizeiaspirantenschule, be- ziehungsweise die SPAS, wie das Ausbildungszentrum ab 1984 hiess, über 1600 Polizisten aus der Deutsch- und der Westschweiz.16 In den 1970er- und 1980er-Jahren entstanden in den Städten Spezi- aleinheiten wie die Sondereinheit aus Polizeigrenadieren zur Bekämp- fung von Schwerstkriminalität oder die Einheiten der See- und Flugha- fenpolizei. Ältere Abteilungen wie die Gewerbe-, Wirtschafts-, Markt-, Feuer-, Lebensmittel-, oder Sittenpolizei wurden den Gesetzgebungen angepasst.17 Auch die Technik entwickelte sich: Erste Radargeräte zur Geschwindigkeitskontrolle und Computertechnologien wurden einge- führt, darunter das automati- Polizisten absolvieren heute sche Fingeridentifizierungssys- lange, thematisch vielfältige, tem Afis und das landesweite technisch anspruchsvolle und elektronische Fahndungssys- taktisch «bürgernahe» Kurse. tem Ripol. In den 1990er-Jah- ren kamen erste tragbare Da- tenübertragungsgeräte zum Einsatz, und einzelne biometrische Systeme wurden aufgebaut zwecks kriminaltechnischer Fahndung.18 Auch wur- den die polizeilichen Stationierungskonzepte überarbeitet. Moderne Verkehrs- und Kommunikationsmittel ermöglichten ab den 1960er-Jah- ren den Aufbau von Einsatzzentralen und mobilen Truppen, was zum Abbau lokaler Polizeiposten und kasernierter Einheiten führte. Dem

14 Meier, Das Schweizerische Polizei-Institut im Dienste der Polizei, 15, 24. 15 Die Städte Bern, Zürich, Biel, St. Gallen und Winterthur unterhielten eigene Ausbil- dungsstätten. Grenchen, Olten, Solothurn, Luzern und Zug schickten ihre Auszubilden- den in die Polizeischulen der jeweiligen Kantonspolizei. Claude Frey / Jules Huggenber- ger, «Die Ausbildung des Polizeibeamten in der Schweiz», Vortrag an der Konferenz der Städtischen Polizeidirektoren vom 23.5.1985, 7. 16 Schweizerische Polizei-Aspirantenschule 1970 – 1994 (Neuenburg: SPI Verlag, 1994), 9f., 13. 17 Ebnöther, Polizei, 4; Walter Früh, «Die Gliederung der polizeilichen Tätigkeit», in: Franz J. Frey (Hrsg.), Mein Einsatz, deine Sicherheit (Zürich: Frey & Hügi, 1947), 39f. 18 Schmoll, Polizei und Technik, 107, 120.

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daraus resultierenden Verlust an Bürgernähe begann man in den 1980er- und 1990er-Jahren das amerikanische Prinzip der bürgernahen Poli- zei (Community Policing) entgegenzusetzen; ein Ansatz, der nunmehr schweizweit verwendet und an allen Polizeischulen unterrichtet wird.19 Die neuen Aufgabenbereiche und Technologien fanden auch Ein- gang in die Lehrpläne der Polizeischulen. Das Themenspektrum wurde an allen Polizeischulen erweitert und die Lehrgänge wurden verlängert, doch die polizeiliche Grundausbildung blieb weiterhin uneinheitlich. Bis zur Jahrtausendwende führten die meisten Kantone eine eigene Po- lizeischule.20 Anhand der SPAS lässt sich die Entwicklung hin zu mehr Lektionen in mehr Fächern klar aufzeigen. Dort dauerte die Grund- ausbildung 1970 drei Monate und bestand aus Lektionen zu Polizeiet- hik, Psychologie, Recht, Strassenverkehr, Rapportwesen, Beweismit- telsicherung, Personenbeschreibung, Funklehre, Maschinenschreiben, Gerichtsmedizin, Erster Hilfe, Schiessen, Turnen und Selbstverteidi- gung. 1995 dauerte der Lehrgang fünfeinhalb Monate und beinhaltete neue Themen wie Menschenrechte, nationale und internationale Poli- zeiorganisationen, Militär- und Zollbehörden und Informatik.21 Auch die Weiterbildungsangebote für Polizisten nahmen infolge der neuen Anforderungen und des technischen Wandels zu: Besuchten 1948 rund 300 Teilnehmer den ersten Weiterbildungskurs des SPI, so waren es 1970 bereits über 1800 Studierende in neun verschiedenen Kursen. 1995 nahmen über 3800 Polizisten das Weiterbildungsangebot war, das aus 67 Kursen bestand (darunter Kader- und Führungskurse, Instruktoren- und Spezialistenkurse).22 Dieser historische Abriss unterstreicht den anhaltenden Wandel der Schweizer Polizeiausbildung. Während Polizisten zunächst kaum, dann ausgeprägt militärisch trainiert wurden, so absolvieren sie heute lange, thematisch vielfältige, technisch anspruchsvolle und taktisch «bürger- nahe» Kurse. Ein Blick über die Landesgrenzen zeigt, dass diese Ent-

19 Ebnöther, Polizei, 4f; Pius Valier, «Community Policing: Einige Grundsätze und prakti- sche Erfahrungen», in: Format Magazine Nr. 2 (2011), 6 – 10. 20 Lehmann, Der Polizei-Kompass, 37. 21 Schweizerische Polizei-Aspirantenschule: 1970 – 1994, 14 – 17. 22 Frey/Huggenberger, Die Ausbildung des Polizeibeamten in der Schweiz, 11f.; Meichtry, Die Zeit der Kurse oder die Kurse im Wandel der Zeit, 19 – 22.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 78 AKTUELLE DISKUSSION wicklung derjenigen in Westeuropa entspricht.23 Auch in Deutschland entstanden erste polizeiliche Ausbildungen und Unterrichtsmaterialien erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Erste lokale Polizeischulen wur- den im frühen 20. Jahrhundert, vor dem Ersten Weltkrieg, gegründet.24 In Frankreich erhielten Polizisten bis zur Gründung der ersten Polizei- schule um 1880 in Paris bestenfalls ein Handbuch zum Selbststudium. Die Polizeiausbildung wurde danach sukzessive aufgebaut. In Gross- britannien wurden Polizisten bis Mitte des 20. Jahrhunderts militärisch ausgebildet. Ähnlich wie in der Schweiz gab es auch in Grossbritannien im Polizeiwesen bis Anfang des 21. Jahrhunderts keinen anerkannten Bildungs- oder Berufsabschluss.25

2. DIE SCHWEIZER POLIZEIARBEIT UND POLIZEIAUSBILDUNG HEUTE Auf diesen langen Weg des Auf- und Ausbaus des Polizeiwesens und der Polizeiausbildung folgte in den letzten zwei Jahrzehnten eine Phase des Umbaus und organisatorischer Umwälzungen. Zahlreiche Schwei- zer Polizeikorps wurden in den letzten fünfzehn Jahren reorganisiert. In einigen Kantonen wurden Stadt- und Kantonspolizeien fusioniert, so etwa in den Kantonen Zug (2002), Schaffhausen (2006) oder Luzern (2010). Im Kanton Bern (2008) wurden gar die Gemeindepolizeikorps mit denjenigen der Stadt und des Kantons zusammengelegt.26 Ferner wurde die polizeiliche Zusammenarbeit zwischen den Kan- tonen neu geregelt respektive intensiviert, etwa indem interkantonale Polizeikonkordate erneuert wurden (siehe Grafik 2). Das Zentralschwei- zer Polizeikonkordat der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Obwalden und

23 Cyrille Fijnaut, «Polizeiausbildungen und Polizeiapparat», in: PFA-Schriftenreihe der Poli- zeiführungsakademie Nr. 1 (1983), 23ff. 24 Ralph Jessen, «Polizei im Kaiserreich: Tendenzen und Grenzen der Demilitarisierung und Professionalisierung», in: Die Polizei der Gesellschaft: Studien der Inneren Sicherheit, Nr. 4 (2003), 24 – 30; Christian Knatz, «Polizei in der Weimarer Republik – Orientierungssuche zwischen Tradition und Modernisierung», in: Die Polizei der Gesellschaft: Studien der Inne- ren Sicherheit Nr. 4 (2003), 49f. 25 J.M. Berlière, «The Professionalisation of the Police under the Third Republic in France, 1875 – 1914», in: Clive Emsley / Barbara Weinberger (Hrsg.), Policing Western Europe: Politics, Professionalism and Public Order 1850 – 1940 (New York: Greenwood, 1991), 39 – 44; Richard Heslop, They Didn’t Treat Us Like Professionals: A Case Study of Police Recruits Trained at University, 11.6.2015, medhealth.leeds.ac.uk, 3ff. 26 Ebnöther, Polizei, 5.

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Zug zum Beispiel wurde 2009 revidiert mit dem Ziel, die Kooperation zwischen den Kantonspolizeien sowohl auszubauen als auch klarer zu regeln. Während das ursprüngliche Konkordat von 1978 bloss eine Zu- sammenarbeit bei ausserordentlichen Ereignissen vorsah, berechtigt das neue nun auch Polizeikooperationen im Alltag. Es definiert die Kom- petenzen und Abläufe bei Unterstützungseinsätzen und gemeinsamen Projekten, was die interkantonale Polizeikooperation erleichtert.27 Auch auf nationaler Ebene wurden Kooperationsvereinbarungen weiterentwickelt. So verpflichtet die Vereinbarung über die interkan- tonalen Polizeieinsätze (IKAPOL) von 2006 alle Polizeikorps, andere Polizeien bei Grossanlässen zu unterstützen, sollten diese Der Prozess wird auch kritisch trotz Hilfe von Nachbarkan- als die «McDonaldisierung» des tonen oder Mitgliedern des Polizeiwesens umschrieben. eigenen Polizeikonkordats zusätzliche Mittel benötigen.28 Landesweit tätig ist seit 2001 nunmehr auch die Transportpolizei. Das neugeschaffene Polizeikorps mit Kom- mando in Olten ist in Bahnhöfen und öffentlichen Verkehrsmitteln tätig.29 Die Polizeikorps wurden zudem landesweit in die neue Konzeption von «vernetzter Sicherheitsarbeit» eingebunden. So wurde nicht nur eine engere Zusammenarbeit zwischen den Polizeikorps forciert, sondern es wurden auch vermehrt Brücken geschlagen zwischen der Polizei und anderen Akteuren des Sicherheitsbereichs, insbesondere der Grenzwa- che, der Armee und der Militärpolizei, dem Bevölkerungsschutz, dem Nachrichtendienst sowie privaten Sicherheitsfirmen. Neuere Beispiele dieser Entwicklung sind die Zusammenarbeit von Polizei- und Mili- tärangehörigen bei Grossanlässen wie der Fussball-Europameisterschaft von 2008, dem OSZE-Ministerratstreffen in 2014 in Basel oder dem

27 «Polizeikonkordat Zentralschweiz», 16.11.2015, www.zrk.ch. 28 IKAPOL- Vereinbarung von 2006, 11.11.2006, https://bgs.zg.ch. 29 Die Entstehung dieses Polizeikorps hat eine längere Vorgeschichte. Siehe Sebastian Kessler, Geschichte der schweizerischen Bahnpolizei 1844 – 2010 (Seminararbeit, Universität Fribourg, 2012).

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 80 AKTUELLE DISKUSSION

Grafik 1: Polizeischulen in der Schweiz 2016 (Grundausbildung)

jährlich stattfindenden World Economic Forum (WEF) in Davos.30 Auch patrouillieren nunmehr Polizei und Grenzwache in gewissen Kantonen gemeinsam, und private Sicherheitsfirmen helfen beim Gefangenen- transport, beim Verkehrsdienst oder in Asylbewerberzentren aus.31 Seit 2010 wird die vernetzte Sicherheitsarbeit auch von der nationalen Ko-

30 «Auch das beste Verkehrskonzept stösst an seine Grenzen», in: CUMINAIVEL Nr. 9 (2012), www.vtg.admin.ch; Schlussbericht Projektorganisation öffentliche Hand UEFA EURO 2008, 17.11.2015, www.baspo.admin.ch; «Basel: Weltmittelpunkt für zwei Tage», in: Tages-Anzeiger, 26.11.2014. 31 «Zusammenarbeit zwischen Polizei und Grenzwachtkorps neu geregelt», in: Südost- schweiz, 14.10.2015; Bundesrat, Bericht zu den privaten und Sicherheits- und Militärfirmen, 2.12.2015; Matthias Bieri, «Beständiger Aufstieg: Private Sicherheitsunternehmen in der Schweiz», in: Bulletin zur Schweizerischen Sicherheitspolitik (2015), 63 – 89.

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Grafik 2: Polizeikonkordate in der Schweiz 2016

operationsplattform «Sicherheitsverbund Schweiz» (SVS) und der asso- ziierten Sicherheitsverbundsübung (SVU) vorangetrieben.32 Auf internationaler Ebene können ähnlich grundlegende Neuerun- gen verzeichnet werden. So arbeitet die Schweiz heute nicht nur mit In- terpol, der grössten internationalen kriminalpolizeilichen Organisation der Welt, sondern seit 2006 auch mit dem europäischen Polizeiamt Eu- ropol zusammen. Damit ist es Schweizer Polizeikorps möglich, strategi- sche und operative Angaben zu internationaler und organisierter Krimi- nalität, illegalem Drogenhandel, Menschenhandel und Terrorismus über die Landesgrenze hinweg auszutauschen. Mit dem Schengener Assozi- ierungsabkommen von 2008 wurde in der Schweiz zudem das Schenge-

32 Sicherheitsverbund Schweiz, 16.11.2015, www.vbs.admin.ch; Renato Kalbermatten, Sicher- heitsverbundsübung, 17.11.15, www.vbs.admin.ch.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 82 AKTUELLE DISKUSSION

ner Informationssystem (SIS) eingeführt, welches dem Bundesamt für Polizei (Fedpol), dem Grenzwachtkorps (GWK) und den Kantonspoli- zeien Personen- und Sachfahndungsdaten aus ganz Europa zugänglich macht. Das Abkommen führte auch zur engeren Zusammenarbeit zwi- schen Kantonspolizeien und dem Fedpol sowie zur Abschaffung syste- matischer Personenkontrollen an der Grenze.33 Das Grenzwachtkorps kontrolliert nun auch im grenznahen Gebiet, weshalb eine Absprache beziehungsweise eine Zusammenarbeit mit den örtlichen Polizeikorps nötig wurde. Mit vielen Grenzkantonen wurde diese Zusammenarbeit in Kooperationsvereinbarungen formalisiert. Einige Kantone haben dem GWK auch Polizeiaufgaben zugewiesen. Mancherorts ist die Grenzwa- che nun berechtigt, Ord- Eine Ausbildungszusammenarbeit nungsdienst zu leisten, mit den zunehmend zahlreichen Verkehrs- und Identitäts- privaten Sicherheitsfirmen ist kontrollen zu tätigen, Al- kaum erkennbar. koholtests, Personen- oder Fahrzeugfahndungen und Observationen im Inland durchzuführen, sowie Verstösse gegen die stra- ssenverkehrsrechtliche Arbeits- und Ruhezeitverordnung oder Übertre- tungen des Betäubungsmittelgesetzes zu ahnden. Ausserdem können Grenzwächter heute teilweise an Staatsanwaltschaften rapportieren, was früher nur indirekt über die Polizei möglich gewesen ist.34 In den letz- ten Jahren wurde auch diskutiert, ob Militärpolizisten die Kantonspo- lizeien vermehrt unterstützen sollten. Im Herbst 2013 wurde das Poli- zeikorps der Kantonspolizei Baselland bereits zu Ausbildungszwecken durch Militärpolizisten ergänzt für den Kampf gegen die grenzüber- schreitende Kriminalität.35 Diese organisatorischen Umwälzungen stellen neue Ansprüche an die Handlungskompetenzen der Polizisten und haben somit Auswir-

33 Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem europäischen Polizeiamt, 15.10.2008, www.admin.ch; Benedikt Scherer, Das Schengener Informationssystem: Ent- wicklung und Umsetzung in der Schweiz, 15.11.2013, www.fedpol.admin.ch. 34 Partnerbehörden, 17.11.2015, www.ezv.admin.ch; «Grenzwache macht neuerdings Alko- holkontrollen», in: NZZ, 23.1.2008; Markus Brotschi / René Lenzin, «Wenn sich Polizei und Grenzwache behindern», in: Tages-Anzeiger, 3.5.2010. 35 Christian Brönnimann, «Mehr zivile Einsätze für die Militärpolizei», in: Tages-Anzeiger, 5.9.2014; Jonas Hoskyn, «Erste Grosskontrollen mit der Militärpolizei», in: Basler Zeitung, 12.10.2013.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK DIE POLIZEIAUSBILDUNG IN DER SCHWEIZ 83 kungen auf den polizeilichen Aus- und Weiterbildungsbereich. Unlängst wurde ein Überblick zur schweizerischen Polizeiausbildung erstellt, um sie danach den neuen Ansprüchen und Umständen anzupassen. Die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) ini- tiierte 2001 die Erarbeitung eines bildungspolitischen Gesamtkonzep- tes (BGK) im Polizeibereich. Das Konzept folgte auf Bestrebungen, die SPAS auszubauen, und auf dem Vorsatz von Konkordaten, in Sachen Grundausbildung enger zu kooperieren. Gleichzeitig sollte es auch die Schnittstellen mit der Strafverfolgung und der Justiz besser berück- sichtigten. Die Ist-Analyse von 2002 unterstrich, dass die bestehenden dezentral organisierten Ausbildungen lokal gut verankert waren, enge Bezüge zur täglichen Polizeiarbeit ermöglichten und flexible Anpassun- gen auf neue regionale Bedürfnisse erlaubten. Sie bemängelte aber auch, dass die Ausbildungsinfrastrukturen oft veraltet waren und den Miliz- lehrpersonen zum Teil didaktische Kompetenzen fehlten. Zudem war die Ausbildung unter den Kantonen ungenügend abgestimmt und nicht ins landesweite formelle Bildungssystem eingegliedert: Es bestand kein gesamtschweizerischer Ausbildungsstandard und auch keine eidgenös- sische Anerkennung des Titels «Polizist». 2004 wurden der Abschlussbericht des BGK und sein Umset- zungsplan von der KKJPD einstimmig genehmigt. Die Konferenz be- schloss, dass die polizeiliche Grundausbildung an allen Schulen künf- tig zwölf Monate dauern und mit einer eidgenössischen Berufsprüfung (BP) abgeschlossen werden sollte. Zudem sollten Gemeinde-, Stadt- und Kantonspolizisten gemeinsam in vier bis fünf Regionalen Aus- bildungszentren ausgebildet werden und die Lehrkräfte sollten fortan über ausgewiesene fachliche und didaktische Fähigkeiten verfügen. In der Aus- und Weiterbildung sollten gemeinsame Module mit Straf- verfolgungs- und Justizorganen konzipiert und das SPI zu einem ge- samtschweizerischen Steuerungsorgan und zur Aufsichtsbehörde im Bildungsbereich gemacht werden.36 Aus letzterem Richtungsentscheid resultieren die aktuellen Kompetenzen des SPI, die Gewährleistung der Durchführung der eidgenössischen Prüfungen, die Erarbeitung und der

36 Bildungspolitisches Gesamtkonzept für die Polizei und die Strafjustiz, 16.11.2015, www.pano- rama.ch.

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Tabelle 1: Die schweizerischen Polizeischulen (Stand 2016)

Standort Gründung Polizeikorps Aspiranten/Jahr Interkantonale Hitzkirch LU 2007 AG, BE, BL, BS, LU, NW, 250 – 300 Polizeischule Hitzkirch, OW, SO, SZ, UR, ZG, IPH Militärpolizei Zürcher Polizeischule , Zürich ZH 2012 GL, ZH, 150 – 250 ZHPS Stadtpolizei Zürich Académie de Police de St. Maurice VS / 2004 GE, VD, VS, Stadtpolizei 140 – 250 Savatan Savatan VD Lausanne, Transport-, Militärpolizei Polizeischule Ostschweiz Amriswil TG 2006 AI, AR, GR, SG, SH, TG, 70 – 90 Stadtpolizei Chur, St. Gallen, Landespolizei FL, Militärpolizei Centre Interrégional Colombier NE / 2016 JU, NE, FR, 40 – 60 de formation de police, Granges-Paccot (2006/1952) Transportpolizei CIFPOL FR Scuola Cantonale di Polizia Giubasco TI 1998 TI 20 – 30 Schweizerisches Polizeiin- Neuenburg NE 1948 Alle Korps 6500 stitut, SPI

Vertrieb von Lehrmitteln, die Weiterentwicklung der Polizeigrundaus- bildung und die Organisation von Weiterbildungskursen.37 In den letzten zehn Jahren wurden einige kantonale Polizeischulen geschlossen und meist innerhalb der Konkordate zusammengelegt. Auch die Polizeiaspirantenschule in Le Chanet schloss 2006 ihre Tore.38 So wurde die Interkantonale Polizeischule in Hitzkirch mit jährlich 300 Aspiranten aus elf Kantonen zur grössten Polizeischule der Schweiz.39 2016 bestehen noch sechs Polizeischulen: zwei in der Romandie, drei in der Deutschschweiz und eine im Tessin (siehe Grafik 1 und Tabelle 1).40 Ein Jahr zuvor waren es noch zwei Polizeischulen mehr, doch inzwi- schen gibt es die Genfer Polizeischule nicht mehr, und die Polizeischu-

37 Portrait, 30.10.2015, www.institut-police.ch. 38 Geschäftsbericht 2006, 13.4.2016, www.institut-police.ch. 39 Interkantonale Polizeischule Hitzkirch, 16.11.2015, www.iph-hitzkirch.ch. 40 Grundausbildung, 16.11.2015, www.institut-police.ch.

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len von Freiburg und Neuenburg haben fusioniert, wobei das neue In- terregionale Polizeiausbildungszentrum (CIFPOL) weiterhin an den Standorten Colombier (NE) und Granges-Paccot (FR) operiert. Das Genfer Polizeikorps schickt seine Aspiranten neu an die Académie de Po- Standort Gründung Polizeikorps Aspiranten/Jahr lice. Diesen Weg wollten die Freiburger und Neuenburger nicht gehen, weil ihnen der militärisch geprägte Unterrichtsstil von Savatan nicht zusagt und sie sich zum Ziel gesetzt haben, weiterhin möglichst nahe am Einsatzgebiet auszubilden.41 Eine Doktorarbeit hat unlängst aufge- zeigt, dass alle Westschweizer Polizeischulen sich in einem Spannungs- feld zwischen «orthodoxen» und «reformatorischen», militärnahen und modernen Vorstellungen der Polizeiarbeit bewegen.42

2.1 «POLIZIST» ALS OFFIZIELL ANERKANNTER ABSCHLUSS Mit der Einführung der eidgenössischen Berufsprüfung im Jahre 2003 wurde der Abschluss der Polizeischulen in den Tertiärbereich des offi- ziellen Schweizer Bildungssystems eingegliedert (siehe Grafik 2). Seither tragen erfolgreiche Absolventen der Abschlussprüfung den geschützten Titel «Polizist/in mit eidgenössischem Fachausweis». Der landesweit einheitliche Titel vereinfacht Polizisten den Wechsel in andere Poli- zeikorps. Er wurde ähnlich spät wie derjenige der Feuerwehr oder der privaten Sicherheit offiziell anerkannt.43 Zur BP treten jährlich rund 700-800 Aspiranten an. Sie werden auf vier Themenfeldern mündlich, schriftlich und praktisch geprüft: Polizeieinsatz, Community Policing, Polizeipsychologie und Berufsethik/Menschenrechte.44 Die Erfolgs- quote der BP war in den letzten fünf Jahren mit über 97% ausgespro- chen hoch. Dies kann aber durch die starke Vorselektion der Aspiranten,

41 «Fribourg, Neuchâtel et Jura créent leur école de police», in: Newsletter de l’Académie de Po- lice, 22.9.2015. 42 David Pichonnaz, Former pour réformer: Sociologie de l’hétérodoxie policière et de l’entrée dans la profession (Diss. Université de Fribourg et de l’EHESS, 2014), http://doc.rero.ch/ record/232588. 43 Lehmann, Der Polizei-Kompass, 37 – 39. Die Titel «Sicherheitsfachmann/frau Bewachung mit eidg. Fachausweis» und «Sicherheitsfachmann/frau Personenschutz mit eidg. Fachaus- weis» ist seit 2001 respektive seit 2004 anerkannt, Interview mit Mitarbeiter des VSSU, 26.11.2015. 44 Prüfungsordnung der BP Polizist/Polizistin mit eidg. FA, 18.6.2012, www.sbfi.admin.ch/hbb.

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Grafik 3: Die Polizeiausbildung in der schweizerischen Bildungslandschaft

durch die korpsinterne Aufnahmeprüfung und die Zulassungsbedin- gung «bestandene Polizeischule» erklärt werden.45 Die Polizeikorps rekrutieren nach wie vor gemäss ihren eigenen Vor- gaben. Jedes Korps hat ein eigenes Bewerbungsverfahren und eine ei- gene Aufnahmeprüfung. In der Ostschweiz werden korpsübergreifende Aufnahmeprüfungen durchgeführt und die Aufnahmebedingungen sind weitgehend vereinheitlicht. Auch in der Romandie oder in Hitzkirch wird angestrebt, die korpsinternen Anforderungen und Prüfungen zu vereinheitlichen. Dies geschieht mit dem Ziel, Kosten und Organisati- onsaufwand zu senken und allzu heterogene Schulkassen zu vermeiden.46 Wie divers die Klassen tatsächlich sind, ist kaum zu eruieren, da die Pro- file der Aspiranten landesweit noch nie analysiert worden sind. Einzig die Zürcher Polizeischule und die IPH analysierten einmalig im Jahr 2013 Vorbildung und Alter ihre Studierenden. Ihre Studie zeigt, dass von 1025 Aspiranten 21 Prozent über kaufmännische Abschlüsse, 12 Prozent über eine Matura- oder einen Tertiärabschluss, 7 Prozent über

45 Durchschnitt der letzten fünf Jahre. Schweizerisches Polizei-Institut, Kennzahlen der Be- rufsprüfung Polizist/Polizistin. 46 Anjan Sartori, «Gemeinsame Personalgewinnung in der Ostschweiz» in: FormatMagazine Nr. 2 (2014): 6; Interviews mit Mitarbeitern der IPH, 9.9.2015, und des SPI, 1.9.2015.

