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BODY POLITICS

Zeitschrift für Körpergeschichte

Heft 2 – Jahrgang 1 (2013) Gewaltverhältnisse Herausgegeben von Pascal Eitler

www.bodypolitics.de Zeitschrift für Körpergeschichte

Auf Anregung des Arbeitskreises für Körpergeschichte wird Body Politics herausgegeben von: Peter-Paul Bänziger (Zürich), Magdalena Beljan (Berlin), Pascal Eitler (Berlin), Jens Elberfeld (Bielefeld), Andrej Findor (Bratislava), Christian Fritz-Hoffmann (Oldenburg), Alexa Geisthövel (Berlin), Henriette Gunkel (Bayreuth), Patrice Ladwig (Halle), Maren Möhring (Leipzig), Marcus Otto (Braunschweig), Massimo Perinelli (Köln), Katja Sabisch (Bochum), Monique Scheer (Tübingen), Imke Schmincke (München), Olaf Stieglitz (Köln), Heiko Stoff (Braunschweig), Marcel Streng (Bielefeld) und Annika Wellmann (Hannover). Geschäftsführend sind gegenwärtig: Pascal Eitler, Maren Möhring und Marcus Otto.

Anschrift: Body Politics, c/o Dr. Pascal Eitler, Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Lentzeallee 94, D-14195 Berlin

E-Mail: kontakt (at) bodypolitics.de

Unterstützt werden die Herausgeberinnen und Herausgeber durch die Mitglieder ihres wissenschaftlichen Beirats: Thomas Alkemeyer (Olden- burg), Ulrike Bergermann (Braunschweig), Gabriele Dietze (Berlin), Franz X. Eder (Wien), Ute Frevert (Berlin), Christa Hämmerle (Wien), Heinz- Gerhard Haupt (Bielefeld), Dagmar Herzog (New York), Klaus Hödl (Graz), Sabine Kienitz (Hamburg), Gesa Lindemann (Oldenburg), Thomas Lindenberger (Potsdam), Sabine Maasen (Basel), Jürgen Martschukat (Erfurt), Georg Mein (Luxemburg), Rolf Parr (Duisburg-Essen), Nicolas Pethes (Bochum), Sven Reichardt (Konstanz), Philipp Sarasin (Zürich), Detlef Siegfried (Kopen- hagen), Jakob Tanner (Zürich), Jakob Vogel (Paris), Paula-Irene Villa (Mün- chen) und Anne Waldschmidt (Köln).

Alle Artikel stehen unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 (Deutschland). Die Urheberrechte für die Artikel verbleiben damit bei den jeweiligen Autorinnen und Autoren.

Umschlagabbildung unter Verwendung eines Gemäldes von Tizian, Kain und Abel, 1542-1544, Öl auf Leinwand, Basilica di Santa Maria della Salute, Venedig, Italien

ISSN: 2196-4793 Editorial

Die Körpergeschichte hat in den vergangenen zwanzig Jahren enorm an wissenschaftlicher Aufmerksamkeit gewonnen und eine bemerkenswerte Ausweitung erfahren. Diese Zeitschrift versucht diese Entwicklung in ihrer Facettenvielfalt abzubilden und weiter voranzutreiben.

Der Körper gerät dabei als ein multidimensionaler Forschungsgegenstand und das Ergebnis eines historischen Wandels in den Fokus – als ein Effekt sozialer Praktiken, ein Objekt der Imagination und Repräsentation, in seiner Diskursivität, Materialität und Produktivität. Er war und ist sowohl ein Medium der Subjektivierung als auch ein Ort gesellschaftlicher Ordnungs- versuche und nicht zuletzt politischer Konflikte. In diesem umfassenden Verständnis lautet der Titel dieser Zeitschrift: Body Politics.

Die Körpergeschichte verändert dabei nicht nur unseren Blick auf Menschen und deren Körper und Geschichte – sie betrifft auch unsere Wahrnehmung von Tieren und Dingen und deren vermeintlich grundsätzliche Anders- artigkeit.

Dementsprechend greift diese Zeitschrift auf ein breites Angebot von Fragestellungen und unterschiedliche Herangehensweisen zurück. Sie versammelt zudem nicht nur Artikel aus den Geschichtswissenschaften, sondern steht ebenfalls historisch interessierten Beiträgen aus den Literatur- und Medienwissenschaften sowie anderen Kultur- bzw. Sozial- wissenschaften offen.

Dieses Online-Journal veröffentlicht Artikel in deutscher oder englischer Sprache, die ein beidseitig anonymisiertes Peer Review durchlaufen haben. Alle Beiträge erscheinen kostenfrei im Open Access.

Die Herausgeberinnen und Herausgeber Zeitschrift für Körpergeschichte

Heft 2 – Jahrgang 1 (2013) Gewaltverhältnisse Herausgegeben von Pascal Eitler

Redaktionsschluss: 01.12.2013 Inhaltsverzeichnis

Pascal Eitler: Einführung: Gewaltverhältnisse – eine körpergeschichtliche Perspektive….………………………………………….……….…..163

Perspektiven

Jürgen Martschukat: Gewalt: Kritische Überlegungen zur Historizität ihrer Formen, Funktionen und Legitimierungen…………...…….. 185

Eva Bischoff: The Cannibal and the Caterpillar: Violence, Pain, and Becoming-Man in Early Twentieth Century Germany……………..199

Analysen

Marcel Streng: Kampf – Kunst – Körper. Zum Verhältnis von Körper- und Gewaltgeschichte in „fernöstlichen“ Kampftechniken in (West-)Deutschland (1920er bis 1980er Jahre)………………………………….. 231

Pascal Eitler: Das „Reich der Sinne“? Pornographie, Philosophie und die Brutalisierung der Sexualität

(Westdeutschland 1968-1988) ...…………………………………….…….……………….259

Hendrik Pletz: Das Wundmal im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Horrorvideos und die Herausforderungen des Affekts in den 1980er Jahren………………… …..297

Offener Teil

Joseph Ben Prestel: Die Reform der Stadtmänner. Urbaner Wandel und Körperpolitik in Kairo am Ende des 19. Jahrhunderts……………………………………………………………….…………….323

Body Politics 1 (2013), Heft 2, S. 163-183 Einführung: Gewaltverhältnisse – eine körpergeschichtliche Perspektive

Pascal Eitler

English abstract: This introduction links the history of violence to the history of the body and the history of the self. It emphasizes therefore not the phenomenology and situations but the genealogy and relations of violence, the power of violence to create very different relations between very different people. Therefore, the introduction sets out how a histo- ry of violence not only contributes to the history of the state but also shows how violence generated new discourses and practices of the self as well. Within this kind of history of violence, the body is, thus, not seen as a static target or given tool but as a historical product and in its changing productivity within relations of violence. Against this back- ground the aim of this introduction is to promote the analysis of violence beyond war and mass murder – especially between the 1960s and 1980s.

Als Kain seinen Bruder Abel erschlägt, weiß er da, was er tut? Kann er überhaupt wissen, was er da tut? Und stellt diese Szene – bedrohlich ausgemalt unter anderem in jenem berühmt gewordenen Gemälde von Tizian von 15441 – mithin tatsächlich, wie so oft behauptet, eine Urszene der Gewalt bzw. der Gewaltgeschichte dar? Niemals zuvor hat ein Mensch, folgt man der biblischen Schöpfungsgeschichte, einen anderen Menschen körperlich verletzt, geschweige denn erschlagen. Die vier Menschen der biblischen Schöpfungsgeschichte, Kain, Abel und deren Eltern Adam und Eva, stehen vor dieser Tat in keinerlei Verhältnis zur Gewalt gegenüber Menschen – sie wissen streng genommen noch gar nicht um diese Gewalt.2 Dieses Wissen aber ist der Gewalt aus körpergeschichtlicher Perspek- tive keineswegs äußerlich: Denn erst dieses Wissen – ein sehr verschie- denartiges, basales oder prononciertes, oftmals stark umkämpftes und dem Wandel fortwährend unterworfenes Wissen3 – von der Gewalt, von deren unterschiedlichen Formen, absehbaren Effekten und möglichen Kontexten, begründet ein im engeren Sinne soziales und sodann auch

1 Tizian, Kain und Abel, 1542-1544, Öl auf Leinwand, Basilica di Santa Maria della Salute, Venedig, Italien. Für Hilfe und Hinweise danke ich den anonymen Gutachterinnen und Gutachtern von Body Politics sowie Michaela Keim, Jan Plamper, Monja Schottstädt und Heinz-Gerhard Haupt, dem diese Einführung gewidmet ist – zum 70. Geburtstag. 2 Gen 4, 1-16. Im Folgenden geht es allein um Gewalt gegenüber Menschen. 3 Zum Begriff des Wissens siehe noch immer Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1996; ders., Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders., Von der Subversion des Wissens. Frankfurt am Main 1987, S. 69-90.

www.bodypolitics.de | urn:nbn:de:gbv:547-201400124 | ISSN 2196-4793 164 Pascal Eitler historisches Verhältnis, nicht nur zwischen den „Tätern“ und „Opfern“ und gegebenenfalls auch zwischen diesen und deren Zuschauern.4 Es rückt darüber hinaus auch alle Beteiligten in ein – gegebenenfalls neuar- tiges – Verhältnis zu sich selbst und allem voran zum „eigenen“ Körper. In genau diesem Sinne beschäftigt sich das vorliegende zweite Heft von Body Politics mit Gewaltverhältnissen: Es konfrontiert und kombiniert die Geschichte der Gewalt dabei sowohl mit der Geschichte des Körpers als daran anschließend auch mit der Geschichte des Selbst.

1. Gewalt – Körper – Selbst

Auf den ersten Blick jedoch scheint das Hervorheben eines solchen Wis- sens von der Gewalt und vom Körper wegzuführen oder abzulenken und dies, obgleich sich die Gewaltforschung seit den 1990er Jahren doch scheinbar immer stärker dem Körper zuwendet, um in diesem Zusam- menhang einerseits die Ausübung und andererseits die Erfahrung bzw. das Erleiden von Gewalt ins Zentrum ihres Interesses zu rücken – weni- ger Gewaltstrukturen als Gewaltpraktiken.5 Nachdem sich die For- schung in den sechziger und siebziger Jahren eher einer Makroanalyse verpflichtet sah, um Gewaltstrukturen und im weiteren Sinne eigentlich Herrschaftsstrukturen untersuchen und vor allem auch hinterfragen zu können, verfolgt die Forschung nunmehr oft eher eine Mikroperspekti- ve.6 Zwar wird noch immer gebetsmühlenhaft beklagt, dass sich die Ge- waltforschung nicht auf einen allgemein verbindlichen Gewaltbegriff verständigen kann; auch ist die Forschung inzwischen viel zu umfang- reich, um im Folgenden mehr als konkurrierende Ansätze und zentrale Fragestellungen – vorrangig im deutschsprachigen Raum – skizzieren zu können.7 In den vergangenen zwanzig Jahren aber hat sich insgesamt

4 Der Gebrauch der Begriffe „Opfer“ und „Täter“ wird innerhalb der Gewaltforschung sehr kontrovers diskutiert, ich sehe jedoch bislang keine alle Probleme lösenden Al- ternativen, verwende diese Begriffe daher aber in Anführungszeichen. Um der Leser- lichkeit willen nutze ich darüber hinaus stets die männliche Form. 5 Zu einem fortwährenden Bezugspunkt dieser sogenannten neueren Gewaltforschung avancierten im deutschsprachigen Raum insbesondere Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, Frankfurt am Main 1992; Trutz von Trotha Hg., Soziologie der Gewalt, Op- laden 1997. Einen aktuellen Überblick präsentieren nunmehr Christian Gudehus u. Mi- chaela Christ Hg., Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013. 6 Zu diesen Gewaltstrukturen bzw. zur strukturellen Gewalt siehe insbesondere Johan Galtung, Violence, Peace and Peace Research, in: Journal of Peace Research 6 (1969), S. 167-191; ders., Strukturelle Gewalt, Reinbek 1982. 7 Einen sehr differenzierten Überblick präsentieren beispielsweise Peter Imbusch, Der Gewaltbegriff, in: Wilhelm Heitmeyer u. John Hagan Hg., Internationales Handbuch

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ein Zugang etabliert, der Gewalt nicht länger zu ungenau mit Herrschaft – Unterdrückung oder Ungleichheit – in Eins setzt, sondern stattdessen deutlich spezifischer auf eine absichtlich herbeigeführte, meist unfrei- willig und schmerzhaft erfahrene Verletzung des Körpers abstellt.8 Der Körper aber, der dabei in den Blick gerät, darauf kommt es hier an, scheint in der Regel keine Geschichte zu besitzen. Er verändert sich möglicherweise individuell, aber nicht historisch. Allenfalls die Rolle oder die Gestalt, die Folgen oder die Umstände seiner Verletzung besit- zen eine Geschichte – der Körper indes, so scheint es jedenfalls, bleibt als solcher stets der gleiche. Er gilt in phänomenologischer Hinsicht prinzipiell als „verletzungsmächtig“ und insbesondere als „verletzungs- offen“.9 Ein Gutteil der Forschung glaubt folglich recht genau zu wissen, was eine Verletzung des Körpers an und für sich auszeichne und vor al- lem auch bewirke: In erster Linie drohe Gewalt, einen Menschen im Schmerz existentiell zu isolieren und ganz auf sich selbst und den „eige- nen“ Körper zurückzuwerfen – in diesem Sinne ist nicht selten vom „Leib“ des „Opfers“ die Rede. Letztlich lasse sich dessen Schmerz in- tersubjektiv nicht adäquat kommunizieren.10 Innerhalb jener Gegen- überstellung von Makroanalysen und Mikroperspektiven betont die For- schung aus diesem Grund inzwischen zumeist die Situativität der Aus- übung und Erfahrung von Gewalt – Gewalt als Ereignis.11 Auch innerhalb der historischen Gewaltforschung wird dementsprechend immer öfter betont: „Wenn wir verstehen wollen, wie Gewalt entsteht und was sie anrichtet, müssen wir die Situationen genau beschreiben, in denen sie

der Gewaltforschung, Opladen 2002, S. 26-57; Heinz-Gerhard Haupt, Violence, Histo- ry of, in: Neil Smelser u. Paul Baltes Hg., International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, Amsterdam u.a. 2001, S. 16196-16201. 8 Siehe resümierend auch Gudehus u. Christ Hg., Gewalt. Vergleiche diesbezüglich be- reits frühzeitig Thomas Lindenberger u. Alf Lüdtke, Einleitung, in: dies. Hg., Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt am Main 1995, S. 7-38; Dirk Schumann, Gewalt als Grenzüberschreitung. Überlegungen zur Sozialgeschichte der Gewalt im 19. und 20.Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 37 (1997), S. 366- 386. 9 Kanonische Referenz: Popitz, Phänomene, S. 43-78. . 10 Prägend wirkten an dieser Stelle vor allem Elaine Scarry, The Body in Pain. The Ma- king and Unmaking of the World, Oxford 1985; Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main 1996. Wer dieser Hypothese nicht folgen mag, wird zu- weilen noch immer des Zynismus verdächtigt: Siehe zum Beispiel Katharina Inhetve- en, Körper, in: Gudehus u. Christ Hg., Gewalt, S. 203-208, S. 208. 11 Gegenwärtig besonders einflussreich: Randall Collins, Violence. A Micro-sociological Theory, Princeton 2009. Siehe zum Nutzen und Nachteil dieser Gegenüberstellung bereits Peter Imbusch, Mainstreamer versus Innovateure der Gewaltforschung. Eine kuriose Debatte, in: Wilhelm Heitmeyer u. Hans-Georg Soeffner Hg., Gewalt. Ent- wicklungen, Strukturen, Analyseprobleme, Frankfurt am Main 2004, S. 125-148. 166 Pascal Eitler zur Entfaltung kommt. […] Es geht immer nur um Situationen und ihre Menschen“.12 Doch Menschen erleiden oder üben Gewalt nicht nur aus, sie verhal- ten sich vielseitiger bzw. umfassender zu ihr. Ihre gesellschaftliche Be- deutung und historische Signifikanz gewinnt Gewalt daher nach meinem Dafürhalten nicht so sehr als – zweifellos unhintergehbares – Ereignis, sondern insbesondere im Zusammenhang ihrer Vorgeschichte und Nachgeschichte. Erst im Hinblick auf den Umgang mit Gewalt zeigt sich, dass sich nicht allein die Verletzungen im engeren Sinne, sondern auch die Körper im weiteren Sinne teilweise markant verändern und histo- risch beachtlich transformieren.13 Gewalt verletzt Körper zwar – im Umgang mit Gewalt aber bilden Menschen ihre Körper nichts desto trotz weiter fort und nicht selten gehen Körperbildung und Körperverletzung sogar wechselseitig auseinander hervor. In eben diesem Sinne rückt das vorliegende Heft die Historizität – Plu- ralität und Produktivität – der Gewalt im Besonderen und des Körpers im Allgemeinen in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit. Seinen Aus- gang nimmt es dabei bei dem ebenso banalen wie basalen Umstand, dass Menschen einander keineswegs stets die gleichen Verletzungen zufügen, auf dieselbe Weise, in demselben Maße, mit demselben Aufwand. Men- schen sind nicht nur unterschiedlich stark oder groß und sie verfügen nicht nur über vollkommen unterschiedliche Waffen – ihre Körper ha- ben darüber hinaus auch in unterschiedlichen Zusammenhängen sehr verschiedenartige Fähigkeiten bzw. Eigenschaften erworben, sie sind geschult oder unerprobt im Gebrauch dieser oder jener Waffe und in der Zufügung dieser oder jener Verletzung: Gewaltpraktiken sind in diesem Sinne fast immer und in erster Linie Körpertechniken – sie fußen auf Sinnesleistungen und Handlungsabläufen, die es zunächst zu erlernen, womöglich zu verfeinern und schließlich auch durchzuführen gilt.14 Zwar wird innerhalb der Forschung in aller Regel gar nicht bestritten, dass Verletzungen von Körpern so gesehen zumeist auf Bewegungen von Körpern beruhen, auf Praktiken bzw. Techniken des Schlagens oder

12 Jörg Baberowski, Einleitung. Ermöglichungsräume exzessiver Gewalt, in: ders. u. Ga- briele Metzler Hg., Gewalträume. Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand, Frankfurt am Main 2012, S. 7-27, S. 18 u. 27. 13 In körpergeschichtlicher Perspektive erscheinen die ehemaligen „Innovateure“ der Gewaltforschung daher inzwischen eher als „Mainstreamer“. Diesen Stellungswech- sel von Zuschreibungen hat Peter Imbusch bereits sehr früh vorausgesehen. Siehe zum Beispiel Peter Imbusch, Gewalt – Stochern in unübersichtlichem Gelände, in: Mittelweg 36 9 (2000), S. 24-40, S. 30f. 14 Zum Begriff der Körpertechniken siehe noch immer Marcel Mauss, Die Techniken des Körpers, in: ders., Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, Frankfurt am Main 1989, S. 197-220. Einführung 167

