6. Suizide nach 1946 245 her besonders interessant für das Gesamtphänomen. Rothenberger und Buch sind dafür nicht die einzigen Beispiele. Der Zeitpunkt des Suizids, der sich als motiv- relevante Determinante gezeigt hat, erscheint in diesen Fällen in einem gänzlich anderen Licht. Auch wenn fehlende Selbstzeugnisse oftmals einer detaillierten Ana- lyse im Weg stehen, wie in einer spezifischen Situation der Entschluss zum Selbstmord individuell reifen konnte, so zeigen sich Beispiele, bei denen diese Entwicklung zumindest nachgezeichnet werden kann. Eine genuine Längsschnittbetrachtung der Suizide nach 1946 ermöglicht daher neue Sichtweisen auf den Elitensuizid und elitenverbindende Analysen zum Zeitpunkt des Selbstmords gewährleisten die Ein- haltung der Leitfrage, inwiefern ideologische oder eher pragmatische Denkmuster handlungsrelevant für den Entschluss zum Selbstmord waren.

6. SUIZIDE NACH 1946

17. August 1987 – an diesem Tag ging der letzte verbliebende ehemalige Paladin Hitlers wie gewohnt im Garten des Kriegsverbrechergefängnisses -Spandau spazieren. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Rudolf Heß, der ehemalige Stellvertre- ter des Führers, bereits seit über 40 Jahren in Gefangenschaft. Während der Nürn- berger Kriegsverbrecherprozesse nutzte er wie kein zweiter Angeklagter die Schlussworte, um seine nationalsozialistische Überzeugung und seine Verbunden- heit zu Hitler zu bezeugen:

»Es war mir gegönnt, viele Jahre meines Lebens unter dem grössten Sohn zu wirken, den mein Volk in seiner tausenjährigen [sic!] Geschichte hervorgebracht hat. Selbst, wenn ich es könnte, wollte ich diese Zeit nicht auslöschen aus meinem Dasein. Ich bin glücklich, zu wissen, dass ich meine Pflicht getan habe meinem Volke gegenüber, meine Pflicht als Deutscher, als Nationalsozi- alist, als treuer Gefolgsmann meines Führers. Ich bereue nichts. Stünde ich wieder am Anfang, würde ich wieder handeln wie ich handelte, auch wenn ich wüsste, dass am Ende ein Scheiterhau- fen für meinen Flammentod brennt, gleichgültig, was Menschen tun. Dereinst stehe ich vor dem Richterstuhl des Ewigen. Ihm werde ich mich verantworten und ich weiss, er spricht mich frei.«555

Gut 40 Jahre nach diesem Plädoyer fand man den ehemaligen Stellvertreter des Führers leblos in seiner Zelle. Dies war jedoch nicht der erste Suizidversuch. Bereits 1941 stürzte er sich am 16. Juni von einem Balkon, nachdem er in britische Gefan- genschaft geraten war. Am 04. Februar 1945 stieß er sich ein Brotmesser in die Brust, am 26. November 1959 zertrümmerte er seine Brille und schnitt mit den Scherben seine Pulsadern auf und am 22. Februar 1977 wiederholte er den Versuch mit einem Messer.556 Der Selbstmord Heß’ wurde jedoch schnell in Frage gestellt. Angehörige führten an, dass er zum Zeitpunkt des Todes bereits 93 Jahre alt war und kaum mehr ohne Hilfe seines Pflegers laufen konnte. Der Fall Rudolf Heß erzeugte ein enormes