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eine Ausbildung als Mobil-Mechatroniker und 6 Prozent über Lehrab- schlüsse als Elektroinstallateure verfügten. Die meisten Studierenden waren zwischen 25 und 30 Jahre alt.47 Um die in den Polizeischulen zu erreichenden Kompetenzen zu ver- einheitlichen, erstellte das SPI 2004 einen ersten nationalen Rahmen- lehrplan. Dieser Lehrplan gibt den Polizeischulen als Richtwert 1200 Lehrstunden in acht Themenfächern vor. Mit der korpsspezifischen Ausbildung, den Praktika, Ferien, Feiertagen und der Vorbereitung zur BP sind 2000 Stunden vorgesehen, welche die Polizeischulen anbieten sollten.48 In der Praxis wird dieses Ziel unterschiedlich ausgelegt und im Umfang teilweise auch übertroffen. Die Zürcher Polizeischule bei- spielsweise schreibt ihren Aspiranten 2045 Lektionen vor. Gegenüber dem Rahmenlehrplan sieht sie zusätzliche Lektionen in Englisch, Recht und Verkehr und etwas weniger Stunden in Kriminalistik und Einsatz- training vor (siehe Tabelle 2).49 Die meisten im Unterricht verwendeten Lehrbücher werden vom SPI herausgegeben. Die entsprechenden Inhalte stammen von polizeiin- ternen Expertengruppen. Eine direkte Zusammenarbeit mit Hochschu- len oder ausländischen Polizeiinstitutionen besteht diesbezüglich kaum. Einzig beim Fach Psychologie stammen die Inhalte indirekt aus dem akademischen Bereich, da Polizisten, die in diesem Bereich arbeiten, meist über einen Universitätsabschluss in Psychologie verfügen.50 Die Unterrichtsformen sind je nach Schule und Fach unterschiedlich. Ne- ben Frontalunterricht finden heute in der Polizeiausbildung auch prak- tischer Unterricht, selbständiges Lernen und e-Learning seinen Platz – Hitzkirch beispielsweise bietet den Aspiranten auch alle Lernfolien via Internetplattform an.51 Praktischer, kompetenzorientierter Unterricht

47 ZHPS, IPH, Verteilung der Erstberuf auf die Polizeiaspiranten/innen Stand 2013 (Doku- ment den Autoren vorliegend). 48 Paritätische Kommission, Rahmenlehrplan für Polizist/Polizistin, 5.11.2014, www.institut- police.ch. 49 Kurt Hügi, ZHPS-Guide: Informationen und Checklisten für Aspirantinnen und Aspiranten, Ausbilderinnen und Ausbilder und alle an der ZHPS Interessierten (Zürich: Zürcher Polizei- schule, 2014). 50 Diese Fächer werden auch meist von Hochschulabgängern unterrichtet. Pichonnaz, For- mer pour réformer; Interview mit Mitarbeiter des SPI, 1.9.2015. 51 Interview mit Mitarbeiter der IPH, 9.9.2015.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 88 AKTUELLE DISKUSSION

Tabelle 2: Inhalte der Grundausbildung

FächerRahmenlehrplan gemäss(RLP) Anzahlgemäss Lektionen RLPAnzahl an Lektionen derPolizeischule Zürcher ZHPS Allgemeinbildung Deutsch, Geographie, Staatskunde, Informatik 100 116 * Allgemeine Rapportlehre, Polizeiorgane, Community Policing, 250 247 Polizeifächer Psychologie, Ethik und Menschenrechte Recht Polizeigesetz, Strafrecht, Strafprozessrecht 120 192 Sicherheit Polizeitaktik, Ordnungsdienst, Sicherheitspolizei 120 144 ** Verkehr Strassenverkehrsrecht, Verkehrsunfall, Fahrtraining 120 149 *** Kriminalistik Kriminaltaktik, Kriminaltechnik 170 135 Sport/Gesundheit Fitness, Schwimmen, sanitätsdienstliche Ausbildung 110 144 **** Einsatztraining Schiessen, Eigenschutz, Einsatztraining 210 180 Praktika Inkl. Korpsspezifische Ausbildung 560 490 Berufsprüfung 40 38 Urlaub Ferien und Feiertage 200 210 Total 2000 2045 * + Ortskunde ** + Grossereignis und Sprengkunde *** + Verkehrszeichengebung **** + Erste Hilfe wird überall angestrebt. An der IPH und in Savatan werden zum Bei- spiel Schauspieler und täuschend echte Kulissen hinzugezogen, um Aus- zubildende unvorbereitet mit unterschiedlichen Problemsituationen (wie etwa einem Banküberfall) zu konfrontieren. Die Übungen werden nach- besprochen und zur Festigung des gewünschten Verhaltens wiederholt.52 Nach der Grundausbildung und der bestandenen Berufsprüfung werden die neuen Polizisten in ihrem Korps vereidigt und sind somit mit allen Rechten und Pflichten des Polizeidiensts versehen. Die darauffol- gende Eingliederung ins jeweilige Polizeikorps erfolgt auf unterschied- liche Weise. Während manche sogleich einer Abteilung zugeteilt wer- den und zu arbeiten beginnen, absolvieren andere erst ein spezifisches Einführungsprogramm oder Praktika bei verschiedenen Dienststellen. Bei der Kantonspolizei Bern etwa müssen frisch vereidigte Polizisten

52 Interviews mit Mitarbeitern der Académie de Police in Savatan, 13.10.2015, und der IPH, 9.9.2015.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK DIE POLIZEIAUSBILDUNG IN DER SCHWEIZ 89

ein strukturiertes sechsmonatiges Betriebspraktikum im Lehrverband

absolvieren. Eine Hälfte des Verbands durchläuft während drei Mo- naten Praktika auf fünfzehn korpsinternen und externen Dienststellen (Regionalfahndung, Einsatzzentrale, Botschaftsschutz, Rettungsdienst, etc.). Die andere Hälfte erhält in Ittigen Unterricht zu korps- und regi- FächerRahmenlehrplan gemäss(RLP) Anzahlgemäss Lektionen RLPAnzahl an Lektionen derPolizeischule Zürcher ZHPS onalspezifischen Themen wie Jugendkriminalität oder Staatsschutz und rückt zugunsten der Frontabteilungen aus. Danach wechseln die beiden Gruppen die Rollen und beide werden nach Abschluss des Lehrver- bands für mindestens vier Jahre der stationierten oder der mobilen Po- lizei zugeteilt.53 In Basel werden die vereidigten Polizisten erst fünf Mo- nate einem Ausbildungszug angegliedert, wo sie erfahrene Kollegen bei der täglichen Arbeit begleiten. Danach leisten sie zwölf Monate Dienst in einer Polizeiwache. Zum Abschluss werden sie für ein weiteres Jahr dem Alarmpikett zugeteilt und patrouillieren die Strassen von Basel.54 Einige Jahre nach der Grundausbildung wurde auch ein Abschluss der berufsspezifischen Weiterbildung eidgenössisch anerkannt. Seit 2007 ist es auf fortgeschrittener Stufe möglich, eine höhere Fachprü- fung (HFP) abzulegen, die zum Titel «Polizist/in mit eidgenössischem Diplom» führt. Mit der HFP beweisen Polizisten, dass sie im Bereich Führung, Ausbildung oder polizeilichem Spezialwissen Experten sind (siehe Grafik 3).55 Jedes Jahr treten 50 bis 100 Personen zur HFP an, die Erfolgsquote liegt bei rund 90 Prozent. 50 bis 100 Prüflinge sind relativ wenig im Vergleich mit anderen polizeilichen Weiterbildungs- kursen. Es entscheiden sich wahrscheinlich weniger für das eidgenös- sische Diplom, weil dieser Abschluss in den meisten Korps nicht kar- riererelevant sprich keine Voraussetzung ist, um eine höhere Funktion zu erreichen.56 Der Vorbereitungskurs zur HFP ist modular aufgebaut. Er umfasst Pflichtmodule zu Führung, Methodik und Didaktik sowie

53 Ausbildung, 25.11.15, www.police.be.ch; Präsentation über den Lehrverband der Kan- tonspolizei Bern (Dokument den Autoren vorliegend); Interview mit Mitarbeiter der Kan- tonspolizei Bern, 18.11.2015. 54 Ausbildung, 25.11.2015, www.polizei.bs.ch. 55 Prüfungsordnung der HFP Polizist/Polizistin mit eidgenössischem Diplom, 10.4.2007, www. sbfi.admin.ch. 56 Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation, «Statistik zur HFP Polizist/Po- lizistin mit eidg. Diplom»; Bei den Korps der Kantone TI, JU, UR wird die HFP für hö- here Positionen verlangt; Interview mit Mitarbeiter des SPI (1.9.2015).

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 90 AKTUELLE DISKUSSION

Tabelle 3: Laufbahnen im Schweizer Polizeiwesen

Generalist Eignungstest Anstellung vor Beginn der Ausbildung Polizeischule 1800 Lektionen inklusive Praktikum Berufsprüfung 13 Std. schriftlich, mündlich und praktisch

Spezialist Weiterbildung zum Spezialisten 40 Tage innert 5 Jahren Ausbilder Weiterbildung zum Ausbilder 40 Tage innert 5 Jahren Chef Weiterbildung im Führungsbereich 40 Tage innert 5 Jahren Höhere Fachprüfung 5 Monate für Diplomarbeit, 20 Min. Präsentation und 20 Min. Befragung

Offizier CAS FIP 24 Tage plus Seminararbeit

Quelle: SPI

Wahlmodule entsprechend der Vertiefungsrichtung (Führung, Spezialist oder Ausbildner). Die Abschlussprüfung besteht aus einer Diplomarbeit, einer Präsentation und einer Diskussion zu derselben.57 Der Lehrgang zur HFP stellt heute bei weitem nicht die einzige Weiterbildungsmöglichkeit dar. Das SPI offeriert zahlreiche anderwei- tige Lehrangebote und die Korps bilden ihre Leute auch intern weiter. Die Weiterbildungskurse des SPI sind äusserst vielfältig und beliebt – sie reichen von Führungslehrgängen über Cyber-Cop- und Bike Police-Kur- sen bis hin zu Verhandlungsführungs- und Medientrainings. Das SPI verleiht zudem Certificates of Advanced Study (CAS) in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern und der Haute École Arc zu den Themen «Führung im Polizeieinsatz» und «Financial Investigation».58 2005 nah- men 4000 Polizeimitarbeiter an 136 verschiedenen Kursen teil. Mittler- weile werden jährlich 230 Kurse mit durchschnittlich 28 Teilnehmern

57 Prüfungsordnung der HFP Polizist/Polizistin mit eidgenössischem Diplom, 10.4.2007, www.sbfi.admin.ch. 58 Kurse und CAS Lehrgänge, 25.11.2015, www.institut-police.ch.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK DIE POLIZEIAUSBILDUNG IN DER SCHWEIZ 91 durchgeführt. Folglich absolvieren heute am SPI jährlich 6500 Polizis- ten eine Weiterbildung, womit jeder dritte Schweizer Polizist sich ein- mal im Kalenderjahr am Polizei-Institut fortbildet.59

2.2 SPEZIALISIERUNG, TECHNOLOGISIERUNG UND KOOPERATION Die wachsenden Berufsanforderungen im Polizeiwesen – die steigende Nachfrage nach mehr Expertenwissen, erweiterten Technologie- und Handlungskompetenzen – zeigen sich nun auch in der Polizeiaus- und Weiterbildung. Der erweiterte Polizeiaufgabenbereich führt unter ande- rem zu Spezialisierungen innerhalb des Polizeiberufs. Mussten Polizis- ten früher schlicht für Ruhe und Ordnung im öffentlichen Raum sor- gen, müssen sie heute die polizeiliche Grundversorgung (Notrufzentrale, Besetzung von Polizeiposten, Patrouillen usw.) sicherstellen, Gefahren abwehren, Streitigkeiten und Konflikte schlichten, Störungen beseiti- gen, Informations- und Präventionskampagnen durchführen, Grossan- lässe absichern, Massnahmen bei Katastrophen und Unfällen ergreifen, Spezialtransporte durchführen, Amts- und Vollzugshilfen erstatten, In- formationen mit in- und ausländischen Polizeistellen austauschen, Rap- porte erstellen, bei Unfällen oder Kriminalfällen die Sachverhalte ermit- teln und vieles mehr. Dieses zunehmend komplexe Aufgabenportfolio verlangt geradezu nach fachlicher Ausdifferenzierung der Polizeikorps. So ist eine institutionelle Unterteilung in verkehrs-, sicherheits-, kri- minal-, gerichts- und spezialpolizeiliche Abteilungen heute vielerorts gängig.60 Folge dieser Entwicklung ist allerdings, dass Generalisten ver- schwinden, respektive dass sich die meisten Polizisten vom Generalis- ten zum Spezialisten entwickeln (müssen). Dieser Prozess wird in der Literatur auch kritisch als die «McDonaldisierung» des Polizeiwesens umschrieben, also eine fabrikationsähnliche Zerstückelung der Polizei- arbeit. Einige Aufgaben werden heute auch an Polizeiassistenten oder an private Sicherheitsfirmen delegiert.61 Die Nachfrage nach vermehrtem

59 «Rede von Beat Hensler, Kommandant der Kapo Luzern, Präsident der KKPKS» in: 60 Jahre Schweizerisches Polizei-Institut (Neuenburg: SPI Verlag, 2006), 54; Interview mit Mitarbeiter des SPI, 1.9.2015. 60 Andreas Zünd / Christoph Errass, «Privatisierung von Polizeiaufgaben», in: Sicherheit und Recht Nr. 3 (2012), 167f. 61 Richard Heslop, They Didn’t Treat Us Like Professionals, 2.

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polizeilichem Fachwissen zeigt sich nicht zuletzt in der Popularität der SPI-Weiterbildungsangebote. Denn die Spezialisierung findet nicht in der Grundausbildung, sondern später in der Weiterbildung statt. Auch das Technologie-Knowhow findet zunehmend Eingang in die Polizeiausbildung. Wie die historische Entwicklung des Polizeiwesens zeigt, beeinflusste das Aufkommen neuer Technologien wie Eisenbah- nen, Autos, Telefone, Kriminaltechniken und Datenbanken die Poli- zeiarbeit und -ausbildung seit jeher. Heute wird der Umgang mit neuen Technologien zumeist während den Praktika im Korps oder nach der Grundausbildung erlernt, auch weil die Ausrüstung der Polizeikorps stark variiert und nicht alle Geräte überall Anwendung finden.62 Der Umgang mit Smartphones und Tablets ist heute in der Grund- ausbildung ein zunehmend wichtiges Thema. Dies einerseits, weil Po- lizeiangestellte im Dienst oft von Passanten gefilmt werden und wissen müssen, wie man darauf reagiert. Andererseits aber auch, weil verschie- dene Applikationen die tägliche Polizeiarbeit erleichtern.63 So hat die Zürcher Kantonspolizei alle Einsatzpolizisten mit iPads ausgerüstet. Darauf soll in Zukunft ein App-Alarmsystem installiert sein, welches ein beschleunigtes Aufbieten der Mitarbeiter ermöglicht, die Kommu- nikation unter ihnen vereinfacht, Recherchen in der Zürcher Daten- bank Polis erlaubt und den Versand von Fahndungsbildern unterstützt. Auch die Kantonspolizisten in St. Gallen sind heute mit Smartphone und Polizei-App ausgerüstet, um den Informations- und Bilderaustausch zu beschleunigen und Zugriffe auf aktuelle Bussen- und Fahndungsre- gister zu gewährleisten. Die Kantonspolizeien Zürich und Bern haben eine Applikation entwickelt, mit welcher die Einsätze ihrer Spezialfor- mationen «Skorpion» und «Enzian» koordiniert werden können.64 Der Umgang mit modernen Technologien und den damit verbundenen Kri- minalitätsformen wird auch in der Weiterbildung geschult. Unter den Angeboten des SPI finden sich zum Beispiel Kurse zur Cyber-Krimi- nalität, in denen die wichtigsten Akteure beim Kampf gegen die Inter-

62 Interviews mit Mitarbeitern der Zürcher Polizeischule, 15.9.15, und der IPH, 9.9.15. 63 Interview mit Mitarbeiter der Académie de Police in Savatan. 13.10.15; Benno Gasser, «Die Polizei steht im Visier der Handyfilmer», in: Tages-Anzeiger, 21.8.2015. 64 Fabian Baumgartner, «Verbrecherjagd mit Smartphone App», in: NZZ, 29.7.2013; «Alle St.Galler Polizisten mit Smartphone ausgerüstet», in: SRF News, 11.8.2015, www.srf.ch.

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netkriminalität vorgestellt und Kompetenzen im Hard- und Software- bereich vermittelt werden.65 Die Förderung der landesweiten, internationalen und interfunkti- onalen Kooperationsfähigkeit schliesslich wird in verschiedenen Lehr- formaten zunehmend thematisiert und eingeübt. Wie der historische Überblick gezeigt hat, begannen die Polizeikorps in der Nachkriegszeit im Bereich der Aus- und Weiterbildung zu kooperieren. Seit der Jahr- tausendwende intensivierten sich diese Kooperationen mit dem Aufbau Regionaler Ausbildungszentren, der Einführung der eidgenössischen Berufsprüfung und dem nationalen Rahmenlehrplan. Auch die Zusam- menarbeit zwischen dem Lernort Polizeischule und dem Lernort Poli- zeikorps (Praktika) wurde verbessert. Der Austausch von Best Practices zwischen den Ausbildungszentren ist heute weit verbreitet. Die Ausbil- dungsverantwortlichen und Dozierenden sind gut vernetzt. Sie treffen sich auch oft mit ausländischen Kollegen, um in Erfahrung zu bringen, wie Polizeianwärter in anderen Ländern geschult werden. Die Polizei- akademie in Savatan beispielsweise pflegt einen engen Kontakt mit der französischen Gendarmerie. Seit ein paar Jahren ist das Praktikum bei der Gendarmerie in St. Astier zur Schulung der Handhabung grosser Menschenmassen fester Bestandteil der Polizeigrundausbildung.66 Eine Ausbildungszusammenarbeit auf internationaler Ebene ist auch auf Stufe Weiterbildung zu finden. Seit 1992 bietet die Mitteleuropäische Poli- zeiakademie (MEPA) in Budapest ihren Mitgliedsländern Deutschland, Österreich, Schweiz, Slowenien, Slowakei, Tschechien und Ungarn Fortbildungskurse sowie Hospitationen für Polizeibeamte des mittle- ren Kaders an. Diese sollen gemeinsame Rollenverständnisse fördern, persönliche Kontakte herstellen und das Hintergrundwissen über die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Situationen in den Partnerländern erweitern. Ziel ist, die gemeinsame Bekämpfung der in- ternationalen Kriminalität zu vereinfachen.67

65 Kurskalender, 4.12.15, www.institut-police.ch. 66 Interviews mit Mitarbeitern der Zürcher Polizeischule, 15.9.15, der IPH, 9.9.15, und der Académie de Police in Savatan. 13.10.15; Formation de policier/policière, 8.12.2015, www. academie-de-police.ch. 67 Die MEPA, 7.12.2015, www.mepa.net.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 94 AKTUELLE DISKUSSION

Zunehmend werden auch über den polizeilichen Sektor hin- aus Ausbildungsformate entwickelt und Partnerschaften gepflegt. So wurde etwa die Ausbildungszusammenarbeit mit der Militärpolizei verstärkt. Seit 2010 absolvieren Militärpolizisten die zivile Polizeiaus- bildung in Savatan, Hitzkirch oder Amriswil und erlangen dabei den Titel «Polizist/-in mit eidgenössischem Fachausweis». Zuvor durchlie- fen Militärpolizisten eine militärinterne Ausbildung und absolvierten verschiedene Praktika bei der Polizei. Der Es stellt sich heute neue Bildungsabschluss ermöglicht es Mi- die Frage nach litärpolizisten, später für die zivile Polizei der Sinnhaftigkeit zu arbeiten.68 Um die Zusammenarbeit mit von interkantonal Feuerwehr, Rega oder Rettungsdiensten ein- organisierten zustudieren, organisieren die meisten Poli- Polizeischulen. zeischulen heute so genannte Partnerschafts- tage. Damit wird sichergestellt, dass jeder weiss, wer bei einem Vorfall welche Rolle hat und wie kommuniziert werden soll.69 Bei der polizeilichen Weiterbildung arbeitet die Polizei zunehmend eng mit dem GWK zusammen. Die Führungslehrgänge des SPI beispielsweise werden regelmässig von Grenzwächtern besucht, die sich so auf ihre Höhere Fachprüfung vorbereiten. Für Kurse zum Thema «Sicherheit, Intervention und Technik» schicken manche Polizeikorps Mitarbeitende zum Aus- und Weiterbildungszentrum der Grenzwache nach Interlaken.70 Auch mit der Militärpolizei herrscht in Sachen Wei- terbildung ein Geben und Nehmen. Militärpolizisten bilden sich bei der zivilen Polizei auf Themengebieten aus, welche sie intern nicht anbieten können, darunter Kurse zu den Themen häusliche Gewalt oder Drogen- missbrauch. Im Gegenzug bietet das Militär gewissen Polizeikorps Ins- truktions-, Nahkampf- oder Schiessweiterbildungen an.71 Überraschenderweise ist eine Ausbildungszusammenarbeit mit den zunehmend zahlreichen privaten Sicherheitsfirmen kaum erkennbar. Nur in den Bereichen, welche die Polizei an private Sicherheitsdienst-

68 Interview mit Mitarbeiter der Militärpolizei, 28.10.15. 69 Interviews mit Mitarbeitern der Académie de Police, 13.10.15, der ZHPS, 15.9.15, und der IPH, 9.9.15. 70 Interview mit Kommandant Lehrverband des GWK, 22.9.15. 71 Interview mit Mitarbeiter der Militärpolizei, 28.10.15.

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leister delegiert hat, schulen Polizisten private Sicherheitsverantwort- liche, unter anderem beim Gefangenentransport oder beim Verkehrs- dienst. Auch kommt es vor, dass Polizisten bei der Berufsprüfung der privaten Sicherheitsbranche als Experten walten. Mitarbeiter des Ver- bandes Schweizerischer Sicherheitsdienstleistungs-Unternehmen besu- chen ausserdem jährlich jede Polizeischule, um die Arbeit und die Aus- bildung von privaten Sicherheitsangestellten vorzustellen. Ziel dieser einseitigen Bemühungen ist es, die Zuständigkeiten und Fähigkeiten der eigenen Berufsgruppe zu erklären, um so die künftige Zusammen- arbeit zu erleichtern.72

SCHLUSSWORT Der Blick auf die historischen und jüngsten Entwicklungen im Polizei- ausbildungsbereich verweist auf umfangreiche Neuerungen. Die Aus- und Weiterbildung der Polizei wurde seit dem Zweiten Weltkrieg stark ausgebaut, professionalisiert und auf nationaler Ebene organisiert. Ent- gegen dem althergebrachten staatspolitischen Grundsatz der kantona- len Hoheit in Polizeifragen ist die Polizeiausbildung heute regional re- spektive interkantonal organisiert und führt zu einem eidgenössischen Abschluss. Der Weg dorthin war allerdings lang und steinig. Letztlich waren es neben finanziellen Aspekten vermutlich auch die neuen An- sprüche der Polizeikooperation, welche die Kantone bewogen, ihre Po- lizeischulen zusammenzulegen und eine einheitlichere Ausbildung zu entwerfen. Der Polizeiberuf differenziert sich seit zwei Jahrzehnten zunehmend in spezialisierte Fachbereiche, für die dann eigens Weiterbildungskurse konzipiert werden mussten. Erweiterte Aufgabenportfolios und neue Technologien treiben diesen Prozess an, denn sie erfordern ausgeprägtes Spezialwissen und gesteigerte Technologiekompetenz. Von einer Tech- nologisierung kann insofern gesprochen werden, als dass die Anzahl neuer Technologien in der Polizeiarbeit und in der Polizeiausbildung klar gestiegen ist. Der technologische Fortschritt hatte aber schon im- mer einen Einfluss auf die Polizeiarbeit und die Polizeiausbildung. Da- neben ist auch eine Tendenz zur verstärkten Zusammenarbeit im Po-

72 Interview mit Mitarbeiter des VSSU, 26.11.15.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 96 AKTUELLE DISKUSSION

lizeiaus- und Weiterbildungsbereich festzustellen. Die kommunalen, städtischen und kantonalen Polizeikorps arbeiten seit der Jahrtausend- wende enger in Sachen Grundausbildung zusammen, durch den Auf- bau gemeinsamer Regionaler Ausbildungszentren, den gemeinsamen Lehrmitteln und Lehrplänen. Gleichzeitig wurden gemeinsame Kurs- tage mit nicht-polizeilichen Partnerorganisationen durchgeführt. Im Bereich Weiterbildung arbeiten die verschiedenen Polizeikorps schon seit mehr als 60 Jahren über das Schweizerische Polizei-Institut zusam- men. Auch diese Zusammenarbeit wurde seit den 1990er Jahren stark ausgebaut und intensiviert. Zudem haben die Schweizer Polizeischulen seitdem auch vermehrt Brücken zu Ausbildungsverantwortlichen im Ausland geschlagen. In einer zunehmend vernetzten Sicherheitslandschaft Schweiz er- scheint die Kooperation im Ausbildungsbereich zwischen den verschie- denen staatlichen und nicht-staatlichen Sicherheitsakteuren sinnvoll. Diese wäre jedoch ausbaufähig. Vertreter der Polizei und der Grenz- wache würden ihre Zusammenarbeit in Sachen Aus- und Weiterbil- dung gerne vertiefen. Sie sehen darin finanzielle und operative Vorteile. Die privaten Sicherheitsunternehmen ihrerseits würden eine verstärkte Kollaboration mit staatlichen Sicherheitsakteuren im Bereich Ausbil- dung zu schätzen wissen, stossen bei diesen jedoch auf Skepsis.73 Sollte ein Ausbau der Zusammenarbeit angestrebt werden, sind staatspoliti- sche Debatten vorprogrammiert, weil die Polizei der kantonalen und das Grenzwachtkorps der eidgenössischen Hoheit untersteht und An- gestellte von privaten Sicherheitsdienstleistern als nicht-staatliche Ak- teure über keine hoheitlichen Befugnisse verfügen.74 Auch die Zusam- menarbeit mit den Hochschulen steckt in ihren Anfängen und sollte erweitert werden. Das universitäre Fachwissen in den Fächern Psycho- logie oder Menschenrechte und Ethik fliesst heute durch akademisch ausgebildete Fachpersonen in die Polizeiausbildung ein. Eine direktere Zusammenarbeit zwischen dem SPI und den Hochschulen, die dar- auf abzielt, neuste Erkenntnisse der Forschung (etwa in den Bereichen

73 Interviews mit Kommandant Lehrverband des GWK, 22.9.15, sowie mit Mitarbeitern der Académie de Police, 13.10.15, des SPI, 1.9.2015, und des VSSU, 26.11.15. 74 Bieri, Beständiger Aufstieg, 71f.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK DIE POLIZEIAUSBILDUNG IN DER SCHWEIZ 97

Technologie, Soziologie oder Politikwissenschaften) in die Polizeiaus- bildung einzubringen, wäre angezeigt. Durch die Verstädterung der Schweiz und die zunehmend starken Unterschiede zwischen Grenz- und Binnenregionen sowie zwischen Stadt und Land stellt sich heute auch die Frage nach der Sinnhaftig- keit von interkantonal organisierten Polizeischulen. Es ist zwar sicher sinnvoll, über Kantonsgrenzen hinweg die Grundlagen der polizeili- chen Arbeit gemeinsam zu erarbeiten und Netzwerke zu knüpfen für die künftige Zusammenarbeit. Doch die lokalen Begebenheiten und Her- ausforderungen, die Organisation der Korps sind sehr unterschiedlich, sodass die allermeisten Polizisten nach der abgeschlossenen Grundaus- bildung nur dank Praktika und Eingliederungsprogrammen, die teil- weise Jahre dauern, in ihrem Einsatzgebiet situationsgerecht zu ope- rieren lernen. Es stellt sich somit die Frage, ob die Polizeiausbildung nach einer soliden Grundausbildung in einem zweiten Teil nicht stär- ker funktional organisiert werden sollte. Die Länge und Intensität der heutigen Eingliederungsprogramme weist zudem darauf hin, dass ein Jahr Ausbildung als Vorbereitung auf den Polizeidienst nicht ausreicht. Eine Verlängerung der Polizeiausbildung scheint nötig, um die Aspi- ranten optimal auf künftige Aufgaben vorzubereiten. Dies wird nun auch in Polizeikreisen diskutiert. Daneben ist die föderalistische Viel- falt der Schweiz für die polizeiliche Bildungslandschaft eine Herausfor- derung. Uneinheitliche Anstellungsbedingungen, Aufnahmeprüfungen und (technologische) Ausstattungen der Polizeikorps erschweren die in- terkantonale Ausbildung und auch die transkantonale Zusammenarbeit. In diesen Bereichen ist eine Harmonisierung notwendig.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK

SCHWEIZER SICHERHEITSPOLITIK IN DER PRAXIS: EINE EMPIRISCHE MOMENTAUFNAHME

Von Jonas Hagmann, Andreas Wenger, Lisa Wildi, Stephan Davidshofer und Amal Tawfik

Wie hat sich der Schweizer Sicherheitsbereich seit Ende des Kalten Krieges entwickelt? Wer arbeitet heute mit wem zu welchen Gefahren? Basierend auf einer umfassenden und einzigartigen Datenerhebung kartiert dieser Beitrag die Entwicklung des gesamtschweizerischen Sicherheitsbereichs. Die Darstel- lung der praktischen Arbeitsteilungen, inneren und äusseren Kooperationen, beruflichen Profile und Werdegänge schafft einen analytisch differenzierten und empirisch fundierten Beitrag zu anhaltenden Diskussionen über die lan- desweite sicherheitspolitische Steuerung.