Tretens, des Schneidens oder Reißens, des Schießens oder Würgens, des Stechens oder Fesselns – doch geraten Gewaltpraktiken ungeachtet des- sen nur selten ernsthaft als Körpertechniken in das Fadenkreuz der For- schung.15 In körpergeschichtlicher Perspektive geht es dabei nicht allein um die Historizität von Verletzungen, es geht sehr viel grundsätzlicher um die Pluralität und Produktivität von Körpern und damit sogleich um den sich stark wandelnden Umgang mit Gewalt, sowohl auf der Ebene der unterschiedlichen Ausübung oder Erfahrung von Verletzungen als auch auf der Ebene der unterschiedlichen Fähigkeiten bzw. Eigenschaften von Körpern.16 Menschen und deren Körper werden im Umgang mit Gewalt überaus verschieden beobachtet und vermessen, unterrichtet und aus- gebildet, vorbereitet und gestaltet.17 Im Umgang mit Gewalt machen Menschen nicht nur etwas mit, sondern auch etwas aus ihrem Körper, der Körper ist mithin weder ein unbewegliches Ziel noch ein zeitloses Werkzeug der Gewalt – als solches erscheint er allerdings sehr rasch in phänomenologischer Sichtweise. Gewaltpraktiken vor allem als Körper- techniken zu begreifen, meint demgegenüber, dass Gewalt den Körper in seiner – zeitlich wie räumlich und individuell wie kollektiv – jeweils ganz bestimmten Realität überhaupt erst performativ mit hervorbringt und permanent verändert, im Zusammenwirken mit zahlreichen ande- ren Praktiken bzw. Techniken.18 Die Pluralität und Produktivität der Gewalt gezielt zu erschließen, heißt daher meinem Eindruck nach, nicht so sehr das Ereignis, sondern den – vorangegangenen oder nachträgli- chen – Umgang mit Gewalt in das Zentrum des Interesses zu rücken und umfassend zu kontextualisieren.19 Die Gewaltforschung schenkt dem

15 Jörg Baberowski beispielsweise betont zwar vollkommen zu Recht, dass eine Gewalt- forschung, die den Körper unberücksichtigt lässt, ihr eigentliches Ziel verfehlt, doch erfährt der Körper in seiner Historizität daran anschließend bei ihm tatsächlich kei- nerlei weiterführende Aufmerksamkeit. Siehe näher Jörg Baberowski, Gewalt verste- hen, in: Zeithistorische Forschungen (Online Ausgabe) 5 (2008), Heft 1, Abschnitt 6 – http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Baberowski-1-2008 (zuletzt 20.04.2013). Siehe letztlich auch Collins, Violence. 16 Vergleiche teilweise Maren Lorenz, Physische Gewalt – ewig gleich? Die Problematik absoluter Theorien im Spiegel historischer Kontexte und veränderter Körperwahr- nehmung, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 8 (2004), Heft 2, S. 9-14. Demgegenüber eher enttäuschend: Francisca Loetz, Sexualisierte Gewalt 1500-1850. Plädoyer für eine historische Gewaltforschung, Frankfurt am Main 2012. 17 Siehe hierzu bereits Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Ge- fängnisses, Frankfurt am Main 1994. 18 Judith Butler spricht in eben diesem Zusammenhang von Prozessen der Materialisie- rung. Vergleiche insbesondere Judith Butler, Körper von Gewicht, Frankfurt am Main 1997. 19 Vergleiche ebenfalls Sven Reichardt, Praxeologie und Faschismus. Gewalt und Ge- meinschaft als Elemente eines praxeologischen Faschismusbegriffs, in: Karl Hörning

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Körper in diesem Zusammenhang insgesamt noch nicht ausreichend Be- achtung. Sogar im Fall der historischen Gewaltforschung bleibt der Kör- per in seiner Historizität eine erstaunlich oft vernachlässigte Größe.20 Phänomenologische Zugänge21 verschließen sich einer umfassenden Historisierung der Gewalt im Besonderen und des Körpers im Allgemei- nen diesbezüglich oft grundsätzlich – nicht zuletzt unter Bezug auf jenen der Geschichte und Gesellschaft angeblich weitgehend entzogenen „Leib“ des „Opfers“ und letztlich auch des „Täters“. Anstatt den Körper zum Gegenstand empirischer Untersuchungen zu machen, gerät er übli- cherweise zum Ausgangspunkt theoretischer Überlegungen. Doch ob- wohl sich zum Beispiel zwischen physischen und psychischen Verlet- zungen wenngleich nicht streng analytisch, so doch jedenfalls heuris- tisch sinnvoll differenzieren lässt, bleibt es nichts desto trotz weitge- hend offen, wie unterschiedliche Akteure diese in unterschiedlichen Zeiträumen und Zusammenhängen voneinander unterschieden oder miteinander verknüpft, bewertet, begrüßt oder beklagt haben. Ihre Hinwendung zum Körper befreit die Gewaltforschung mithin keines- wegs von der Frage, in welchem Fall und in welchem Maß überhaupt von der Verletzung eines Körpers gesprochen werden kann, nicht allein aus der Sichtweise der Zuschauer, sondern ebenfalls aus der Sichtweise der „Opfer“ und „Täter“. Nicht allein das Verständnis vom Körper im All- gemeinen, sondern auch das Verständnis von körperlicher Integrität im Besonderen hat zahlreiche Veränderungen durchgemacht – auch in die- sem Sinne gilt es die Historizität des Körpers hervorzuheben.22 In kör- pergeschichtlicher Perspektive geht es also nicht darum, jede Form der Macht oder des Zwangs, der Beeinträchtigung, der Demütigung als Ge- walt zu begreifen, auch nicht – im Anschluss an Pierre Bourdieu23 – als

u. Julia Reuter Hg., Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und so- zialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 129-153. 20 Selbst in dem Fall, in dem Gewalt ganz klar auf den Körper und dessen Verletzung bezogen wird, gerät der Körper in der Regel kaum näher in den Blick – siehe bei- spielsweise auch Schumann, Gewalt als Grenzüberschreitung. 21 Um eine historisch und soziologisch breiter informierte Phänomenologie der Gewalt bemüht sich gegenwärtig beispielsweise Michael Staudigl – siehe unter anderem Mi- chael Staudigl, Towards a Relational Phenomenology of Violence, in: Human Studies 36 (2013), S. 43-66. 22 Ein gutes, wenngleich schwieriges Beispiel stellt die Gewalt gegenüber Kindern dar: Kinder mussten erst – vor allem seit den 1960er Jahren – als „Opfer“ neuartig signifi- ziert werden, bevor Eltern als „Täter“ neuartig sanktioniert werden konnten. Poin- tiert: Michael Wimmer, Christoph Wulf u. Bernhard Dieckmann, Einleitung: Grundlo- se Gewalt, in: dies. Hg., Das „zivilisierte Tier“. Zur Historischen Anthropologie der Gewalt, Frankfurt am Main 1996, S. 7-65, S. 38. 23 Siehe zum Beispiel Pierre Bourdieu, Eine sanfte Gewalt. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Irene Dölling und Margareta Steinrücke, in: Irene Dölling u. Beate Krais Hg., Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktionen in der sozialen Praxis, Frankfurt am

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violence symbolique. Es geht stattdessen darum, historisch sehr spezi- fisch danach zu fragen, unter welchen Bedingungen, zu welchen Anläs- sen, mit welchen Auswirkungen sich welche Menschen in ihrer körperli- chen Integrität angegriffen fühlten und eine Körpertechnik als Gewalt- praktik – als aggressiv intendierte Verletzung eines Körpers – gedeutet und verhandelt, ausgeübt oder erlitten wurde. In genau diesem Sinne bedarf Gewalt, um als Gewalt verstanden und benannt, eingefordert oder betrauert, eingesetzt oder abgewehrt wer- den zu können, eines sich fortwährend wandelnden und sei es auch nur ganz basalen Wissens von den Gründen oder Zielen, den Arten oder Fol- gen der Verletzung eines Körpers und ist diesbezüglich wiederum zu- tiefst eingebunden in ein verschiedenartig geformtes Wissen vom Kör- per und dessen Fähigkeiten bzw. Eigenschaften.24 Eine körpergeschicht- liche Perspektive vermag zu zeigen, dass und wie sich diese Fähigkeiten bzw. Eigenschaften permanent und nicht selten markant verändern: Sie lassen sich modifizieren, trainieren, disziplinieren, begrenzen oder er- weitern, sie müssen nicht nur unaufhörlich neu identifiziert bzw. resig- nifiziert, sie müssen auch fortwährend neu produziert bzw. rekonstitu- iert werden. Demnach zielt der Begriff des Wissens an dieser Stelle nicht etwa auf abstrakte Ideen oder Ideale im Gegensatz zu konkreten Prakti- ken und Techniken – er bezieht sich vielmehr auf Anleitungen und Auf- rufe bzw. Anrufungen, ohne die Gewalt tatsächlich gar nicht auskommt, soll sie nicht als bloßes Versehen oder bedauerlicher Unfall gelten. Gefühle besitzen an dieser Stelle eine ebenso wichtige wie vielschich- tige Bedeutung.25 Während mikrosoziologische Untersuchungen in die- sem Zusammenhang hervorheben, dass ein Mensch bzw. dessen Körper im Angesicht von Gewalt massenhaft Zeichen aussendet, indem er zum Beispiel Gefühle wie Angst oder Wut ausdrückt oder nicht ausdrückt, gilt es in körpergeschichtlicher Perspektive ebenso stark zu machen, dass ein Körper nicht nur diese oder andere Gefühle verrät oder verbirgt und dergestalt die Eskalation von Konflikten befördert oder bremst.26 Der

Main 1997, S. 218-230; Pierre Bourdieu, Die männliche Herrschaft, Frankfurt am Main 2005. Auch sollten Macht und Zwang nicht gleichgesetzt werden. 24 Vergleiche teilweise Inhetveen, Körper. 25 Für die historische Gewaltforschung im deutschsprachigen Raum bemerkte dies be- reits frühzeitig Schumann, Gewalt als Grenzüberschreitung. Siehe zum Beispiel auch Baberowski, Gewalt verstehen, Abschnitt 6. 26 An diesem Punkt gegenwärtig sehr einflussreich: Collins, Violence. Diesbezüglich ebenfalls zu einseitig beispielsweise: Sonja Fücker u. Christian von Schewe, Emotio- nen, in: Gudehus u. Christ Hg., Gewalt, S. 197-202. Siehe auch Roy Baumeister u. Brad Bushman, Emotionen und Aggressivität, in: Heitmeyer u. Hagan Hg., Internatio- nales Handbuch, S. 598-618. Vergleiche ferner – Gewaltforschung und Kriminalitäts- forschung miteinander verknüpfend – zum Beispiel Susanne Karstedt, Ian Loader u. Heather Strang Hg., Emotions, Crime and Justice, Oxford 2011. 170 Pascal Eitler

Körper wurde vielmehr zuvor bereits sehr unterschiedlich – direkt oder indirekt, erfolgreich oder vergebens – darauf vorbereitet, im Angesicht von Gewalt bestimmte Gefühle auf bestimmte Weise zu entwickeln oder auch nicht zu entwickeln, zu zeigen oder eben nicht zu zeigen. Der Kör- per ist so gesehen weit mehr als nur ein Display der Gefühle, er ist viel eher ein Dispositiv der Gefühle und betrifft demnach nicht allein den Ausdruck, sondern ebenfalls den – geschichtlich und gesellschaftlich mitunter sehr unterschiedlichen – Erwerb, die Herstellung bzw. Aneig- nung von Gefühlen. Nicht nur Gewaltpraktiken, auch Gefühlspraktiken lassen sich demzufolge als Körpertechniken begreifen.27 Zwar schreitet die Verletzung eines Körpers sehr häufig mit – durchaus unterschiedli- chen – Gefühlen einher, doch machen Gefühle Gewalt nicht nur erwart- bar oder eher unwahrscheinlich, sie stellen durchaus mehr dar als eine Bedingung oder aber ein Ergebnis von Gewalt. Ihre Rolle für die Gewalt- geschichte im engeren und die Körpergeschichte im weiteren Sinne gilt es vielseitiger zu erfassen.28 Wenn Gewalt als Verletzung des Körpers erfahren bzw. als Schmerz gefühlt werden muss, um als Gewalt gelten zu können, dann liegt sie nicht allein in dem Fall vor, in dem ein Körper geschlagen und ange- schossen, verbrüht oder zerstückelt wird. Gewalt kann dann durchaus auch in dem Fall erfahren werden, in dem eine Verletzung des Körpers zwar subjektiv gefühlt und anschließend vielleicht sogar öffentlich de- battiert wird, aber nichts desto trotz medial vermittelt bleibt: Die Dar- stellung von Gewalt wird in einem solchen Fall – nicht an und für sich, sondern nur von ganz bestimmten Akteuren in einem ganz bestimmten Kontext29 – als aggressiv intendiert gedeutet und demzufolge von be-

27 Zur Geschichte der Gefühle in körpergeschichtlicher Perspektive vergleiche ausführli- cher Pascal Eitler u. Monique Scheer, Emotionengeschichte als Körpergeschichte. Ei- ne heuristische Perspektive auf religiöse Konversionen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 282-313. Zur Geschichte der Gefühle siehe insgesamt auch den sehr lesenswerten Überblick von Jan Plamper, Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012. 28 Siehe hierzu auch den Minerva Forschungsschwerpunkt „Gefühle, Gewalt und Frie- den“ am Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin: http://www.mpib-berlin.mpg.de/de/forschung/ge- schichte-der-gefuehle/minerva-forschungsschwerpunkt-gefuehle-gewalt-frieden (zu- letzt 23.08.2013). 29 Das vorliegende Heft versteigt sich an dieser Stelle also nicht in eine kaum mehr überschaubare und sich ständig drehende Theoriedebatte innerhalb der Medienwis- senschaften über die oftmals so bezeichnete „Macht der Bilder“. Siehe demgegen- über den gelungenen Überblick von Cornelia Brink u. Jonas Wegerer, Wie kommt die Gewalt ins Bild? Über den Zusammenhang von Gewaltakt, fotografischer Aufnahme und Bildwirkungen, in: Fotogeschichte 32 (2012), S. 5-14. Vergleiche ebenfalls Ute Frevert u. Anne Schmidt, Geschichte, Emotionen und die Macht der Bilder, in: Ge- schichte und Gesellschaft 37 (2011), S. 5-25; Cornelia Brink, Bildeffekte. Überlegun-

Einführung 171

stimmten Zuschauern als Ausübung von Gewalt wahrgenommen. Die Verletzung eines „anderen“ erscheint in einem solchen Fall in mehr oder weniger abgeschwächtem Maße – quasi mimetisch30 – auch als eine Ver- letzung des „eigenen“ Körpers, zum Beispiel in der Gestalt von Übelkeit oder Zittern, Atembeschwerden oder Schlaflosigkeit. Diese Zuschauer fühlen sich auch selbst in ihrer körperlichen Integrität angegriffen und dieses Gefühl – falls es tatsächlich eine solche Verletzung des „eigenen“ Körpers anzeigt – gilt es in körpergeschichtlicher Perspektive überaus ernst zu nehmen.31 Es geht an dieser Stelle also nicht um psychische Verletzungen als Folge der Ausübung von Gewalt, es geht um physische Verletzungen als Folge der Darstellung von Gewalt. Eine Begriffsge- schichte der Gewalt und bestimmter mit ihr verstrickter Gefühle greift an dieser Stelle nur teilweise. Im Zentrum des Interesses steht hier mithin nicht, dass Gewalt eine Vielzahl von gänzlich unterschiedlichen Gefühlen – Hass oder Wut, Trauer oder Mitleid – zu evozieren und auch zu sanktionieren vermag.32 Und es geht demnach noch weniger um die viel beschworenen „Leiden- schaften der Gewalt“ und die ihnen angeblich eigentümliche „Tendenz zum Absoluten“.33 Betreibt bzw. befragt man die Geschichte der Gefühle in körpergeschichtlicher Perspektive, so zeigt sich vielmehr, dass sich die doch scheinbar so klaren Grenzen des „eigenen“ Körpers – zum Bei- spiel im Angesicht von Gewalt – zeitweise auflösen oder verschwimmen können, gegebenenfalls vor allem auch mit beobachtbaren Folgen für bestimmte Zuschauer: In ihrer Wahrnehmung nämlich avancieren diese Zuschauer selbst zu „Opfern“. Haben diese Zuschauer indes keine – ver- öffentlichten oder auch unveröffentlichten – Selbstaussagen hinterlas- sen, in denen sie dergestalt von einer Verletzung ihres „eigenen“ Kör- pers berichten, so wird man von ihnen auch nicht als „Opfern“ sprechen können – auch hier gilt das Veto der Quellen. Obgleich die Verletzung des Körpers im Zentrum des Interesses steht, rückt damit sogleich auch deren Darstellung in den Mittelpunkt der

gen zum Zusammenhang von Fotografie und Emotionen, in: Geschichte und Gesell- schaft 37 (2011), S. 104-129. 30 Siehe auch Linda Williams, Film Bodies: Gender, , and Excess, in: Film Quarterly 44 (1991), S. 2-13. 31 Dies ist zudem einer der Knackpunkte in der Auseinandersetzung um hate speech. Vergleiche insbesondere Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1997. 32 Vergleiche beispielsweise Philipp Müller, Auf der Suche nach dem Täter. Die öffentli- che Dramatisierung von Verbrechen im Berlin des Kaiserreichs, Frankfurt am Main 2005; Kerstin Brückweh, Mordlust. Serienmorde, Gewalt und Emotionen im 20. Jahr- hundert, Frankfurt am Main 2006. 33 Sofsky, Traktat, S. 48 u. 62. Tatsächlich wendet sich eine solche Sichtweise auch ganz offen gegen eine Historisierung von Emotionen. 172 Pascal Eitler

Aufmerksamkeit. Gerade im Hinblick auf die Entstehung und den Ein- fluss von Gefühlen gilt es eine traditionelle Unterscheidung und dicho- tome Gegenüberstellung der Darstellung von Gewalt einerseits und der Ausübung von Gewalt andererseits umsichtig zu problematisieren, was ausdrücklich nicht bedeutet, sie vollauf zu relativieren.34 Das vorliegen- de Heft leistet in diesem Zusammenhang auch einen historischen, kriti- schen Beitrag zum nach wie vor erhitzten Streit um die sogenannte Me- diengewalt bzw. den – angeblich oder tatsächlich – bedenklichen Ein- fluss des permanenten Konsums von beispielweise First-Person- Shootern, nicht allein, aber allem voran auf Jugendliche.35 Doch fragt es dabei eben nicht nach den angeblich inhärenten Auswirkungen eines bestimmten Mediums bzw. und einer meist nebulös bleibenden „Macht der Bilder“, sondern nach den gesellschaftlich profilierten Aus- einandersetzungen unter bestimmten Akteuren – Jugendlichen oder Erwachsenen, Männern oder Frauen – und deren gegebenenfalls rekon- struierbaren Gefühlen. Es lenkt den Blick in dieser Hinsicht von den so- genannten potentiellen „Tätern“ auf die möglicherweise bereits anwe- senden „Opfer“ unter den Zuschauern und die breiteren Kontexte und beobachtbaren Effekte ihrer konkreten Wahrnehmung – nicht zuletzt im Zusammenhang ihrer Selbstverhältnisse. Ein wichtiger Aufgabenbereich gerade auch der historischen Gewaltforschung zum 19. und 20. Jahr- hundert erfährt diesbezüglich noch zu selten Beachtung: die mediale Vermittlung und vor allem bildliche Repräsentation von Gewalt, die konkrete Wahrnehmung dieser Repräsentation und schließlich die öf- fentliche Debatte um diese Wahrnehmung.36 Auch grenzt die historische Gewaltforschung zum 19. und 20. Jahr- hundert den Blick auf den Körper und dessen Verletzung oft von vorn-