555 StA N KV-Prozesse. IMT L13, S. 9. Schlusswort Rudolf Heß. 556 Weiterführende Informationen vgl. Pätzold, Kurt/Weißbecker, Manfred: Rudolf Heß. Der Mann an Hitlers Seite. Leipzig 1999. 246 II. Selbstmorde unter dem Hakenkreuz mediales Echo und initiierte einen Mythos, der bis heute sichtbare Zeichen hinter- lässt. Exemplarisch wird hierdurch deutlich, wie stark der Akt des Selbstmords das Geschichtsbewusstsein der Menschen prägen und auch mystifizieren kann. Auch wenn in diesem Zusammenhang nicht genauer auf das Mysterium des Falls einge- gangen werden und schon gar keine Analyse der zahlreichen Verschwörungstheo- rien erfolgen kann, so zeigt dieses Beispiel, wie nachhaltig und intensiv das Ableben ehemaliger nationalsozialistischer Eliten im öffentlichen Diskurs nach 1945 rezi- piert wurde. Kaum sieben Jahre zuvor brachte sich der ehemalige stellvertretende Lagerleiter von Sobibor, , auf seiner Ranch in Itatiaia, unweit von Sao Paulo selbst um. Mit Wagner findet sich daher auch ein hochrangiger Suizident wieder, dem es nach 1945 gelungen ist, nach Südamerika auszuwandern, um dadurch der strafrechtlichen Verfolgung zu entgehen. Während der Phase des Dritten Reichs gehörte er zu den kompromisslosesten Direkttätern des Regimes, zunächst im Rahmen des Euthanasie-Programms, später bei der Leitung des Vernichtungslagers Sobibor.557 1945 war er aus amerikanischer Haft ausgebrochen und flüchtete anschließend mit dem ehemaligen Lagerkomman- danten des Vernichtungslagers Sobibor, Franz Stangl558, zunächst über Südtirol und Rom nach Syrien. Wagner stellte am gleichen Tag wie Franz Stangl (25. August 1948) einen Antrag auf einen IKRK-Ausweis und füllte das Formular wahrheitsgemäß ohne Verwendung eines Tarnnamens aus. Mithilfe hochrangiger vatikanischer Krei- se konnten beide ehemaligen Leiter des Vernichtungslagers nach Brasilien fliehen, wo Wagner bald eine Anstellung bei wohlhabenden Einheimischen als Hilfskraft fand.559 Nachdem Stangl 1967 aufgrund eines Hinweises von entdeckt und von den obersten Richtern Brasiliens an die deutschen Strafverfolger ausgeliefert wurde, richtete sich der öffentliche und auch strafrechtliche Fokus zu- sehends auf Wagner. Spätestens seit 1967 wussten die Fahnder der BRD um die Existenz vom ehemaligen »Henker von Sobibor« und auch davon, dass er die letz- ten Jahre stets in der Nähe Stangls verbrachte. Während Stangl kurz vor Prozess- ende im Landgericht Düsseldorf noch verkündete, dass sein Gewissen rein sei und er nur seine Pflicht getan habe, machte Wagner kurz nach dem Tod Stangls seiner Witwe einen Heiratsantrag, den diese mit dem Grund ablehnte, dass er zu vulgär, ja sogar ein Sadist sei.560 Simon Wiesenthal hatte zu dieser Zeit Wagner bereits als primäres Fahndungsziel auserkoren und er wusste geschickt die Macht der Medien einzusetzen, um den strafrechtlichen Fokus auf Wagner zu lenken. Als Wiesenthal

557 Vgl. Steinacher, Gerald: Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen. 20102, S. 278ff. 558 Franz Stangl *26.02.1908 †28.06.1971 Kommandant von Sobibor und Treblinka; 1938: Eintritt in die NSDAP und SS; 1938: Kriminalsekretär im Judenreferat der ; 1940/41: Büroleiter der Tötungsanstalt Hartheim und Bernburg; 1942: Lagerkommandant in Sobibor und Treblinka; 1948: Flucht aus der Untersuchungshaft und Emigration mit vatikanischer Hil- fe nach Syrien und später nach Brasilien; 1967: Verhaftung; 1970: Wegen gemeinschaftlichen Mordes an mindestens 400.000 Menschen vom Landgericht Düsseldorf zu lebenslanger Haft verurteilt; 1971: natürlicher Tod in der Haft. Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon, S. 596. 559 Vgl. Steinacher, Gerald: Nazis auf der Flucht, S. 279. 560 Vgl. Ebd.