EINLEITUNG Zur Zeit des Kalten Krieges stellte die Schweizer Sicherheitspolitik ein von starker Kontinuität geprägtes Politikfeld dar. Wenige grundlegende Konzepte bestimmten die Sicherheitsstrategie, allen voran die Prinzi- pien der bewaffneten Neutralität und autonomen Landesverteidigung.1 Einzelne Akteure, besonders der Bundesrat und das damalige Militär- departement (EMD), dominierten die Sicherheitslandschaft. Die Rol- len und Verantwortlichkeiten der sicherheitspolitischen Instrumente von Bund und Kantonen organisierten sich innerhalb eines aus heutiger Sicht idealtypischen staatspolitischen Orientierungsrahmens, wonach innere und äussere Sicherheit, zivile, polizeiliche und militärische Mittel, sowie staatliche und nichtstaatliche Akteure klar getrennt wurden.2

1 Aus Sicht des damaligen Politischen Departementes trugen darüber hinaus auch die Guten Dienste und der Einsatz der Schweiz zugunsten einer Verrechtlichung der interna- tionalen Beziehungen zu Sicherheit und Frieden in der Welt bei. Von einem kontinuierli- chen strategischen Dialog zwischen dem Politischen Departement und dem Eidgenössi- schen Militärdepartement in sicherheitspolitischen Fragen konnte in der frühen Phase des Kalten Krieges jedoch nicht gesprochen werden. 2 Kurt R. Spillmann et al., Schweizer Sicherheitspolitik seit 1945: Zwischen Autonomie und Kooperation (Zürich: NZZ, 2001).

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 100 AKTUELLE DISKUSSION

Mit Ende des Kalten Krieges weitete sich das Politikfeld im Zuge neuer Bedrohungen und Gefahrenverständnisse zunehmend aus und der traditionelle Orientierungsrahmen wurde in Frage gestellt. Allseits akzeptiert ist heute die Ansicht, wonach sich die aktuelle Schweizer Si- cherheitslandschaft – die Arbeitsteilung, das institutionelle Gefüge, die beruflichen Kompetenzen und Werdegänge – markant von derjenigen des Kalten Krieges absetzt. Denn Sicherheitspolitik wird heute als eine umfassende Querschnittsaufgabe verstanden, die sich durch immer dif- ferenziertere Mittel mit der Prävention, Abwehr und Bewältigung einer Vielzahl von Bedrohungen und Gefahren auseinandersetzt. Gleichzeitig wird die Umsetzung der Sicherheitsarbeit stärker als Verbundsaufgabe von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft verstanden, also einer grösseren Anzahl nicht nur militärpolitisch spezialisierter Akteure.3 Doch auch wenn sich diese Charakterisierungen in ihrer Stossrich- tung mit empirischen Beobachtungen decken, erhellen sie nicht detail- liert, welche Gefahren mehr Aufmerksamkeit erhalten als andere, wel- che Akteure im Zuge der neuen Querschnittspolitik mit wem und wie intensiv kooperieren, wie staatspolitische Abgrenzungen (ob zwischen Bund und Kantonen, Schweiz und Ausland, oder Staat und Privaten) neu definiert und wie berufliche Werdegänge im Sicherheitsbereich neu ausgerichtet wurden. Wie sich der komplexe Sicherheitsbereich heute tatsächlich ausnimmt und von seinen traditionellen Grundfesten absetzt, diesen Fragen wird in diesem Kapitel nachgegangen. Wie sich der Schweizer Sicherheitsbereich in den letzten 25 Jah- ren zur umfassenden und vernetzten Sicherheitspolitik entwickelt hat, ist nicht bloss von wissenschaftlichem Interesse. Der Wandel des Si- cherheitsfelds stellt die involvierten Akteure auch vor schwierige und wichtige Aufgaben im Bereich Politikgestaltung und Politikumsetzung. Auf der politisch-strategischen Ebene besteht die Herausforderung da- rin, sich konzeptuell mehr oder weniger separat entwickelnde Bereiche wie Verteidigung, Aussenpolitik und innere Sicherheit besser zu inte- grieren. Kohärenz in der Politikgestaltung setzt voraus, dass äussere und innere Sicherheit, aber auch zivile und militärische Strategien auf- einander abgestimmt sind. Gleichzeitig besteht auf der operationellen

3 Andreas Wenger, «Sicherheitspolitik», in: Peter Knoepfel et al. (Hrsg.), Handbuch der Schweizer Politik, 5. Aufl. (Zürich: NZZ, 2014), 645 – 670.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK SCHWEIZER SICHERHEITSPOLITIK IN DER PRAXIS: EINE EMPIRISCHE MOMENTAUFNAHME 101

Ebene die Aufgabe, eine zunehmend grössere und polyvalent einsetz- bare Anzahl von Personen, Kompetenzen und Instrumenten über in- nerstaatliche, internationale, gesellschaftliche und professionelle Ebe- nen hinweg zu koordinieren. Anhand neuer Kooperationsmodelle und Koordinationsplattformen sollen diese zu effizienten und effektiven, den neuen Herausforderungen entsprechenden Sicherheitsdispositiven ge- bündelt werden. Diese Ziele können nur erreicht werden, wenn differenzierte Kennt- nisse über den ganzen Sicherheitsbereich und seine Entwicklung beste- hen. Die veröffentlichten nationalen und kantonalen Strategiepapiere vermitteln solche nur begrenzt. Ihre primäre Absicht ist es, mittels einer «Ziel-Wege-Mittel»-Logik den Arbeitsbereich zu len- Strategiepapiere erbringen nicht ken. Doch in der Realität zwingend gute Übersichten über wird die Sicherheitsarbeit die tatsächliche Konfiguration nicht nur von Strategiedo- des Sicherheitsbereichs. kumenten, sondern stark auch von bürokratischen, institutionellen und gar individuellen Dyna- miken und Interessen beeinflusst.4 Konkret bedeutet dies, dass Strategie- papiere wie etwa die Sicherheitspolitischen Berichte (SIPOL B) zwar als probate Zielsetzungsmittel fungieren, doch nicht zwingend gute Über- sichten über die tatsächliche Konfiguration des Sicherheitsbereichs er- bringen. Inwiefern sich das Schweizer Sicherheitsfeld in der Praxis von seinen traditionellen Grundfesten entwickelt hat, verbleibt in offiziellen Dokumenten eine approximative Grösse. Für die Frage, welche Akteure und Mittel heute (vermehrt) koordi- niert werden, bestehen somit nur bedingt nützliche Bemessungsgrund- lagen. Anhand eines neuen praxisorientierten Forschungsansatzes will dieses Kapitel eine systematischere Darstellung der helvetischen Sicher- heitslandschaft – ihrer Arbeitsteilungen, inneren und äusseren Koopera- tionen, beruflichen Profile und Werdegänge – erbringen. Basierend auf einer erstmaligen, auch im internationalen Vergleich einmaligen quan-

4 Siehe Christian Büger / Frank Gadinger, «The Play of International Practice», in: Interna- tional Studies Quarterly 59, Nr. 3 (2015), 449 – 460; Rebecca Adler-Nissen / Vincent Pou- liot, «Power in Practice: Negotiating the International Intervention in Lybia», in: Euro- pean Journal of International Relations 20, Nr. 4 (2014), 889 – 911; Emanuel Adler / Vincent Pouliot, «International Practices», in: International Theory 3, Nr. 1 (2011), 1 – 36.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 102 AKTUELLE DISKUSSION

titativen Untersuchung des nationalen Sicherheitsbereichs ergänzt der Beitrag somit die bestehende, weitgehend konzeptuell oder historisch angeleitete Schweizer Sicherheitsforschung mit neuesten Umfrageresul- taten. 5 Gleichzeitig erfasst er die Schweizer Sicherheitslandschaft und ihre Kooperationsformen – also die zentralen Fragen, wie sich der Si- cherheitsbereich seit Ende des Kalten Krieges tatsächlich entwickelt hat und wie dies seine Steuerungsaufgaben herausfordert – erstmals praxi- sorientiert und aus Sicht der Mitarbeitenden von Bund und Kantonen.6 Diese Kombination zweier Staatsebenen ist heute zwingend, weisen ge- samtstaatlich relevante Sicherheitsfragen doch innen- wie aussenpoliti- sche Bezüge auf und nehmen Bund wie Kantone entsprechende Sicher- heitsverantwortung wahr. Um den Sicherheitsbereich derart zu kartieren, wurden auf beiden Ebenen die in den sicherheitspolitischen Papieren referenzierten Stellen um Angaben über ihre alltägliche Arbeit, Kooperationspraktiken und beruflichen Hintergründe gebeten.7 Diese drei Themenbereiche stellen grundlegende Dimensionen des Sicherheitsbereichs dar und erlauben dank knapp 600 Rückmeldungen leitender «Sicherheitsmitarbeitenden» aus der ganzen Schweiz eine umfassende Betrachtung seiner Entwick- lung. In der Folge werden diese Dimensionen anhand statistischer Da- tenauswertungen und Netzwerkanalysen behandelt.8

5 Nationalfonds-Forschungsprojekt 100017_143818/1, «Bound to Cooperate? Mapping Swiss Security in a Changing Global Landscape», unter der Leitung der Professoren Simon Hug und Andreas Wenger. Die Autoren bedanken sich für die freundliche Mitar- beit der Umfrageteilnehmenden, wie auch für die entgegengebrachte Unterstützung der Vorstehenden der verschiedenen Staatssekretariate, Ämter, Direktionen, Abteilungen und Korps. 6 Nebst den Bundesakteuren wurden im Forschungsprojekt auf Stufe Kantone alle Polizei- korps und Zivilschutzbehörden erfasst. Dank Zirkulation des Fragebogens an die städ- tischen und kommunalen Polizeikorps werden zudem auch Teile der Gemeindeebene berücksichtigt. 7 Die Auswahl der erfragten und in diesem Beitrag nachfolgend dargestellten Gefahren, landesweiten und internationalen Kooperationspartner orientierte sich ebenfalls an den Sicherheitspolitischen Berichten des Bundes. 8 Dabei werden zwecks Anonymisierung alle gemachten Angaben auf die jeweils nächste Organisationseinheit hochgerechnet und der Datenkorpus zwecks besserer Leserlichkeit schriftlich statt numerisch dargestellt. Die Wertetabellen der in diesem Beitrag visualisier- ten Netzwerke und ausgewählter Elemente der beruflichen Profile sind im Anhang ausge- wiesen. Weitere Wertetabellen, Visualisierungen und statistische Auswertungen sind in Vorbereitung und werden auf der Projekthomepage unter «Forschung: Forschungsprojekte» veröffentlicht. Siehe Transformation der Schweizer Sicherheitsarbeit, www.css.ethz.ch.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK SCHWEIZER SICHERHEITSPOLITIK IN DER PRAXIS: EINE EMPIRISCHE MOMENTAUFNAHME 103

Der erste Teil positioniert das Bedrohungsmanagement als Aus- gangspunkt der alltäglichen Sicherheitsarbeit. Hier wird dargelegt, wie intensiv einzelne Akteure ihre Arbeitsleistung in der heutigen Praxis auf welche Gefahr ausrichten. Der zweite Teil richtet den Blick auf den institutionellen Verbund. Es analysiert sowohl innerschweizerische als auch internationale Kooperationsmuster über Bundes- und Kantonsebe- nen hinweg. Der dritte Teil fokussiert auf Berufsprofile und Karriere- verläufe. Es präsentiert die Kompetenzen und Werdegänge der Sicher- heitsmitarbeitenden, um so den Wandel des Sicherheitsfeldes auch auf individueller Ebene nachzuzeichnen.

1 DIE «BEDROHUNGSARBEIT» DER SICHERHEITSAKTEURE Sicherheitspolitische Debatten und Handlungen werden stark von Be- drohungsvorstellungen angeleitet, doch nicht alle Bereiche orientieren sich zwingend an denselben Bedrohungen. Aktuelle Schlüsselereignisse (wie «9/11», «Krim», «Nizza», usw.) beispielsweise prägen die öffentli- che Wahrnehmung wie auch die Bedrohungsdebatte.9 Durch Experten verdichtete Typologien von Bedrohungsszenarien hingegen leiten nati- onale Sicherheitsstrategien an. Ihre Bedrohungskonzepte signalisieren, was wie bedroht ist, und die Strategien definieren, wer dies wie schüt- zen soll. Um eine bedrohungsgerechte und schlagkräftige landesweite Sicherheitspolitik zu erschaffen, versuchen nationale Sicherheitsstrate- gien auf das als massgebend angesehene Bedrohungsspektrum mit den Behörden und der Struktur der nationalen Sicherheitslandschaft ange- messen zu reagieren. Dieser Strukturierungsprozess funktioniert nicht automatisch, son- dern hängt stark von etablierten politischen Institutionen, Mechanismen und Kulturen ab. Das schweizerische Regierungssystem ist in seinen Grundprinzipien – Machtteilung, Föderalismus, Konkordanz, Kolle- gialität und direkte Demokratie – auf Ausgleich, Konsens und hohe Legitimität ausgerichtet. Dies lässt bereits erahnen, dass im Fall der Schweiz keine allzu zentralisierte nationale Sicherheitslandschaft zu

9 Vgl. Tibor Szvircsev Tresch et al., Sicherheit 2016: Aussen-, sicherheits- und verteidigungs- politische Meinungsbildung im Trend (Zürich: ETH, 2016); Daniel Möckli, Umstrittene Schweizer Sicherheitspolitik: Dokumentation der Hearings zum Bericht 2010, Zürcher Beiträge Nr. 81 (Zürich: CSS, 2010).

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erwarten ist und sich wahrscheinlich divergierende Sicherheitsvorstel- lungen sowohl innerhalb als auch über Staatsebenen hinweg manifes- tieren. Die unregelmässig vorgelegten Sicherheitspolitischen Berichte des Bundesrats tragen nur begrenzt zu einer Fokussierung des Sicher- heitsbereichs bei, denn die in ihnen verwendete strategische Termino- logie ist oft diffus. Somit besteht in der Schweiz eine limitierte Strate- giefähigkeit aufgrund eines auf Machtverteilung angelegten politischen Systems sowie der Realität eines Arbeitsfelds, in dem sich viele Akteure an unterschiedlichen Sicherheitsverständnissen orientieren können und manchmal auch wollen. Trotzdem stellt die Bundesebene traditionell die massgebende si- cherheitspolitische «Ordnungsmacht» dar.10 Seit dem Berliner Mauer- fall bilden die Sicherheitspolitischen Berichte des Bundesrates einen zunehmend breiten Sicherheitsbereich ab. Der «Bericht 1990» bei- spielsweise erweiterte das Arbeitsfeld Traditionellerweise um nicht-militärische Gefahren wie stellt die Bundesebene Ökologie, Migration, soziale Kohä- die massgebende sion oder internationalen Drogen- und sicherheitspolitische Waffenhandel.11 Knapp zehn Jahre spä- «Ordnungsmacht» dar. ter argumentierte der «Bericht 2000» für eine begrenzte vertikale und ho- rizontale Ausweitung des Feldes, indem er Sicherheitspolitik neu als Querschnittspolitik zur Bewältigung strategischen – nicht länger aus- schliesslich staatlichen und primär militärischen – Gewaltpotenzials definierte und die Wichtigkeit der internationalen Sicherheitszusam- menarbeit unterstrich.12

10 Zur Rangfolge der sicherheitspolitischen Ordnungsmacht in der Schweiz siehe Jonas Hag- mann, «Sicherheitspolitische Konzeptionen und Projektionen nationaler Experten: Mei- nungs- und Anerkennungsdifferenzen als Herausforderungen des sicherheitspolitischen Gestaltungsprozesses», in: Military Power Revue 2, Nr. 3 (2009), 28 – 41. Für eine empi- rische Bestandsaufnahme der sicherheitspolitischen Wissensaustauschpraktiken in der Schweiz siehe Jonas Hagmann / Tibor Szvircsev Tresch, «Die Schweizer Sicherheitspoli- tik zwischen Politik und Expertise», in: Bulletin zur schweizerischen Sicherheitspolitik (2012), 39 – 68. 11 Bundesrat, Schweizerische Sicherheitspolitik im Wandel (Bericht 90), 1.10.1990. 12 Bundesrat, Sicherheit durch Kooperation (SIPOL B 2000), 7.6.2000; Andreas Wenger et al., «Sicherheitspolitischer Bericht: Viel Politik, wenig Strategie», in: Bulletin zur schweizeri- schen Sicherheitspolitik (2010), 9 – 26.

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In den darauffolgenden Jahren verstärkte sich im Zuge einer sys- tematischen Untersuchung der inneren Sicherheit (USIS) und der De- stabilisierung des Mittleren Ostens und Nordafrikas der Fokus auf si- cherheitspolizeiliche Herausforderungen. Kantonale und kommunale Sicherheitsbeiträge wurden nun erwähnt, und der strategische Gewalt- begriff wird durch einen sehr viel weiteren Begriff ersetzt, der sowohl politisch als auch kriminell motivierte Gewalt umfasst.13 Somit hatte sich innerhalb von zwanzig Jahren die traditionelle Konzeption der hel- vetischen Sicherheitsarbeit zu einem Ansatz entwickelt, der sowohl au- sserordentliche und alltägliche Herausforderungen kombiniert als auch Akteure aller Ebenen und internationale Partnerschaften beansprucht. Der jüngste Sicherheitspolitische Bericht von 2016 verdichtet diese Aus- richtung, indem er die enge Vernetzung der aktuellen Bedrohungen unterstreicht.14 Neu strukturieren die Bedrohungstypen auch die Dar- stellung der nationalen Sicherheitslandschaft, das heisst die Beiträge der sicherheitspolitischen Instrumente werden integral für jeden Be- drohungstyp diskutiert. Das konzeptuell diffuse Sicherheitsverständnis erschwert allerdings ein Verständnis über die Prioritäten und vertikale und horizontale Abgrenzung des Sicherheitsfeldes. Wer genau mit wem an welchen Themen arbeitet, ist somit auch im neusten Bericht nur auf allgemeinen Ebenen fassbar, was eine wissen- schaftliche Herangehensweise umso nützlicher erscheinen lässt. Eine durch eine Online-Umfrage erhobene und statistisch ausgewertete em- pirische Momentaufnahme der in der Praxis für einzelne Bedrohungs- typen aufgewendeten Arbeitszeit zeichnet ein differenziertes Bild da- rüber, wer an welchen Bedrohungen arbeitet. Kalkuliert wurden die Resultate mit Hilfe der Rückmeldungen von fast 600 Mitarbeitenden des landesweiten Sicherheitsbereichs.15 Grafik 1 visualisiert diese Daten

13 Bundesrat, Bericht über die Sicherheitspolitik der Schweiz (SIPOL B 2010), 23.6.2010; USIS, Überprüfung des Systems der Inneren Sicherheit der Schweiz (USIS) (Berichte I-IV, 2001 – 2003). 14 Bundesrat, Bericht über die Sicherheitspolitik der Schweiz (SIPOL B 2016), 24.8.2016. 15 Die Eingrenzung auf leitende Mitarbeitende erfolgte aus wissenschaftlichen Machbar- keitsgründen, generierte aber auch detaillierte Angaben von im Bereich schon länger wirkenden Praktikern. Der Fokus auf Arbeitsleistung (und Kooperationspraktiken) un- terstreicht, was Akteure objektiv tun. Damit setzt sich die Forschungsanlage von einer Er- fassung subjektiver Empfindung und Einschätzungen von Gefahren (oder Kooperations- plattformen) ab.

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als Netzwerk von dienstleistenden Sicherheitsorganisationen einerseits und bearbeiteten Gefahren andererseits.16 Auf Seite der Sicherheitsor- ganisationen – in der Grafik gekennzeichnet als weisse Kreise – zeigt sie auf den ersten Blick, dass heute beeindruckend viele Akteure im Be- drohungsmanagement aktiv sind und viele von ihnen mehrere Gefahren gleichzeitig bearbeiten. Am polyvalentesten arbeiten die Akteure im Bereich des Grenz- schutzes, also das Grenzwachtkorps (GWK) und die bi-nationalen Ko- operationszentren für Polizei- und Grenzangelegenheiten (CCPD), ge- folgt von den Stadt- und Gemeindepolizeien (STAPOGEMPO) und interkantonalen Polizeikonkordaten. Ein leicht weniger breites Gefah- renspektrum wird vom diplomatischen Teil des Departements für aus- wärtige Angelegenheiten (EDA), der Entwicklungshilfe (DEZA), dem Nachrichtendienst (NDB), dem Generalsekretariat des Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBSGS) und dem eidgenössischen Bevölkerungsschutz (BABS) bearbeitet. Die Armee (VBSVTG) befasst sich mit noch weniger Herausforderungen und auch das Bundesamt für Rüstung (ARMA) zeigt ein sehr enges Arbeitsprofil auf. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) und die Bundespolizei (FEDPOL) beschäftigen sich ebenfalls mit vergleichs- weise wenigen Bedrohungen. Allerdings zeigt eine statistische Auswer- tung, dass gerade FEDPOL bei einer Reihe von Gefahren knapp unter dem visualisierten Schwellenwert zu liegen kommt, faktisch also durch- aus zu zahlreichen Bedrohungen arbeitet. Der zivile Zoll (EZV) leistet gemäss eigenen Angaben keine signifikante Bedrohungsarbeit und fällt deshalb aus der Grafik. Auch auf Seite der bearbeiteten Gefahren – in der Grafik als schwarze Quadrate dargestellt – zeigen sich bedeutende Unterschiede. Zwar werden alle erfragten Herausforderungen von mindestens einem Sicherheitsakteur bearbeitet, es bleibt also keine Gefahr «unbeantwor- tet». Dennoch lassen sich grosse Differenzen mit Blick auf den Grad

16 Befragte konnten die Themen mit Werten von 0 bis 5 bewerten, wobei 0 keine Arbeitszeit (oder Kooperation), 1 wenig Arbeitszeit (oder schwache Kooperation) und 5 alle Arbeits- zeit (oder sehr intensive Kooperation) bedeuteten. Um in diesem Beitrag als Beziehung visualisiert zu werden, müssen die durchschnittlichen Antworten den Schwellenwert 1 übersteigen. Erst ab diesem Wert kann von regelmässigen Arbeitsleistungen (oder Koope- rationen) gesprochen werden.

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Grafik 1: Wer arbeitet wozu? Sicherheitsarbeit ausgerichtet an Bedrohungen

der Aufmerksamkeit (gemessen an der insgesamt verwendeten Arbeits- zeit) erkennen, welche die Sicherheitsorganisationen auf einzelne Be- drohungskategorien richten. Deutlich am meisten Zeit wird von Bund und Kantonen auf migrationsbedingte Herausforderungen verwendet. Darauf folgt der als ebenfalls sehr intensiv und vornehmlich von den Konkordaten (CCPCRBT, OSTPOL, PKNW, ZPK17) bearbeitete po- lizeiliche Aufgabenkomplex (Gewalt gegen Leib und Leben, Kleinkrimi- nalität, Verkehrsdelikte, Drogenhandel), dann die Themenbereiche Ter- rorismus, Naturkatastrophen und der Schutz kritischer Infrastrukturen.18 Etwas weniger, aber immer noch ein beträchtlicher Teil der Arbeitszeit

17 Als einziger grösserer Sicherheitsakteur nahm die Kantonspolizei Zürich am vorliegenden Forschungsprojekt nicht teil. 18 Diese Rangfolge resultiert auch aus der gewählten Desaggregation der Akteure. Aggre- giert man die Daten auf die Kantonsebene und auf die vier massgebenden eidgenössischen Departemente (VBS, EDA, EFD, EJPD), würden polizeiliche Herausforderungen etwas an Zentralität verlieren. Aggregierte Auswertungen werden auf der Projekthomepage zu finden sein (siehe Fn. 8).