34 Vor diesem Hintergrund kaum weiterführend: Wolfgang Sofsky, Todesarten. Über Bilder der Gewalt, Berlin 2011. 35 Vergleiche zur sogenannten Mediengewalt lediglich die – historische, kritische – Er- örterung von Isabell Otto, Aggressive Medien. Zur Geschichte des Wissens über Me- diengewalt, Bielefeld 2008. 36 Dieser Aufgabenbereich wird in der Regel zu Unrecht den Medienwissenschaften zugeschrieben bzw. überlassen. Einige wenige, sehr gelungene Untersuchungen in- nerhalb der zeithistorischen Gewaltforschung widmen sich diesbezüglich vor allem dem Umgang mit Kriegen und Massenvernichtungen. Siehe zum Beispiel Cornelia Brink, Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus national- sozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998; Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001. Siehe auch den jüngst eingerichteten Forschungsverbund „Hate Pictures. Bild- praktiken und aversive Emotionen in der visuellen Kultur des Politischen“ an der Technischen Universität Berlin: http://www.tu-berlin.de/fakultaet_i/zentrum_fuer_ antisemitismusforschung/menue/forschung/forschungsverbund_hate_pictures/ (zu- letzt 02.09.2013). Einführung 173 herein dadurch ein, dass sie sich üblicherweise – gerade auch im deutschsprachigen Raum – fast ausschließlich der Untersuchung von Kriegen und Massenvernichtungen widmet, dem Einsatz militärischer bzw. polizeilicher Gewalt, dem Faschismus und Stalinismus oder aber dem Terrorismus und „heterodoxen“ Formen und Foren der Gewalt nach „1968“.37 Im Fadenkreuz der Forschung stehen letztlich der Staat und der Missbrauch oder die Bedrohung von dessen sogenanntem Ge- waltmonopol – diese Engführung auf den Staat oder besser ein bestimm- tes Verständnis vom Staat folgt vorrangig politikgeschichtlichen Frage- stellungen.38 Insbesondere im Fall der zeithistorischen Gewaltforschung zu den 1960er bis 1980er Jahren wirkt die Beschreibung und Untersu- chung von erfahrenen oder ausgeübten Verletzungen von Körpern dabei häufig sehr blass – nahezu körperlos.39 Nach wie vor wird zu wenig be- rücksichtigt und detailliert rekonstruiert, dass und wie sowohl die Aus- übung als auch – meist widerwillig – die Erfahrung von Gewalt körper- lich sehr unterschiedlich angeeignet und abverlangt wird, auch fernab

37 Die Vielfältigkeit der Forschung zu diesen Aufgabenfeldern macht eine Bestandsauf- nahme nahezu unmöglich. Vergleiche in Hinsicht auf Arbeiten zum deutschsprachi- gen Raum insbesondere Christopher Browning, Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland, New York 1993; Dirk Schumann, Politi- sche Gewalt in der Weimarer Republik. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001; Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002; Klaus Weinhauer, Schutzpolizei in der Bundesrepublik. Zwischen Bürgerkrieg und In- nerer Sicherheit. Die turbulenten sechziger Jahre, Paderborn 2003; Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007. Vergleiche ebenfalls Klaus Weinhauer, Jörg Requate u. Heinz-Gerhard Haupt Hg., Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt am Main 2006; Alf Lüdtke, Herbert Reinke u. Michael Sturm Hg., Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2011. Siehe zum Beispiel auch den Überblick von Habbo Knoch, Einlei- tung. Vier Paradigmen des Gewaltdiskurses, in: Uffa Jensen, Habbo Knoch, Daniel Morat u. Miriam Rürup Hg., Gewalt und Gesellschaft. Klassiker modernen Denkens neu gelesen, Göttingen 2011, S. 11-45. Gewichtige Ausnahmen entstanden bislang zumeist an der Schnittstelle von Gewaltgeschichte und Geschlechtergeschichte. Ver- gleiche beispielsweise Judith Walkowitz, City of Dreadful Delight. Narratives of Sexual Danger in Late-Victorian London, Chicago 1992; Tanja Hommen, Sittlichkeitsverbre- chen. Sexuelle Gewalt im Kaiserreich, Frankfurt am Main 1999; Joanna Bourke, Rape. Sex, Violence, History, Berkeley 2009. 38 Eine solche Engführung verfolgt beispielsweise auch Jan Claas Behrends, Gewalt und Staatlichkeit im 20. Jahrhundert. Einige Tendenzen zeithistorischer Forschung, in: Neue Politische Literatur 58 (2013), S. 39-58. 39 So erschöpft sich insbesondere die Forschung zu Gewaltbereitschaften und Gewalt- tätigkeiten innerhalb „linker“ Protestmilieus von der Studentenbewegung bis zu den Autonomen in der Regel entweder in ideologischen Grabenkämpfen oder aber in – zweifelsohne sehr lesenswerten – Begriffsgeschichten bzw. Semantikanalysen. 174 Pascal Eitler von Kriegen und Massenvernichtungen.40 Zwar soll die wissenschaftli- che und darüber hinaus auch aufklärerische Bedeutung dieser For- schung mitnichten bestritten werden, darum geht es an dieser Stelle ganz und gar nicht, doch lassen sich zahlreiche und einflussreiche As- pekte und Akteure der Gewaltgeschichte im Besonderen wie auch der Zeitgeschichte im Allgemeinen vor diesem Hintergrund nur schwer an- gemessen untersuchen.41 Zwar haben politikgeschichtliche Arbeiten in kommunikationsge- schichtlicher Hinsicht inzwischen mehrfach verdeutlicht, dass auch Ge- walt stets in Kommunikation eingebunden ist und nicht selten auch selbst als eine Form von Kommunikation begriffen werden kann.42 Ge- walt markiert daher an sich weder das Ende der Kommunikation noch das Ende der Politik bzw. des Politischen – auch in ihrem Schatten wer- den die Grenzen des Politischen immer wieder anders gezogen.43 Das innerhalb der zeithistorischen Gewaltforschung oft vorherrschende Ver- ständnis vom Staat jedoch beruht häufig auf einer offiziell zwar einver- nehmlich abgelehnten, inoffiziell aber doch erstaunlich beharrlichen Vorabunterscheidung zwischen Politischem und Privatem bzw. auf einer Gegenüberstellung von „politischer“ und vermeintlich rein „privater“ Gewalt. Bestimmte Themen, bestimmte Konflikte innerhalb der Gewalt- geschichte im Besonderen und der Zeitgeschichte im Allgemeinen konn- ten daher bislang nicht ausreichend gewürdigt werden – so mangelt es zum Beispiel geradezu folgerichtig noch immer an ernstzunehmenden

40 Siehe aber zum Beispiel Joanna Bourke, An Intimate History of Killing. Face-to-Face Killing in Twentieth Century Warfare, New York 1999. 41 Neuere Ansätze tun sich gegenwärtig insbesondere in stadtgeschichtlicher Perspekti- ve und im Hinblick auf spezifische Gewaltgemeinschaften auf. Vergleiche beispiels- weise Friedrich Lenger Hg., Kollektive Gewalt in der Stadt. Europa 1890-1939, Mün- chen 2013; Winfried Speitkamp Hg., Gewaltgemeinschaften. Von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2013. Für Hinweise zur Gewaltgeschichte als Stadtge- schichte danke ich vor allem Dagmar Ellerbrock und Klaus Weinhauer, siehe dem- nächst auch das Themenheft der Informationen zur modernen Stadtgeschichte 44 (2013), Heft 2, über „Stadt und Gewalt“. Vergleiche ebenfalls John Wood, Locating Violence. Space and the Construction of Physical Aggression, in: Katherine Watson Hg., Assaulting the Past. Placing Violence in Historical Context, Newcastle 2007, S. 20- 37. 42 Eher skeptisch argumentieren hier Bernd Weisbrod, Das Politische und die Grenzen der politischen Kommunikation, in: Daniela Münkel u. Jutta Schwarzkopf Hg., Ge- schichte als Experiment. Studien zu Politik, Kultur und Alltag im 19. und 20. Jahrhun- dert, Frankfurt am Main 2004, S. 99-112; Jan Philipp Reemtsma, Die Gewalt spricht nicht. Drei Reden, Stuttgart 2002. 43 Einen breiten Überblick bietet nunmehr Heinz-Gerhard Haupt, Gewalt und Politik im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2011. Siehe auch Neithard Bulst, In- grid Gilcher-Holtey u. Heinz-Gerhard Haupt Hg., Gewalt im politischen Raum. Fallana- lysen vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2008. Einführung 175

Studien zur Zeitgeschichte der sogenannten häuslichen Gewalt vorwie- gend gegenüber Frauen und Kindern, zur Zeitgeschichte der Vergewalti- gung wie auch der Selbstverteidigung – auch fernab von Kriegen und Massenvernichtungen.44 Die zeithistorische Gewaltforschung privilegiert vor diesem Hinter- grund indes nicht nur häufig in problematischer Weise den Staat bzw. dessen fragliches Gewaltmonopol und zementiert demzufolge nicht sel- ten eine dichotome Gegenüberstellung von „politischen“ und vermeint- lich rein „privaten“ Arten oder Anlässen von Gewalt. Die Forschung vermag in diesem Rahmen auch zumeist lediglich eine Seite der Gewalt zu analysieren und zu kritisieren: Gewalt als Mittel oder Spiegel der Fremdführung – doch Gewalt dient nicht allein der Fremdführung. Im Umgang mit Gewalt tritt ein Mensch nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit sich selbst in ein keineswegs rein individuelles, son- dern kollektiv gestaltetes Verhältnis. Gewalt betrifft so gesehen – im An- schluss an Michel Foucault45 – ebenfalls die Selbstführung, diejenige der „Opfer“ oder „Täter“ und schließlich auch diejenige der Zuschauer.46 Dass Menschen sich im Umgang mit Gewalt selbst führen, heißt dabei gerade nicht, dass sie sich im Angesicht von Gewalt selbst finden. Diese Art der Mystifizierung von Gewalt – im Anschluss an Georges Bataille47 – gilt es nach meinem Dafürhalten klar zurückzuweisen.

44 Vergleiche zu Vergewaltigungen im Zweiten Weltkrieg allerdings insbesondere Regi- na Mühlhäuser, Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deut- scher Soldaten in der Sowjetunion, 1941-1945, Hamburg 2010. Siehe zu Vergewalti- gungen nach dem Zweiten Weltkrieg bereits frühzeitig Atina Grossmann, A Question of Silence. The Rape of German Women by Occupation Soldiers, in: October 72 (1995), S. 42-63. Insgesamt sehr viel besser ist es diesbezüglich um die soziologische oder pädagogische Gewaltforschung bestellt. Vergleiche lediglich Gender Initiativkol- leg Hg., Gewalt und Handlungsmacht. Queer_Feministische Perspektiven, Frankfurt am Main 2012; Patricia Zuckerhut u. Barbara Grubner Hg., Gewalt und Geschlecht. Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf sexualisierte Gewalt, Frankfurt am Main 2011; Antje Hilbig Hg., Frauen und Gewalt. Interdisziplinäre Untersuchungen zu ge- schlechtsgebundener Gewalt in Theorie und Praxis, Würzburg 2003. Siehe zum Bei- spiel auch das Themenheft des International Journal of Conflict and Violence 7 (2013), Heft 2, über „Intimate Partner Violence“: http://www.ijcv.org/issues/ijcv7 (2)2013.pdf (zuletzt 18.11.2013). 45 Vergleiche lediglich Michel Foucault, Technologien des Selbst, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. IV, Frankfurt am Main 2005, S. 966-998. 46 Dies wird üblicherweise viel zu selten berücksichtigt, umso lesenswerter daher: Alf Lüdtke u. Michael Wildt, Einleitung. Staats-Gewalt, in: dies. Hg., Staats-Gewalt. Aus- nahmezustand und Sicherheitsregime. Historische Perspektiven, Göttingen 2008, S. 7-38, S. 23-25. 47 Siehe zu Georges Bataille und dessen Bedeutung für die Gewaltforschung vor allem Michael Riekenberg, Über die Gewalttheorie von Georges Bataille und ihren Nutzen für die Gewaltsoziologie, in: Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und verglei- chende Gesellschaftsforschung 21 (2011), S. 105-128. 176 Pascal Eitler

Wie unterschiedlich Fremdführung und Selbstführung oft wechselsei- tig ineinander überführt werden, zeigt sich im Hinblick auf die Vorge- schichte und Nachgeschichte der Gewalt meist sehr viel besser als mit Bezug auf deren Situativität. Gewalt kann Menschen objektivieren, sie vermag Menschen aber auch zu subjektivieren und begründet daher keineswegs allein unterschiedliche Herrschaftsverhältnisse, sondern häufig ebenfalls neuartige Selbstverhältnisse. Zwar übt Gewalt auf der Ebene der Herrschaft eine andere Form von Macht aus als auf der Ebene des Selbst – doch beide Seiten der Menschenführung bedingen sich mannigfach und treiben sich gegenseitig voran, in genau diesem Sinne beschäftigt sich das vorliegende Heft mit Gewaltverhältnissen. Dement- sprechend sollte es nicht darum gehen, politikgeschichtliche und kör- pergeschichtliche Zugänge gegeneinander auszuspielen, stattdessen gilt es, sehr gezielt nach vielversprechenden Schnittstellen und wechselsei- tigen Erweiterungen zu suchen. Die Geschichte des Staates ist schließ- lich nicht allein mit der Geschichte der Gewalt, sondern ebenso vielfältig mit der Geschichte des Körpers und der Geschichte des Selbst verknüpft – nicht zuletzt auch im Hinblick auf staatliche bzw. behördliche Versu- che, den Erwerb und vor allem den Ausdruck bestimmter Gefühle zu präfigurieren bzw. zu kontrollieren, nicht nur im Fall einer Kriegserklä- rung oder der Rasterfahndung, einer Massenerschießung oder der To- desstrafe.48 Doch berührt Gewalt in dieser Hinsicht eben auch Fragen, die in der – körpergeschichtlich überaus schwerwiegenden – Suche nach Hierar- chien oder Hegemonien nicht einfach aufgehen. Auf welch verschieden- artige Weise und mit welch verschiedenartigen Folgen Menschen im Umgang mit Gewalt auch einen bestimmten und sich gegebenenfalls stark wandelnden Umgang mit sich selbst pflegen und wie engmaschig Gewaltpraktiken und Subjektivierungsweisen dabei ineinander ver- strickt sein können, gilt es sehr viel detaillierter zu rekonstruieren.49 Im Zusammenhang mit einem tendenziell eher ahistorischen Verständnis vom Körper pflegt die Forschung indes häufig ein ebenso ahistorisches Verständnis vom Selbst.50 Sie scheint gegenwärtig zu sehr auf eine mög-

48 Zur Geschichte der Todesstrafe in diesem Zusammenhang noch immer sehr lesens- wert: Daniel Arasse, Die Guillotine. Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit, Reinbek 1988. Vergleiche insbesondere Jürgen Martschukat, Inszenier- tes Töten. Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, Köln 2000. 49 Viel Raum eröffnet hier zum Beispiel die Analyse des Duells: Ute Frevert, Ehrenmän- ner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991; Winfried Speitkamp, Ohrfeige, Duell und Ehrenmord. Eine Geschichte der Ehre, Stuttgart 2010. 50 Siehe zur Zeitgeschichte des Selbst unter anderem Sabine Maasen, Jens Elberfeld, Pascal Eitler u. Maik Tändler Hg., Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeu-

Einführung 177

lichst rasche und umfassende Kontrolle von Gewalt aus, um die Plurali- tät und Produktivität von Gewaltpraktiken – nicht allein, aber auch – als Subjektivierungsweisen angemessen berücksichtigen zu können.51 An dieser Stelle einen phänomenologischen Standpunkt einzunehmen und davon auszugehen, dass Gewalt einen Menschen im Schmerz ganz auf sich selbst und den „eigenen“ Körper zurückzuwerfen drohe, auf den „Leib“, erscheint mir in körpergeschichtlicher Perspektive insgesamt wenig erkenntnisförderlich. Auch diese Art der Mystifizierung von Ge- walt gilt es letztlich zu verabschieden. Die Annahme oder Befürchtung, im Angesicht der Gewalt ergreife „der Körper von uns Besitz“ und „wir“ hörten daher auf, „Herren unserer selbst zu sein“, beruht meinem Ein- druck nach auf der sehr problematischen Vorannahme, „wir“ seien an- sonsten sehr wohl „Herren unserer selbst“ und dieses Selbst sei irgen- detwas fernab des Körpers und letztlich auch fernab der Geschichte.52 Der Körper wird dabei nicht selten zu einem zentralen Agenten des vermeintlich Unbewussten – zu eben jenem „Leib“. Innerhalb historisch wandelbarer und gesellschaftlich initiierter Selbstverhältnisse verfügt jedoch auch das „Opfer“ über durchaus unter- schiedliche Möglichkeiten bzw. Verpflichtungen sich permanent zu sub- jektivieren, zum Beispiel, indem es sich selbst als „Leib“ begreift und so- dann auch behandelt. Die subjektive Erfahrung von Gewalt ist so gese- hen immer auch eine subjektivierende. An dieser Stelle geht es ganz und gar nicht darum, den Schmerz infolge einer – möglicherweise grausa- men oder lang andauernden – Verletzung des Körpers zu leugnen oder zu verharmlosen; schon gar nicht wird beabsichtigt, das „Opfer“ für die „eigene“ Erfahrung kurzerhand selbst verantwortlich zu erklären – ganz im Gegenteil. Es geht lediglich darum, im Angesicht von Gewalt nicht vorschnell und unnötig die Pluralität und Produktivität sowohl ihrer Ausübung als auch ihrer Erfahrung aus dem Blick zu verlieren, mit Be- zug auf den Körper wie mit Bezug auf das Selbst.53 Der Vorwurf des Zy-

tisierung in den langen Siebzigern, Bielefeld 2011; Uffa Jensen u. Maik Tändler Hg., Das Selbst zwischen Anpassung und Befreiung. Psychowissen und Politik im 20. Jahr- hundert, Göttingen 2012. 51 Vergleiche ebenfalls Wilhelm Heitmeyer u.a. Hg., Control of Violence. Historical and International Perspectives on Violence in Modern Societies, New York 2010. Siehe letztlich auch Collins, Violence. 52 Diesbezüglich daher kaum weiterführend: Baberowski, Gewalt verstehen, Abschnitt 9. Ganz ähnlich zum Beispiel: Sofsky, Traktat, S. 31. Diese Vorannahme teilt meinem Eindruck nach noch immer ein Gutteil der Forschung. 53 Dies zeigt sich nicht allein am sehr unterschiedlichen Umgang mit Gewalt im Ange- sicht von Kriegen oder Massenvernichtungen, dies zeigt sich zum Beispiel auch sehr deutlich und für viele Menschen verstörend am Entführungsfall von Natascha Kam- pusch, die sich gegen die Wahrnehmung bzw. Zuschreibung wehrt, ein „Opfer“ zu sein. Siehe auch Natascha Kampusch, 3096 Tage, Berlin 2012. 178 Pascal Eitler nismus würde einen solchen Anspruch auf Distanz gründlich missverstehen. Nicht nur der Schmerz eines „Opfers“, auch Gefühle wie Angst oder Trauer, Liebe oder Neugierde lassen sich anderen Menschen lediglich teilweise vermitteln – das bedeutet aber keineswegs, dass diese Gefühle historisch unveränderbar oder gänzlich individuell wären.54 Das vorliegende Heft betrachtet die Gewaltgeschichte mithin zwar al- lem voran als Körpergeschichte, es beschäftigt sich aber gerade deshalb nicht allein mit der Gewalt im engeren Sinne, in ihrer Situativität, son- dern vor allem mit Gewaltverhältnissen im weiteren Sinne, in ihrer His- torizität. Der Begriff der Gewaltverhältnisse wird dabei nicht in einem – erheblich gebräuchlicheren – sozialstrukturellen, sondern in einem ge- nealogischen Sinne verwendet bzw. gewendet.55 Der Körper und daran anschließend auch das Selbst werden daher weniger als theoretischer Ausgangspunkt der Gewaltforschung denn als deren empirische For- schungsaufgabe benannt, die Macht von Gewalt nicht allein auf der Ebe- ne der Fremdführung, sondern ebenfalls auf der Ebene der Selbstfüh- rung befragt. Je mehr das Selbst eines Menschen in der „Moderne“ an seinen Körper und dessen vermeintliche „Wahrheit“ gebunden wird, von der klassischen Lebensreform bis zur „Ökologischen Revolution“, von der „Sexuellen Revolution“ bis zum aktuellen Wellnesszwang, desto eher betrifft eine Verletzung des Körpers auch und nicht zuletzt das Selbst und dessen vermeintliche „Verwirklichung“. Körperliche Integrität gerät dabei sehr rasch zur Grundvoraussetzung der angestrebten Identität.56 Speziell die zeithistorische Gewaltforschung sollte Gewalt dementspre- chend nicht ausschließlich als ein Herrschaftsverhältnis, sondern gleich- ermaßen als ein – umkämpftes und sich wandelndes – Selbstverhältnis analysieren und sodann auch problematisieren. An die Stelle einer Phä- nomenologie der Gewalt sollte in diesem Sinne eine Genealogie von Ge- waltverhältnissen treten.

54 Zur Vorstellung des Unvermittelbaren von Gefühlen siehe kritisch etwa Monique Scheer, Topografien des Gefühls, in: Ute Frevert u.a., Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne. Frankfurt am Main 2011, S. 41-64; Eitler u. Scheer, Emotionengeschichte. Sehr vielschichtig und umsichtig: Jakob Tanner, Zur Kulturge- schichte des Schmerzes, in: Georg Schönbächler Hg., Schmerz. Perspektiven auf eine menschliche Grunderfahrung, Zürich 2007, S. 51-75. 55 Zum Konzept der Genealogie siehe nach wie vor Foucault, Nietzsche. 56 Vergleiche lediglich Maren Möhring, Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890-1930), Köln 2004; Stefanie Duttweiler, Sein Glück machen. Arbeit am Glück als neoliberale Regierungstechnologie, Konstanz 2007. Vergleiche auch die Beiträge in Body Politics 1 (2013), Heft 1, zum Thema „Fordismus“: http:// www.bodypolitics.de/de/archiv/?ausgabe=13 (zuletzt 30.08.2013). Einführung 179

2. Gewaltverhältnisse als Forschungsaufgabe

Welche neuen Aufgabenfelder treten hervor, wenn man die Geschichte der Gewalt vor allem im Hinblick auf die Geschichte des Körpers und da- ran anschließend auch in Hinsicht auf die Geschichte des Selbst rekon- struiert und reflektiert? Das vorliegende Heft verhandelt nachstehend fünf meinem Eindruck nach besonders fruchtbare und streckenweise auch herausfordernde Aufgabenfelder einer solchen Genealogie von Gewaltverhältnissen im 19. und 20. Jahrhundert und allem voran in den 1960er bis 1980er Jahren. Erstens gilt es, wie bereits angemerkt wurde, politikgeschichtliche Analysen gezielter um körpergeschichtliche Perspektiven zu erweitern. Einerseits ginge es darum, die besonders innerhalb der zeithistorischen Gewaltforschung meist gängige Engführung auf ein bestimmtes Ver- ständnis vom Staat, dessen sogenanntes Gewaltmonopol und eine mit- unter dichotome Gegenüberstellung von Politischem und Privatem be- wusst zu vermeiden, um Gewaltverhältnisse in ihrer Vielfältigkeit sehr viel adäquater erschließen und kritischer befragen zu können. Men- schen zu regieren heißt immer auch und nicht zuletzt deren Körper zu regieren, zu formen und zu führen. Andererseits gilt es in eben diesem Sinne aber auch, den Körper – im Anschluss an Michel Foucault57 – als einen Ort politischer Konflikte und gesellschaftlicher Ordnungsversuche zu verstehen. Die Körpergeschichte sollte daher sehr bewusst den Aus- tausch mit der Politikgeschichte und politikgeschichtlichen Fragestel- lungen suchen und vertiefen.58 Wie sich politikgeschichtliche Fragestel- lungen und der Blick auf den Staat sinnvoll mit einer körpergeschichtli- chen Perspektive verknüpfen lassen, skizziert im Folgenden insbeson- dere der Beitrag von Jürgen Martschukat. Er kritisiert unter anderem das Trugbild einer sich selbst als zunehmend gewaltfrei bewerbenden „Moderne“ und diskutiert demgegenüber verschiedene Arten von alltäg- licher, oft nahezu unsichtbar gewordener, den Staat aber vielfach unmit- telbar berührender Gewalt, so zum Beispiel im Fall der Folter oder in- zwischen auch der Todesstrafe. Martschukat beschließt seinen Beitrag dabei mit der – sowohl körpergeschichtlich als auch politikgeschichtlich

57 Siehe noch immer Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main 1998. 58 Theoretisch prononciert und einflussreich beispielsweise: Thomas Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg 1997. Für die Geschichtswissenschaft vergleichsweise frühzeitig und sehr unterschiedlich angelegt: Svenja Goltermann, Körper der Nation. Habitusformierung und die Politik des Turnens 1860-1890, Göttingen 1998; Jürgen Martschukat, Insze- niertes Töten. Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, Köln 2000; Philipp Sarasin, Anthrax. Bioterror als Phantasma, Frankfurt am Main 2004. 180 Pascal Eitler dringend gebotenen – Frage, welche Gewalt bzw. welches „Opfer“ es wem in der „Moderne“ wert erscheint, betrauert und erinnert zu wer- den.59 Nicht allein, doch auch im Rahmen dieser Frage tritt, zweitens, die Bedeutung von Subjektivierungsweisen und diesbezüglich nicht zuletzt von Geschlechterphantasmen ins Zentrum des Interesses. Noch immer differenziert die Gewaltforschung oft sehr holzschnittartig zwischen Männern und Frauen und konzentriert sich im Zweifelsfall auf männli- che „Täter“ und deren – männliche oder weibliche – „Opfer“. Die For- schung sollte sich indes nicht nur sehr viel gezielter auch gewalttätigen Frauen zuwenden und dergestalt das Trugbild einer angeblich zuneh- mend gewaltfreien „Moderne“ gleich zweifach in Zweifel ziehen.60 In körpergeschichtlicher Perspektive wird sie darüber hinaus vor allem auch die fortwährende Konstruktion, Konstitution und doch stete Unab- geschlossenheit von scheinbar eindeutig „männlichen“ oder „weibli- chen“ Körpern eingehender berücksichtigen müssen, um diese im Pro- zess ihrer pausenlosen, vielschichtigen Materialisierung historisch bes- ser beobachten und umfassender problematisieren zu können.61 Vor diesem Hintergrund diskutiert Eva Bischoff in ihrem Beitrag die Mög- lichkeiten einer von Gilles Deleuze und Felix Guattari inspirierten Kör- pergeschichte und Gewaltforschung. Ausgehend vom Fall eines Serien- mörders in der Weimarer Republik rückt ihr Beitrag die Instabilität von „männlichen“ Körpern und die auch daraus hervorgehende Dynamik von Gewaltverhältnissen ins Zentrum ihres Interesses. Bischoff verbin- det ihre Untersuchung in diesem Zusammenhang mit teilweise sehr weitreichenden Überlegungen zum Verhältnis von Geist und Körper bzw. Diskursivität und Materialität. Umfassend zu problematisieren gilt es aber nicht allein kontrapro- duktive Vorabunterscheidungen zwischen Politischem und Privatem oder angeblich eindeutig „männlichen“ bzw. „weiblichen“ Körpern – de- taillierter zu beschreiben gilt es ebenfalls, drittens, wie unterschiedlich sich die Grenzen der Gewalt historisch gestaltet und signifikant ver- schoben haben, zum Beispiel in Beziehung zum Sport. Begriffsgeschicht-

59 Vergleiche insbesondere Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt am Main 2010. 60 Vergleiche beispielsweise Helen Watanabe-O’Kelly, Beauty or Beast? The Woman Warrior in the German Imagination from the Renaissance to the Present, Oxford 2010; Clare Bielby, Violent Women in Print. Representations in the West German Print Media of the 1960s and 1970s, Rochester 2012. Vergleiche frühzeitig Angelika Ebbinghaus Hg., Opfer und Täterinnen. Frauenbiographien des Nationalsozialismus. Nördlingen 1987. 61 Eine vielschichtige Einführung liefern zum Beispiel Jürgen Martschukat u. Olaf Stieg- litz, Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt am Main 2008. Einführung 181

liche Befunde sollten an dieser Stelle gezielt in körpergeschichtliche Fragen überführt werden, um ein sich historisch wandelndes und mitei- nander konkurrierendes Wissen vom Körper im Allgemeinen und von der Gewalt im Besonderen auch auf der Ebene von Praktiken bzw. Tech- niken analysieren und kontextualisieren zu können. Vor diesem Hinter- grund beschäftigt sich Marcel Streng in seinem Beitrag mit der Etablie- rung und Diversifizierung von als „asiatisch“ beschriebenen und ange- eigneten „Kampfkünsten“ in der Weimarer Republik und der Bundesre- publik Deutschland. Er untersucht den Gebrauch und die Gestaltung des Körpers innerhalb der martial arts – vom Jiu Jitsu zum Jujutsu – und die dort entwickelte und eingeübte Verknüpfung von neuartigen Körper- techniken und entsprechenden Subjektivierungsweisen zwischen Gym- nastik und Selbstverteidigung, Meditation und Straßenkampf. Streng zeichnet in diesem Rahmen nicht nur nach, wie eine scheinbar trenn- scharfe Differenzierung von Sport und Gewalt im Fall der martial arts permanent unterlaufen wurde. Sein Beitrag verdeutlicht ebenfalls, wie das verschiedenartige Interpretieren und sodann auch Trainieren dieser „Kampfkünste“ – hier als Sport, dort als Gewalt – auf das Selbst und den Körper der Trainierenden unterschiedlich zurückwirkte.62 Wie bereits angemerkt wurde, viertens, berührt diese Frage nach den Grenzen der Gewalt auch und nicht zuletzt die Bedeutung von Gefühlen. Im Rahmen der jüngsten, sehr vielfältigen Bemühungen um eine Histori- sierung von Emotionen muss deren Einfluss auf Gewalt bzw. Gewaltver- hältnisse schrittweise neu vermessen werden. Auch im Fall von Gefüh- len gilt es, deren Pluralität und Produktivität umfassender zu erschlie- ßen.63 Betrachtet man Gefühle nicht allein in begriffsgeschichtlicher, sondern zuallererst in körpergeschichtlicher Perspektive, so stellt sich zum Beispiel die Frage, für welche Akteure es sich in welchem Kontext als sinnvoll erweist, von einer Verletzung der Gefühle als einer Verlet- zung des Körpers zu sprechen. Diese Frage nimmt der Beitrag von Pascal Eitler zum Anlass der Rekonstruktion und Reflexion einer in Westeuropa und Nordamerika mannigfach beobachtbaren Brutalisie- rung der Sexualität zwischen Ende der 1960er und Ende der 1980er Jahre. Sein Beitrag beschäftigt sich insbesondere mit einer entsprechend tiefgreifenden Transformation der Softcore- und Hardcore-Porno- graphie und der zeitweise sehr erhitzt geführten, öffentlichen Debatte

62 Siehe auch Thomas Lindenberger, Vom Säbelhieb zum „sanften Weg“? Lektüren phy- sischer Gewalt zwischen Bürgern und Polizisten im 20. Jahrhundert, in: Werkstatt Ge- schichte 12 (2003), S. 7-22. 63 Einen sehr breiten Überblick zur Geschichte der Gefühle bietet beispielsweise auch Bettina Hitzer, Emotionsgeschichte – ein Anfang mit Folgen. Forschungsbericht, in: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2011-11-001.pdf (zuletzt 11.08.2013). 182 Pascal Eitler um die Formen und Folgen dieser Brutalisierung der Sexualität, nicht allein, aber speziell auf Veranlassung der Frauenbewegung. Dabei gerät auch in den Blick, dass und wie sich zahlreiche Zuschauer – vor allem Frauen, mitunter aber auch Männer – von der bemerkenswert um sich greifenden Darstellung von Gewalt auch in ihrer „eigenen“ körperlichen Integrität angegriffen fühlten. Zwar besaß die mediale Vermittlung und insbesondere die bildliche Repräsentation von Gewalt bereits in der „Vormoderne“64 eine gesell- schaftlich wichtige und überdies sehr vielschichtige Bedeutung, doch hat diese in der „Moderne“ – mit dem Siegeszug der Fotografie bis Ende des 19. Jahrhunderts und sodann insbesondere mit der Durchsetzung des Tonfilms bis Mitte des 20. Jahrhunderts – nochmals stark zugenommen. Teilweise ganz neuartige Möglichkeiten der Dokumentation und Illust- ration von Gewalt wurden nunmehr zu immer geringeren Kosten immer mehr Zuschauern leicht zugänglich gemacht. Gerade im Hinblick auf Gewaltverhältnisse in der Zeitgeschichte erscheint es daher, fünftens, sehr vielversprechend, die technischen Bedingungen der medialen Ver- mittlung von Gewalt eingehender zu untersuchen. Der Beitrag von Hen- drik Pletz widmet sich in diesem Zusammenhang der Verwendung und Verhandlung von Horrorfilmen in der Bundesrepublik Deutschland der 1980er Jahre. Auch er rückt an dieser Stelle die Körper der Zuschauer in ihrem Verhältnis zu den Körpern der Schauspieler in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Sein Beitrag fokussiert auf die befürchteten oder berichteten Verletzungen der Körper von Zuschauern und die öffentli- che Debatte um den negativen Einfluss des wiederholten Konsums von Horrorfilmen, nicht nur, aber vor allem auf Jugendliche. Pletz analysiert die enorme Verbreitung und diskutierte Bedeutung von Horrorfilmen diesbezüglich vor dem Hintergrund des Durchbruchs des Videofilms bzw. Videorekorders und der sich dementsprechend bemerkenswert verändernden Sehgewohnheiten der Zuschauer. Er verbindet seine Un- tersuchung dabei mit ebenso interessanten wie diffizilen Überlegungen zur Frage nach den mit dem Videorekorder unmittelbar verknüpften Folgewirkungen von Wiederholungen für die bildliche Repräsentation von Gewalt, die konkrete Wahrnehmung dieser Repräsentation und die öffentliche Debatte über diese Wahrnehmung. Gewaltverhältnisse als Forschungsaufgabe zu konturieren, meint im Rahmen dieser fünf Beiträge, den verletzenden oder verletzten Körper gleichermaßen als historisch produziert und produktiv zu betrachten und die historische Gewaltforschung dabei für Fragestellungen und Themenkomplexe zu sensibilisieren, die bislang eher selten zum Gegen-

64 Vergleiche teilweise beispielsweise Valentin Groebner, Ungestalten. Die visuelle Kul- tur der Gewalt im Mittelalter, Berlin 2003. Einführung 183

stand einer Untersuchung und mitunter sogar ausdrücklich aus dem Be- reich der Gewalt bzw. der Gewaltgeschichte ausgegrenzt wurden – mit intendierten oder unintendierten Folgen für die Legitimität bzw. Popu- larität von deren Analyse. In körpergeschichtlicher Perspektive lässt sich jedoch zeigen, dass und wie derartige Fragestellungen und The- menkomplexe in der „Moderne“ und allem voran seit den 1960er bis 1980er Jahren immer öfter in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung rückten. Das vorliegende Heft versucht in diesem Sinne nicht, den aktuellen Aufgabenbereich der historischen und insbesondere der zeithistori- schen Gewaltforschung angemessen zu würdigen, es bemüht sich viel- mehr, ihn um die skizzierten Aufgabenfelder sinnvoll zu erweitern. Es widmet sich einer Geschichte der Gewalt, die ihren Ausgang gerade nicht bei Kain und Abel nimmt.

Pascal Eitler, Kontakt: eitler (at) mpib-berlin.mpg.de. Dr. phil., studierte Geschichtswis- senschaft, Soziologie und Philosophie an der Universität Bielefeld und der E.H.E.S.S. in Paris und ist zurzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Seine Forschungs- schwerpunkte liegen in der Körper- und Emotionsgeschichte des 19. und 20. Jahrhun- derts, in der Politik- und Religionsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland und in der Geschichte von Mensch-Tier-Verhältnissen.

Body Politics 1 (2013), Heft 2, S. 185-198

Gewalt: Kritische Überlegungen zur Historizität ihrer Formen, Funktionen und Legitimierungen

Jürgen Martschukat

English abstract: The article argues against quantifying approaches to the study of vio- lence which assume a decline of violence throughout history and seem to have gained new momentum with Steven Pinker’s recently published important book. Instead, it ex- plores the continuous and powerful impact of violence in modern history, even though “modern civilized” societies have been officially opposed to violence and its use for centu- ries. Analyzing particular configurations of violence and its different employments in both Europe and North America against different people and differently perceived bodies this article questions the paradigms of “civilization” and “modernity.” Violence is ren- dered compatible with “modern civilization” through the regularity of its use, through its concealment, and through its deployment against those people who are not perceived as “subjects” and whose lives and suffering are deemed less “grievable” (Judith Butler).