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 108 AKTUELLE DISKUSSION wird auf die Kategorie militärischer Angriff verwendet, allerdings pri- mär von Bundesakteuren und – nicht überraschend – schwergewichtig von VBS und EDA. Themen wie Pandemien, Menschen- und Waffen- handel, Geldwäscherei oder die Verbreitung von Massenvernichtungs- waffen ziehen aus systemischer Sicht markant weniger professionelle Aufmerksamkeit auf sich. Sie stellen spezialisierte, teilweise gar exklu- sive Mandate ausgewählter Akteure dar. Aus diesen Verteilungen von Akteuren und bearbeiteten Gefahren lassen sich differenzierende Schlüsse über die Komposition der heu- tigen Sicherheitsarbeit ziehen. So zeigen sich unterschiedliche, teil- weise jedoch nicht gänzlich überlappende Gruppierungen «praktischer Sicherheitsarbeit» – wobei nicht immer klar ist, ob diese aus strategi- schen Anweisungen, ministeriellen oder professionellen Logiken resul- tieren. So fokussiert ein Gefüge, das den erweiterten klassischen Si- cherheitsbereich umfasst (v.a. Armee, NDB, Bevölkerungsschutz und Armasuisse) auf Themen wie militärische Angriffe von Staaten, Terro- rismus und Gewaltextremismus durch nichtstaatliche Akteure und den Schutz kritischer Infrastrukturen. Das bedeutet implizit, dass der mili- tärische Angriff nicht mehr im Zentrum der landesweiten Sicherheits- arbeit steht, gleichwohl aber zentrale Aufgabe der Armee geblieben ist. Gleichzeitig erweiterte sich die Arbeit des militärischen Bereichs weg von der klassischen territorialen Verteidigung und hin zu asymmetri- schen Bedrohungen und dem Schutz sozio-technischer Systeme. Eine vermehrt in der internationalen Zusammenarbeit tätige Grup- pierung (um EDA und DEZA) leistet ebenfalls Beiträge zur Abwen- dung militärischer Angriffe, bearbeitet aber auch regionale Instabilität (Konflikte, schwache Staaten, Katastrophen, Klimawandel) sowie grenz- überschreitende Phänomene politischer Gewalt (Terrorismus, Extremis- mus, Radikalismus). Die dritte und mit Abstand am engsten vernetzte Gruppe schliesslich besteht im Bereich grenzüberschreitender und si- cherheitspolizeilicher Bedrohungen. Sie verbindet vorwiegend kantonale und interkantonale Stellen, doch interessanterweise auch die Bundestel- len im Bereich Grenze (GWK) und Polizeizusammenarbeit (FEDPOL). Mit diesen drei Gruppierungen, die im Wesentlichen den Politik- bereichen Verteidigung, Aussensicherheitspolitik und innere Sicherheit entsprechen, zeigt sich die landesweite Sicherheitsarbeit als eine äusserst vielfältige Praxis mit differenzierten Leistungsbeiträgen und Schwer-

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punkten. So ist das bearbeitete Gefahrenspektrum im Gegensatz zum Kalten Krieg deutlich, wenn auch nicht uferlos erweitert, wobei viele der neuen Herausforderungen im Vergleich zu militärischen Bedrohungs- szenarien alltäglicher Natur sind und – gemessen an der Möglichkeit der durch Krieg verursachten nationalen Zerstörung – über weniger physisches Schadenspotential verfügen. Gleichzeitig haben sich auch die militärischen Aufgaben weiterentwickelt. Das Gesamtsystem fo- kussiert überraschend stark auf transnationale, oft von nichtstaatlichen Akteuren (und somit nicht zwingend von feindlich gesinnten Staaten) angetriebene Herausforderungen.19 Am eindrucksvollsten jedoch sind die drei äusserst intensiv bear- beiteten Bedrohungen, welche alle drei umschriebenen Gruppierungen miteinander verbinden. Tatsächlich zeigt die Verortung der praktischen Sicherheitsarbeit, dass migrationsbedingte Probleme, Terrorismus und Naturkatastrophen die verschiedenen Sicherheitsbereiche faktisch inte- grieren. Damit bilden heute die Herausforderungen der globalisierten Mobilität den Dreh- und Angelpunkt der tagtäglichen Sicherheitsar- beit, ganz im Unterschied zur territorialen Verteidigung als Leitmotiv des Kalten Krieges. Diese neuen zentralen Herausforderungen bringen eine Vermischung von föderalen und kantonalen Ansätzen mit sich, da sie von kantonalen wie eidgenössischen Akteuren bearbeitet werden. Sie vereinen das sicherheitspolitische Arbeitsfeld, indem sie die nationalen politisch-strategischen Bedrohungen mit den grenzüberschreitenden si- cherheitspolizeilichen Bedrohungen und mit den regionalen Konflikten an der europäischen Peripherie vernetzen.

2. PRAKTIKEN DER KOOPERATION Die alltägliche Sicherheitsarbeit geht mit einer differenzierten institutio- nellen Gruppierung einher. Teilweise fokussieren die Akteure auf unter- schiedliche Herausforderungen, teilweise «bekämpfen» sie Bedrohungen gemeinsam. Doch bedeutet dies, dass Sicherheitsorganisationen sich in ihren Tätigkeiten untereinander absprechen? Die institutionellen Ko- operationspraktiken decken sich in der Praxis nicht immer mit den oben

19 Vgl. auch Jonas Hagmann, «Beyond Exceptionalism? New Security Conceptions in Con- temporary Switzerland», in: Contemporary Security Policy 31, Nr. 2 (2010), 249 – 72.

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dargestellten Arbeitseinsätzen. Ob diese Situation als Reaktion auf das sich wandelnde internationale Umfeld, auf organisationsinterne oder andere Belange zu deuten ist, ist schwierig abzuwägen und bleibt eine offene Frage. Klar ist jedoch, dass der Bund seit jeher versucht, der Be- drohungslage entsprechend koordinative Plattformen zu erschaffen. Diese Verschiebung hin zur koordinierten Sicherheit erfolgte seit den 1990er-Jahren. Zur Zeit des Kalten Krieges war die strategische Führung auf Stufe Bund noch primär auf militärische Krisenszenarien ausgerichtet und entsprechend eng im Bundesrat und dem damaligen EMD verankert. Im Jahre 1994 wurde dieser strategische Führungs- apparat umgebaut. Auf nationaler Ebene zielte die Schaffung eines Si- cherheitsausschusses des Bundesrats (1994), einer Lenkungsgruppe als oberstes Stabsorgan sowie ei- Der Bund ist seit jeher nes Nachrichtenkoordinators versucht, der Bedrohungslage (1999) auf eine breitere Veran- entsprechend koordinative kerung der Führung im EDA, Plattformen zu erschaffen. EJPD (Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement) und VBS sowie auf höhere Steuerungsfähigkeit hinsichtlich Früherken- nung, Krisenreaktion und Vorsorgeplanung.20 International übernahm die Schweiz punktuelle Führungsaufgaben (darunter die Vorsitzjahre der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), 1996 und 2014) oder beteiligte sich fortwährend an internationalen Re- gierungsorganisationen und Kooperationsplattformen, allen voran der Partnerschaft für den Frieden (seit 1996), den Vereinten Nationen (seit 2002), Europol (seit 2006) und Schengen/Dublin (seit 2008).21 Im Kontext des Sicherheitspolitischen Berichts 2010 regelte der Bundesrat das strategische Führungssystem bereits wieder neu. Die Zu- sammensetzung des Sicherheitsausschusses wurde neu festgelegt, die Lenkungsgruppe durch die Kerngruppe Sicherheit ersetzt und die Po- sition des Nachrichtenkoordinators wieder abgeschafft. Neu geschaffen wurde dagegen der Konsultations- und Koordinationsmechanismus des

20 Wenger, Sicherheitspolitik, 645 – 670. 21 Des Weiteren arbeitet die Schweiz seit der Gründung von Interpol (1923) und OSZE (1995) respektive KSZE (1975) mit diesen internationalen Sicherheitsorganisationen zusammen.

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Sicherheitsverbundes Schweiz (KKM SVS), mit dem Ziel, eine rasche Entscheidungsfindung zwischen Bund und Kantonen sicherzustellen. Die Inland- und Auslandnachrichtendienste wurden zum NDB zusam- mengelegt, dem VBS angegliedert und zu einem Bundesamt aufgewer- tet.22 Die Kantone ihrerseits verstärkten in der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges ihre Zusammenarbeit graduell durch die Erneuerung bestehender (CCPCRBT, OSTPOL) und Schaffung neuer (PKNW, ZPK) Polizeikonkordate. Daneben nutzen die kantonalen Polizeikom- mandanten, kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren und städtischen Sicherheitsdirektoren ihre eigenen funktionalen Koordinationsplattfor- men (wie KKPKS, KKJPD, KSSD23) zunehmend rege und über Staats- ebenen hinweg. Wie dieser historische Abriss zeigt, bleibt das Thema Staatslenkung im Sicherheitsbereich weiterhin aktuell. Beklagen die Kantone die Ab- wesenheit einer permanenten Anlaufstelle auf Stufe Bund, so hat der Bundesrat auch im Sicherheitspolitischen Bericht 2016 der Schaffung eines permanenten Krisenstabs eine Abfuhr erteilt.24 Auch die Erarbei- tung eines Notfallkonzepts von Bund und Kantonen für die Bewälti- gung einer allfälligen Flüchtlingskrise illustriert die Schwierigkeiten der inneren Kooperation im Kontext des föderalistisch organisierten und historisch gewachsenen schweizerischen Sicherheitsverbunds.25 In welche Richtung sich die innere und die internationale Zusammenar- beit entwickeln, ist derzeit wenig klar. In dieser Situation kann eine di- rekte Datenerhebung bei Mitarbeitenden des Sicherheitsbereichs über ihre tatsächlichen Kooperationspraktiken ein transparenteres Bild zeich- nen, als die Berichte der unterschiedlichen Staatsebenen es ermöglichen. Die Resultate der Befragung verweisen auf differenzierte und vielfäl- tige Kooperationspraktiken. Innerhalb der Landesgrenzen zeigt sich als erstes, dass zahlreiche Kooperationen innerhalb der Departemente statt-

22 VBS, Die zivilen Nachrichtendienste werden in einem neuen Bundesamt zusammengeführt, 25.3.2009, www.admin.ch. 23 Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten, Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren, Konferenz der Städtischen Sicherheitsdirektorinnen und -direktoren. 24 Bundesrat, SIPOL B 16, 81. 25 EJPD, Bund, Kantone, Städte und Gemeinden legen Eckwerte der Notfallplanung Asyl fest, 14.4.2016, www.admin.ch.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 112 AKTUELLE DISKUSSION finden. Die erhobenen Daten auf dieser Stufe zeigen, dass gut die Hälfte der von Mitarbeitenden des VBS, EFD (Eidgenössisches Finanzdepar- tement), EJPD und EDA unterhaltenen Kooperationen innerhalb ihrer jeweils eigenen Ministerien stattfinden. Im VBS, welchem neben dem Bereich Verteidigung auch der NDB, die Armasuisse (ARMA), das BABS und die für die sicherheitspolitische Steuerung zentrale Abtei- lung Sicherheitspolitik (VBSGS) angehört, ist dieser Trend zur inneren Kooperation besonders ausgeprägt. Die zweite Hälfte der Sicherheitskooperationen beinhaltet Partner in anderen Departementen oder auf der Kantonsebene. Die für die Si- cherheitsarbeit relevanten vier eidgenössischen Departemente kooperie- ren regelmässig miteinander, womit sich die Sicherheitsarbeit auf Stufe Bund heute von der traditionellen Verankerung im ehemaligen Militär- departement absetzt. Interessanterweise arbeitet auch jedes Departement zu ähnlichen Teilen mit den anderen drei Departementen und der Kan- tonsebene zusammen (je ein Viertel der departementsübergreifenden Be- ziehungen). Damit orientieren sich die eidgenössischen Departemente insgesamt zwar stark an der Bundesebene. Unter ihnen bestehen jedoch keine kleineren, selektiven «Kooperationsclubs». Differenzierter wird das Bild der landesweiten Zusammenarbeit auf Stufe der einzelnen Ämter, Sekretariate und Polizeikonkordate. Gra- fik 2 skizziert dieses Bild, wobei die schwarzen Quadrate die Koopera- tionspartner der als weisse Kreise dargestellten Dienststellen repräsen- tieren. Auf Seite der kooperierenden Behörden (weisse Kreise) zeigt die Grafik nicht bloss eine beeindruckende Anzahl aktiver Organisationen – was die zunehmende Komplexität des Sicherheitsfeldes unterstreicht. Sie vermerkt auch eine Vielzahl multipler Kooperationspraktiken. Das will heissen, dass sich in der innerschweizerischen Sicherheitsarbeit viele Akteure mit vielen anderen vernetzen, allen voran das VBS-Generalse- kretariat, der NDB, das BABS und das EDA. Der Bereich Verteidigung (VBSVTG), das Staatssekretariat für Migration (SEM), die Grenzwacht und der kantonale Zivilschutz sind leicht weniger breit vernetzt. Noch eine Stufe darunter rangieren FEDPOL, die Polizeikonkordate und der zivile Zoll. Die nicht namentlich ausdifferenzierten weiteren Bun- desstellen (ANDBUND) sind am wenigsten stark in das Sicherheits- feld integriert und zeigen damit auch dessen institutionelle Grenze auf.

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Grafik 2: Wer kooperiert mit wem? Kooperation zwischen Schweizer Akteuren

Auf Seite der von den Akteuren angegebenen Kooperationspartner (schwarze Quadrate) hingegen zeigt sich ein etwas anderes Bild. Hier ist innerhalb des öffentlichen Sektors FEDPOL, eine spezialisierte Er- mittlungsbehörde und wichtige Anlaufstelle für Polizeifragen aus dem In- und Ausland, die mit Abstand meistgesuchte Partnereinheit des Gesamtsystems, gefolgt von den kantonalen Polizeikorps und weiteren kantonalen Verwaltungseinheiten. Eine zweite, schon wesentlich weni- ger gesuchte Gruppierung von Partnerorganisationen umfasst Organi- sationen wie die zivile Feuerwehr, das BABS, den NDB, die Verteidi- gung und das SEM. Weniger stark gesucht werden Partnerschaften mit der Zollverwaltung und anderen Bundesstellen, doch spannenderweise auch mit dem Grenzwachtkorps und dem diplomatischen Teil des EDA. Andere Bundesstellen und FINMA sind keine relevanten Partner und fallen aus dem Netzwerk. Allenfalls überraschend sticht die Rolle privater Partner ins Auge, repräsentieren diese innerhalb des Gesamtsystems doch den wichtigsten Einzelpartner überhaupt, noch vor FEDPOL. Ihr ausgeprägter Wert

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erfasst die Rolle des Privatsektors im Allgemeinen, der breit definiert wurde und von privaten Sicherheitsdiensten über Betreiber kritischer Infrastrukturen bis hin zu Zulieferern und Wartungsdiensten reicht. Dies bestätigt die gängige Charakterisierung der Sicherheitsarbeit als Verbundsaufgabe von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. Die wissen- schaftliche Auswertung des Sicherheitsfeldes qualifiziert aber gleich- zeitig dessen beschränkte Relevanz. Gemessen an allen Kooperationen innerhalb des Gesamtsystems richten sich nicht mehr als ein Zehntel aller Beziehungen an Private. Dies ist ein bescheidener Wert, welcher die tatsächliche Wichtigkeit der Privaten für die Verbundsaufgabe Si- cherheit ziemlich unmissverständlich verortet. Die in Grafik 2 dargestellte landesweite Sicherheitskooperation bie- tet weitere interessante Einsichten. Werden nämlich die Angaben der kooperierenden Akteure (weisse Kreise) mit denjenigen ihrer Partner verglichen, so treten Wertediskrepanzen zutage. Die Verteidigung und das SEM beispielsweise kooperieren ähnlich oft mit anderen, wie sie von anderen als Partner gesucht werden (ihre Werte als weisse Kreise ähneln denjenigen der gleichnamigen schwarzen Quadrate). Doch das VBS-Generalsekretariat, der NDB und das BABS werden nicht annä- hernd so oft von anderen Stellen als Partner genannt als sie gemäss Ei- genangabe selber mit anderen kooperieren. FEDPOL wiederum stellt ein markantes Gegenbeispiel dar. Die Bundespolizei unterhält gemäss Eigenangaben relativ wenige Kooperationen mit anderen Stellen, ist jedoch der meistgesuchte Partner des (öffentlichen) Gesamtsystems. Wird die Fokussierung des Gesamtsystems auf grenzüberschreitende Herausforderungen in Erinnerung gerufen – die im ersten Teil darge- stellte Verteilung der tatsächlich geleisteten Bedrohungsarbeit – fällt zudem auf, dass die Grenzwacht für die Bearbeitung der aktuellen Gefahren zwar ein äusserst zentrales Arbeitsmandat einnimmt und mit einem halben Dutzend anderen Dienststellen zusammenarbeitet, doch überraschend selten von anderen Organisationen als Partner ge- nannt wird. Diese Diskrepanzen werfen Folgefragen auf, die erste erklärende Hypothesen zulassen. So scheint grundsätzlich zu gelten, dass Akteure mit vermehrt politikformulierenden Mandaten sich stärker als koope- rierende Akteure positionieren oder verstehen. Wer andere Einheiten zu koordinieren versucht, sieht sich selber als in vielen Partnerschaften

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engagierter kooperativer Akteur. Gleichzeitig werden verstärkt die- jenigen Dienststellen als Kooperationspartner gesucht, deren Man- date eher im operationellen Bereich liegen. Diese wiederum sehen als Dienstleister ihre Dienstnehmer nicht zwingend als Partner. Wer Auskunft gibt und im operationellen Bereich Dienste leistet, sieht an- fragende Sicherheitsorganisationen nicht unbedingt als Kooperations- partner, auch wenn dies umgekehrt der Fall ist. Weniger funktional orientierte und mehr historische oder organisationssoziologische Hy- pothesen wiederum sehen die umschriebenen Asymmetrien als Aus- druck gewachsener Rollenverteilungen oder gar aktueller Positions- behauptung. Die empirische Beobachtung zum Beispiel, wonach das VBS-Generalsekretariat, das EDA und der NDB zentrale koordinie- rende Rollen einnehmen, institutionelle «Neuankömmlinge» wie das GWK jedoch erst begrenzt in die landesweiten Netzwerke eingebun- den sind, könnte auch anhand einer seit Jahrzehnten gewachsenen, in Regulierungen verankerten und durch Ressourcenzuteilung und be- ruflichen Habitus verstetigte Kompetenz- und Rollenverteilungen in- nerhalb des Arbeitsfeldes erklärt werden. Auf internationaler Ebene sind die Kooperationsmuster sektorieller und – von einigen prägnanten Ausnahmen abgesehen – auch schwächer ausgeprägt. Grafik 3 zeigt die internationalen Verbindungen zwischen den als weisse Kreise dargestellten kooperierenden Schweizer Dienst- stellen und den als schwarze Quadrate visualisierten ausländischen Part- nerorganisationen. Diese Bezie- hungen, das zeigt das quantitativ Die Beziehungen zu ausgewertete Datenmaterial, sind ausländischen Partnern sind ziemlich vielfältig und weit von weit von isolationistischen isolationistischen Umschreibun- Umschreibungen der gen der Eidgenossenschaft ent- Eidgenossenschaft entfernt. fernt, unterhält doch eine hohe Anzahl Schweizer Dienststellen grenzübergreifende Beziehungen. Das FEDPOL, das VBS-Generalsekretariat und das EDA sind am zahl- reichsten mit ausländischen Akteuren vernetzt, gefolgt von der Vertei- digung und dem GWK. Viele weitere Schweizer Akteure sind mit einer oder zwei internationalen Partnerorganisation(en) signifikant vernetzt. Die Beziehungen zwischen dem Schweizer NDB und ausländischen Nachrichtendiensten (ND) liegt nahe am Maximalwert und ist somit

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ausgesprochen intensiv.26 Auch die Kooperation zwischen CCPD, GWK und EZV mit ausländischen Partnern ist überdurchschnittlich eng. Der kantonale Zivilschutz (KANTZIV) unterhält keine signifikanten inter- nationalen Beziehungen und fällt deshalb aus dem Netzwerk. Die am häufigsten anvisierten internationalen Partnerorganisa- tionen sind aus Sicht des gesamten Sicherheitsbereichs klar die Poli- zei-, Grenzwacht- und Zollstellen der Nachbarländer (POLNASTA, ZOLLGWK). Danach folgen die Europäischen Sicherheitsagenturen Frontex und Europol (EUSICHAG), die spezialisierten UNO-Agen- turen (UNOAG) und Sicherheitsspezialisten ausländischer Botschaften in der Schweiz (SPEZBOT) sowie – alle gleichauf – die Polizeistellen anderer europäischer Staaten (POLANDEU), die Armeen von Nach- bar- und Nichtnachbarstaaten (ARMEENNACH, ARMEENAND), die Nato und die Partnerschaft für den Frieden (PfP). Interessanter- weise stellt der Europarat (ERAT) aus sicherheitspolitischer Perspek- tive keine signifikante Partnerorganisation dar, zumindest nicht für den Exekutivbereich der Sicherheitslandschaft. Die Beziehungen zwischen dem NDB und ausländischen Nachrichtendiensten stellen ein exklusi- ves Netzwerk dar. Damit fördert die analytische Aufschlüsslung der grenzübergreifen- den Partnerschaften Kooperationspraktiken mit differierenden Bezugs- rahmen zutage. Auf der linken Seite der Darstellung befinden sich kons- tant, doch mässig intensiv unterhaltene, weitgehend bilateral organisierte «militärpolitische» Netzwerke. Diese spiegeln aus Sicht des Gesamtsys- tems die am stärksten ausgeprägte departementale Logik, werden sie doch weitgehend – wenn auch nicht ausschliesslich – vom VBS unter- halten. Mittig platziert ist die Diplomatie. Die Netzwerke der Aussen- politik im eigentlichen Sinne sind vermehrt multilateral und in Richtung OSZE und UNO orientiert. Gemäss der klassischen Rolle der Diplo- matie als konfliktverhütendes Mittel überlappen sie zwar nach wie vor mit den militärpolitischen Beziehungen. Im Gegensatz zu dieser tradi- tionellen Ausrichtung binden sie heute jedoch auch weitere international operierende sicherheitsrelevante Politikfelder wie die Entwicklungshilfe,

26 Dies zumindest auf Stufe Direktion. Aus Zugriffsgründen beschränkte sich die Datener- hebung beim NDB auf Mitglieder dieses Gremiums. Ihre Angaben könnten die Intensität der internationalen Kooperationspraktiken des NDB überzeichnen.

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Grafik 3: Wer kooperiert mit wem? Die grenzüberschreitende Sicherheitskooperation

den Zivilschutz, oder – via ANDBUND – auch das Gesundheitswesen mit ein. Damit sind diese Netzwerke etwas interdepartementaler als die militärpolitischen. In der Grafik rechts schliesslich befinden sich die mit Abstand dich- testen und (mit Ausnahme des Nachrichtendienstes) am intensivsten ge- nutzten internationalen Netzwerke im Bereich der inneren Sicherheit. Auf Schweizer Seite bestechen diese mit einer eindrucksvollen Durch- mischung von Sicherheitsorganisationen über alle Staatsebenen hinweg. Innere Sicherheit wird sowohl von Bundes- und Kantonsstellen als auch Städten und Gemeinden über zahlreiche und ausgeprägte grenzüber- schreitende Kooperationen geschaffen. Auf Bundesebene integrieren diese Netzwerke EJPD und EFD sowie – über die Spezialisten aus- ländischer Botschaften in der Schweiz – das EDA. Diese Beobachtung unterstreicht die im ersten Teil umschriebene Fokussierung der Praxis auf Themen der globalisierten Mobilität. Gleichzeitig zeigt sie, dass die äussere Dimension der inneren Sicherheit entgegen etwaiger Erwar- tungen oder klassischer Staatslehre nicht oder kaum durch das Aussen- ministerium gebündelt wird. Zudem bestehen keine arbeitspraktischen Überlappungen zwischen den Netzwerken der inneren Sicherheit und denjenigen der Militärpolitik.

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Diese differenzierten (Nicht-)Überlappungen bilden Gegenstand weiterer Untersuchungen. Eine Arbeitshypothese könnte diejenige sein, dass die praktischen Aussenbeziehungen der unterschiedlichen Sicher- heitsbereiche sowohl von unterschiedlichen Mandaten und politischen Rahmenbedingungen als auch ungleich verfassten internationalen Ak- teurslandschaften abhängen. Denn während sich die Militärpolitik ver- stärkt an bilateralen Ansätzen und Beziehungen auf höchster Staats- ebene orientiert, organisiert die Diplomatie ein erweitertes funktionales Aufgabenfeld – von Handel bis zu Menschenrechten, Gesundheit und Ökologie – und ist entsprechend stärker bei multilateralen Organisati- onen aktiv. Die Polizei- und Grenzarbeit deckt mittlerweile ein enorm weites Spektrum ab und findet viele internationale Partnerorganisatio- nen. Ob Gemeindeebene, grenzkantonale Einsätze, die Nutzung inte- grierter europäischer Informationssysteme, Arbeit auf Schweizer Bot- schaften im Ausland oder Mithilfe bei der globalen Strafverfolgung – alle Staatsebenen kooperieren hier grenzübergreifend und mit unter- schiedlichsten ausländischen Partnern.

3. PROFESSIONELLE PROFILE UND KARRIEREVERLÄUFE Mit der Analyse der Bedrohungsarbeit und dem sich wandelnden insti- tutionellen Gefüge wäre bei einer herkömmlichen Untersuchung einer Analyse des Sicherheitsbereichs genüge getan. Ein praxisorientierter An- satz zur Sicherheitsforschung stellt jedoch nicht nur die Sicherheitsarbeit und das institutionelle Gefüge als Bemessungsgrundlage in den Vorder- grund. Er interessiert sich auch für den Wandel der Sicherheitsarbeit auf der Ebene der Individuen, den Mitarbeitenden des Sicherheitsbereichs. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht wird die Sicherheitsarbeit nicht bloss durch Gefahren und Institutionen definiert. Sie leitet sich auch stark von den Beiträgen der einzelnen Praktiker ab. Um den Wandel des Schwei- zer Sicherheitsbereichs ganzheitlich zu verstehen, stellen die beruflichen Qualifikationen und persönlichen Werdegänge dieser Einzelpersonen deshalb eine weitere wichtige Analyseebene dar. Diese individuelle Komponente ist kein alleinerklärender Grund für die Entwicklung des Sicherheitsfeldes, sondern steht mit ihm in gegen- seitiger Abhängigkeit. Einerseits wirken sich Gefahrenkonzepte und institutionelle Änderungen auf die Anforderungsprofile der Mitarbei-

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tenden und ihrer Karriereverläufe aus. Für die heutige vernetzte Si- cherheitsarbeit und die teilweise komplexen und vielfältigen Aufgaben sind unterschiedliche Fähigkeiten und Kenntnisse gefragt. Andererseits wirkt aber auch das individuelle Wissen und Können einzelner Prakti- ker auf Entscheidungsfindungen und Veränderungen in den Institutio- nen ein. Die Profile und Laufbahnentscheidungen der einzelnen Mit- arbeitenden haben in ihrer Summe einen Einfluss auf die Gestaltung und Entwicklung des Politik- und Arbeitsfeldes Sicherheit. Die Mög- lichkeiten, sich Kompetenzen anzueignen und gewinnbringend in den Arbeitsbereich einzubringen, ändern sich allerdings mit der Zeit, wie auch die professionellen Leitsätze und nationalen wie internationalen Rahmenbedingungen. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben sich diese Bedingungen tatsächlich stark gewandelt. Heute werden Sicherheitspraktiker länger ausgebildet und absolvieren nach der Grundausbildung Weiterbildungs- kurse zur Spezialisierung.27 Teilweise wurden die Profile für Sicherheits- akteure stärker akademisch ausgerichtet und die Selektionskriterien ver- schärft. Internationale Erfahrungen, ob in höheren Lehrgängen oder im Einsatz auf Botschaften, bei internationalen Organisationen oder im Rahmen temporärer Missionen, sind heute möglich und mancherorts zu einem Einstellungskriterium geworden. In gewissen Sicherheitsbe- rufen werden auch hohe technologische und sprachliche Kompetenzen erwartet, gleichzeitig verlieren klassische Leistungsausweise wie zum Beispiel militärische Führungsqualitäten ausserhalb der Verteidigung an Bedeutung. Frauen sind in Sicherheitsberufen heute zahlreicher, je- doch noch immer untervertreten. Die Lohn- und Anreizstrukturen der verschiedenen Dienststellen, ihre Mandate und internen Hierarchien entwickeln sich über die Zeit und machen Laufbahnwechsel mehr oder weniger attraktiv. Im Sicherheitsbereich sind diese Faktoren heute kaum erfasst. Be- kannt ist, dass der Sicherheitsbereich traditionell stark von Männern geprägt ist.28 Dies nicht zuletzt auch, weil militärische Grade lange ausschlaggebend waren, Frauen jedoch keinen obligatorischen bewaff-

27 Vgl. den Beitrag «Vom Landjäger zum modernen Ordnungshüter» von Lisa Wildi und Jonas Hagmann in diesem Bulletin. 28 Hagmann, Sicherheitspolitische Konzeptionen.

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neten Dienst leisteten. Wissenschaftlich abgestützt ist zudem die Ein- sicht, dass innerhalb der Bundesverwaltung eher wenige Bestrebungen bestehen, die Stelle zu wechseln.29 Weitere Qualifikationen stellen je- doch nicht systematisch erfasste Aussagen dar. Dass beispielsweise die Kluft zwischen Kantonen und Bund schwierig zu überschreiten ist, ist eine Aussage, die oft wiederholt wird, doch im Sicherheitsbereich auf keiner vertrauenswürdigen Datensammlung beruht. Es bestehen gleich- wohl gegensätzliche Angaben, ob internationale Erfahrungen tatsäch- lich einer Karriere dienlich sind. Wie differenzieren sich die Sicherheitspraktiker anhand ihrer Pro- file? Wie entwickeln sich ihre beruflichen Werdegänge? Eine erste -Da tenauswertung weist fünf idealtypische – und somit nicht zwingend für alle Einzelfälle gültige – Berufsprofile aus und gibt differenzierte Aus- kunft über die berufliche Mobilität der Sicherheitsmitarbeitenden (siehe Illustration 1 für eine qualitative Umschreibung dieser Gruppierungen, welche ihrerseits aus einer statistischen Analyse des Datenmaterials her- vorgehen). Dabei konvergiert eine erste Gruppe im Bereich der kanto- nalen und kommunalen Polizeiarbeit. Die in diesem Bereich tätigen Si- cherheitspraktiker sind zumeist Männer und haben grossmehrheitlich eine obligatorische Ausbildung, Lehre oder Maturität abgeschlossen. Ein Viertel verfügt über eine höhere Berufsbildung, universitäre Ab- schlüsse und Schulungen im Ausland sind selten.30 Militärische Erfah- rungen auf den Stufen Soldat, Unteroffizier und Subalternoffizier sind sehr weit verbreitet. Der berufliche Werdegang ist weitestgehend der- selben Institution gewidmet. Nach einer Lehre oder ersten Stelle im Privatsektor oder der lokalen öffentlichen Verwaltung bleiben die hier umschriebenen Praktiker fortwährend im kantonalen Polizeibereich. Es besteht eine marginale Mobilität zur Bundesebene, hauptsächlich zu FEDPOL. Die zweite Gruppe definiert den erweiterten klassischen Sicherheits- bereich, also das VBS im erweiterten Sinne. Dabei ergeben sich auf Seite der Profile zwei wiederum stark von Männern dominierte Sub-

29 Siehe «Commitment, längerfristige Bindung», in: Eidgenössisches Personalamt, Reporting Personalmanagement 2015, www.news.admin.ch. 30 Diese Werte sind zum Teil auf die späte eidgenössische Anerkennung des Polizeiabschlus- ses zurückzuführen. Die Berufsprüfung der Polizei wurde erst 2003 als Teil der höheren Berufsbildung anerkannt.

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Illustration 1: Idealtypische Gruppierungen beruflicher Profile und Werdegänge Gruppe Berufliche Profile Karriereverlauf Polizeiarbeit Obligatorische Ausbildung, Lehre Karriere innerhalb desselben oder Maturität, Soldaten, Unter- Arbeitsbereichs, seltene Wech- offiziere und Subalternoffiziere. sel zu FEDPOL. Wenige Frauen, kaum universitäre Abschlüsse oder internationale Erfahrungen. Erweiterter Entweder hohe Militärgrade und Rekrutierung von anderswo klassischer Sicher- internationale Lehrgänge oder oder stark intern, dann hohe heitsbereich vielfältige hohe akademische Laufbahnstabilität innerhalb Ausbildung. Kaum oder gar keine des VBS. Frauen. Diplomatie Vielfältige internationale Berufser- Breiter Rekrutierungspool bei fahrung, sozial- und humanwissen- NGOs und IOs. Austritte zu schaftliche Ausbildung, geschlech- thematisch diversen öffent- terdurchmischtes Arbeitsfeld. lichen Stellen, allesamt auf Kaum militärische Erfahrung. Bundesstufe. «Schengen/Dublin» Universitär ausgebildet, Rechts- Starke externe Rekrutierung und Sozialwissenschaften, weite von Privatsektor, Korps und Berufserfahrungen in anderen Kantonen. Infolge Reorgani- Schweizer Arbeitsfeldern, gewisse sation signifikante Austritte Vermischung der Geschlechter. zum erweiterten klassischen Sicherheitsbereich. Grenzwesen Äusserst homogen, höhere Be- Ausserordentlich hohe Lauf- rufsbildung im Sicherheitswesen, bahnstabilität innerhalb des Soldat oder Unteroffizier. Kaum Arbeitsbereichs, wenige Wech- universitäre Abschlüsse oder sel zu kantonalen Polizeikorps. Arbeitserfahrungen anderswo.

typen. Eine erste Untergruppe ist durch hohe militärische Grade, aka- demische Ausbildung (vornehmlich im technischen Bereich) und einer rein VBS-internen Laufbahn definiert. Die zweite Untergruppe zeich- net sich durch hohe berufliche Mobilität und eine relative grosse Vielfalt von Berufsprofilen aus. Diese Personen verfügen über hohe universitäre und internationale Abschlüsse mit einer sozialwissenschaftlichen (eher VBSGS) oder naturwissenschaftlich-technischen (eher BABS, Arma- suisse) Orientierung. Ihre Karriere haben sie ausserhalb des VBS im Privatsektor, der Forschung oder in internationalen Organisationen be- gonnen. Interessanterweise verfügen sie entweder über einen ausgepräg- ten oder aber über gar keinen militärischen Hintergrund. Neben diesen Unterschieden definieren sich beide Untergruppen schliesslich gemein- sam dadurch, dass ihre Laufbahnen keine Stellen im kantonalen Poli-

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zeiwesen und kaum Positionen beim EJPD beinhalten, wie auch über den Umstand, dass sie den VBS-Bereich kaum mehr verlassen. Im diplomatischen Arbeitsbereich zeichnen sich die Praktiker durch frühere Stellen in der Forschung, bei Nichtregierungsorganisationen (NGOs) oder internationalen Organisationen (IOs) aus. Militärische Erfahrungen sind selten, universitäre Abschlüsse in den sozial- und hu- manwissenschaftlichen dagegen zahlreich. Die signifikant mehr weibli- chen (und auch leicht jüngeren)31 Insbesondere in der Mitarbeitenden des diplomati- Diplomatie und im Bereich schen, konsularischen und ent- «Schengen/Dublin» nehmen wicklungspolitischen Bereiches heute vermehrt Frauen rekrutieren sich zudem stark von leitende Funktionen ein. anderen Bundesstellen. Tatsäch- lich weist diese dritte Gruppie- rung über das Gesamtsystem berechnet die höchste Anzahl an Ein- tritten aus dem zivilen Bereich aus. Abgänger aus dem diplomatischen Arbeitsbereich bleiben grossmehrheitlich beim Bund und verteilen sich dort auf viele Organisationen. Sie wechseln zumeist zum EJPD, doch auch (gleichermassen) zum VBS, dem EFD und anderen Bundestellen. Die vierte Gruppierung konvergiert um den integrierten Bereich des Migrationswesen und der internationalen Polizeikooperation. Dieser Arbeitsbereich wird hier mangels besserer Begriffe als «Schengen/Dub- lin» benannt. Seine Mitarbeitenden umfassen im Vergleich zu anderen Bereichen signifikant mehr Frauen (insbesondere im Teilbereich Migra- tionswesen). Sie sind oft universitär ausgebildet, mit starkem Einschlag der Rechts- und Sozialwissenschaften. Die Mitglieder der «Schengen/ Dublin»-Gruppe haben vor Eintritt in den Arbeitsbereich in einer Viel- zahl unterschiedlicher Berufe gearbeitet – nur ein Siebtel war nie au- sserhalb von FEDPOL oder SEM tätig. Die meisten vorherigen Stel- len lagen im Privatsektor, bei Polizeikorps sowie bei kantonalen und kommunalen Behörden. Wenige Personen arbeiteten zuvor in der For- schung, bei NGOs oder internationalen Organisationen, im VBS oder EDA. Knapp zwei Drittel der Gruppe «Schengen/Dublin» verbleiben im selben Arbeitsbereich. Die übrigen wechseln grossmehrheitlich zum

31 Der Begriff «jünger» ist relativ. Das Durchschnittsalter aller befragten Sicherheitsprakti- ker liegt bei 50 Jahren, derjenige des diplomatischen Bereichs bei 47 Jahren.

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VBS – allenthalben eine singuläre Beobachtung, welche durch die Zu- sammenlegung der vormals getrennten inneren (DAP) und äusseren (SND) Nachrichtendienste im VBS begründet ist. Zum EDA oder der Grenzwacht wird faktisch nie gewechselt. Die fünfte Gruppierung schliesslich zentriert sich auf das Grenz- wesen. Die beruflichen Profile dieser Praktiker sind ausgesprochen -ho mogen. Sie umfassen normalerweise eine höhere Berufsbildung im Si- cherheitswesen wie auch militärische Erfahrungen auf den Stufen Soldat und Unteroffizier. Im Vergleich zu übrigen Mitarbeitern des Schweizer Sicherheitsbereichs verfügen Praktiker des Grenzwesens selten über uni- versitäre Abschlüsse. Sie haben kaum internationale Ausbildungsgänge durchlaufen oder Stellen bei anderen öffentlichen Behörden, ob Bund oder Kantone, bekleidet. Analog dem kantonalen Polizeiwesen stammen auch im Grenzwesen die mit Abstand meisten Eintritte aus dem Pri- vatsektor, was auf die Notwendigkeit einer Lehre verweist. Nahezu alle befragten Grenzarbeiter haben ihre gesamte Laufbahn innerhalb ihres jetzigen Arbeitsbereichs absolviert, mehr noch als es bei den ebenfalls äusserst diensttreuen Gruppierungen im Polizei- und dem erweiterten klassischen Sicherheitsbereich der Fall ist. Die wenigen Praktiker, wel- che das Grenzwesen verlassen, ziehen fast ausschliesslich zu kantona- len Polizeikorps. Mit diesen Profilen und Werdegängen stellt der Sicherheitsbereich heute ein zunehmend ausdifferenziertes Arbeitsfeld dar. Männer stellen nach wie vor klar das Gros der Mitarbeitenden, doch nehmen insbeson- dere in der Diplomatie und im Bereich «Schengen/Dublin» heute ver- mehrt Frauen leitende Funktionen ein. Militärische Erfahrungen sind noch immer wichtig, doch ihre Verteilung ist zunehmend divers. Die Hälfte aller befragten Personen leistete zwar Dienst, hat jedoch keine Offiziersschule absolviert, knapp ein Zehntel hat keinerlei Militärerfah- rung. Generalstabsstellen sind wenig überraschend im erweiterten klas- sischen Sicherheitsbereich breit vertreten, doch können Stellen dort nun- mehr auch gänzlich ohne Militärgrad, dafür mit hochspezialisierten und international abgestützten zivilen Bildungsabschlüssen erreicht werden. Damit scheint das Sicherheitsfeld heute tatsächlich vermehrt spe- zialisierte Kompetenzen zu vereinen. Die Hälfte der Sicherheitsmitar- beitenden verfügt über einen obligatorischen Schulabschluss oder eine Berufs- oder höhere Fachprüfung als höchstes zertifiziertes Ausbil-

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dungsniveau. Ein Siebtel besuchte nichtuniversitäre Schulen auf Ter- tiärstufe (höhere Fachschulen und Fachhochschulen), ein Drittel Uni- versitäten (jeder zehnte Befragte verfügt über ein Doktorat). Abschlüsse im Sicherheitswesen dominieren heute weiterhin, doch sind sozialwis- senschaftliche und technische Hintergründe nun zumindest aufsum- miert gleichwertig (danach stellt Das mit Abstand am das Rechtswesen den nächst- intensivsten genutzte und wichtigen Ausbildungsbereich heterogenste internationale dar). Erfahrungen in der Privat- Netzwerk ist jedoch das der wirtschaft sind besonders bei den inneren Sicherheit. Korps wichtig, wo eng definierte Rekrutierungs- oder Schulungs- prozesse bestehen und eine Berufslehre Voraussetzung ist. Internationale Einsätze und Abschlüsse – seit den 1990er-Jahren dank multilateralen Missionen, der Schweizer UNO-Mitgliedschaft sowie neuen interna- tionalen Bildungsprogrammen öfters möglich – sind heute in verschie- denen Arbeitsbereichen weit verbreitet. Über die Staatsebenen hinweg zeigen sich die beruflichen Lauf- bahnen der Sicherheitspraktiker als recht stabil. Berufe im VBS, dem im Sicherheitsbereich ressourcenstarken und traditionell führenden Mi- nisterium, sind nach wie vor attraktiv. Sie ziehen viele Übertritte von anderswo an und werden eher selten wieder aufgegeben. Dennoch ste- hen heute auch in anderen Bereichen interessante Karrierewege offen, so etwa in der kantonalen Polizei, Diplomatie, internationalen Poli- zeikooperation sowie im Migrations- und Grenzwesen. Diese benötigen nicht zwingend (substantielle) militärische Erfahrung (diese ist selbst im VBS nicht immer zwingend), was den Wandel des Sicherheitsbe- reichs weg von rein militärischen Positionen und Logiken unterstreicht. Die berufliche Mobilität zwischen den verschiedenen Arbeitsbereichen ist heute jedoch unterschiedlich ausgeprägt. So sind die Rekrutierungs- pools mancherorts zwar divers, doch die horizontale Mobilität zwischen den einzelnen Bereichen scheint beschränkt. Auf Stufe Bund etwa wer- den Praktiker aus dem Militärbereich kaum je bei zivilen Ämtern oder Staatssekretariaten tätig. Auch zeigt sich das Grenzwesen als regelrecht geschlossenes System und Berufsfeld. Gleichzeitig ist die vertikale Mo- bilität zwischen Bund und Kantonen limitiert. Faktisch beschränkt sie sich auf wenige Wechsel von kantonalen Korps und Behörden hin zu

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FEDPOL oder BABS sowie auf seltene Wechsel weg vom GWK und hin zu kantonalen Polizeikorps.

SCHLUSSWORT Die empirische Momentaufnahme der Schweizer Sicherheitsarbeit zeigt, welche Gefahren heute von wem wie viel Aufmerksamkeit erhalten und welche Akteure im beruflichen Alltag mit wem wie intensiv kooperie- ren. Weiter legt sie dar, wie sich staatspolitische Schnittstellen heute ausnehmen und berufliche Profile und Werdegänge im Sicherheitsbe- reich ausgerichtet sind. Die Untersuchung skizziert ein umfassendes Bild des vielfältigen Wandels des gesamtschweizerischen Sicherheits- bereichs seit dem Ende des Kalten Krieges. Deutlich zutage tritt erstens, dass sich der Bedrohungsfokus der praktischen Sicherheitsarbeit stark verschoben hat. Im Zentrum steht nicht mehr die reaktive Abschre- ckung und Abwehr konkreter, von Staaten ausgehender militärischer Bedrohungen, sondern das proaktive Risikomanagement von grenz- überschreitenden Bedrohungen und Gefahren. Die sicherheitspoliti- schen Herausforderungen einer globalisierten Mobilität – migrations- bedingte Probleme, Terrorismus, Naturkatastrophen – stehen im Fokus des Gesamtsystems. Damit hat sich auch die Aufgabe der Armee ge- wandelt und in Richtung Schutz sozio-technischer Systeme (kritische Infrastrukturen) entwickelt. Die Erweiterung des bearbeiteten Bedrohungsspektrums ging zwei- tens mit einer Ausdifferenzierung der nationalen Kooperationsmuster einher. Das VBS hat sich zu einem erweiterten Sicherheitsdepartement gewandelt, das neben der Armee weitere zentrale sicherheitspolitische Akteure und berufliche Profile (in Generalsekretariat, NDB, BABS und Armasuisse) und departementsinterne Kooperationen umfasst. Gleich- zeitig ist die Sicherheitsarbeit auf Stufe Bund nicht mehr primär auf das Militärdepartement beschränkt wie noch zu Zeiten des Kalten Krieges. Die Analyse der nationalen Sicherheitskooperation zeigt heute vier eid- genössische Departemente – VBS, EDA, EJPD, EFD –, die alle in ver- gleichbarer Intensität mit den jeweils anderen drei Departementen des Bundes und der Kantonsebene zusammen arbeiten. Besonders markante Verschiebungen der Kooperationsmuster lassen sich darüber hinaus im Bereich der inneren Sicherheit feststellen. Innerhalb einer Gruppierung

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um EJPD/EFD/Polizei übernehmen Bundesakteure wie das FEDPOL oder das SEM zentrale Aufgaben in den Bereichen Politikformulierung und Koordination, während kantonale Akteure gleichzeitig operatio- nelle Beiträge zur Prävention und Bewältigung grenzüberschreitender Gefahren leisten, die das Gesamtsystem Schweiz betreffen. Augenfällig ist drittens die im Vergleich zum Kalten Krieg sehr viel stärkere Vernetzung der nationalen mit der internationalen Sicherheits- landschaft. Wenn auch weniger oft und intensiv als auf nationaler Ebene, so kooperieren doch zahlreiche nationale, kantonale und lokale Behör- den mit Partnern auf der internationalen Ebene. Dabei unterscheidet sich der Bezugsrahmen für die Bereiche Verteidigung, Aussensicher- heitspolitik und innere Sicherheit. Sind die militärpolitischen Netzwerke primär bilateraler Natur, so kümmert sich das EDA neben dem bilatera- len Austausch vermehrt um multilaterale Netzwerke. Das mit Abstand am intensivsten genutzte und heterogenste internationale Netzwerk ist jedoch das der inneren Sicherheit. Bundesbehörden arbeiten heute mit internationalen und kantonalen Dienststellen zusammen in einem Kom- petenzbereich, der eigentlich die Kantone und lokalen Behörden betrifft. Umgekehrt arbeiten kantonale Dienststellen stark mit Bundesbehörden oder Ämtern von Nachbarstaaten zusammen und haben somit wesent- lichen Einfluss auf Politikbereiche, die nicht kantonal gesteuert sind. Somit unterstreicht die vorgelegte empirische Momentaufnahme der praktischen Sicherheitsarbeit die zunehmende Komplexität des Arbeits- feldes. Sie macht die Entwicklung und den heutigen Stand des Sicher- heitsfeldes fassbar und weist in differenzierter Art und Weise aus, welche Schnittstellen wie konfiguriert sind. Letzterer Beitrag ist auch für die Politikdiskussion relevant, legt er doch schwierige Fragen nah: Stehen die ausgewiesenen Arbeitsleistungen in einem sinnvollen Verhältnis zu aktuellen und künftigen Herausforderungen? Decken sich Praxis und Theorie, also die tatsächlich geleistete Sicherheitsarbeit mit den institu- tionellen Mandaten? Welche Akteure sollten besser in den landesweiten Sicherheitsverbund integriert werden? Wie kann die in der Praxis auf ungemein viele Dienststellen verteilte äussere Dimension der Sicher- heitsarbeit effektiv koordiniert werden? Entsprechen die vorhandenen Berufsprofile den tatsächlich notwendigen Fachkompetenzen? Sollen professionelle Werdegänge strategischer angeleitet und unter ausgewähl- ten Akteuren besser vernetzt werden?

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Zu diesen anspruchsvollen Fragen kann dieser Beitrag keine ab- schliessenden Antworten liefern. Er stellt jedoch politischen Entschei- dungsträgern vielfältiges Informationsmaterial zur Verfügung. Dieses Material ist systematisch erfasst und aufbereitet, erhebt aber keinen An- spruch auf Allgemeingültigkeit. Im landesweiten sicherheitspolitischen Arbeitsfeld mit Tausenden von Mitarbeitenden stellt eine Stichprobe von knapp 600 Befragten ein plausibles, doch kein perfektes Abbild der Realität dar. Zudem sollte für ausdifferenziertere Analysen zwingend qualitatives Datenmaterial beigezogen werden, um die hier ausgewer- teten numerischen Werte besser interpretieren zu können. Auch würde der vorgestellte Untersuchungsansatz beispielsweise als Longitudinalstu- die32 oder im internationalen Quervergleich vollere Wirkung entfalten – stünden so doch Datensätze zu Verfügung, die auch miteinander (über die Zeit und Landesgrenzen hinweg) und nicht nur untereinander (zu einem einzigen Zeitpunkt in einem Land) verglichen werden könnten.33 Die quantitative Auswertung der Sicherheitsarbeit und wissenschaftliche Kartierung nationaler Sicherheitssysteme stehen erst in ihren Anfängen.