Das Gefährlichste an der Gewalt ist gera- de ihre Rationalität. Natürlich ist Gewalt schlechthin schrecklich. Aber ihren festen Grund und ihre Beständigkeit erhält die Gewalt durch die Art von Rationalität, die wir ihr einsetzen. Man hat gesagt, wenn wir in einer Welt der Vernunft lebten, könnten wir uns von der Gewalt befreien. Das ist vollkommen falsch. Gewalt und Vernunft sind nicht unvereinbar. Mir geht es nicht darum, der Vernunft den Prozess zu machen. Ich möchte vielmehr die Na- tur dieser Vernunft bestimmen, die so gut mit der Gewalt vereinbar ist. (Foucault 2005a: 49)

Der Traum von der Existenz einer gewaltfreien Moderne (Joas 2000) scheint auch im 21. Jahrhundert noch nicht ausgeträumt. Jüngst hat der Psychologe Steven Pinker auf über 1000 eng beschriebenen Seiten zu zeigen versucht, dass Gewalt zwar nicht auf Null zurückgegangen sei, sie aber „im Laufe der Geschichte tatsächlich abgenommen hat“ (2011: 12). Man könne ausrechnen, so Pinker, dass sich die statistische Wahrschein- lichkeit, in seinem Leben Opfer einer Gewalttat zu werden, in der Ge- schichte der Menschheit reduziert habe. Die Gründe dafür lägen im Ent- stehen zunehmend organisierter Gesellschaften seit dem Neolithikum,

www.bodypolitics.de | urn:nbn:de:gbv:547-201400139 | ISSN 2196-4793 186 Jürgen Martschukat im Prozess der Zivilisation seit dem Ende des Mittelalters, im aufgeklär- ten Denken seit dem 17. Jahrhundert, in der Pazifizierung der Groß- mächte nach dem Zweiten Weltkrieg, im Rückgang von Kriegen ver- schiedenster Art seit dem Ende des Kalten Krieges und in der Ausbrei- tung eines wachsenden Widerwillens gegen Gewalt in unseren alltägli- chen sozialen Beziehungen, wofür symbolisch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 stehe. Die Argumente klingen ebenso vertraut wie die Gegenargumente, die ich hier nicht alle auflisten will. Aufgegriffen sei jedoch eine der skepti- schen Fragen, die Pinkers zahlreiche Kritikerinnen und Kritiker aufge- worfen haben: Welche Zusammenhänge werden eigentlich erhellt, wenn Gewalt quantifiziert und in ihrer Relation zu Bevölkerungszahlen be- wertet wird? Welchen Wert kann eine Diagnose wie die Pinkers haben (selbst wenn sie im Rahmen ihrer Bedingungen mathematisch zutrifft), wenn man etwa ein Zwanzigstes Jahrhundert zu verstehen sucht, das von zwei Weltkriegen, Genoziden, industriellen Massenmorden, Vertrei- bungen und Kolonialismen durchzogen war? Wenn man sehen muss, dass sich Menschen in den Verrichtungen ihres Alltags nach wie vor zahlreichen Formen von Gewalt stellen müssen? Sollte man nicht viel- mehr – und zudem insbesondere dann, wenn man Pinkers Diagnose ernst nimmt – fragen, unter welchen Bedingungen, in welcher Form und gegen wen Gewalthandeln möglich war und ist, angemessen erscheint und praktiziert wird in jenen Gesellschaften, die angeblich von einem Rückgang und einer Ächtung von Gewalt geprägt sind bzw. eine solche Ächtung zumindest für sich in Anspruch nehmen. Sollte man nicht dieje- nigen Menschen befragen, die Gewalt erfahren haben, um herauszufin- den, wie sie das Zeitalter angeblicher Pazifizierung beurteilen? Anders formuliert: Selbst wenn man meint, unter bestimmten Vo- raussetzungen einen Rückgang von Gewalt messen zu können, so drängt sich die Frage nach ihren spezifischen historischen Möglichkeitsbedin- gungen, nach ihren sich wandelnden Formen, Opfern, Tätern, Funktions- und Erfahrungsweisen auf. Während Pinker (2011: 13) angesichts der „massenhaften Gräueltaten der Menschheitsgeschichte“ die staatliche und soziale Gewalt der Gegenwart, also „die Giftspritze für einen Mörder in Texas oder ein gelegentliches Hassverbrechen, bei dem ein Angehöri- ger einer ethnischen Minderheit von jungen Hooligans bedroht wird“, als „eine recht harmlose Angelegenheit“ abtut, plädiere ich dafür, gerade hier „genau hinzusehen“ (Lüdtke 1995: 28): Die „dichte Beschreibung“ und Analyse der Geschichten von Menschen wie dem Todeskandidaten Rommel Broom, der im September 2009 einen ersten Hinrichtungsver- such des Staates Ohio überlebt hat und nun womöglich ein zweites Mal auf die Bahre geschnallt werden soll, oder die Erschießung des Teena- Gewalt: Kritische Überlegungen 187

gers Trayvon Martin durch einen freiwilligen Nachbarschaftshüter in der Nähe von Orlando in Florida im Februar 2012, vermögen zu zeigen, wie soziokulturelle Ordnungen funktionieren und welche Bedeutung verschiedene Formen von Gewalt in ihnen für unterschiedliche Men- schen haben. Wer genau hinschaut, kann erkennen, wie tückisch die Be- hauptung einer zunehmend gewaltfreien Moderne ist und dass gerade diese Vorstellung blind für die Vielfältigkeit und Wandelbarkeit von Ge- walt, ihrer Formen, Funktionen und Erfahrungen machen kann. Gewalt wird hier als zielgerichtete Verletzung eines Körpers verstanden, ent- zieht sich aber gerade aufgrund ihrer Historizität jedem Versuch, sie darüber hinaus genauer zu definieren. Für die Analyse einer Kultur und Gesellschaft, deren Selbstdeutung auf einer behaupteten Abkehr von Gewalt beruht und die eine Differenz zwischen „zivilisierter Moderne“ und einer in historischer oder geogra- fischer Ferne liegenden „barbarischen Vormoderne“ behauptet, ist Ge- walt eine besonders aussagekräftige Handlungs- und Erfahrungsform (Miller 1996: 14; Trotha 1997) – gerade auch im Hinblick auf die Ge- schichte des Körpers. Es sollte sich von selbst verstehen, dass ich hier “modern” und “Moderne” nicht in einem normativen oder teleologischen Sinn verstehe, sondern als Beschreibungen einer spezifischen histori- schen Konfiguration, die sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert immer wieder selbst als Höhepunkt der Menschheitsgeschichte insze- niert und sich dabei lange im „Westen“ verortet hat (Chakrabarty 2000: 3). Teil dieser Selbstinszenierung ist es, eine Abkehr von Gewalt und Grausamkeit zu behaupten und diese Abkehr wiederum als eine Per- formanz von Modernität, Aufklärung und Fortschritt ebenso aufzufüh- ren wie spezifisch kodierte Formen von Gewalt (siehe etwa Martschukat 2003). Diese Performanz von Modernität durch eine spezifische Kodierung von Gewalt, die Behauptung einer Differenz von „zivilisierter westlicher Moderne“ und „unzivilisiertem Anderen“ qua Gewalt lässt sich vor allem in drei Feldern beobachten. Dies sind keineswegs notwendig die einzi- gen Felder, in denen sich die Anrufung dieser Differenz festmachen lässt, aber doch diejenigen, welche mir in meinen Arbeiten während der letz- ten Jahre als besonders prominent und dringlich aufgefallen sind. Es handelt sich dabei (erstens) um die Regulierung von Gewalt, (zweitens) um das Verbergen von Gewalt und (drittens) um die Ausrichtung des Gewalthandelns auf solche Menschen, die nicht als westliche Subjekte anerkannt sind. Ich will diese Felder im Folgenden weniger systematisch und präzise vermessenen, als vielmehr in groben Strichen skizzieren. Diese Skizzen werden durch einige Vignetten illustriert, mit deren Hilfe ich meine Anliegen beispielhaft verdeutlichen werde. Diese stammen 188 Jürgen Martschukat vorwiegend, aber nicht nur, aus der US-amerikanischen Geschichte, da sie mein Hauptarbeitsfeld ist.

Erstens: Regelhafte Gewalt

Die Etablierung einer modernen Ordnung bedeutete niemals das Ende der Gewalt, und Gewalt bedeutete niemals per se den Zusammenbruch moderner sozialer Ordnung. Zwar ist „soziale Ordnung notwendige Be- dingung der Eindämmung von Gewalt“, wie der Soziologe Heinrich Popitz (1992: 63) schreibt, aber Gewalt ist auch „eine notwendige Be- dingung“, soziale Ordnung zu konstituieren und aufrechtzuerhalten. Gewalt ist also mitnichten verschwunden, seitdem Thomas Hobbes im Jahr 1651 den „Leviathan“ erfunden hat (Hobbes 1984), sondern die Bündelung der rechtlichen und instrumentellen Befähigung zur Gewalt- ausübung auf Agenten der Souveränität sollte einhergehen mit einer Re- gulierung von Gewalt. Der Eindruck von Regelhaftigkeit sollte Gewalt Legitimität verleihen, und Unberechenbarkeit und Grausamkeit waren fortan als Eigenarten der Gewalt von Seiten „barbarischer Anderer“ im Inneren wie im Äußeren des Gemeinwesens gebrandmarkt. Aufgeklärte Gewalt sollte klaren Regeln folgen, den Richtlinien von Vernunft und Menschlichkeit entsprechen und nur von solchen Institutionen und Per- sonen ausgeübt werden, die eigens dazu befugt waren: Seien dies Staatsbeamte, strafende Eltern oder andere autorisierte Personen. Diese erfüllten angeblich „schweren Herzens“ ihre Pflicht zur Gewaltsamkeit und es hieß, sie walteten im Sinne einer guten Sache. Genauestens gere- gelt zu sein und in ganz spezifischen, vorhersehbaren Bahnen abzulau- fen, schien „moderne“ Gewalt nicht nur zu legitimieren, sondern zudem sogar als Ausweis zivilisatorischer Fortschrittlichkeit gelten zu können (Foucault 1994; Krasmann 2007). Schauen wir etwa auf die Diskurse der europäischen Aufklärung, die um 1800 um das Rechts- und Strafwesen und insbesondere um die To- desstrafe kreisten, so hallten dort nur wenige Stimmen wider, die kon- sequent deren Abschaffung forderten (was wohl auch kaum das Ende strafender Gewalt bedeutet hätte, hier aber möglicherweise als eine deutlichere Annäherung an ein Ende zumindest dieser spezifischen Ge- waltform verstanden werden kann). Konsens war hingegen, die Gewalt staatlichen Tötens in modifizierter Form beibehalten zu wollen: Mög- lichst schnell, sauber und schmerzfrei, möglichst reguliert und rational sollte der aufgeklärte und moderne Staat töten, lautete die befremdliche Version dieser Erzählung vom Triumph modernen Fortschritts (Sarat 2002: 65). Vormoderne Strafen wurden im selben Atemzug als unregu- Gewalt: Kritische Überlegungen 189

liert und tyrannisch verurteilt. Das Strafsystem des Ancien Régime wur- de als öffentlich zelebrierte Grausamkeit gegen menschliche Körper und als exzessives „widerwärtiges“ Kennzeichen „roher Völker“ aus barbari- schen Vorzeiten angeprangert (z.B. Cranz 1793: 3-4). Eine solche Diffe- renz im Namen zivilisatorischen Fortschritts zwischen dem aufgeklärten Selbst und „dem barbarischen Anderen“ wurde zudem nicht nur in zeit- licher, sondern auch in räumlich-kultureller Dimension behauptet. Von der „Barbarei“ zügelloser Gewalt war die Rede, den „feigherzigen, asiati- schen Seelen“ oder „amerikanischen Wilden“ (Hommel 1778: 182) ei- gen, die willkürlich töteten oder ihre Gefangenen „zerfleischen“. „Thieri- sche Stumpfheit“ (Zöpfl 1839: 3, 49) und damit fehlendes Mensch-Sein wurde als das gemeinsame Kriterium all jener beschrieben, die in histo- rischer oder geografischer Ferne angeblich eine Existenz in regelloser Gewalt fristeten (Martschukat 2000: 53, 56, 73, 214). Ein weiteres Beispiel vermag zu verdeutlichen, wie sehr eine neuarti- ge Regulierung von Gewalt eine Praxis darstellte, die zur Konturierung eines Selbstverständnisses als modern und fortschrittlich beitrug und die bisweilen auch dezidiert mit diesem Ziel betrieben wurde. Dabei folgten die jeweiligen Vorstellungen von „Regulierung“ historisch wie kulturell veränderlichen Rationalitäten, denn schließlich waren, um noch einmal das obige Beispiel aufzugreifen, auch die vormodernen Strafen Teil eines historisch spezifischen Regelsystems. Im folgenden Fall wird zu sehen sein, dass das, was um 1890 im US-amerikanischen Süden im Staat Georgia in den Augen mancher Zeitgenossen als regulier- te Form der Gewalt galt, in territorial, kulturell, sozial und zeitlich an- ders bestimmten Räumen anders gesehen wurde und etwa zur selben Zeit im Staat New York oder auch 30 Jahre später in Georgia als Exzess verpönt war. Einige Ausführungen zum Verhältnis von Lynchgewalt und elektrischem Stuhl in Georgia im Jahr 1924 vermögen dies zu verdeutli- chen. Als der so genannte „Southern Empire State“ Georgia Anfang der 1920er Jahre auf das Hinrichten durch Elektrizität umstellte, wie es 1890 erstmals in New York und somit im modernsten aller US-Staaten praktiziert worden war, suchten die Gesetzgeber dezidiert das Bild eines regulierten, modernen Südens zu befördern. Dort litt man zunehmend an dem Ruf, rückständig zu sein, und mittlerweile war der Galgen seit Jahrzehnten zunächst im Norden, dann aber in immer mehr Regionen der USA als archaisch und grausam gebrandmarkt worden. In Georgia sollte der elektrische Stuhl als Signifikant der Modernität auch der südli- chen Sozialordnung und ihrer Strafpraktiken dienen und als solcher nicht nur den Galgen ablösen, sondern auch dem so verbreiteten Lyn- ching einen Kontrapunkt setzen. Zuvor hatten die Lynchings den Zeitge- 190 Jürgen Martschukat noss/inn/en lange als Ausdruck einer wehrhaften white community ge- golten, die in einer Art Selbstjustiz ihre weiße Zivilisation vor schwarzen Männern schützte, die in vielerlei Hinsicht als übergriffig und barbarisch galten. Die grausame Zerstörung schwarzer Körper war als Performanz weißer Zivilisation gedeutet worden. Doch Aktivist/inn/en und Reform- gruppen hatten den Kampf gegen das Lynching mit wachsender Vehe- menz betrieben, in der öffentlichen Diskussion verankert und diese auch in die Spitze der Politik getragen. Anfang der 1920er Jahre nahmen sol- che Stimmen in Georgias Presse und Politik zu, die kritisierten, Lyn- chings seien Ausdruck des Verlustes von Selbstkontrolle, hintergingen die Zivilisation und verzerrten die Staatlichkeit Georgias zu einem Trug- bild. Zwar würde der elektrische Stuhl nicht notwendig dem Lynchen Einhalt gebieten. Gleichwohl würde der Staat so ein Zeichen setzen, wie viele Zeitgenossen bei dessen Einführung im Jahr 1924 meinten, und das Töten im Namen der Community so kodieren, dass es zivilisiert, reguliert und bar jeden rassistischen Beigeschmacks daherkomme und so die Ordnung des Sozialen viel mehr stabilisiere als jedes Lynching. In den folgenden 40 Jahren sollten 80% der Hingerichteten in Georgia schwarze Männer sein. Mithin kann von einer farbenblinden Praxis der Todesjustiz wohl kaum die Rede sein. Tödliche Gewalt im Namen einer rechten Ordnung kam auf dem elektrischen Stuhl zwar reguliert und modern daher (zumindest bisweilen), und ihre spezifische Form der Ra- tionalität brachte eine Ablehnung von Galgen und Lynchings zum Aus- druck. Gleichwohl war die tödliche Gewalt nach wie vor existent, und sie blieb ein wesentliches Mittel, um die rassistischen Strukturen der südli- chen Sozialordnung aufrechtzuerhalten und zu bekräftigen. Gewalt war nach wie vor das Instrument des weißen Mannes, rassisch definierte Grenzlinien zwischen Menschen und der Verletzung ihrer Körper zu ziehen. Modern, regelhaft und rational, wie sich die Strafgewalt nun gab, war es allerdings noch schwieriger geworden, ihre rassistischen - nismen und Strukturen aufzuzeigen und erfolgreich zu bekämpfen (Martschukat 2007; 2010).

Zweitens: Unsichtbare Gewalt

Gewalt ist mit dem Entstehen moderner Gesellschaften nicht in dem Sinne verschwunden, dass sie aufgehört hätte zu existieren. Vielmehr ist sie in vielerlei Fällen aus unserem „so leicht zu trübenden Blickfeld“ ge- raten, indem sie verborgen und an Orte ausgelagert worden ist, die sich der unmittelbaren Wahrnehmung entziehen (Krasmann 1997: 100). Dies sind, um mit Michel Foucault (2005b: 931-942) zu sprechen, „ande- Gewalt: Kritische Überlegungen 191

re Räume“ der Gewalt, die zwar aus der Gesellschaft ausgegrenzt sind, als solche ausgegrenzten Räume aber zugleich wesentliche Diskurse bündeln und somit in den Kern soziokultureller Ordnung weisen. In ei- ner Gesellschaft, die sich die Abkehr von der Gewalt auf die Fahnen ge- schrieben hat, sind diese anderen Räume häufig eine Bedingung für die Möglichkeit der Fortexistenz von Gewalt im Verborgenen oder im „Au- ßerhalb“. Norbert Elias (1995: Bd. 1, 163) hat am Beispiel des Zerlegens von Tieren betont, „wie charakteristisch diese Figur des Aussonderns, dieses ‚Hinter-die-Kulissen-Verlegens’ […] für den ganzen Vorgang des- sen ist, was wir ‚Zivilisation’ nennen.“ Das Tier, das wir essen wollen, wird nicht mehr bei Tisch zerteilt, sondern von eigens dafür zuständigen Spezialisten im Laden oder in hoch technisierten Tötungsfabriken, die unseren Blicken entzogen sind. So ist etwa die Geschichte der Todesstrafe seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine Geschichte des Verbergens von Gewalt, und nur dadurch konnte diese Strafform fortbestehen. Schon die Beschleunigung des Verfahrens durch die Guillotine sollte nicht zuletzt die Sichtbarkeit des Sterbens für die Zuschauenden minimieren. Einige Jahrzehnte da- nach begann man dann, die Hinrichtungen in die Gefängnishöfe und schließlich in eigens dafür entworfene Hinrichtungskammern zu verle- gen (Martschukat 2000). Die Verbreitung von Bildern des Tötens sollte peinlichst vermieden werden, Leichen wurden nicht mehr vorgezeigt, Fotografen und Kamerateams ausgeschlossen (Lesser 1998). Auch soll- ten die Körper der Getöteten keine Zeichen der Gewaltanwendung mehr tragen. Schon die Anstrengungen zur „Perfektionierung“ des Galgens im 19. Jahrhundert sollten die äußere Unversehrtheit des Körpers sichern. Dies schrieb sich insbesondere in den USA im 20. Jahrhundert mit der sukzessiven Einführung von elektrischem Stuhl, Gaskammer und Gift- spritze fort: Die äußere Verletzung des Körpers sollte auf ein kleines Einstichloch reduziert werden, wobei die betreffende Körperstelle zuvor sogar noch desinfiziert wird (Martschukat 2009). Ein zweites Beispiel: Wenn wir uns die Denkfigur der „anderen Räu- me“ zu eigen machen, so ist der Einwurf der Kulturwissenschaftlerin Co- lin Dayan (2007) sehr plausibel, Guantanamo nicht als Politik eines Aus- nahmezustands nach 9/11 mißzuverstehen. Guantanamo, so Dayan, sei vielmehr amerikanische Normalität und Teil einer langen Geschichte des Aussonderns von Menschen in „andere Räume“, in denen sie Gewalt und Willkür unterworfen sind: Von den Sklavenplantagen seit der Kolonial- zeit über die Erfindung der Gefängnisse im frühen 19. Jahrhundert und die riesigen „Maximum Security Unit Prisons“ seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert, die immer mehr Menschen im Zustand von Rechtlosigkeit und Verworfenheit halten, bis eben zu Guantanamo oder auch Abu 192 Jürgen Martschukat