32 Analog der Studienreihe Sicherheit, vgl. Szvircsev Tresch, Sicherheit 2016. 33 Somit müssten also nicht länger qualitative historische Daten als Vergleichswerte beigezo- gen und (wie in diesem Beitrag und Forschungsprojekt) ein «Mixed-method»-Forschungs- ansatz, eine Paarung von quantitativen und qualitativen Daten, verwendet werden.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 128 AKTUELLE DISKUSSION

ANHANG

Tabelle 1: Wer arbeitet wozu? Sicherheitsarbeit ausgerichtet an Bedrohungen 1.0 OSTPOL BABS NDB FEDPOL EDA DEZA EZV PKNW KANTZIV CCPD CCPCRBT SEM STAPOGEMPO GWK ARMA ANDBUND => Wert mit Akteure Anzahl VBSGS VBSVTG ZPK naturkat 1.5 1.7 3.1 .6 – 0.2 0.1 0.5 1.5 0.2 0.2 1.3 0.3 0.6 0.6 0.6 0.4 1.0 2.7 7 militangr 1.4 2.4 1.2 2.6 0.5 – 0.1 1.2 0.4 – 0.2 – – – – – 0.1 0.1 0.6 5 verbotnd 0.3 0.3 0.2 0.3 1.8 0.1 – 0.5 – 0.2 0.3 – 0.5 0.1 – 0.1 0.2 0.1 0.1 1 terror 1.4 1.4 1.1 0.5 1.6 1.0 0.5 1.4 0.8 0.5 1.2 0.3 0.8 0.9 1.0 0.7 0.5 1.0 0.4 7 gewextr 0.2 0.5 0.3 0.1 1.5 0.6 0.4 1.3 0.8 0.2 0.7 – 0.5 0.7 0.7 0.8 0.4 1.0 0.2 2 religradik 0.1 0.3 0.1 0.1 0.7 0.5 0.4 1.5 0.6 0.1 0.5 0.1 0.7 0.4 0.3 0.3 0.5 0.9 0.1 1 hoolig 0.3 0.1 0.1 – – 0.2 – – 0.3 – 0.7 – 0.5 0.7 0.9 1.1 0.7 1.1 – 2 droghand 0.1 0.1 – – – 0.8 0.1 0.1 0.5 0.8 2.8 – 2.3 1.3 1.6 1.7 1.3 1.3 – 7 menschhand 0.1 0.1 – – – 0.8 1.3 0.3 1.1 0.3 2.2 – 0.8 0.5 0.7 0.9 0.5 0.5 – 3 waffhand 0.2 0.3 – 0.2 – 0.5 – 0.5 0.3 0.8 1.8 – 1.1 0.4 0.2 0.3 0.4 0.2 0.1 2 korrup 0.2 0.2 0.1 0.2 – 0.5 0.1 0.6 1.6 0.4 0.2 – 0.3 0.2 0.2 0.2 0.2 0.1 – 1 erpress 0.1 0.1 0.1 – 0.4 0.8 – 0.1 0.1 0.1 0.1 – 1.4 0.5 0.6 0.7 0.4 0.3 – 1 geldwäsch 0.1 0.1 – – – 0.8 0.1 0.2 0.3 0.9 1.3 – 1.4 0.3 0.1 0.4 0.2 0.2 – 2 cyberkrim 1.5 0.8 0.9 0.5 1.0 0.8 – 0.4 – 0.4 0.1 0.6 0.8 0.5 0.6 0.8 0.5 0.4 0.3 2 leibleb 0.4 0.5 0.1 – – 1.1 0.2 0.9 0.3 0.1 1.3 – 2.0 2.0 2.3 2.2 1.3 1.9 – 8 kleinkrim 0.1 0.2 – – – 0.3 0.1 0.1 0.3 0.2 2.2 – 2.4 2.1 2.4 2.1 1.8 2.0 – 7 verkehrsdel 0.1 0.2 – – – 0.2 – – 0.3 0.7 1.3 – 2.2 2.0 1.7 1.9 1.4 1.9 – 7 prolifwmd 0.7 0.5 0.9 – 1.0 – – 0.7 – 0.4 0.2 0.7 0.1 0.1 – 0.1 0.1 – 0.1 1 migraprob 0.8 0.6 0.2 0.1 0.3 0.5 3.9 1.1 1.5 0.3 3.3 – 1.1 1.1 1.8 1.7 1.1 1.3 1.3 11 kritinfra 1.5 1.7 1.2 1.1 1.3 0.6 – 0.3 – 0.2 – 0.5 0.1 0.3 0.3 0.1 0.3 0.3 1.3 6 pandem 0.6 0.8 1.3 0.1 – 0.1 0.3 0.2 0.3 0.3 0.5 0.4 – 0.2 0.2 0.1 0.2 0.5 1.5 2 klimawand 0.5 0.1 0.9 – – – 0.1 0.2 2.3 0.2 – – – – 0.1 0.1 0.1 0.1 1.2 2 failstatbadgov 0.9 0.2 0.1 0.1 0.8 0.1 0.3 1.4 2.3 0.2 – – – – – – – – 0.1 2 Anzahl Bedrohun- gen mit Wert => 1 5 4 5 2 6 2 2 6 6 0 9 1 8 5 5 6 5 7 5 N 13 66 17 36 10 33 16 13 8 25 56 14 10 68 23 29 94 43 20

Beruhend auf N=594 individuellen Antworten. Institutionelle Werte (hervorgehoben wenn Wert > 1.0 / – für den Wert 0) sind Mittelwerte von individuellen Angaben. Für jede Bedrohung gaben die Befragten auf einer Skala von 0 – 5 an, wie viel Arbeitszeit sie auf diese aufwenden (0 = nicht relevant, 1 = vernachlässigbar wenig Zeit, 5 = ganze Arbeitszeit). Nicht-fette Werte von 1.0 sind aufgerundete Zahlen. Da sie mathematisch den Schwellenwert nicht erreichen, werden sie weder zu den Linien- und Spaltensummen gezählt noch in Grafik 1 visualisiert.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK SCHWEIZER SICHERHEITSPOLITIK IN DER PRAXIS: EINE EMPIRISCHE MOMENTAUFNAHME 129

Tabelle 2: Wer kooperiert mit wem? Kooperation zwischen Schweizer Akteuren 1.0 OSTPOL BABS NDB FEDPOL EDA DEZA EZV PKNW KANTZIV CCPD CCPCRBT SEM STAPOGEMP GWK ARMA ANDBUND => Wert mit Akteure Anzahl VBSGS VBSVTG ZPK

VBSGS – 1.9 1.9 2.2 1.2 0.4 – 2.1 0.4 0.2 0.2 0.2 – – – – – – 0.7 5 SVS 1.7 1.7 1.8 0.6 1.1 0.4 – 0.2 – 0.2 0.6 0.5 – 0.4 0.1 0.3 0.4 – 2.2 5 VBSVTG 3.2 – 3.3 4.6 1.9 0.5 – 1.8 0.6 0.2 0.6 0.2 – 0.4 0.1 0.4 0.3 0.1 2.5 6 BABS 2.5 1.7 – 1.2 1.1 0.2 – 0.9 0.3 0.1 0.3 1.5 – 0.3 0.1 0.5 0.1 0.1 3.2 6 NDB 2.2 1.6 2.2 1.3 – 1.7 0.9 2.6 0.9 0.5 0.9 0.4 0.2 0.4 0.3 0.7 0.3 0.2 – 6 FEDPOL 2.5 0.7 1.6 0.4 3.8 – 2.6 1.6 0.3 1.6 2.8 0.2 2.9 1.4 1.1 1.9 1.1 0.8 – 12 BJ 1.5 0.3 0.7 0.2 0.7 1.9 2.0 1.7 0.5 1.2 0.9 0.1 0.5 0.4 0.2 0.8 0.4 – 0.1 5 SEM 0.2 0.4 0.2 0.1 2.3 2.0 – 2.6 1.1 0.4 3.3 – 1.1 0.4 0.2 0.6 0.6 0.1 – 6 EDA 1.3 0.6 0.5 0.3 1.9 1.0 1.5 – 1.9 0.2 0.6 0.6 0.1 – – – 0.2 – – 4 DEZA 0.9 1.1 1.2 0.1 1.1 0.3 1.1 1.8 – – 0.1 0.4 – – – – 0.1 – 0.1 5 EZV – 0.1 – – 0.3 0.3 – 0.2 – – 2.8 – 0.5 0.2 – 0.1 0.1 – – 1 GWK 0.7 0.6 0.8 0.3 0.7 2.0 0.9 0.4 – 2.8 – – 1.0 0.4 0.1 0.1 0.2 – 0.1 3 ANDBUND 0.3 0.1 1.0 0.1 0.4 0.1 0.1 0.4 0.6 0.6 0.2 0.5 – 0.1 0.1 0.1 0.1 – 0.3 0 ENSI 0.2 0.1 1.8 – 0.6 – – 0.1 – 0.1 0.1 0.8 – – 0.2 – – – 0.5 1 FINMA – – 0.1 – 0.3 0.2 – – – 0.2 – – – – – – – – 0.1 0 PARLKOM 1.6 1.1 0.5 0.5 0.2 0.3 0.5 1.0 1.3 0.8 0.4 0.2 – 0.1 – – 0.1 – 0.1 4 CCPD – 0.1 0.1 – 0.1 1.4 0.4 0.2 – 1.8 2.8 – – 1.3 0.9 1.3 2.1 0.5 0.1 6 KAPO 1.8 1.5 2.1 0.2 4.0 3.5 2.2 0.2 0.1 1.8 4.0 0.6 4.7 – – – – 3.8 3.4 11 STAPOGEMPO – 0.2 0.1 – – 0.5 0.8 – – 0.8 1.4 0.1 0.2 1.8 2.0 0.2 2.3 – 0.6 4 ZIVFEUERW 0.7 0.7 2.6 0.3 0.1 0.1 – – 0.1 0.1 0.2 0.1 – 1.8 1.5 1.5 1.2 1.9 1.5 7 ANDKANT 0.3 0.1 0.1 0.1 0.1 0.5 1.5 0.1 – 0.9 1.7 0.1 1.1 1.9 2.1 2.2 1.7 1.5 1.3 9 PRIVATE 1.0 0.6 2.4 1.1 1.9 0.9 1.1 1.4 1.5 1.2 0.4 0.7 – 1.1 1.0 1.3 1.5 1.6 1.7 13 Anzahl Kooperatio- nen mit Wert => 1 10 7 10 5 10 6 7 9 4 6 7 1 5 6 4 5 6 4 7 N 13 66 17 36 10 33 16 13 8 25 56 14 10 68 23 29 94 43 20

Beruhend auf N=594 individuellen Antworten. Die Kolonnen weisen kooperierende Sicherheitsorganisationen aus, die Linien ihre Schweizer Partnerorganisationen. Institutionelle Werte (hervorgehoben wenn Wert > 1.0 / – für den Wert 0) sind Mittelwerte von individuellen Angaben. Für jede Kooperation gaben die Befragten auf einer Skala von 0 – 5 an, wie intensiv sie mit wem zusammenarbeiten (0 = keine Kooperation, 1 = schwache Kooperation, 5 = starke Kooperation). Nicht-fette Werte von 1.0 sind aufgerundete Zahlen. Da sie mathematisch den Schwellenwert nicht erreichen, werden sie weder zu den Linien- und Spaltensummen gezählt noch in Grafik 2 visualisiert.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 130 AKTUELLE DISKUSSION

Tabelle 3: Wer kooperiert mit wem? Die grenzüberschreitende Sicherheitskooperation 1.0 OSTPOL BABS NDB FEDPOL EDA DEZA EZV PKNW KANTZIV CCPD CCPCRBT SEM STAPOGEMPO GWK ARMA ANDBUND => Wert mit Akteure Anzahl VBSGS VBSVTG ZPK

POLNASTA 0.2 – 0.2 – 0.3 2.6 0.3 – 0.1 0.6 3.2 – 4.8 2.3 1.0 1.2 2.1 1.1 0.1 8 POLANDEU – 0.1 – – 0.2 2.4 0.3 – – – 1.0 – 0.6 0.6 0.5 1.1 0.7 0.4 – 3 POLNONEU – – – – – 1.6 0.1 0.1 0.5 – 0.4 – – 0.1 0.2 0.6 0.3 0.3 – 1 INTERPOL – – – – 0.2 1.8 0.3 – – 0.3 0.4 – 0.5 0.7 0.6 1.3 0.6 0.4 – 2 EUSICHAG – – – – 0.2 1.5 1.1 0.2 – 1.2 1.7 – 0.5 0.2 0.2 0.6 0.4 0.2 – 4 SPEZBOT 0.8 0.3 0.4 0.3 0.8 1.1 1.2 1.2 0.6 0.2 0.5 – 0.4 – – – 0.4 0.1 – 3 EVA 0.2 0.2 0.1 1.0 – 0.1 – 0.1 – – – – – – – – – – – 1 ZOLLGWK – 0.2 – – 0.1 0.9 0.9 0.1 – 3.2 3.2 – 3.4 1.6 1.9 0.8 1.8 0.6 0.1 6 ND 0.2 0.3 – 0.1 4.8 0.3 0.1 – 0.6 – 0.4 – 0.2 0.2 0.1 – 0.3 0.1 – 1 ZIV – 0.1 1.7 0.1 – – – – 0.6 – – – – 0.2 0.1 – 0.1 0.1 0.9 1 UNOAG 0.3 0.3 1.2 – 0.2 0.4 0.6 1.3 2.1 0.1 – 2.1 – – – – 0.2 – – 4 ARMEENNACH 1.0 2.0 – 1.1 – 0.1 – 0.2 0.3 – – – – – – – 0.1 – 0.1 3 ARMEENAND 1.1 1.6 – 1.1 – 0.1 – 0.2 – – 0.1 – – – – – – – – 3 NATO 1.1 1.2 0.4 0.9 0.5 0.1 – 1.1 – – – 0.1 – – – – – – – 3 PFP 1.4 1.7 0.6 0.9 0.4 – – 1.4 0.6 – 0.1 0.2 – – – – – – – 3 EAPR 1.0 0.2 – 0.2 – – – 0.7 – – – – – – – – – – – 1 OSZE 0.8 0.6 0.2 0.2 0.3 0.6 – 1.8 0.6 0.3 0.2 – – – – – – – – 1 ERAT – – – 0.1 – 0.7 0.1 0.5 0.5 – – – – – – – – – – 0 Anzahl Kooperatio- nen mit Wert => 1 5 4 2 3 1 6 2 5 1 2 4 1 2 2 2 3 2 1 0 N 13 66 17 36 10 33 16 13 8 25 56 14 10 68 23 29 94 43 20

Beruhend auf N=594 individuellen Antworten. Die Kolonnen weisen kooperierende Sicherheitsorganisationen aus, die Linien ihre ausländischen Partnerorganisationen. Institutionelle Werte (hervorgehoben wenn Wert > 1.0 / – für den Wert 0) sind Mittelwerte von individuellen Angaben. Für jede Kooperation gaben die Befragten auf einer Skala von 0 – 5 an, wie intensiv sie mit wem zusammenarbeiten (0 = keine Kooperation, 1 = schwache Kooperation, 5 = starke Kooperation).

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK SCHWEIZER SICHERHEITSPOLITIK IN DER PRAXIS: EINE EMPIRISCHE MOMENTAUFNAHME 131

Tabelle 4: Geschlechterverteilung nach idealtypischer Berufsgruppe

Männer Frauen Polizeiarbeit 95.6% 4.4% Erweiterter klassischer Sicherheitsbereich 94.4% 5.6% Diplomatie 65% 35% «Schengen/Dublin» 87.5% 12.5% Grenzwesen 90.1% 9.9%

Beruhend auf N=556 individuellen Antworten.

Tabelle 5: Militärerfahrung nach idealtypischer Berufsgruppe

-

Keine Soldat/Unteroffizier Subaltern-offizier HöhereOffiziersgrade Generalstabsoffizier ­ Polizeiarbeit 3.9% 63.0% 13.8% 14.2% 5.1% Erweiterter klassischer Sicherheitsbereich 9.4% 20.9% 5.0% 29.5% 35.3% Diplomatie 30% 50% – 10% 10% «Schengen/Dublin» 14.6% 56.3% 10.4% 8.3% 10.4% Grenzwesen 8.9% 62.0% 10.1% 11.4% 7.6%

Beruhend auf N=554 individuellen Antworten.

Tabelle 6: Höchster Bildungsabschluss nach idealtypischer Berufsgruppe

universitäre

ObligatorischeSchuljahre,Lehre, MaturitätBerufs-Fachprüfungen und(BP/HFP) Höhere Nicht­SchulenTertiärstufe auf (HF/FH) Universität, ETH Doktorat Polizeiarbeit 49% 23.3% 11.1% 13.8% 2.8% Erweiterter klassischer Sicherheitsbereich 9.9% 5.7% 20.6% 41.8% 22% Diplomatie 4.8% – – 61.9% 33.3% «Schengen/Dublin» 14.3% 12.2% 16.3% 53.1% 4.1% Grenzwesen 22.5% 51.3% 11.3% 13.8% 1.3%

Beruhend auf N=558 individuellen Antworten.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 132 AKTUELLE DISKUSSION

Tabelle 7: Ausbildungshintergrund nach idealtypischer Berufsgruppe

Keiner, anderer Sozial-, GeisteswissenschaftenSicherheit Technik, Bau Naturwissenschaft,Wirtschaftswissenschaften Informatik Rechtswesen Polizeiarbeit 14.2% 7.1% 43.8% 13.3% 4.6% 7.1% 10% Erweiterter klassischer Sicherheitsbereich 5.8% 29% 9.4% 25.4% 15.2% 8% 7.2% Diplomatie 9.5% 47.6% – – 9.5% 9.5% 23.8% «Schengen/Dublin» 6.1% 26.5% 18.4% 8.2% 4.1% 10.2% 26.5% Grenzwesen 15.4% 9% 51.3% 7.7% – 10.3% 6.4%

Beruhend auf N=540 individuellen Antworten.

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ABKÜRZUNGEN

Nationale Behörden/Abteilungen VBS Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBSGS Generalsekretariat VBS Bereich Sicherheitspolitik (SIPOL) SVS Sicherheitsverbund Schweiz VBSVTG Schweizer Armee (Verteidigung) BABS Bundesamt für Bevölkerungsschutz NDB Nachrichtendienst des Bundes Keiner, anderer WirtschaftswissenschaftenRechtswesen Sozial-, GeisteswissenschaftenSicherheit Technik, Bau Naturwissenschaft, Informatik EJPD Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement FEDPOL Bundesamt für Polizei BJ Bundesamt für Justiz SEM Staatssekretariat für Migration EDA Eidgenössisches Departement für Auswärtige Angelegenheiten EDASEK EDA Staatssekretariat EDADEA EDA Direktion für europäische Angelegenheiten DEZA Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit EFD Eidgenössisches Finanzdepartement EZV Ziviler Zoll GWK Grenzwache ANDBUND Andere Bundesbehörden BAG Bundesamt für Gesundheit BFE Bundesamt für Energie ENSI Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat BAKOM Bundesamt für Kommunikation BAZL Bundesamt für Zivilluftfahrt SIK Bundesversammlung - Sicherheitspolitische Kommissionen FINMA Eidgenössische Finanzmarktaufsicht SECO Staatssekretariat für Wirtschaft BWL Bundesamt für Wirtschaftliche Landesversorgung PARLKOM Parlamentskommissionen CCPD Zentrum für Polizei- und Zollzusammenarbeit KAPO Kantonspolizeien STAPOGEMPO Stadt-/Gemeindepolizeien ZIVFEUERW Kantonale und lokale Zivilschutzbehörden und Feuerwehren ZIV Kantonale und lokale Zivilschutzbehörden FEUERW Feuerwehren ANDKANT Andere Kantonsbehörden KANTJUST Kantonale Justizbehörden KANTMIGR Kantoale Migrationsbehörden KANTGES Kantonale Gesundheitsämter PRIVSICH Private Sicherheitsunternehmen

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 134 AKTUELLE DISKUSSION

Internationale Institutionen/Organisationen EAPR Euro-atlantischer Partnerschaftsrat ERAT Europarat EUSICHAG Europäische Sicherheitsagenturen (z.B.: Europol, Frontex, Olaf) INTERPOL Interpol NATO Nordatlantikpakt ND Nachrichtendienste (zivile oder militärische) OSZE Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa PFP Partnerschaft für den Frieden POLANDEU Nationale Polizeidienststellen anderer europäischer Länder POLNASTA Nationale Polizeidienststellen von Nachbarstaaten POLNONEU Polizeien von nicht-europäischen Staaten SPEZBOT Spezialisten/innen ausländischer Botschaften in der Schweiz UNOAG Spezialisierte UNO-Agenturen ZIV Zivilschutz ZOLLGWK Dienststellen des Zolls und der Grenzwache

Bedrohungen cyberkrim Cyber-Kriminalität droghand Drogenhandel erpress Erpressung failstatbadgov Failed states und bad governance geldwäsch Geldwäscherei gewextr Gewalttätiger Extremismus (darunter politischer Radikalismus) hoolig Hooliganismus kleinkrim Kleinkriminalität klimawand Klimawandel korrup Korruption kritinfra Angriffe gegen kritische Infrastrukturen (inkl. Cyber-Angriffe) leibleb Straftaten gegen Leib und Leben menschhand Menschenhandel migraprob Migrationsbedingte Probleme militangr Militärische Angriffe naturkat Natur- und Zivilisationsbedingte Katastrophen (Industrieunfälle) pandem Pandemien prolifwmd Proliferation von Massenvernichtungswaffen religradik Religiöser Radikalismus terror Terrorismus verbotnd Verbotener Nachrichtendienst verkehrsdel Verkehrsdelikte waffhand Waffenhandel

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK INTERVIEW

«WIR SIND IN DER LOGIK DER VERHINDERUNG DES SCHLIMMSTEN»

Interview mit Peter Maurer, Präsident des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK)

Herr Maurer, vor vier Jahren wechselten Sie nach einer beindruckenden Di- plomatenkarriere vom Eidgenössischen Department für auswärtige Angele- genheiten auf den Posten des Präsidenten des IKRK. Haben Sie heute mehr Empathie für die von Krieg und Konflikten betroffenen Menschen? Peter Maurer: Als Schweizer Diplomat ist man sehr wenig mit der Re- alität des Krieges konfrontiert. Man ist selten in Kriegsgebieten. Vieles bleibt abstrakt: Man kennt die Zahlen, man sieht die politische Dyna- mik rund um Verhandlungen zur Kriegsbeendigung und man sieht die Interessen der beteiligten Mächte. Als IKRK-Präsident bin ich hin- gegen selbst häufig in Kriegsgebieten. Die Betroffenheit ist daher für mich heute unmittelbarer. Paradoxerweise finde ich es aber fast leichter, in Kriegsgebieten zu arbeiten, als nur über die Kriege in den Medien zu hören. Die Distanz zu einem Konflikt, wenn man ihn nur über die Berichterstattung verfolgt, führt zu einem Gefühl der Hilflosigkeit. Ist man hingegen vor Ort, kann man konkret etwas tun.

Hat sich Ihre Sicht auf aktuelle Kriege gewandelt? Mein Bild über die heutigen Kriege und Konflikte hat sich konkretisiert. Die Merkmale des modernen Krieges und seine Widersprüchlichkeiten werden mir nun direkt vor Augen geführt. Gefiltert durch die Medien haben wir oft das Gefühl, dass die Dinge einfach und klar sind. Begibt man sich jedoch vor Ort, erkennt man die Fragmentierung der Kriegs-

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 138 INTERVIEW

landschaft. Bisweilen unterscheidet sich die Lage je nach Häuserblock. Unterschiedliche Gruppierungen haben das Sagen. An einigen Orten wird verhandelt, anderswo zerfallen Kriegskoalitionen oder werden neu zusammengesetzt. Das sind die Realitäten des Krieges, die ich vorher in dieser Konkretheit nicht gekannt habe.

Zudem ist der Krieg urbaner geworden. Genau. Gekämpft wird heute nicht mehr wie einst bei Waterloo vor den Toren der Stadt, sondern in der Stadt selbst. Das hat schwerwie- gende Folgen für die Zivilbevölkerung und damit auch für das huma- nitäre Völkerrecht. Legitime mili- «Gekämpft wird heute tärische Ziele befinden sich mitten nicht mehr wie einst bei unter der Zivilbevölkerung. Daher Waterloo vor den Toren werden Grundlagen des humanitä- der Stadt, sondern in der ren Völkerrechts wie die Verhältnis- Stadt selbst.» mässigkeit, die Unterscheidung von Kombattanten und Zivilisten oder die Um- und Vorsicht oft nicht eingehalten. Mich beschäftigt zudem diese unglaubliche Ungleichzeitigkeit: An einem Ort zum Beispiel in Syrien oder Somalia herrscht Krieg, aber nur hundert Meter weiter le- ben die Menschen fast normal.

Ist es also für viele vom Krieg Betroffenen in Syrien oder anderswo möglich, in sichere Gebiete in ihrem eigenen Land zu gehen statt in Nachbarländer zu flüchten? Tatsächlich leben zwei Drittel aller Gewaltvertriebenen immer noch in denjenigen Ländern, in denen Krieg herrscht. Diese Menschen haben heute viel mehr als früher die Möglichkeit, sich über die Lage zu in- formieren. Sie können am besten einschätzen, wo sie sich sicher fühlen. Da sich die Situation vor Ort sehr schnell ändern kann, sich die Betrof- fenen aber am besten auskennen, sollte man mit gutem Rat von aussen zurückhaltend sein. Wichtig für unsere Debatten in Europa ist zu wis- sen, dass nur ein kleiner Teil der von Krieg Betroffenen die Risiken ei- nes weiten Weges nach Europa in Kauf nimmt.

Sie sagten, die Menschen könnten sich besser informieren. Denken Sie da- bei auch an die Möglichkeiten des Internets und der sozialen Medien? Doch

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK IKRK 139

können auf diesem Weg auch falsche Informationen verbreitet werden, oder es kommt gar zu bewussten Manipulationen. Was bedeutet dies für die Arbeit des IKRK? Krieg bietet immer die Möglichkeit zu Manipulationen. Das war immer so, schon vor dem Zeitalter des Internets und der sozialen Medien. Aber Manipulationen werden auch oft schnell entdeckt. Unter dem Strich er- leichtert das kommunikative Umfeld die Lageanalyse. Dies hilft wie- derum der humanitären Arbeit.

Ist heutzutage ein von einem Konflikt direkt Betroffener besser informiert über die Situation vor Ort als ein interessierter Schweizer Zeitungsleser? Die Erfahrungen der letzten Monate haben mich überrascht. Im Früh- ling 2016 war ich beispielsweise auf einem griechischen Schiff und habe einen Tag lang mit Flüchtlingen aus Syrien gesprochen. Dabei habe ich gesehen, wie diese Menschen kommunizieren und wie detailliert sie sich über die Migrationsrouten informieren. Oder ein anderes Beispiel: Im ländlichen Afghanistan habe ich erfahren, wie gut informiert die Dorf- ältesten in einem Dorf hundert Kilometer ausserhalb von Masar-e Scha- rif sind. Sie kennen die aktuellsten Äusserungen europäischer Politiker und wissen viel über die Dynamik der Entscheidungsprozesse in der EU.

Was bedeutet diese wachsende Relevanz der Informationen durch elektroni- sche Kommunikationsmittel für die Betroffenen vor Ort für die humanitäre Arbeit? In Regionen, in denen wir für die nahe Zukunft Konflikte erwarten, haben wir früher Medikamentendepots errichtet. Darüber hinaus ist es jedoch heute besonders wichtig geworden, mobile Telefone und entspre- chende Ladegeräte verfügbar zu machen. Sie sind zu einem humanitären Gut geworden. Die Leute wollen sich informieren können, wie sich der Konflikt entwickelt, und sie wollen den Kontakt zu ihren Verwandten und Freunden halten oder wiederherstellen. In diesem Sinne hat sich die kommunikative Landschaft in einem Konflikt massiv verschoben.

Wenn mobile Telefone zu einem humanitären Gut geworden sind, hat sich mit diesen veränderten Bedürfnissen auch die «Kriegsökonomie» angepasst? In der Tat gibt es ganz viele Konflikte, wo parallel zu intensiven militä- rischen Auseinandersetzungen auch eine Kriegsökonomie funktioniert.

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Sie deckt durchaus gewisse Grundbedürfnisse der Bevölkerung. Zu ho- hen, für viele zu hohen Preisen. Das ist sehr ungerecht.