Ghraib: Sie sind in doppeltem Sinne ausgelagert (aus der Gesellschaft und aus den USA), um genau den Zustand der Rechtlosigkeit und Ver- worfenheit bestimmter Gefangener herzustellen (Agamben 2002). Auch die konkreten Praktiken der Gewalt in den Lagern und Gefängnissen, wie etwa das „Water Boarding“ oder der Zwang, in Stresspositionen auszuharren, haben eine Geschichte, die bis mindestens in das 19. Jahr- hundert zurückreicht: Sie führt vom US-amerikanischen Kolonialkrieg in den Philippinen (Schumacher 2006) über die Misshandlung von African Americans in den Polizeistationen und Gefängnissen des amerikani- schen Südens in der Mitte des 20. Jahrhunderts (Niedermeier 2011) bis zu Folteranleitungen der Central Intelligence Agency für Lateinamerika in den 1980er Jahren (McCoy 2006; Rejali 2007), um hier nur einige der vielen Stationen zu nennen: Kolonien, Gefängnisse und Folterkeller sind genau solche anderen Räume, an denen die Gewalt aus unserem Blick- feld zu geraten vermag. Vor diesem Hintergrund erhält auch die Aufregung in der westlichen Welt über die Folter von Abu Ghraib neue Konnotationen. Als Ende April 2004 erste Folterfotografien aus dem US-Gefängnis im Irak veröffent- licht wurden, lief die Folterdebatte in den USA und international schon seit rund zwei Jahren (Greenberg 2006). Die Erkenntnis also, dass in Ge- fängnissen dieser Art gefoltert wurde, konnte eigentlich kaum mehr überraschen und erschrecken. Vielmehr schienen vor allem die Tatsa- che, dass Bilder geschundener, gedemütigter und getöteter nackter ira- kischer Männer und grinsender US-amerikanischer Soldatinnen und Soldaten existierten und zirkulierten, ein arges kulturelles Unwohlsein auszulösen: Schließlich rückten sie die Foltergewalt in aller Deutlichkeit in unser Blickfeld. Sie schlossen zudem an Bildtraditionen an, wie sie aus US-amerikanischen Lynchingfotografien oder europäischen Kriegsfoto- grafien vertraut waren, aber lieber weiter ignoriert werden wollten (A- pel 2004; Holzer 2006). Die Mischung aus billigpornographischer Dar- stellung und touristischem Erinnerungsfoto (die „thumbs up“-Geste ist in den Bildern von Abu Ghraib allgegenwärtig) schien besonders zu verwirren, ist doch die Sexualisierung von körperlicher Verletzung so- wie die Lust an ihr und ihrer Darstellung der modernen Kultur alles an- dere als fremd (Mirzoeff 2006; Mladek 2010). Die Historikerin Karen Halttunen (1995) diagnostiziert eine Pornographie des Schmerzes in der modernen Geschichte, die als Komplementär des Humanitarismus in genau dem Augenblick an Konjunktur gewann, als Gewalt und Schmerz im frühen 19. Jahrhundert verpönt und offiziell verbannt wurden. An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass das Verbergen von Gewalt und derartig verletzten Körpern ein Komplementär im Zeigen ganz spezifischer Formen von Gewalt hat, die dadurch als irrational und Gewalt: Kritische Überlegungen 193

zerstörerisch markiert werden. Es ist Teil der modernen Rationalität von Gewalt, bestimmte Formen von Gewalt bewusst sichtbar zu machen: Zum Beispiel Aufstände in „schwarzen“ Vierteln US-amerikanischer Großstädte, Autonome in deutschen Innenstädten in der Mainacht, Bil- der bestimmter Formen von Kriegshandlungen, die damit als archaisch und von der chirurgischen Präzision abweichend markiert werden, mit der moderne „Smartbombs“ angeblich aufzuwarten vermögen, und viele andere mehr.

Drittens: Ausschlüsse

Es ist kein Zufall, dass die Bilder von Abu Ghraib solche Menschen als Zielscheibe der Gewalt zeigen, die als „anders“ gelten und deren „An- derssein“ durch die Bilder und die dort gezeigte Gewalterfahrung reifi- ziert wird: als ethnisch anders, religiös anders, politisch anders. Colin Dayan hat in ihrer oben bereits erwähnten Studie über „Cruel and Un- usual“ (2007) ebenso wie Lynn Hunt in ihrer Geschichte der Menschen- rechte (2007) darauf verwiesen, dass der Schutz vor Grausamkeit und Gewalt, der das aufgeklärt moderne Versprechen von Freiheit und Selbstbestimmung begleiten sollte, niemals für alle Menschen uneinge- schränkt gegolten hat. Auch wenn die allgemeine Gleichheit zum Bei- spiel in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 ganz vorne postuliert wird, so sind Ausschließung und Differenz der moder- nen Ordnung inhärent. Manche Leben erscheinen schützenswerter als andere, manche Leiden beklagenswerter als andere, und gegen manche Menschen scheint die Anwendung von Gewalt legitimer als gegen ande- re, wie etwa Judith Butler argumentiert hat. Auch haben manche Men- schen geringere Möglichkeiten, Gewalt mit Erfolg anzuklagen, weil die Klagen Subalterner nicht gehört werden – oder zumindest nicht laut ge- nug (Spivak 1994). Butlers Analysen der Politiken nach 9/11 kreisen dabei um Fragen wie “who counts as human? Whose lives count as lives? And, finally, What makes for a grievable life?“ (Butler 2004: 20, Betonung im Original; Butler 2009). Es ist die Anerkennung von Menschen als Subjekt, die hier die Grenze markiert; eine Grenze, die allerdings niemals scharf gezogen ist, sondern die immer brüchig und in unterschiedlichem Maße durchlässig bleibt. In den biopolitischen Ordnungen des 19. und 20. Jahrhunderts, die sich auf die Kultivierung des Lebens ausrichteten und primär zwischen „krank“ und „gesund“, „produktiv“ und „unproduktiv“, „rein“ und „kontaminiert“ zu unterscheiden suchten, avancierten vor allem Zeichen körperlicher Differenz und biologisch gedachte Entwürfe von „Rasse“ zu maßgebli- 194 Jürgen Martschukat chen Kriterien für die Anerkennung oder Verweigerung eines Subjekt- Seins und das Maß der Zugehörigkeit von Menschen zum Kollektivkör- per (Foucault 1999: 276-305). Einem Menschen oder einer Gruppe von Menschen die Anerkennung als Subjekt vorzuenthalten, erwies sich wieder und wieder als Möglichkeitsbedingung für die Anwendung von Gewalt in verschiedenerlei Form. So schien Gewalt in modernen Gesell- schaften ein probates und gar notwendiges Instrument, der so sehr ge- fürchteten „Vergiftung des Gesellschaftskörpers“ (Sarasin 2004: 158) vorzubeugen oder beizukommen, wofür die Tötung „des Anderen“ als ein rechtes Mittel zum Zweck galt. Schließlich erschien die schiere Exis- tenz eines Anderen als Gefährdung des Eigenen. Zugleich eröffnete die Markierung von Menschen als „anders“ Räume, in denen Übertretungen möglich waren und wo die Notwendigkeit zur Regulierung von Gewalt, in der die moderne Ordnung gründete, offenbar nicht ganz so dringlich war. „Exzessive“ Gewalt wurde also nicht nur als Gewalt der Anderen verteufelt, wie wir es vom Todesstrafendiskurs um 1800 kennen, son- dern gegen Andere gerichtet konnte es durchaus legitim (oder zumin- dest weniger beklagenswert) erscheinen, wenn Gewalt auch die Grenzen moderner Regulierung überschritt. Wer nicht als Subjekt galt, war eben weniger Mensch. Wenn Menschen in der neueren Geschichte Behandlungen widerfuh- ren, von denen es heißt, dass sie eigentlich qua ihres Menschseins vor ihnen hätten geschützt sein müssen, wenn systematisch Rechtsgrund- sätze ignoriert worden sind, Menschen interniert, gefoltert, gepeinigt, geschlagen, vernichtet worden sind, dann haben in aller Regel solche Menschen diese Gewalt erfahren, die als „anders“, als weniger Subjekt und als weniger Mensch galten. Zugleich bekräftigte die beinahe syste- matisch zu nennende Verletzung ihrer Körper ihre subalterne Position. Die bereits erwähnten Lynchmorde, denen vor allem von den 1880er bis zu den 1920er Jahren insbesondere im Süden der USA Tausende Men- schen und hier vor allem afroamerikanische Männer zum Opfer fielen, sind nur eines von vielen Beispielen für Gewalthandlungen gegen „An- dere“, die innerhalb der soziokulturellen Ordnung stattfinden, die sich als modern und westlich beschreibt. Die Internierungen in Guantanamo, die Folter in Abu Ghraib oder Gewalt gegen kolonisierte Subalterne sind Beispiele von Gewalthandlungen gegen „Andere“, die außerhalb der Grenzen westlich moderner Sozialordnungen stattfinden. Dass dies zu- gleich, scheinbar paradoxerweise, dokumentiert, dass sich diese Gren- zen in den Zeiten von Globalisierung und „Empire“ (Hardt 2000) in Auf- lösung befinden, soll hier nur am Rande erwähnt werden. Wie Frank Bösch (2011: 97) jüngst in einem Kommentar zu Joseph Conrads klassi- schem Kolonialroman „Heart of Darkness“ schrieb, eröffnete der Koloni- Gewalt: Kritische Überlegungen 195

alismus Räume, von denen man meinte, dass sie fernab fortgeschrittener Zivilisation lägen und in denen „jede Form der Gewalt“ möglich war, bar von Regulierung. Christian Geulen (2007: 123) hat in diesem Sinne zu Recht darauf hingewiesen, dass der biopolitische Rassendiskurs dabei „das entscheidende Bindeglied“ zur imperialen Herrschaft sei. Diese Bindung sei zwar nicht stabil, und sie existiere freilich auch nicht in un- gebrochener Form seit dem 19. Jahrhundert, sei aber nach wie vor äu- ßerst wirkmächtig. Freilich ist nicht nur das Verhältnis zwischen der Verletzbarkeit von Menschen und ihrer Anerkennung als Subjekte auf- schlussreich für die moderne Ordnung des Sozialen und ihrer Differen- zierungen. Ähnlich kann und muss danach gefragt werden, inwieweit die Ausübung von Gewalt eine Praxis der Subjektivierung im Sinne der mo- dernen westlichen Ordnung sein kann.

Gewalt, Geschichte und Kritik

Historikerinnen und Historiker wissen, dass Geschichte zu wechselhaft, zu vielfältig, zu kontingent und vor allem zu komplex ist, um allzu weit- reichende Diagnosen zu treffen, die etwa über Zeiträume vom Neolithi- kum bis zur Gegenwart reichen. Dies würde nur die Sensibilität für das kritische Potenzial ihres eigenen Tuns schwächen. Folglich ist es in mei- nen Augen viel zu salopp, die Giftspritze für einen Mörder in Texas oder ein rassistisch motiviertes Hassverbrechen als vergleichsweise peripher und harmlos abzutun, da es wie eine Verweigerung erscheint, sich kri- tisch mit unserer Geschichte und Gegenwart auseinanderzusetzen. Selbst wenn wir eine solche Qualifizierung nicht als Missachtung derje- nigen empfinden sollten, die unter diesen Gewalttaten leiden, so trübt sie doch unseren Blick auf die Bedeutung und Funktionsweise von Ge- walt in modernen Selbstentwürfen und Ordnungen. Gewalttaten wie diese können als Sonde genutzt werden, um die historischen Bedingun- gen menschlicher Existenz zu erkunden. Statt also eine Abnahme der Gewalt über Tausende von Jahren hinweg zu diagnostizieren, schlage ich vor, nach den Rationalitäten, Möglich- keitsbedingungen und Formen der Gewalt in spezifischen historischen Konfigurationen zu fragen sowie nach den verschiedenen beteiligten Akteuren und deren Körpern. In welcher Form tritt Gewalt auf, wer übt sie gegen wen in welchen Räumen aus, wie werden Körper dabei unter- schiedlich dargestellt, eingeordnet, genutzt und geformt, wer kann Ge- walt sehen und davon erfahren und wer nicht, und wie wird sie rationa- lisiert und legitimiert, falls sie dies wird? Was bedeutet es und welche Konsequenzen hat es für unser Selbstverständnis, wenn Gewalt qua ih- 196 Jürgen Martschukat rer Regulierung und Rationalität als Signifikant von Fortschrittlichkeit dient und damit, wie Foucault (2005a) in seinen eingangs zitierten Aus- führungen betonte, Beständigkeit erhielt? Fragen wie diesen nachzuspüren, dabei die Gewalttaten und Gewalt- erfahrungen zugleich detailliert zu betrachten und innerhalb ihrer viel- schichtigen historischen Konfigurationen zu verorten, bedeutet, Mög- lichkeitsbedingungen von Gewalt sowie ihren Form- und Sinngebungen zu erkennen. Dies heißt zu zeigen, wie sich Menschen zu Gegebenheiten und Formationen, die ihr Dasein regulieren und diesem Grenzen geben, ins Verhältnis setzen. Solche Geschichten zeigen, wie Bedingungen und die Praktiken vergangenen Seins historisch entstanden, wie sie funktio- nierten und wie sie verändert wurden. Damit lassen sie uns auch erken- nen, dass auch die Bedingungen unserer eigenen gegenwärtigen Exis- tenz durch und durch in der Geschichte verankert und somit veränder- lich sind. In diesem Sinne Geschichte zu schreiben, ist mithin eine kriti- sche Praxis, fordert sie doch dazu auf, die Parameter menschlicher Exis- tenz zu erkennen und zu verschieben. Nur wer die Rationalitäten und Logiken der Gewalt aufspürt, vermag an ihnen zu arbeiten (Foucault 1992; 2005c). Ob ich damit letztlich doch den Traum einer gewaltfreien Gesellschaft weiterträume, gleichwohl ohne ihn an Vorstellungen von Moderne zu koppeln, will ich hier nicht weiter kommentieren.

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Body Politics 1 (2013), Heft 2, S. 199-229

The Cannibal and the Caterpillar: Violence, Pain, and Becoming-Man in Early Twentieth Century Germany

Eva Bischoff

English abstract: In the wake of Foucauldian thought, the self and its identity are often regarded as the result of disciplinary practices and technologies, inscribing the law into the body which is depicted as a passive, pliable matter. This account echoes the binary divisions between nature/culture, mind/body, and sex/gender. Feminist scholars have repeatedly questioned this Cartesian dichotomy. This essay explores the potential of DeleuzoGuattarian feminist theory to capture the affective momentum of the body as an agent in its own right: its capacity to establish affective, visceral, carnal connections and thereby to transform itself. It focusses on the case of Peter Kürten, a serial sex criminal, and his incarceration in early twentieth-century Germany. Following Elizabeth Grosz’s suggestion to imagine body and mind, matter and discourse as locked to each other in a Möbius strip, it argues that even in extreme situations of confinement and discipline, we can detect the interconnectedness of disciplinary power and bodily potentia without pre- suming one has supremacy over the other.

“And after dwelling on these thoughts every day, I came up with the idea to become a caterpillar and to pupate. I believed that it would entail stripping off my humanity or switching off the ever present consciousness” and with “silk yarn, with a thread, I wrapped my legs and arms, the body, wherever I could.”1

When in 1909 the wardens of the Münster penitentiary found the twen- ty-six year old convict Peter Kürten, the narrator of the extract above, in his cell, wrapped in yarn and hidden behind a veil of silk cloth draped around the working table, they tore his cocoon apart. Kürten’s working privileges were suspended. He was punished for his misconduct by be- ing wrapped in wet sheets and put into a large sack, which was then

1 “Stenogramme der von Professor Sioli geführten Untersuchungen mit Kürten, Unter- suchung am 22.10.1930.” In Peter Kürten, genannt der Vampir von Düsseldorf. Edited by Elisabeth Lenk and Katharina Kaever. Frankfurt a.M.: Eichborn, 1997, 156, 157. All translations are mine (if not indicated otherwise). I would like to thank Tikitu de Jager and Michaela Hampf for kindly reading through and commenting on an earlier version of this essay.

www.bodypolitics.de | urn:nbn:de:gbv:547-201400145 | ISSN 2196-4793 200 Eva Bischoff sewn tight, and left in solitary confinement, a common practice to disci- pline inmates in German penal institutions at that time.2 In his study Discipline and Punish Michel Foucault reconstructed the history of the formation of modern subjectivity by focusing on the tech- nologies and practices of corporeal subjection employed in disciplinary institutions such as schools, military academies, and prisons. Starting at the end of the eighteenth century and proceeding at a different pace in each part of Europe, the “gloomy festival of punishment” gave way to a new penal regime. Punishment was no longer intended to inflict suffer- ing as retribution for the crime committed but was a scientific proce- dure designed to “correct, reclaim, ‘cure’.” Consequently, the position of the body in penal practice changed profoundly. It became an “interme- diary,” subjected to a multitude of technologies and practices designed to touch and alter the soul of the offender. Pain also transformed into a tool to achieve this greater moral goal.3 Foucault’s account has been crit- icized for its Eurocentric perspective and its bold, at times even reckless generalizations.4 Yet, the central premise of his work informs scholarly research until today, namely that modern penality rests upon corporeal, disciplinary technologies of subjection aimed at transforming the crimi- nal’s mind and soul. Moreover, the prison was part of a system of nor- malization and subjectivation that encompassed the whole society.5 Peter Kürten and his transformation into a silkworm might be read as a metaphor of disciplinary subjectivation: A convict, exposed to prison architecture and discipline, medical procedures and discourses, incor- porates the oppressive and cruel system of this “total institution.”6 He restrains himself, creating a cocoon, his own confinement, in which he develops into a new human being. Eventually, however, Kürten did not transmute into a rehabilitated citizen, the beautiful butterfly, but into a monster. The prison’s brutality and its dehumanizing practices had been inscribed into his body and his emotional/affective structure, resulting in sex crime. He was taken into custody on 24 May 1930 after he had

2 Ibid., 156. 3 Michel Foucault. Discipline and Punish: The Birth of the Prison. London: Penguin Books, 1991, 8, 10, 11. 4 Anupama Rao and Steven Pierce. “Discipline and the Other Body. Humanitarianism, Violence, and the Colonial Exception.” In Discipline and the Other Body: Correction, Corporeality, Colonialism. Edited by Steven Pierce and Anupama Rao, Durham: Duke University Press, 2006, 1-35; Ann L. Stoler. Race and the Education of Desire: Fou- cault’s History of Sexuality and the Colonial Order of Things. Durham: Duke University Press, 1996, 19-54. 5 Foucault. Discipline and Punish, 298. 6 Erving Goffman. Asylums: Essays on the Social Situation of Mental Patients and Other Inmates. London: Penguin Books, 1991, 11. The Cannibal and the Caterpillar 201

committed a series of murders between 1929 and 1930. Almost twelve months later, on 22 April 1931, he was found guilty of murder of a total of nine people and of attempted murder in seven cases, often in conjunc- tion with rape or attempted rape.7 This interpretation relies on the assumption that the human body is a passive, pliable matter. The self and its identity are regarded as the re- sult of disciplinary practices and technologies, inscribing the law into the body. This model saturates historical, sociological, and criminologi- cal studies of Kürten until today. He is described as the embodiment of discipline; a man created from the subjection to power. His body, in turn, is seen as an “amorphous malleable mass, which can be inscribed and formed after the act.” Since both the criminal and his corporeality are the product of subjection, Kürten’s ‘real’ desires cannot be fath- omed.8 On a general level, this description also echoes the binary divi- sion between nature and culture, between mind and body or, one of its many other incarnations, between sex and gender. Feminist scholars have repeatedly questioned this Cartesian dichotomy. One of the corner- stones of this critique is Judith Butler’s challenge to the sex-gender di- vide. Her famous argument that sex is the effect of discursive practices not its foundation, however, ultimately reiterates the Cartesian split in- stead of dissolving it. At first glance, this seems to be a contraction in terms. After all, her theory of the performativity of sex seems to dissolve the divide between discourse and materiality in a sophisticated manner. Yet, her argument rests firmly upon the Foucauldian model and thus al- so upon the distinction between mind (discourse, sign) and body as the effect of signification, while simultaneously rejecting the possibility of a pre-discursive corporeality. The materiality of the body “prior to the sign,” Butler argues in Bodies that Matter, is nothing else but the result of the process of signification, “an effect of its own procedure” which “claims to discover as that which precedes its own action.”9 Drawing on Derrida’s notion of the impossibility of conceptualizing radical alterity, she claims that pre-discursive bodily materiality inevitably escapes our grasp. We can merely acknowledge the “materiality of the signifier it- self” as well as the “indissolubility of materiality and signification.”10

7 “Urteil und Urteilsbegründung im Prozess gegen Peter Kürten, 22.4.1931.” HStA Düs- seldorf: Rep. 17/ 543, Bll. 8-20 and Bl. 2. 8 Maren Hoffmeister. “Der Körper des Täters in der Deutung des Lustmord.” Krimino- logisches Journal 35 (2003): 212-223, 220. 9 Judith Butler. Bodies that Matter: On the Discursive Limits of “Sex.” London: Routledge, 1993, 30 (emphasis in the original). 10 Butler. Bodies that Matter, 30. The point of critique summarized here and which has been put forward most eloquently by Abigail Bray and Claire Colebrook (“The Haunt- ed Flesh: Corporeal Feminism and the Politics of (Dis)Embodiment.” Signs. Journal of

202 Eva Bischoff

To unravel the connections between Kürten the alleged cannibal and Kürten the caterpillar, I will think about him and other male sexual kill- ers of the 1920s from another, a DeleuzoGuattarian perspective. Instead of conceptualizing the body of the prisoner as an effect of an extreme form of subjection, i.e. focusing on the restraining effects of power (potestas), I would like to explore its productive dimension (potentia). To do so, I will follow a twofold strategy: I will examine the practices of normalization and correction applied to discipline and punish Peter Kürten (and others) within a larger framework of practices that articu- lated hegemonic masculinity around 1900. I will hereby concentrate on medico-psychiatric discourses and on the two institutions that accord- ing to Foucault were two formative “heterotopies” of modern society, the barracks and the prison.11 In doing so, I am especially interested in the function of violence and pain in the articulation of the male corpore- ality.12 I will start by presenting a few thoughts on the theoretical per- spective I am about to adopt and the lines of inquiry I am about to pur- sue.

Infection and Unnatural Participation: the Materiality of Becoming

Inspired by DeleuzoGuattarian theory, a number of feminist scholars have contested Butler’s conclusions.13 Although agreeing with a tradi-

Women in Culture and Society 24,1 (1998): 35-67) aims at a conceptual level. It does not posit, as some critics of a new materialist thinking propose, that Butler underes- timates or even ignores embodiment (see for example: Sara Ahmed. “Open Forum Imaginary Prohibitions: Some Preliminary Remarks on the Founding Gestures of the ‘New Materialism’.” European Journal of Women’s Studies 15,1 (2008): 23-39, 33). 11 Michel Foucault. Die Heterotopien/Der utopische Körper: Zwei Radiovorträge. Frank- furt a.M.: Suhrkamp, 2005, 11-12, 16-18. See also: Marvin Chlada. Heterotopie und Erfahrung: Abriss der Heterotopologie nach Michel Foucault. Aschaffenburg: Alibri, 2005 and Urs Urban. Der Raum des Anderen und Andere Räume. Würzburg: Königs- hausen und Neumann, 2007. 12 I cannot, however, go into the larger debate about pain, embodiment, and identity. As a starting point see the seminal study by Elaine Scarry. The Body in Pain: The Mak- ing and Unmaking of the World. Oxford: Oxford University Press, 1985. 13 Rosi Braidotti. Metamorphoses: Towards a Materialist Theory of Becoming. London: Polity Press, 2002, 34-52; Ead. “Affirming the Affirmative: On Nomadic Affectivity.” rhizomes 11/12 (2005/06), http://www.rhizomes.net/issue11/braidotti.html (21.8. 2013); Elizabeth Grosz. Volatile Bodies: Toward a Corporeal Feminism. Bloomington: Indiana University Press, 1994, 9, 17-19; Bray and Colebrook. The Haunted Flesh; Dorothea Olkowski. Gilles Deleuze and the Ruin of Representation. Berkeley: Univer- sity of California Press, 1999, 40-47; Stevie M. Schmiedel. Contesting the Oedipal The Cannibal and the Caterpillar 203

tional constructivist feminist analysis on the inherent embodiment of the subject, these theorists insist that the “forces and potentialities” of a body “cannot be reduced to its cultural representations and the norms of gender,” in fact matter can “no longer [be] seen as static and passive, a blank slate written by language and culture, but as energy and move- ment in variation, as modulation (and not as mould) that produces sin- gularities.”14 There are a number of significant differences between Butler’s mani- festation of “corporeal feminism” and the DeleuzoGuattarian variant.15 The two most important with regard to the tangle at hand are the con- cepts of the body, and of the self and its materiality. First, and in contrast to traditional philosophical thinking, DeleuzoGuattarian feminist theory conceptualizes the subject not in terms of stability, identity or authentic- ity but in terms of connection, potentiality and change. Starting from Deleuze’s and Guattari’s notion of “becoming,” Deleuzian feminists un- derstand the subject as an on-ongoing, open-ended process driven by desire to create affective connections. Rosi Braidotti has coined the term “nomadic subject” to describe this particular notion of “subjectivity as an intensive, multiple and discontinuous process of interrelations.”16 In A Thousand Plateaus, Deleuze and Guattari characterize the subject as an “assemblage” or “multiplicity” which is established by alliances, infec- tions, “unnatural participation” and symbiosis between heterogeneous terms.17 According to Elisabeth Grosz, it is important to bear in mind that a “multiplicity is not a pluralized notion of identity (identity multi- plied by n locations)” but “an ever-changing, nontotalizable collectivity” defined by “its capacity to undergo permutations and transformations, that is, its dimensionality.”18 Deleuze and Guattari characterize “becoming” as a transformative process of subversive effect, a process that undermines established norms, disrupting existing relationships of power, dissolving fixed iden-

Legacy: Deleuzian vs Psychoanalytic Feminist Critical Theory. Münster: Lit, 2003, 32- 33; Claire Colebrook. Gender. Basingstoke: Palgrave MacMillan, 2004, 238. 14 Chrysanthi Nigianni and Merl Storr. “Introduction.” In Deleuze and Queer Theory. Ed- ited by Chrysanthi Nigianni and Merl Storr. Edinburgh: Edinburgh University Press, 2009, 5. 15 Bray and Colebrook. The Haunted Flesh, 38. 16 Braidotti. Metamorphoses, 69; Ead. Nomadic Subjects: Embodiment and Sexual Dif- ference in Contemporary Feminist Theory. New York: Columbia University Press, 2011, 24-26. 17 Gilles Deleuze and Félix Guattari. A Thousand Plateaus: Capitalism and Schizophrenia. London: Continuum, 2008, 265, 267, 275. 18 Elizabeth Grosz. “A Thousand Tiny Sexes: Feminism and Rhizomatics.” In Gilles Deleuze and the Theater of Philosophy. Edited by Constantin V. Boundas and Dor- othea Olkowski. London: Routledge, 1994, 187-210, 192.

204 Eva Bischoff tities, and converting molar structures into molecular connections.19 This dimension of becoming, however, will not be the one of major con- cern to the project I am pursuing here. Instead I will focus on another, equally important dimension of their thoughts on “becoming:” its mate- riality. And this brings us to the second point of contestation between this radical “new materialism” and the other strands of feminist theory mentioned above.20 Becoming is neither metaphorical nor imaginary but deeply corporeal.21 It rests on the body’s capacity to establish affective, visceral, carnal connections and thereby to transform itself. This ability is driven by “a desire that is positive in itself,” not structured by signifi- ers, signs, or cultural norms but lying “beyond all law, systems and structures.”22 Accordingly, DeleuzoGuattarian theory does not regard the body as “a prediscursive matter that is then organized by represen- tation” but as an agent in its own right.23 One of the great difficulties in applying DeleuzoGuattarian theory to an analysis of social practices and institutions such as the prison or an articulated identity such as white hegemonic masculinity lies in recon- structing this prediscursive desire, and therefore the materiality of be- coming. Just like the silk of Kürten’s cocoon, the law seems to envelop the body entirely and the “task of retrieving the prerepresentational […] body” seems almost impossible.24 But would that retrieval actually be the aim of a feminist, radical material approach? In “The Haunted Flesh: Corporeal Feminism and the Politics of (Dis)Embodiment” Abigail Bray and Claire Colebrook propose to sidestep the representational logic in-

19 Deleuze and Guattari. A Thousand Plateaus, 306, see also 272-273, 320-322. 20 Strictly speaking, the label “new materialism” is, as for instance Sara Ahmed and Nik- ki Sullivan have demonstrated, a misnomer. The materiality of the body, most of all the female body, has been part of feminist research agendas as far back as first wave feminism (see: Ahmed. Open Forum Imaginary Prohibitions; Nikki Sullivan. “The So- matechnics of Perception and the Matter of the Non/Human: A Critical Response to the New Materialism.” European Journal of Women’s Studies 19,3 (2012): 299-313). What is, however, “new” about the approaches I am referring to here is the refer- ence to the works of Gilles Deleuze and Félix Guattari and their radical vitalism. This results in a conceptual shift which, especially with regard to the questions of the agency of materiality and the autonomy of affects, creates substantial controversy in recent years as we will see later on. Since this shift is the distinguishing characteristic of this new perspective I will, for practical reasons, refer to it throughout this article alternately as DeleuzoGuattarian, radical feminist materialism or new materialism. 21 Deleuze and Guattari. A Thousand Plateaus, 262. 22 Claire Colebrook. Understanding Deleuze. Crows Nest: Allen & Unwin, 2002, 18. 23 Bray and Colebrook. The Haunted Flesh, 36. See also: Christiane König, Massimo Pe- rinelli, and Olaf Stieglitz. “Einleitung Praktiken.” In What Can a Body Do? Praktiken und Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften. Edited by Netzwerk Kör- per in den Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main: Campus, 2012, 11-15, 13. 24 Bray and Colebrook. The Haunted Flesh, 37 (emphasis in the original). The Cannibal and the Caterpillar 205

herent in such an attempt. They encourage us to instead “see the body as the event of expression,” of “becomings, connections, events, and activi- ties” and to map the “series of events and connections that surround that body” which establish the assemblage or multiplicity of the self. In my investigation of the cannibal, the caterpillar and the role violence and pain played in the articulation of white masculinity at the beginning of the twentieth century, I would like to take up their suggestion and “not look within the mind of a subject, nor see its body as a sign”25 but to trace the network of practices that wove masculinity as well as the threads that were simultaneously spun by male bodies. Following femi- nist DeleuzoGuattarian materialism, I will conceptualize the body “not as an organism or entity in itself, but as a system, or series of open-ended systems, functioning within other huge systems it cannot control, through which it can access and acquire its abilities and capacities.”26 As mentioned above, there are three series I will focus on:27 First, the medico-psychiatric sequence in which male bodies were connected to an apparatus of measurements, comparisons, and evaluations. Here, I will show that each man was located within a continuum of (ab)normality, relying on the notion of a male anachronistic body. In a second and third step I will map two institutional assemblages which organized male bod- ies in a hierarchical order and regulated flows of affects and affections such as pain or sexual desire along lines of power: the prison and the military. The exertion of violence, the infliction as well as the experience of pain (among other affects) were, as I will show, integral parts of both series.28 In conclusion, I will reflect not only on the articulation of mas- culinities at the turn of the twentieth century but also on the productivi- ty of applying a DeleuzoGuattarian perspective to the analysis of hetero- sexual, white, hegemonic masculinity. I will also consider the fact that D|G originally developed the concept of “becoming” to conceptualize a subversion of capitalist, phallogocentric society. In a way, this text is a

25 Ibid., 36, 64. 26 Elizabeth Grosz. The Nick of Time: Politics, Evolution, and the Untimely. Durham: Duke University Press, 2004, 3. See also: Grosz. Volatile Bodies, 19-20. 27 Following Bray’s and Colebrook’s argument, I understand “series” as an assemblage of “becomings, connections, events, and activities” in which the multiplicity of a self is established (Bray and Colebrook. The Haunted Flesh, 36). 28 Violence is a highly complex phenomenon (see: Nancy Scheper-Hughes and Philippe Bourgois, eds. Violence in War and Peace: An Anthology. Malden: Blackwell, 2007). Within the constraints of my analysis here, I will only refer to acts of corporeal vio- lence, acts that transgress, threaten, and disrupt an individual’s physical integrity.

206 Eva Bischoff test case to explore how far a DeleuzoGuattarian string of thinking can be stretched.29

Series 1: Evaluating the Continuum of (Ab)Normality

When Kürten was arrested in 1930, the Weimar Republic had seen sev- eral spectacular criminal cases involving alleged cannibalism. Among the most prominent ones were the cases of Carl Großmann in 1921 and Friedrich (Fritz) Haarmann in 1924.30 The public debates about their crimes contributed to a general anxiety about the status of white Ger- man masculinity in post-WW1 Germany. Returning soldiers, hurting in both body and mind, arrived home to find traditional gender roles ques- tioned. Their missing limbs and post-traumatic hysterical fits revealed that male bodies, in contrast to contemporary notions of manliness, were vulnerable and frail. Also, German men supposedly failed to pro- tect women and children during the occupation of the Rhineland (1919- 1930) against the alleged assaults of the French colonial troops sta- tioned on German soil, the Tirailleurs Sénégalais. These French-African soldiers were accused of raping German women and children and/or forcing them into prostitution.31 These debates were part of what scholars have called a “crisis of mas- culinity.” Yet, as Jürgen Martschukat and Olaf Stieglitz have demonstrat- ed, these debates were in fact not about endangered manliness in gen-

29 “And while several writers invoke a Deleuzian and/or Foucauldian framework, it is again more in the spirit of seeing where, how far, how fast one can run with their in- sights rather than a detailed pinning down of the Author, the painful mimicry of the discipline.” Elizabeth Grosz and Elspeth Probyn. “Introduction.” In Sexy Bodies: The Strange Carnalities of Feminism. Edited by Elizabeth Grosz and Elspeth Probyn, Lon- don: Routledge, 1995, ix‐xv, xii. 30 Eva Bischoff. Kannibale-Werden: Eine postkoloniale Geschichte deutscher Männlich- keit um 1900. Bielefeld: transcript, 210-213, 243-249, 257-259. See also: Matthias Blazek. Carl Grossmann und Friedrich Schumann: Zwei Serienmörder in den zwanziger Jahren. Stuttgart: Ibidem, 2009; Kathrin Kompisch. “Der Fall Fritz Haarmann (1924).” Hannoversche Geschichtsblätter 55/56 (2001/02): 97-116; Hoffmeister. Der Körper des Täters. On sexual murder at the turn of the twentieth century in general see: Tanja Hommen. Sittlichkeitsverbrechen: Sexuelle Gewalt im Kaiserreich. Geschichte und Geschlechter 28. Frankfurt a.M.: Campus, 1999; Maria Tatar. Lustmord: Sexual Murder in Weimar Germany. Princeton: Princeton University Press, 1997. 31 Sandra Maß. “Das Trauma des weißen Mannes: Afrikanische Kolonialsoldaten in pro- pagandistischen Texten, 1914-1923.” L‘Homme. ZFG 12,1 (2001): 11-33, 23-32. See also: Gisela Lebzelter. “Die ‘Schwarze Schmach:’ Vorurteile – Propaganda – Mythos.” Geschichte und Gesellschaft 11,1 (1985): 37-58; Iris Wigger. Die “Schwarze Schmach am Rhein:” Rassistische Diskriminierung zwischen Geschlecht, Klasse, Nation und Ras- se. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2007, 130-135, 142-143. The Cannibal and the Caterpillar 207 eral but instead were processes of re-asserting the dominant status of hegemonic masculinity.32 Also, these concerns about men and their manhood, were nothing new in the 1920s. The ‘nature’ of masculinity, especially with regard to male bodies, men’s affects and sexual urges had been under particular scrutiny since the 1880s. A vital part of these debates was the production of medico-psychiatric knowledge about male corporeality.33 The cannibal figured prominently in this context: Leading scientific experts theorized that cannibalistic impulses were part of those violent urges that constituted male sexuality. Richard von Krafft-Ebing, for instance, believed that human sexuality was structured by the same visceral instincts as was the case in pre-historical times. His assumptions were widely accepted among medico-psychiatric and crim- inological experts.34 He stipulated that modern bourgeois morals and norms had evolved from savagery to modernity by an evolutionary pro- cess during which the male sex drive had been increasingly restrained, in other words, ‘civilized.’35 Yet these impulses did not disappear, but constituted the foundation of male sexual desire for every man even in modern times. In reference to Anne McClintock’s reflections on the con- flation of time and space in colonial discourse, I have suggested to think of this male corporeality as an anachronistic body.36

32 Jürgen Martschukat and Olaf Stieglitz. “Es ist ein Junge!”: Einführung in die Geschich- te der Männlichkeiten in der Neuzeit. Tübingen: diskord, 2005, 82-83. 33 It was, however, not the only dimension of this debate nor did it establish a homo- geneous field of knowledge. Activists and scientists alike engaged in exploring, pro- posing, and living diverging concepts of masculinity and male sexual desire. See for instance the work of Magnus Hirschfeld, sexologist and outspoken advocate of the concept of a “third gender.” Manfred Herzer. Magnus Hirschfeld: Leben und Werk ei- nes jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen. Hamburg: Männerschwarm, 2001; Wolfgang Till. “Über die Konstruktion männlicher Homosexualität zwischen Normalität und Pathologie, zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit.” In Körper – Ge- schlecht – Geschichte: Historische und aktuelle Debatten in der Medizin. Edited by Elisabeth Mixa, Innsbruck: Studien-Verlag , 1996, 132-146; James D. Steakley. The Homosexual Emancipation Movement in Germany. New York: Arno Press, 1975. My argument here follows one particular strand of medico-psychiatric and criminological knowledge which was taken up and woven into the forensic arguments by police of- ficers, prosecutors, experts, judges, and the accused men themselves in the criminal cases I am looking at. 34 See for instance: Havelock Ellis. “Love and Pain [1903].” In Studies in the Psychology of Sex. Vol. 1. Honolulu, Hawaii: University Press of Hawaii, 2001, 57-69. Ellis as- sumed that earlier stages of this development could be discovered by studying ‘prim- itive’ societies in the colonies. 35 Richard von Krafft-Ebing. Psychopathia Sexualis: With Especial Reference to the Anti- pathic Sexual Instinct: A Medico-Forensic Study. New York: Arkade Publishing, 1998, 1-5, 56. 36 Bischoff, Kannibale-Werden, 204.