Heute spielen sich Konflikte in einem grösseren Umfang in Städten ab als frü- her. Macht diese Urbanisierung des Konflikts Ihre Arbeit leichter, weil der hu- manitäre Zugang dadurch einfacher ist? Nein, die Urbanisierung des Krieges macht die Arbeit des IKRK kom- plexer. In Städten ist die Verletzlichkeit der Infrastruktur grösser als auf dem Land. Die indirekten Folgen der Kriegsführung sind erheb- lich grösser als die direkten. Wenn beispielsweise ein Elektrizitätswerk am Rande einer Stadt bombardiert wird, gibt es für die Bevölkerung keinen Zugang zu Kommunikation mehr. Doch nicht nur das. Denn ohne Strom hören auch die Wasser- «Menschen sterben pumpen auf, Wasser zu pumpen. Im nicht aufgrund direkter Spital gibt es keine Elektrizität für Kriegshandlungen, den Operationssaal mehr, und dann sondern weil sie an suchen wir Benzin für den Genera- den Verletzlichkeiten tor. Nach zwei oder drei Wochen gibt städtischer es auch kein Benzin mehr. Also ver- Infrastruktur leiden.» sucht man, das Elektrizitätswerk pro- visorisch zu reparieren. Damit er- reicht man vielleicht wieder 80 Prozent der Leistung. Zwei Wochen später wird das Elektrizitätswerk wieder bombardiert. Danach gelingt es vielleicht noch einmal, das Elektrizitätswerk auf 40 Prozent seiner Leistung zu bringen. Das reicht aber nicht, um wichtige Grundbedürf- nisse abzudecken. Und dann geraten Menschen in Not oder sterben – nicht aufgrund direkter Kriegshandlungen, sondern weil sie an den Verletzlichkeiten städtischer Infrastruktur leiden, zum Beispiel, weil im Spital keine Dia- lysegeräte mehr betrieben werden können oder weil eine Blinddarmope- rationen nicht mehr möglich ist. Diese nachhaltige Schwächung städ- tischer Infrastruktur erschwert die humanitäre Arbeit erheblich. Die Urbanisierung des Krieges hat zudem auch zur Folge, dass Grundre- geln des humanitären Völkerrechtes fast nicht mehr eingehalten werden. Eine Kriegspartei bombardiert eine Kaserne, aber sie bombardiert sie so heftig, dass die umliegenden Häuser auch einstürzen, sodass Zivilisten unmittelbar betroffen sind.

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Gibt es eine politische Diskussion über dieses Spannungsfeld von Genfer Kon- vention und urbaner Kriegsführung? Die Essenz des humanitären Völkerrechtes ist eine vorsichtige Abwä- gung von militärischen Notwendigkeiten und Schutz der Bevölkerung. Nicht jeder kollaterale Schaden ist eine Verletzung des humanitären Völkerrechtes. Aber die Abwägung zwischen humanitärem Völkerecht und militärischen Erfordernissen muss angesichts der urbanen Kriegs- schauplätze heute anders erfolgen als früher. Dieses Thema nehmen wir deshalb immer wieder mit den Kriegs- parteien auf. Wir rufen ihnen ständig in Erinnerung, dass die Prinzipien und Regeln der Genfer Konvention ihre Gültigkeit behalten. Wenn in Anbetracht der oft zur Verfügung stehenden Feuerkraft und der Takti- ken urbaner Kriegsführung die Zivilbevölkerung nicht rechtzeitig ge- warnt wird, dann werden humanitäre Prinzipien verletzt. Das Gebot der Verhältnismässigkeit besagt, dass militärische Gewalt nur proportional zum militärischen Gewinn, welcher erhofft werden kann, angewendet werden darf. Zugleich muss maximale Sorge getragen werden, militä- rische und zivile Infrastrukturen voneinander zu unterscheiden. Ange- wendet auf die urbane Kriegsführung müsste dies eigentlich oft heissen, dass Wohnquartiere nicht bombardiert werden dürfen.

Sehen Sie konkrete Erfolge dieser Sensibilisierung der Konfliktparteien? Ich denke, wir machen in dieser Hinsicht durchaus Fortschritte. Die Nato führt etwa in Afghanistan heute anders Krieg als vor zehn Jahren, auch wegen des regelmässigen Austauschs zwischen dem IKRK und der westlichen Militärallianz. Das humanitäre Recht kann auch im heutigen schwierigen Kontext angewendet werden. Dies erfordert jedoch mehr als je zuvor diesen Raum der Vertraulichkeit und des Austausches zwischen uns und führenden Akteuren, die verantwortlich sind für die taktischen Entscheide in der militärischen Kriegsführung.

Braucht es auch neue oder angepasste Regeln? Ich will nicht ausschliessen, dass wir vielleicht auch andere Regeln brau- chen. Ich äussere mich jedoch sehr vorsichtig, welche Form andere Re- geln haben könnten. Ich glaube, wir brauchen keine fünfte oder sechste Genfer Konvention oder ein viertes oder fünftes Zusatzprotokoll. Die Frage stellt sich vielmehr: Können sich heute die Staatenwelt und das

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IKRK zumindest in der Interpretation der generellen Prinzipien und Re- geln auf gewisse Kriterien einigen, sodass die Schutzbedürfnisse der Zi- vilbevölkerung in der Kriegführung einen grösseren Raum einnehmen?

Können Sie dafür ein Beispiel nennen? Das IKRK versucht, über den Dialog mit Streitkräften und nicht-staat- lichen Akteuren in einem Konflikt zu erreichen, dass die Möglichkeiten des Schutzes der Zivilbevölkerung besser einbezogen werden. Wir ha- ben festgestellt, dass eine Beerdigung einer Ehrenperson in einem Dorf in Afghanistan auf einem Überwachungsbildschirm leicht mit der For- mation eines militärischen Verbandes verwechselt werden kann. Inzwi- schen ist es gelungen, solche Fehlinterpretationen zu vermeiden, indem die Möglichkeit eines Bestattungsrituals in die Checkliste der Militärs bei Drohnenangriffen aufgenommen wurde. Ferner konnten während der Luftkriegsführung im Gaza-Streifen, aber auch in Afghanistan und im Irak Leben geschützt werden, indem vor Bombardierungen Warnungen an die Zivilbevölkerung abgegeben wurden. Das ist nicht perfekt, das beendet nicht den Krieg, aber es hilft, die humanitären Auswirkungen von Kampfhandlungen zu begrenzen. Wenn dies noch besser gelänge, auch und vor allem in Syrien, gäbe es weit weniger Zerstörung und auch weniger Vertriebene. Die pragmati- sche Kraft des humanitären Völkerrechtes konsequent anzuwenden, hat auch in den heutigen Konflikten grösste Bedeutung.

Die Arbeit des IKRK basiert ganz wesentlich auf dem Prinzip der Unpartei- lichkeit. Andererseits sind Menschenrechtsverletzungen durch Kriegsparteien oft an der Tagesordnung und werden von manchen humanitären Organisa- tionen angeprangert. Wie gehen Sie mit diesem Spannungsverhältnis um? Als Hüter der Genfer Konventionen sind wir als IKRK primär auf die Anwendung der Genfer Konventionen, also des humanitären Völ- kerrechtes, bedacht. Obgleich wir uns um die Einhaltung der Men- schenrechte sorgen, sind wir nicht der erste Ansprechpartner, um diese durchzusetzen. Fragen der Meinungsfreiheit oder der Freiheit der Re- ligionsausübung stehen für uns nicht zuoberst auf der Tagesordnung. Wenn wir hingegen feststellen, dass Menschenrechte in einem Ausmass verletzt werden, wie dies auch unter den besonderen Bedingungen des Krieges nicht akzeptabel erscheint und daher auch der Kernbereich des

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humanitären Völkerrechts betroffen ist, dann machen wir dies zum Be- standteil unseres vertraulichen Dialogs mit den Kriegsparteien.

Sie setzen also bewusst auf Vertraulichkeit und nicht auf die Mobilisierung der Öffentlichkeit. Wir möchten auf diese Art Räume dafür schaffen, um die Lage zu verbessern und um die extremsten Auswirkungen von Krieg und Ge- walt zu reduzieren. Wir sind dabei also in der Logik der Verhinderung des Schlimmsten. Dies bedeutet, die Durchsetzungsmöglichkeiten der Menschenrechte unter den Bedingungen von bewaffnetem Konflikt und Krieg pragmatisch einzuschätzen. Es bleibt also ein Spannungsfeld zwischen neutralen, unabhängigen und unparteilichen Aktivitäten ei- «Es bleibt nützlich, eine nerseits, und dem Schweigen, das klare Trennung von wir manchmal hinsichtlich Anlie- humanitärer und einer gen wie der Verbesserung der Ein- breiteren politischen Logik haltung der Menschenrechte an beizubehalten.» den Tag legen, andererseits. Aber Schweigen ist oft die Voraussetzung dafür, um überhaupt im Sinne un- seres Auftrages in Kriegs- und Konfliktsituationen aktiv sein zu können. Mit anderen Worten: Es bleibt nützlich, eine klare Trennung von hu- manitärer und einer breiteren politischen Logik beizubehalten. Bei der humanitären Logik geht es um die Milderung der schlimmsten Auswir- kungen von Gewalt und Krieg. Bei der politischen Logik geht es hinge- gen um Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten von Menschen in ihren Gesellschaften. Wenn wir neutral, unabhängig und unparteilich glaubwürdig handeln, dann tragen wir bei zur minimalen Stabilisierung von Gesellschaften. Und diese minimale Stabilisierung von Gesellschaf- ten ist meistens die Voraussetzung dafür, dass überhaupt um weiter ge- hende Ziele in Gesellschaften gerungen werden kann. Das IKRK sieht sich als Vorbereiter von weitergehenden gesellschaftlichen Entwicklun- gen, aber wir äussern uns nicht über den konkreten Gehalt, weil wir sonst die Möglichkeit verlieren, unabhängig und unparteilich zu sein.

Wie wichtig ist die Schweizer Neutralität in der Aussenpolitik für Ihre Arbeit? Die Schweiz definiert ihre Neutralität selbst. Das IKRK hat sein ei- genes Verständnis von Neutralität. Was bei beiden gemeinsam ist, ist

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letztlich der instrumentelle Charakter der Neutralität. Die Schweiz ist ein Land mit Interessen, und die Neutralität ist ein Instrument, welches einen grossen Konsens in diesem Lande geniesst, um Interessen wahr- zunehmen. Auch für das IKRK ist Neutralität kein Selbstzweck. Un- sere Neutralität soll es uns vielmehr ermöglichen, humanitäre Räume zu schaffen und unsere humanitären Dienstleistungen im Sinne der Hilfe und des Schutzes von Bevölkerungen zu realisieren. 150 Jahre Erfah- rung zeigen: Wirksame und gute humanitäre Arbeit kann nur geleistet werden, wenn wir neutral, unabhängig und unparteilich sind und auch so wahrgenommen werden.

Kommen wir konkret zum Syrien-Konflikt. Wie schätzen Sie die Lage dort ein und wie stellt sich die Arbeit des IKRK im Moment vor Ort dar? Der syrische Konflikt ist charakteristisch für die heutigen Konflikte. Wir haben seine Eigenschaften vorhin erwähnt: die Hyperfragmen- tierung von Akteuren, die Desintegration der Konfliktlandschaft, die direkten und indirekten Auswirkungen der Kriegsführung, hohe Feu- erkraft bei grosser Verwundbarkeit und extreme Politisierung, nicht nur im Lande selber, sondern regional und global. Es handelt sich also um einen Konflikt, der jeden Tag in Moskau, in Washington, bei den ständigen Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrates sowie bei regionalen Mächten auf der Agenda ist. Der Konflikt hat strukturelle Auswirkun- gen und nicht nur punktuelle. In Syrien sehen wir ein Charakteristikum der heutigen Konflikte besonders deutlich: Geheime Kriegsoperationen werden besonders aus- giebig betrieben. Es treten also nicht nur offen erkennbare staatliche und nicht-staatliche Akteure auf, sondern auch staatliche Akteure, die mit ihren Spezialkräften tätig sind, und nicht-staatliche Akteure, wel- che sich wie Staaten benehmen. Der so genannte «Islamische Staat» (IS) ist ja eigentlich eine nicht-staatliche Gruppierung, welche den An- spruch eines Staates erhebt und folglich zunehmend staatliche Aufga- ben wahrnimmt. Der IS kümmert sich um die soziale Infrastruktur und um Dienstleistungen für die Bevölkerung, er will Ruhe und Ordnung aufrechterhalten. Der IS ist also keine traditionelle Befreiungsorgani- sation, die das Ziel hat, die Macht zu erobern. Der IS ist eine Bewe- gung, die jeden Quadratmeter des von ihm kontrollierten Territoriums wie ein Staat verwaltet.

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Der IS nennt sich zwar Staat, zugleich aber auch Kalifat. Er wird wohl kaum demnächst die UNO-Mitgliedschaft beantragen ... Ja, eben, daran sehen Sie die Rollenverschiebungen. Staaten sind nicht notwendigerweise mit ihren Armeen, sondern mit Spezialkräften, de- ren Konfliktpräsenz sie bestreiten, in Konflikten involviert. Umgekehrt gibt es nicht-staatliche Akteure, welche sich Staaten nennen und einen Anspruch erheben, öffentliche Räume zu kontrollieren und eine öffent- liche Gewalt zu repräsentieren.

Hat diese Entwicklung auch Folgen für das IKRK als humanitären Akteur? Obwohl sich die Rollen der Akteure verändern und es oft auch viel mehr Konfliktparteien gibt als früher, bleibt es bei der Grundannahme des IKRK: Humanitäre Arbeit muss letztlich konsensuelle Arbeit sein. Sie geschieht mit dem Einverständnis aller Konfliktparteien, oder sie ge- schieht eben nicht.

Welche Chancen räumen Sie den hier in Genf stattfindenden diplomatischen Bemühungen um eine Beilegung des syrischen Konflikts ein? «Chancen» ist ein schwieriges Wort. Hoffnungen habe ich grosse, Er- wartungen weniger grosse. Aus meiner langjährigen Tätigkeit bei der UNO kenne ich viele der beteiligten Akteure gut. Ich schätze deren Fä- higkeit ausserordentlich hoch ein, aber der Verhandlungsgegenstand ist sehr komplex und schwierig. Wenn ich jetzt ein bisschen spekuliere: Für mich gibt es eine hoffnungsvolle Perspektive, und eine eher skeptische.

Woraus schöpfen Sie Hoffnung? Ich habe in den letzten Monaten sowohl bei Besuchen in Syrien selbst als auch in Hauptstädten, welche involviert sind in diesen Konflikt, den Eindruck gewonnen, dass die Sensibilisierung für die ausserordentlich grossen Kosten dieses Konfliktes gewachsen ist. Ich glaube, zunehmend setzt sich die Einsicht durch, dass das Geschehen in Syrien das Potenzial hat, die internationalen Beziehungen so fundamental zu zerrütten, dass dies nicht länger im Interesse jener Mächte sein kann, die bisher letzt- lich diesen Konflikt durch ihre unversöhnlichen Positionen am Leben gehalten haben. Ich hoffe natürlich, dass diese Einsicht weiter wächst und sie zu Kompromissbereitschaft am Verhandlungstisch führt, so- wohl bei den lokalen und regionalen wie auch bei den globalen Akteu-

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ren. Den grössten Fortschritt haben die USA und Russland gemacht. Sie haben beide signalisiert, dass sie über dieses Thema sprechen können und Fortschritte wollen.

Und die skeptischere Sicht? Ich weiss aus den Erfahrungen meiner eigenen diplomatischen Tätig- keit, wie viel es braucht, um ein Ergebnis zu erzielen. Jenseits der Stra- sse, an der wir dieses Interview heute in Genf führen, gibt es zwar einen Raum und einen Tisch. Aber es besteht keine Einigung, wer rund um den Tisch Platz nehmen soll, und es besteht keine Einigung darüber, was auf dem Tisch verhandelt werden soll. Wir sind also noch sehr weit entfernt von einer friedlichen Lösung, die auch wirklich nachhaltig wäre.

Welche Sicht ist realistischer, die pessimistische oder die optimistischere? Hoffnung bereitet mir, dass es in Syrien bei allen Konfliktparteien Leute gibt – das konnte ich bei Gesprächen vor Ort erfahren – die einsehen, dass dieser Krieg militärisch nicht gewonnen werden kann und die Kos- ten für das Land einfach zu hoch sind. «Es scheint immer Andererseits scheint es immer noch noch genügend Akteure genügend Akteure zu geben, welche zu geben, welche an an den militärischen Sieg glauben. den militärischen Sieg Fortschritt wird erst möglich werden, glauben.» wenn sich die erstere Position durch- setzt vor Ort in Syrien, aber auch in der internationalen Gemeinschaft. Es gibt Anzeichen, es gibt positive Dynamiken, aber das reicht letztlich noch nicht.

Ein Akteur, der im Syrien-Konflikt eine wesentliche Rolle spielt, sind die USA. Präsident Obama würde sicherlich seine zweite Amtszeit gerne mit einem di- plomatischen Erfolg punkto Syrien beenden. Wenn er es nicht schafft, stellt sich die Frage: Was macht der nächste Präsident, die nächste Präsidentin? Was hätten Sie da für Erwartungen? Die USA und Russland haben seit dem Sommer 2015 zunehmend ei- nen Gesprächsfaden zu Syrien gefunden. Dadurch wurden gewisse Fort- schritte möglich. Ich würde erwarten, dass diese Anstrengungen in den USA fortgesetzt werden. Wir wissen aber auch: Syrien wird nicht durch einen einzigen Akteur zur Lösung kommen, sondern es braucht eine kri-

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tische Masse lokaler Akteure, mindestens sieben regionale Akteure und mindestens zwei globale Akteure, welche letztlich zum Schluss kom- men müssen, dass die militärische Lösung zu teuer ist und daher über längere Frist nicht ihren Interessen entspricht.

Für die nächste Zeit müssen wir wohl erstmal davon ausgehen, dass es noch viele Flüchtlingsbewegungen aus Syrien heraus geben wird. Dies betrifft nicht nur Syrien. Wenn ich die 15, 20 grossen Konflikte betrachte, welche 90 Prozent des Budgets des IRKR absorbieren, dann sehe ich praktisch in keinem dieser Konflikte eine schnelle Lösung. Das lässt mich vermuten, dass Ihre Annahme richtig ist: Vertreibung durch Gewalt und Krieg ist ein Problem, mit dem wir noch ziemlich lange konfrontiert sein werden. Daher bleibt die Stabilisierung von Gesell- schaften in Konflikten eine wichtige humanitäre Aufgabe. Wir hoffen, dass die humanitäre Arbeit dazu beiträgt, dass die von Konflikt betrof- fenen Menschen den Entscheid fällen, ihr Leben vor Ort weiterzufüh- ren. Das werden sie aber nicht tun, wenn das Leben ihnen an ihrem Ort nicht mehr als lebenswert erscheint.

In westlichen Diskussionen verschwimmt oft die Unterscheidung zwischen tat- sächlichen Kriegsflüchtlingen und eher wirtschaftlich motivierten Migranten. Wie sehen Sie diese Unterscheidung aus Sicht des IRKR? Die Vermischung der Begrifflichkeiten beschäftigt uns beim IKRK -au sserordentlich. Ich muss Ihnen sagen, ich verstehe immer noch nicht ge- nau, wie in den letzten zwölf Monaten in die internationale Politik eine so grosse Konfusion in der Begrifflichkeit rund um die Themen -Mig ration, Flucht und Vertreibung entstehen konnte. Das kann auf Unwis- sen beruhen, das kann aber auch eine kommunikative Strategie sein, um Unsicherheit zu schaffen. Eigentlich sind die Begriffe klar definiert: Es gibt Flüchtlinge; die haben ein Schutzrecht. Es gibt interne Vertriebene; die stehen unter einem leicht anderen Schutzregime. Und es gibt Mig- ranten. Es ist nicht immer leicht, diese drei Kategorien voneinander zu trennen. Wir müssen in der internationalen Gemeinschaft die Kriterien weiter verfeinern, um ein Einverständnis zu haben, wer in welche Ka- tegorie fällt und wie man dies abklärt. Aber wie es geschehen konnte, dass heute jeder, der von A nach B fährt, ein Migrant ist, ist für mich doch schleierhaft.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 148 INTERVIEW

Diese Vermischung hilft auch den Schutzbedürften nicht … Genau. Zuerst bläht es alle Zahlen auf. Wenn alle, die von A nach B gehen, Migranten sind, haben wir ein riesiges Problem, wenn Migra- tion ein Problem ist. Wenn wir aber nur die Schutzbedürftigkeit anse- hen und versuchen, pragmatische Lösungen zu finden, ist das Problem beherrschbar. Mir bereitet es Sorge, dass gerade in Europa im Zuge des letzten Sommers diese Begrifflichkeiten so stark ins Rutschen -ge raten sind und dadurch mehr Unklarheit herrscht, als eigentlich nötig wäre. Wir wissen alle, dass es heute gemischte Bevölkerungsbewegun- gen gibt. Wir wissen alle, dass es zirkuläre Migration gibt. Wir wissen alle, dass diese Phänomene komplex sind. Aber es ist mitnichten ein Grund, jetzt eine diffuse Begrifflichkeit zu schaffen, welche so grosse Unklarheit darüber entstehen lässt, wer Schutz braucht und was ver- nünftige Schutzanliegen sind. Das beschäftigt mich wirklich. Ich hoffe, dass bald eine Beruhigung eintritt und ein bisschen mehr Differenziert- heit ins Gespräch kommt.

Die Flüchtlingsbewegungen nach Europa sind also Ihrer Ansicht nach be- herrschbar und kein unlösbares Problem? Die Zahlen finde ich immer eindrücklich in Erinnerung zu rufen: Es gibt rund 60 Millionen Menschen, die relativ klar den Anspruch erhe- ben können, durch kriegerische Ereignisse vertrieben worden zu sein. Vielleicht sind es 60, vielleicht 62, vielleicht 58. Von diesen rund 60 Millionen leben etwas über 40 Millionen Menschen noch immer in den Ländern, in welchen Krieg herrscht. Nur etwa 20 Millionen sind recht- lich gesehen Flüchtlinge, das heisst, sie haben eine Grenze überschrit- ten und sind aus dem Konfliktgebiet in ein Nachbarland geflohen oder noch weiter. Und nochmals viel weniger sind nach Europa gegangen.

Europa sollte diese Flüchtlinge aus Kriegsgebieten also problemlos aufnehmen können? Ich anerkenne, dass die Aufnahme von Flüchtlingen nicht leicht ist, wenn plötzlich auf 1000 Einheimische 20, 30, 50, 100 Flüchtlinge kom- men. Wenn plötzlich mehr Leute im Dorf sind, hat der Arzt mehr zu tun und kann nicht alle gleichzeitig versorgen. Das kreiert Probleme und Ängste. Ihnen zu begegnen, erfordert komplizierte Verfahren, Prozesse, Hilfsleistung und Unterstützung.

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Auch in den Kriegsgebieten selbst stellen wir fest, dass es Spannun- gen zwischen den Ansässigen und den intern Vertriebenen gibt. Diese ähneln in vielerlei Hinsicht den Spannungen zwischen der schweizeri- schen Bevölkerung und der Flüchtlingsbevölkerung. In anderen euro- päischen Ländern wie Deutschland oder Frankreich ist es ähnlich. Es ist immer das gleiche Phänomen: Wenn Sie ein Verwandter über das Wochenende besucht, ist das eine gute Sache. Wenn der Verwandte dann aber zwei oder drei Wochen bleibt, dann findet man, er könne ei- gentlich jetzt bald wieder gehen. Dann wird’s eng im Badezimmer und in der Küche. Ich will damit sagen: Ich habe Verständnis dafür, dass es nicht leicht ist. Und trotzdem muss ich, als ein Repräsentant einer humanitären Or- ganisation, welche global tätig ist, immer auch die globale Perspektive in Erinnerung rufen. Der grösste Teil jener, welche durch Gewalt und Flucht vertrieben worden sind, lebt heute bei Verwandten oder Freunden im eigenen Land oder im Nachbarland. Trotz wesentlich schwächeren Infrastrukturen als in Europa sind dies ungeachtet aller Probleme Soli- dargemeinschaften. Es ist unsere Aufgabe als humanitäre Organisation, diese Gemeinschaften vor Ort in den Konfliktgebieten zu unterstützen.

Das Gespräch führten Christian Nünlist und Oliver Thränert am 17. August 2016 am Sitz des IKRK in Genf.

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AUS DEM CSS

FORSCHUNGS- UND BERATUNGSLEISTUNGEN FÜR DIE ARMEE IM BEREICH CYBERDEFENSE

Von Myriam Dunn Cavelty und Andreas Wenger

Cybervorfälle mit unangenehmen Konsequenzen für einzelne Firmen oder Regierungseinheiten sind weltweit keine Seltenheit mehr. Viele der Cyberattacken sind ausgetüftelter, kostspieliger und gravierender als frü- her. Eine wichtige Ursache für diese Entwicklung ist die Professionali- sierung der Angreifer. Hinzu kommen die anhaltende Digitalisierung und die wachsende Verwundbarkeit der Informationsinfrastrukturen. Seit einigen Jahren ist bekannt, dass auch staatliche Akteure ver- mehrt in Cyberaktivitäten strategischer Natur verwickelt sind. Diese Tä- tigkeiten reichen von Spionage mittels ausgeklügelter Schadsoftware für politische und wirtschaftliche Zwecke über die Entwicklung von «Cy- berwaffen» bis hin zu koordinierten Störaktionen «gegnerischer» Web- dienste. Meistens können die entsprechenden Akteure ihre Urheber- schaft verbergen, weil die Involvierung von Staaten oder patriotischen Hackergruppen in Cyberangriffe schwer nachweisbar ist. Aufgrund der globalen Natur des Cyberraums ist kein Staat vor die- sen Entwicklungen gefeit. Es stellt sich daher auch für die Schweiz die Frage, welche strategischen Entscheide in Bezug auf Verteidigungskon- zepte, aber auch auf Angriffsmöglichkeiten zum Beispiel in Kriegszeiten gefällt und welche Arten von Kapazitäten aufgebaut werden sollen. Vor allem: Wie soll die Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen und Wirtschaft und gegebenenfalls der Zivilgesellschaft strukturiert werden?

CYBERSICHERHEIT IN DER SCHWEIZ Die Schweiz hat seit 2012 eine nationale Cyberstrategie: die Nationale Strategie zum Schutz der Schweiz vor Cyberrisiken, kurz «NCS» ge- nannt.1 Damit will der Bundesrat in Zusammenarbeit mit anderen Be-

1 Bundesrat, Nationale Strategie zum Schutz der Schweiz vor Cyberrisiken (NCS), Bern, 27.6.2012; Eidgenössisches Finanzdepartement, Umsetzungsplan NCS, Bern, 15.5.2013.

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hörden, den Betreibern kritischer Infrastrukturen und der Wirtschaft die Cyberrisiken für die Schweiz minimieren. Die Strategie soll hel- fen, folgende Ziele zu erreichen: 1) Bedrohungen und Gefahren im Cyberbereich frühzeitig zu erkennen; 2) die Widerstandsfähigkeit von kritischen Infrastrukturen, inklusive der Verwaltungen, zu steigern; 3) Cyberspionage, Cybersabotage und Cyberkriminalität wirkungsvoll zu reduzieren. Dabei schliesst die NCS den Kriegs- und Konfliktfall explizit aus. Für die Armee wird darin aber ein Teilauftrag formuliert: Sie soll die eigene Einsatzfähigkeit und Handlungsfreiheit über alle Lagen perma- nent gewährleisten können. Dazu gehören in erster Linie effektive Mass- nahmen zugunsten der eigenen Die Schweizer Cyberstrategie Informations- und Kommuni- schliesst den Kriegs- und kationstechnologie (IKT)-Sys- Konfliktfall explizit aus. teme und -Infrastruktur. Da- rüber hinaus definieren die Strategie und der dazugehörige Umsetzungsplan zwei weitere Aufga- ben für die Armee: Erstens erwarten die zivilen Behörden subsidiäre Hilfeleistungen zum Schutz kritischer Infrastrukturen. Zweitens soll die Armee in einem Konflikt- und Kriegsfall die Führung in der Krise mit ausfallsresistenten Infrastrukturen sicherstellen. Einerseits stellen damit zielführende Operationen im Cyberraum, um militärischen Gegnern die Nutzung des Cyberraums zu erschweren oder gar zu verwehren, eine zwingende Fähigkeit der Armee dar. Andererseits soll die Armee, ähnlich wie die Rettungstruppen, Leistungen zuguns- ten der Wirtschaft und Gesellschaft erbringen, wobei diese Leistungen sicherheitspolitisch bisher unpräzis formuliert sind. Damit ein spezifisch auf die Schweiz zugeschnittenes Cyberdefense-Konzept (Cyberverteidi- gungskonzept) erarbeitet werden kann, hat der Chef der Armee einen Delegierten Cyberdefence der Armee per Anfang 2013 ernannt.

CYBERSICHERHEITSFORSCHUNG AM CSS Seit rund 20 Jahren beobachtet das Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich nationale und internationale sicherheitspolitische Ent- wicklungen im Bereich der Cybersicherheit. Es hat eine Vielzahl von wissenschaftlichen und praxisorientierten Studien in diesem Fachge-

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK FORSCHUNGS- UND BERATUNGSLEISTUNGEN IM BEREICH CYBERDEFENSE FÜR DIE ARMEE 155

biet publiziert.2 Ebenso hat das CSS Workshops und Konferenzen or- ganisiert, an denen sich nationale und internationale Fachexperten ge- winnbringend über Cyberthemen ausgetauscht haben.3 Das CSS hat sich dadurch als sicherheitspolitisches Kompetenzzentrum mit Exper- tise im Bereich Schutz kritischer Informationsinfrastrukturen und Cy- bersicherheit national und international etabliert und ein ausgedehntes Expertennetzwerk in zahlreichen Ländern aufgebaut. Aufgrund dieser Expertise haben der Führungsstab der Schweizer Armee, die Führungsunterstützungsbasis der Armee und das CSS be- schlossen, eine längerfristige Zusammenarbeit spezifisch für den Be- reich der Cyberverteidigung aufzubauen. Durch eine Serie von Unter- stützungsleistungen in den nächsten vier Jahren wird das CSS dazu beitragen, dass die Armee die in der NCS-Strategie formulierten Ziele erreichen kann. Dabei wird es sich um Unterstützung vor allem bei der Bearbeitung von spezifischen sozialwissenschaftlichen, sicherheits- und verteidigungspolitischen und risikorelevanten Fragestellungen sowie bei der Ausarbeitung von damit zusammenhängenden Ausbildungs- und Übungsinhalten handeln. Ein zentraler Punkt wird sein, gewonnenes Wissen mittels geeigneter Ausbildungssequenzen bei den relevanten Entscheidungsträgern und Interessenvertretern zu verankern.

DIE ZUSAMMENARBEIT Um ihre Einsatzfähigkeit und Handlungsfreiheit jederzeit und über alle Lagen sicherzustellen, will die Schweizer Armee permanent Cyberbe- drohungen erkennen, sich vor Angriffen schützen und diese abwehren können. Zu diesem Zweck muss die Armee neben Führungs-, Präventi- ons- und Reaktionsfähigkeiten auch über Antizipationsfähigkeiten ver- fügen: Entwicklungstendenzen, Bedrohungen und Verwundbarkeiten im Cyberraum sollen frühzeitig erkannt werden. Die Zusammenarbeit zwischen Führungsstab und CSS umfasst Produkte in fünf Bereichen, die diesen Fähigkeiten dienen werden:

2 Thierry Balzacq / Myriam Dunn Cavelty, «A Theory of Actor-network for Cyber-security», in: European Journal of International Security Nr. 1/2 (2016), 176 – 198; Myriam Dunn Cavelty, Cybersecurity in Switzerland, Springer Brief (Berlin: Springer, 2014); dies., «A Resilient Eu- rope for an Open, Safe, and Secure Cyberspace», in: UI Occasional Papers Nr. 23 (2013). 3 CSS Evening Talk, Brauchen wir eine Cyber Grand Strategy?, ETH Zürich, 9.6.2016.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 156 AUS DEM CSS

Allgemeine und sektorielle Trendanalysen: Aktuelle und relevante si- cherheits- und militärpolitische Themen im Cyberraum werden syste- matisch aufgearbeitet und in thematischen Trendanalysen festgehalten und bewertet. Themen umfassen etwa die Entwicklungen und Kon- zeptionen von Cyberwaffen, Fragen von internationalen Normen und ihren Auswirkungen, technologische Entwicklungen allgemein sowie Entwicklungen der nachrichtendienstlichen Kultur. Hot-Spot-Analysen: In Fallstudien sollen sicherheitspolitisch und mi- litärisch relevante Cyberoperationen zusammengestellt werden, unter be- sonderer Berücksichtigung der involvierten Akteure, verwendeten Me- thoden und unterschiedlichen Auswirkungen (politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich, technologisch). Diese Fallstudien werden in einem zwei- ten Schritt analytisch ausgewertet, sodass Trends in Bezug auf Akteure, Angriffsmotive und Abwehrmassnahmen identifiziert werden können. Best-Practice-Analysen: Eine Übersicht über militärische Cyberde- fence-Dispositive und -Strategien soll erarbeitet werden. Diese Dispo- sitive und Strategien werden anschliessend nach einheitlichen Kriterien ausgewertet, sodass ein Vergleich bezüglich Best Practices stattfinden kann. Berichte zu Sensibilisierung und Ausbildung: Es werden Unterstüt- zungsleistungen für die Ausbildung und Sensibilisierung im Bereich der militärischen Massnahmen im Cyberraum ausgeführt. In einem ersten Schritt werden zwei Berichte verfasst: 1) ein Bericht über existie- rende Sensibilisierungs- und Ausbildungskampagnen, unter Berücksich- tigung der Form und der Effektivität dieser Kampagnen; 2) ein Bericht über existierende Cyberszenarien und War Games, unter Berücksichti- gung der Inhalte und der verwendeten Methoden. Die Resultate dieser Berichte unterstützen die Erarbeitung relevanter und stufengerechter Ausbildungsinhalte und Szenarien für die Armee. Dialog: Alle erarbeiteten Resultate dieser vier Teilaufträge werden in Seminaren und Workshops mit der Armee und weiteren relevanten Ex- perten diskutiert, um einen optimalen Wissenstransfer sicherzustellen.

Die erarbeiteten Produkte werden der breiten Öffentlichkeit über die CSS-Webseite zur Verfügung stehen. Sie werden alle auf der Basis von öffentlich zugänglichen Informationen und von selbst durchgeführten Interviews gemäss wissenschaftlichen Recherchekriterien erstellt.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK KOOPERATION MIT DEM LABOR SPIEZ: RISIKEN AUS DER KONVERGENZ VON BIOLOGIE UND CHEMIE

Von Claudia Otto

Das «Jahrhundert der Biologie» ist noch jung, dennoch hat es aufgrund rasanter technologischer Entwicklungen schon viel Aufmerksamkeit be- kommen. Ein bekanntes Beispiel ist die komplette Sequenzierung des menschlichen Genoms im Human Genome-Projekt.1 Auch die Entde- ckung der bakteriellen Immunabwehr, Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats genannt (kurz: CRISPR/Cas9), macht neuer- dings über die Fachzeitschriften hinaus Schlagzeilen. Sie wird für ein mittlerweile weitverbreitetes Verfahren der gezielten Genmodifikation genutzt.2 Mit der CRISPR/Cas9-Technologie können mit einfachs- ten Mitteln schnelle, gezielte und effiziente Veränderungen im Erbgut von Mensch, Tier, Pflanze und Mikroorganismus hervorgerufen wer- den. Überdies können enorme Durchbrüche bei der Erforschung und Therapie von menschlichen Erbkrankheiten erzielt werden. Die neue Technologie kann zudem in der Landwirtschaft dazu dienen, Ernteer- träge zu steigern oder Nutzpflanzen gegenüber Krankheitserregern re- sistent zu machen. Auch können herkömmliche Bakterien für die Be- seitigung von Umweltgiften modifiziert werden. Von einer Fortsetzung oder gar Beschleunigung dieses technologischen Entwicklungstrends in den Lebenswissenschaften kann in den kommenden Jahren ausge- gangen werden. Diese Fortschritte werden vor allem durch die wachsende Konver- genz der Naturwissenschaften, insbesondere der Bio- und Chemiewis- senschaften, vorangetrieben. Konvergenz beschreibt die zunehmende Annäherung dieser vormals relativ strikt getrennten Disziplinen auf der Ebene theoretischen Wissens wie auch experimenteller Technologien. Dies schlägt sich beispielsweise in der Art und Weise nieder, wie be-

1 National Human Genome Research Institute, An Overview of the Human Genome Project, 11.5.2016. 2 Gen Suisse, CRISPR/Cas, www.gensuisse.ch.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 158 AUS DEM CSS

stimmte Chemikalien und Biomoleküle produziert und eingesetzt wer- den können. Ferner lassen sich mittels Verfahren und Methoden aus der synthetischen Biologie Synthesewege und Produktionszeiten entschei- dend vereinfachen, verkürzen und ökonomisch wie ökologisch sinnvol- ler gestalten. Doch wo Chancen sind, da bestehen auch Risiken. Eine Gefahr be- steht im möglichen militärischen Missbrauch. So könnte CRISPR/Cas9 für die Entwicklung neuer biologischer Kampfstoffe verwendet werden. Wissenschaftliche Forschung, die massgebliche Beiträge erbringt, wel- che für zivile, aber auch militärische Zwecke verwendbar scheinen, wird als «Dual Use Research of Concern» bezeichnet. CRISPR/Cas9 ist ein deutliches Beispiel dafür. Durch einen verantwortungsvollen Umgang mit neuen Technologien liessen sich diese Risiken eines Missbrauchs minimieren. Staatliche Programme mit dem Ziel eines militärischen Einsatzes von biologischen und chemischen Waffen müssen durch die vertragsgetreue Umsetzung der Biologie- und Chemiewaffenüberein- kommen (BWÜ und CWÜ) verhindert werden. Selbst falls neue militä- rische Anwendungsmöglichkeiten entstünden, müsste klar bleiben, dass diese nicht zu von den Konventionen verbotenen Zwecken genutzt wür- den. Ferner sind die Vertragsstaaten verpflichtet, die Konventionen in ihrem Hoheitsbereich umzusetzen, sodass nicht-staatliche Akteure wie Terroristen auch weiterhin keine chemischen oder biologischen Kampf- stoffe entwickeln oder gar einsetzen können. Wie dies am besten erreicht werden könnte, ist Thema eines Koope- rationsprojektes zwischen dem Labor Spiez und dem Center for Secu- rity Studies (CSS) der ETH Zürich. Das Labor Spiez ist das nationale Zentrum für ABC-Schutz in der Schweiz.3 Es befasst sich auf wissen- schaftlich-technischer Ebene mit den Gefährdungen durch atomare, biologische und chemische Ereignisse und deren möglichen Auswir- kungen und unterstützt die Aktivitäten der Schweiz in den Bereichen Rüstungskontrolle und friedenserhaltende Massnahmen auf nationaler und internationaler Ebene. Die Zusammenarbeit zwischen dem Labor Spiez und dem CSS beinhaltet die folgenden drei Elemente: die Orga- nisation und Durchführung der Konferenzreihe «Spiez Convergence»; Unterstützung beim Aufbau eines Netzwerkes ausgewiesener Labora-

3 Siehe Webseite Labor Spiez, www.labor-spiez.ch.

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torien zur Nutzung durch den UNO-Generalsekretär für die Analytik einer mutmasslichen Verwendung von biologischen Waffen; und Sensi- bilisierung zugunsten Forschender an Schweizer Hochschulen bezüglich der Dual-Use-Problematik.

NEUE TECHNOLOGIEN DURCH KONVERGENZ Im Mittelpunkt der Kollaboration zwischen dem Labor Spiez und dem CSS steht die Organisation und Durchführung der «Spiez Conver- gence», einer neuen Tagungsreihe, welche erstmalig 2014 stattfand.4 Spiez Convergence widmet sich der Konvergenz zwischen den Bio- und Chemiewissenschaften und ist insofern einzigartig, als hier internatio- nale Vertreter aus den Bereichen der Wissenschaft, der Industrie, und der Rüstungskontrolle und Sicherheitspolitik zusammenkommen. Er- klärtes Ziel der Arbeitstagungen ist die Identifizierung von aktuellen Entwicklungen aus Biologie und Chemie, welche zukünftig von Rele- vanz für die BWÜ und CWÜ sein könnten und daher weiterer Dis- kussion und Analysen bedürfen.5 Insofern ist Spiez Convergence ein schweizerischer Beitrag einer Wissenschafts- und Technologieüberprü- fung, welche hohe Bedeutung für die internationale Rüstungskontrolle hat. Die zweite Auflage der Spiez Convergence im September 2016 wurde unter anderem vom Generaldirektor der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), Botschafter Ahmet Üzümcü, er- öffnet. Die OPCW ist eine internationale Organisation, welche von den Vertragsstaaten des CWÜ gegründet wurde.6 Ihre Kernaufgabe besteht in der systematischen Verifikation des CWÜ, unter anderem der Über- wachung der Vernichtung deklarierter chemischer Waffen. 2013 wurde

4 , Spiez Convergence: Report on the First Workshop 6 – 9 October 2014, No- vember 2014. 5 BWÜ und CWÜ sind völkerrechtlich verbindliche Abrüstungs- und Nonproliferations- verträge, deren Ziel die weltweite Ächtung biologischer bzw. chemischer Waffen ist. Siehe Hintergrund und Vertragstext des BWÜ und Hintergrund und Vertragstext des CWÜ. 6 Siehe Webseite der OPCW, www.opcw.org. Vgl. auch das Interview mit OPCW-Generaldi- rektor Üzümcü: «Gegen jede Kultur der Straflosigkeit», in:Neue Zürcher Zeitung, 7.9.2016.

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der OPCW der Friedensnobelpreis für ihre beträchtlichen Leistungen bei der Vernichtung chemischer Waffen verliehen.7 Im wissenschaftlichen Teil des Programms der Spiez Convergence 2016 fanden sich Beiträge renommierter Wissenschaftler aus internati- onaler Forschung und Industrie zu CRISPR/Cas9, zur Synthese grosser Moleküle wie Kohlenhydrate und Proteine aus Nicht-Standardamino- säuren, 3D-Printing oder auch zur Bedeutung von «Big Data» für die Forschung an der Schnittstelle von Chemie und Biologie. Somit ergaben sich realistische Einschätzungen von möglichem Nutzen einerseits und Risikopotenzial neuer technologischer Trends andererseits, die aus der Konvergenz der Bio- und Chemiewissenschaften resultieren. Schliess- lich gingen die Teilnehmer der Frage nach, was die wissenschaftlich- technischen Fortschritte für die künftige Umsetzung von BWÜ und CWÜ bedeuten könnten. Der Konferenzbericht zur diesjährigen Spiez Convergence mit De- tails zu Programm und Diskussionsbeiträgen wird im November 2016 erscheinen. Die dritte Ausgabe der Spiez Convergence wird voraussicht- lich im September 2018 stattfinden.

DESIGNIERTE BIOLOGIELABORATORIEN FÜR UNO Im zweiten Schwerpunkt der Zusammenarbeit zwischen dem CSS und dem Labor Spiez geht es darum, ein Netzwerk ausgewiesener Labora- torien für die Analytik einer mutmasslichen Verwendung von biologi- schen Waffen aufzubauen. Das Projekt basiert auf dem Aufruf der UNO an ihre Mitgliedstaaten, Analyselaboratorien zu benennen, welche im Verdachtsfall des Einsatzes von chemischen oder biologischen Waffen Untersuchungen gemäss den Vorgaben des UNO-Generalsekretär-Me- chanismus (UNSGM) durchführen können.8 Der UNSGM wurde 1987 von der UNO-Generalversammlung initiiert und enthält das Mandat an den UNO-Generalsekretär, in einem solchen Verdachtsfall entspre- chende Untersuchungen einzuleiten. Hauptelemente des UNSGM sind die Richtlinien für die Durchführung der Untersuchungen sowie von den Mitgliedstaaten bereitgestellte Experten und Laboratorien. Als Vor-

7 Siehe Verleihung des Friedensnobelpreises 2013 an die OPCW, www.nobelprize.org. 8 Siehe www.un.org/disarmament/wmd/secretary-general-mechanism.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK KOOPERATION MIT DEM LABOR SPIEZ 161 bild für den Aufbau eines Labornetzwerkes für den Bereich der Biolo- gie gilt das Netzwerk der designierten Analyselaboratorien der OPCW, welches im Verdachtsfall des Einsatzes chemischer Waffen unter stren- gen Auflagen für Untersuchungen über den UNSGM zur Verfügung steht. Während einer Reihe von Experten-Tagungen werden die erforder- lichen Schritte diskutiert, welche für die Einrichtung eines international funktionierenden Biologieanalyselabor-Netzwerks von Bedeutung sind.9 Dabei sollen unter anderem die Aufgaben der designierten Labore ge- klärt werden und Gespräche stattfinden, wie die Labore diese Aufga- ben erfüllen können. Zudem sollen die erforderlichen Schritte festgelegt werden, damit ausgewählte Labore die internationalen Anforderungen erfüllen. Zugleich soll die wissenschaftliche und politische Akzeptanz der Analysen gewährleistet werden.

SENSIBILISIERUNG VON WISSENSCHAFTLERN IN DER SCHWEIZ Ein weiteres Thema für die Zusammenarbeit werden Sensibilisierungs- aktivitäten zugunsten von Wissenschaftlern in der Schweiz bezüglich der Dual-Use-Problematik in den Lebenswissenschaften und angren- zenden Disziplinen bilden. Neue Technologien aus den Lebenswissen- schaften bergen unvorhersehbare Sicherheitsrisiken für militärischen Missbrauch. Die Fähigkeit angehender Wissenschaftler, diese Risiken auch in ihrer eigenen Forschung kritisch zu beurteilen, ist entscheidend, um angesichts rasanter technologischer Entwicklungen die Forschungs- integrität gegenüber aufkommenden Sicherheitsbedenken zu bewahren. Unter anderem wird an der ETH als Sensibilisierungsmassnahme eine Lehrveranstaltung für Studierende der Lebenswissenschaften und an- grenzender Disziplinen im Rahmen des Programms «Science in Per- spective» und der «Critical Thinking»-Initiative angeboten. Im weiter- gehenden Sinne sollen aus den erworbenen Kenntnissen Konzepte für eine flächendeckende Sensibilisierung von Forschenden an Schweizer Universitäten erarbeitet werden.

9 Siehe UNSGM Designated Laboratories Workshop Report vom 9. – 11.11.2015 und 22. – 24.6.2016.

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Matthias Bieri ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Team «Schweize- rische und euroatlantische Sicherheit» am Center for Security Studies (CSS) an der ETH Zürich. Zu seinen Forschungsgebieten zählen die Schweizer Aussen- und Sicherheitspolitik sowie der Westbalkan. Er ist Mitherausgeber der monatlichen «CSS-Analysen zur Sicherheitspolitik» sowie Autor von «Bosnien: Stillstand trotz neuer strategischer Bedeu- tung» (2016), «Der Westbalkan zwischen Europa und Russland» (2015) sowie «Kosovo zwischen Stagnation und Umbruch» (2014).

Dr. Stephan Davidshofer ist Oberassistent am Departement für Poli- tikwissenschaft und Internationale Beziehungen an der Universität Genf. Er unterrichtet zudem an der Sciences Po Paris. Seine Forschungsinter- essen sind Sicherheitspraktiken in Europa, der Nexus zwischen Sicher- heit und Entwicklung sowie internationale Gouvernanz. Seine Artikel erschienen u.a. in Cultures & Conflits und Etudes Internationales.

Dr. Myriam Dunn Cavelty ist stellvertretende Leiterin Forschung und Lehre am Center for Security Studies (CSS) an der ETH Zürich. Zu ihren Fachgebieten zählen Cybersicherheit, politische Soziologie von Risiko und Sicherheitspolitik sowie strategische Entwicklungen. Sie ist Autorin von «Cybersecurity in Switzerland» (2008) und «Cyber-Security and Threat Politics» (2008). Ihre Artikel erschienen u.a. in International Political Sociology, Security Dialogue und International Studies Review.

Dr. Jonas Hagmann ist SNSF Ambizione Fellow am Institute of Sci- ence, Technology and Policy (ISTP) an der ETH Zürich sowie Visiting Scholar am Centre for Urban Conflicts Research an der University of Cambridge. Seine Forschung befasst sich mit der Internationalisierung und Demokratisierung sicherheitspolitischer Prozesse auf zwischen- staatlicher, staatlicher und städtischer Ebene. Er ist Autor von «(In) Security and the Production of International Relations» (2014). Seine Artikel erschienen u.a. in European Journal of International Relations, Se- curity Dialogue und Contemporary Security Policy.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK 164 AUTORINNEN UND AUTOREN

Dr. Christian Nünlist ist Senior Researcher und leitet am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich das Team «Schweizerische und euroatlantische Sicherheit». Er beschäftigt sich mit Schweizer Aussen- politik und multilateraler Diplomatie. Er ist Mitherausgeber des «Bulle- tin zur schweizerischen Sicherheitspolitik» und der «CSS-Analysen zur Sicherheitspolitik». Er ist Autor von «Umdenken der neutralen Schweiz» (2014) und «Swiss Security Policy after 2014» (2015). Seine Artikel er- schienen u.a. in Security and Human Rights, Journal of Transatlantic Stu- dies und Cold War History.

Dr. Claudia Otto ist Senior Researcher im Team «Risiko und Res- ilienz» am Center for Security Studies (CSS) an der ETH Zürich. Am CSS forscht die Biochemikerin in Zusammenarbeit mit dem La- bor Spiez zu Dual Use Research of Concern. Ein besonderes Anliegen in dem von ihr betreuten Projekt ist die Sensibilisierung von Wissen- schaftlern für potenziellen Missbrauch von Grundlagenforschung mit Dual-Use-Potenzial.

Dr. Amal Tawfik ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in Soziologie und Lehrassistent am Departement für Politikwissenschaft und Internatio- nale Beziehungen an der Universität Genf. Seine Forschungsinteres- sen sind politische Teilnahme, soziale Ungleichheit und quantitative Methoden.

Dr. Oliver Thränert leitet den Think-Tank-Bereich des Center for Secu- rity Studies (CSS) der ETH Zürich. Zudem ist er Non-Resident Senior Fellow bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Seine Forschungsinteressen umfassen internationale Rüstungskontrolle und Abrüstung, nukleare Nonproliferation, chemische und biologische Waffen, nukleare Abschreckung und Raketenabwehr. Er hat Artikel u.a. in Survival, Contemporary Security Policy und im Bulletin of the Atomic Scientists publiziert. Er ist Mitherausgeber der beiden CSS-Jahrbücher Bulletin zur schweizerischen Sicherheitspolitik und Strategic Trends.

BULLETIN 2016 ZUR SCHWEIZERISCHEN SICHERHEITSPOLITIK AUTORINNEN UND AUTOREN 165

Prof. Dr. Andreas Wenger ist Professor für internationale und schwei- zerische Sicherheitspolitik an der ETH Zürich und seit 2002 der Direk- tor des Center for Security Studies (CSS) an der ETH Zürich. Er war u.a. Guest Scholar an der George Washington University, der Toronto University und der Princeton University. Er ist Autor von «Europäische Sicherheit nach der Zäsur von 2014» (2015) sowie Mitherausgeber von «Deterring Terrorism» (2012), «How States Fight Terrorism» (2006) und «Conflict Prevention: The Untapped Potential of the Business Sector» (2003). Seine Artikel erschienen u.a. in Cold War History, Presidential Studies Quarterly und Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte.

Lisa Wildi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Center for Security Studies (CSS) an der ETH Zürich. Sie erforscht die Entwicklung und den derzeitigen Stand von Ausbildungs- und Trainingsprogrammen im Schweizer Sicherheitssektor. Vor ihrer Tätigkeit am CSS arbeitete sie als Projektverantwortliche im Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) im Ressort Höhere Berufsbildung. Sie schreibt regelmässig Buchrezensionen zu Sicherheitsthemen für die Neue Politi- sche Literatur und ist Autorin von «GWK und Polizei: Ausgebildet für den Asyl-Notfall?» (2016).

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Das Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich ist ein Kompetenz­ zentrum für schweizerische und internationale Sicherheitspolitik. Es bietet sicherheitspolitische Expertise in Forschung, Lehre und Beratung. Das CSS fördert das Verständnis für sicherheitspolitische Herausforderungen. Es arbeitet unabhängig, praxisrelevant und wissenschaftlich fundiert. Es verbindet Forschung mit Politikberatung und bildet so eine Brücke zwischen Wissen- schaft und Praxis. Das CSS bildet hochqualifizierten Nachwuchs aus und fungiert als Anlauf- und Informationsstelle für die interessierte Öffentlichkeit.

Das Bulletin zur schweizerischen Sicherheitspolitik wird vom Center for Security Studies (CSS) jährlich seit 1991 herausgegeben. Es informiert über das sicherheitspolitische Geschehen in der Schweiz und leistet einen Beitrag zur sicherheitspolitischen Diskussion. Das Bulletin enthält Artikel und Interviews zu aktuellen Themen der schweizerischen Aussen- und Sicherheits­ politik und stellt ausgewählte Projekte des CSS vor. Das Jahrbuch inklusive älterer Ausgaben ist verfügbar unter: www.css.ethz.ch/publications/bulletin.