208 Eva Bischoff

Yet, following Krafft-Ebing, what had been a necessity on earlier stag- es of the evolutionary development of human civilization, and was still part of a healthy and normal male sex drive, could also be a threat. If moral inhibitions were suspended or a man’s ability to control his urges was impaired, his violent impulses would take over and he would kill the object of his sexual desires. Those individuals most likely to give in to these urges were men whose willpower and nervous system was de- teriorated due to a form of neurasthenia, or degenerative neurological weakness, induced by alcoholism, frequent masturbation or inherited from their parents.37 This condition, often called “Entartung,” also ampli- fied a man’s sex drive.38 Individuals who were of such ‘tainted’ neurolog- ical condition were considered to be psychopaths, unable to adjust to the challenges of normal life and prone to criminal behavior, because they presumably lacked the necessary willpower to withstand the se- ductions of delinquency.39 Thus, psychopathy was thought to result in homosexuality or in “sadism,” an emotional connection between the ex- perience of sexual arousal and observing or inflicting pain and cruelties on other beings, humans and animals alike.40 According to Krafft-Ebing, it was in these pathological cases of sadism in which an otherwise ‘natu- ral’ aggressiveness culminated in monstrously excessive acts of cruelty, murder, and even cannibalism: the killer craved the flesh and blood of his victims and devoured part of their bodies.41 The concept of Entartung was informed by the notion of the “born criminal,” introduced by Cesare Lombroso in his study L’huomo delin- quente in which he promoted the idea of a hereditary predisposition to sexual deviancy and criminality.42 A born criminal, he stipulated, was an “atavistic being who reproduces in his person the ferocious instincts of

37 Richard von Krafft-Ebing. Nervosität und neurasthenische Zustände. Wien: Hölder, 1900, 4-8. 38 Krafft-Ebing, Psychopathia Sexualis, 32-36. 39 Karl Birnbaum. Die krankhafte Willensschwäche und ihre Erscheinungsformen: Eine psychopathologische Studie für Ärzte, Pädagogen und gebildete Laien. Wiesbaden: Bergmann, 1911, 56. Today, the forensic concept of psychopathy describes a very dif- ferent pathology, the so-called “Anti-Social Personality Disorder” (ASPD). See: Charles van Onselen. The Fox and the Flies: The Secret Life of a Grotesque Master Criminal. New York: Walker, 2007, 425-427. 40 Krafft-Ebing, Psychopathia Sexualis, 53. 41 Ibid., 58-65. 42 Richard F. Wetzell. “The Medicalization of Criminal Law Reform in Imperial Germa- ny.” In Institutions of Confinement: Hospitals, Asylums, and Prisons in Eu- rope and North America, 1500-1950. Edited by Norbert Finzsch and Robert Jütte, Cambridge: Cambridge University Press, 1996, 275-283, 279. The Cannibal and the Caterpillar 209

primitive humanity and the inferior animals.”43 And although the major- ity of the German medico-psychiatric profession never supported Lom- broso’s theories completely, instead stressing the interdependence of hereditary factors and external influences such as familial and social en- vironment, education, individual conduct, and unhealthy influences on the embryo,44 they adopted a number of his basic racist premises. Most notable was the assumption that ‘degenerates’ and ‘savages’ shared basic corporeal characteristics, such as overwhelming beast-like in- stincts and the insensibility to pain.45 Also, experts assumed that heredi- tary neuropathic or psychopathic dispositions ran particularly often in families of the so-called lower classes.46 Criminality was regarded as the result of a hereditary legacy, or genealogy of crime, the felon’s body as palimpsest of corporeal degenerative marks.47 Medico-psychiatric tech- nologies to determine Entartung accordingly concentrated on detecting and deciphering these signs. To trace these degenerative characteristics in a criminal, forensic ex- perts charted an individual’s genealogy or systematically inquired about a criminal’s family background and socialization. Kürten, for instance, was extensively questioned about his upbringing, and psychiatric ex- perts evaluating his mental condition reconstructed his family tree, indi- cating possible degenerative traits of his ancestors which he might have inherited.48 Haarmann was forced to undress and have a photograph taken of his naked figure to permanently expose his body to the eyes of

43 Cesare Lombroso. “The Criminal.” In The Criminal Anthropological Writings of Cesare Lombroso: Published in the English Language Periodical Literature During the Late 19th and Early 20th Centuries. Edited by David M. Horton and Katherine E. Rich, Lewiston: Edwin Millen Press, 2004, 343-349, 345. 44 Karl Birnbaum. “Entartung.” In Handwörterbuch der medizinischen Psychologie. Edit- ed by Karl Birnbaum, Leipzig: Thieme, 1930. 116-120. For a concise account of the scientific debate on “degeneration” in Germany, see: Richard F. Wetzell. Inventing the Criminal: A History of German Criminology, 1880-1945. Chapel Hill: University of North Carolina Press, 2000, 63-68. 45 Lombroso, The Criminal, 345. 46 Birnbaum. Die krankhafte Willensschwäche, 56. See also: Cornelia Brink. “‘Nicht mehr normal und noch nicht geisteskrank…’ Über psychopathologische Grenzfälle im Kaiserreich.” WerkstattGeschichte 33 (2002): 22-44, 39-40. 47 Albert von Schrenck-Notzing, “Beiträge zur forensischen Beurtheilung von Sittlich- keitsvergehen mit besonderer Berücksichtigung der Pathogenese psychosexueller Anomalien [Part 1].” Archiv für Kriminologie 1,1 (1898): 5-25, 17 and Karl Birnbaum. Über psychopathische Persönlichkeiten: Eine psychopathologische Studie. Wiesbaden: Bergmann, 1909, 75. 48 “Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen den Arbeiter Peter Kürten, Prof. N. Si- oli, 14.11.1930.” HStA Düsseldorf: Rep. 17/ 728, Bll. 44-45.

210 Eva Bischoff forensic experts searching for marks.49 All delinquents in question were subjected to a series of psychiatric interviews designed to determine their mental state. Yet detecting psychopathic dispositions often proved to be extremely challenging, as experts had to admit. Individual bodies proved to be illegible as they did not bear the signs the experts were looking for.50 Equally frustrating was the quest to determine the fre- quency of the occurrence of degenerative traits within the population as a whole. Some scholars estimated that up to ten percent of the total population might suffer from a psychopathic predisposition.51 Yet, since psychopathy could also manifest itself in ‘untainted’ individuals under the influence of alcohol, extreme strain to the nerves, or during biologi- cal crises such as adolescence, an even higher number of unknown cases were thought possible. With regard to sadism, Krafft-Ebing explicitly emphasized that it was often impossible to distinguish between “original and acquired cases of sadism.”52 Some authors warned their readers of the “physiologically inherent violence and lust” characterizing every “act of cohabitation,” which might render any man into a sadist and sex kill- er.53 The cannibal, according to this model, was present in every man, regardless of skin color or upbringing. Thus, instead of establishing a clear-cut binary distinction between normality and deviancy, between white or non-European, proletarian or bourgeois bodies, medico-psychiatric scholars outlined a continuum of male (ab)normality. Every individual was to be located on this scale ac- cording to his situation in life, his social background, and his biological heritage. Moreover, with violent, even sadistic impulses being an inte- gral part of every man’s anachronistic body, manly self-control and re- straint became a crucial every-day practice. The willpower necessary to successfully exercise this form of self-governance was believed to be the prerogative of white, healthy, bourgeois men; in other words: to be the distinctive feature of hegemonic masculinity.54 Considering these find- ings, it becomes evident that the debates about sex criminals such as Kürten were connected to a larger network of discursive practices and technologies determining the location of each individual man’s location

49 Reprinted in: Christine Pozsár and Michael Farin, eds. Die Haarmann-Protokolle. Reinbek: Rowohlt, 1996, 462. See also: Hoffmeister. Der Körper des Täters, 214. 50 Hoffmeister. Der Körper des Täters, 215. 51 Birnbaum. Über psychopathische Persönlichkeiten, 75. 52 Krafft-Ebing, Psychopathia Sexualis, 57. 53 Erich Wulffen. Der Sexualverbrecher: Ein Handbuch für Juristen, Polizei- und Verwal- tungsbeamte, Mediziner und Pädagogen. Berlin: Langenscheidt, 1928, 458. 54 This form of intersection of race and gender has been discussed first with regard to white masculinity in the United States by Richard Dyer (White. London: Routledge, 1997, 14-15, 27-28). The Cannibal and the Caterpillar 211 within this continuum of (ab)normality. These practices established a two-way connection. On the one hand, the medical exams criminals were subjected to, the photographs taken, the interviews conducted with them were part of an assemblage that connected healthy and crim- inal, white and non-European bodies alike and were part of the technol- ogies of normalization, discipline and self-governance that encompassed the whole society. The circuits of production of medico-psychiatric knowledge, on the other hand, relied on the criminal’s bodies, difficult to decipher as they were.55 They were quite literally the material academic careers were whittled from: Karl Berg, for instance, the first forensic ex- pert to examine Kürten in 1930/31, gained international reputation by publishing on this case.56

Series 2: Chains of Command and the Regulation of Violence

The tendency to exert physical violence was, as I have demonstrated in my brief sketch of criminological and medico-psychiatric literature, re- garded as the evolutionary legacy of every male body. Accordingly, fo- rensic and medical experts considered self-restraint and control of (sex- ual) urges the central characteristics of every healthy, white, and bour- geois man. Yet the ability and willingness to kill, to maim, or to brutalize another human being was nevertheless highly valued in men as soldiers. Or, to paraphrase Kurt Tucholsky’s famous observation on war: murder, strictly forbidden by the rule of law, was obligatory only half an hour’s

55 On the intertwined circuits of forensic examinations and the production of psychiat- ric and criminological knowledge see: Silviana Galassi. Kriminologie im Deutschen Kaiserreich: Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung. Stuttgart: Steiner, 2004, 424. 56 Karl Berg. Der Sadist: Gerichtsärztliches und Kriminalpsychologisches zu den Taten des Düsseldorfer Mörders Peter Kürten. Edited by Michael Farin, München: belleville, 2004, 69-192 (first published as “Der Sadist,” Deutsche Zeitschrift für die gerichtliche Medizin 17,4-5 (1931): 247-347). His report was translated into English within a year and published as an independent study entitled The Sadist (London: Acorn Press, 1938) and has been reprinted several times since. The forensic examinations of Kürten, Haarmann, and Großmann relied on the same technologies that were applied in the production of the colonial Other. See: Andrew Zimmerman. Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany. Chicago: University of Chicago Press, 2001, 7, 157-171; Id. “Adventures in the Skin Trade. German Anthropology and Colonial Cor- poreality.” In Wordly Provincialism: German Anthropology in the Age of Empire. Edit- ed by Matti Bunzl and Glenn Penny, Ann Arbor: University of Michigan Press, 2003, 156-178, 156-157, 172. See also: Wulf D. Hund. “Die Körper der Bilder der Rassen. Wissenschaftliche Leichenschändung und rassistische Entfremdung.” In Entfremdete Körper: Rassismus als Leichenschändung. Edited by Wulf D. Hund, Bielefeld: transcript, 2009, 13-79.

212 Eva Bischoff drive away from home, namely in the trenches and the combat zones of WW1.57 This simultaneity, however, is paradoxical only at first glance. A closer look at the German “school of masculinity,” the compulsory mili- tary service, reveals a complex system designed to regulate and legiti- mize the exertion of violence.58 Military discipline was designed to convey central bourgeois qualities: punctuality, cleanliness and obedience. Moreover, the recruits’ training was supposed to instill masculine virtues such as strength of will and self-restraint, transforming them into austere and resilient individuals who were law-abiding and patriotic citizens, loyal to the crown.59 In con- junction with these highly valued masculine traits, recruits also learned that violence was part and parcel of hegemonic masculinity. Essential elements of this learning process were corporeal practices, subjecting the bodies of young conscripts to pain and humiliation. Older and more experienced soldiers, on the one hand, and noble-born officers on the other employed corporeal punishments to establish and uphold a social and military hierarchy.60 As such, inflicting suffering among the recruits was the prerogative of an elevated status in the chain of command; a chain which connected male bodies logistically and socially by words but also by the regulated flow of affects and affections: fear, anxiety, and pain.61 Additionally, sexual pleasures could circulate within this system as the military provided a social space in which young men could ac- quire sexual knowledge: for instance by sharing pornographic literature or having sexual encounters with both women and men alike. It is, how- ever, important to keep in mind that all of these experiences occurred within an explicitly misogynic framework and not all of them were vol- untary. Devaluating femininity was the operating principle of these con- nections and established homo-social male bonds within the armed forces (“Männerbund”) as well as the superiority of a martial masculinity within the larger system of masculinities.62 One of many examples of

57 Kurt Tucholsky. “Der bewachte Kriegsschauplatz,” In Kurt Tucholsky. Gesammelte Werke. Vol. 9, Edited by Mary Gerold-Tucholsky and Fritz J. Raddatz, Reinbek: Ro- wohlt, 253-254 (first published in: Die Weltbühne 31 (4 August 1931), 191). 58 Ute Frevert. Die kasernierte Nation: Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutsch- land. München: Beck, 2001, 228-245. 59 Ibid., 272, 275. 60 The Social Democratic Party repeatedly scandalized the maltreatment of young men, especially of proletarian background. See: Ibid., 228-245, 266-271. 61 Ibid., 266-271. As demonstrated by Klaus Theweleit these practices were an integral part of the destruction of the individual’s body boundaries and the creation of the collective male military body. Klaus Theweleit. Männerphantasien: Bd. 2: Männer- körper. Frankfurt a.M.: Stroemfeld, 1986, 165-204. 62 Frevert. Die kasernierte Nation, 234-237; Alon Rachamimov. “The Disruptive Com- forts of Drag: (Trans)Gender Performances among Prisoners of War in Russia, 1914- The Cannibal and the Caterpillar 213

these practices were the communal celebrations during which con- scripts would take their farewell from their loved ones, i.e. their moth- ers, sisters, brides, and wives, before entering the exclusively male world of the military. Often enough, these festivities went hand in hand with ritualized sexual violence against women.63 Realizing full martial masculinity culminated in achieving the privi- lege and the obligation to carry a saber, on becoming an officer. Techno- logically speaking a long outdated piece of equipment by the beginning of the twentieth century, it was nevertheless seen as the metal embodi- ment of a man’s honor and status. Painfully won by subjection to the military regime of violence and suffering, it indicated the carrier’s suc- cess in mastering discomfort and distress. Its possession granted access to elevated social circles as well as to another ritualized application of violence among men: the duel. Formerly a practice among noble-born males only, dueling became part of bourgeois habitus in the course of the last third of the nineteenth century when ambitious middle-class men strove to emulate the life-style of the nobility and military service made sabers available to them, too.64 If we keep these findings in mind, we see that a male ‘natural’ violent predisposition was well accepted as part of masculinity as long as it was exercised within the limits of social norms and mores.65 It was scandal- ized only if men started inflicting pain and suffering outside of conven- tional regulations and contexts. Consequently, one of the principal ex- planations for the perceived increase of male sex crime after the end of WW1 problematized men’s ability to self-control: they were considered to be unable to send the “predator” back to sleep after waking it in the heat of battle.66 By employing this explanation, sexualized violence was depicted as an exception, obscuring the constitutive role it played in the construction of hegemonic masculinity in the first place.

1920.” American Historical Review 111,1 (2006): 362-382; R. Connell. Masculinities. Cambridge: Polity Press, 1995, 76. 63 Frevert. Die kasernierte Nation, 243-245, 229-232. 64 Ute Frevert. Ehrenmänner: Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. München: dtv, 1995, 146-162, 296-315. 65 See also: Angus McLaren. The Trials of Masculinity: Policing Sexual Boundaries. Chi- cago: University of Chicago Press, 1997, 9. 66 Kankeleit. “Heldentum und Verbrechen.” Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 16 (1925): 193-201, 194.

214 Eva Bischoff

Series 3: Chains of Restraint and the Imperative of Pain

None of the sex criminals whose cases were discussed in the 1920s, however, had served in the armed forces during the war; a fact that must have repelled their contemporaries especially since, after the more pacifist sentiments of the first years of the Weimar Republic, public cel- ebrations of soldiers and positive references to the ideal of martial mas- culinity became more common during the second half of the 1920s.67 According to Großmann’s bill of indictment, he was discharged dishon- orably in 1887 because of a conviction for a so-called “Sittlichkeitsver- brechen,” a crime against mores and morals, and his police record lists a conviction for sexual assault (§ 176) in 1887, indicting him to 15 months imprisonment, twelve of which he had to serve in a penitentiary.68 Haarmann started his military training, but was discharged in 1902 be- cause he was considered unfit for service after a nervous breakdown during a marching exercise.69 Kürten, drafted in 1904, deserted and was caught and subsequently imprisoned for seven years (1905-12).70 In contrast to him, Großmann and Haarmann nevertheless tried to connect their biographies to the socially appreciated hegemonic model of mascu- linity. Großmann claimed that he was drafted and completed his basic training between 1886 and 1887 and Haarmann insisted that he enjoyed his training despite his health problems.71 Thus, apart from the connec- tions created|closed for them by penal and other ‘total institutions,’ these men also actively chose to establish this connection, however frag- ile such a link might have been in the light of their individual biog- raphies. This again demonstrates how influential the notion of martial masculinity was in German society at this point in time.

67 René Schilling. “Kriegshelden:” Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutsch- land, 1813-1945. Paderborn: Schöningh, 2002, 290, 292-314; Bernd Ulrich and Ben- jamin Ziemann. “Einleitung.” In Krieg im Frieden: Die umkämpfte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Edited by Bernd Ulrich and Benjamin Ziemann, Frankfurt a.M.: Fi- scher, 1997, 7-23, 9-13. 68 “Anklageschrift gegen Carl Großmann, 6.6.1922.” LAB: A Rep. 358-01/ 1522, Bd. 8, Bll. 120-132, Bl. 120. 69 “Urteil und Urteilsbegründung im Prozess gegen Friedrich Haarmann und Hans Grans, 19.12.1924.” NHStA Hann. 173 Acc. 30/87, Nr. 80, Bll. 107-155, Bll. 107-108. 70 “Urteil und Urteilsbegründung im Prozess gegen Peter Kürten, 22.4.1931.” HStA Düs- seldorf: Rep. 17/ 543, Bll. 8-20 and Bl. 13. 71 “Protokoll der Vernehmung von Carl Großmann, 24.8.1921.” LAB: A Rep. 358-01/ 1522, Bd. 1, Bll. 31-38, Bl. 32; “Vernehmungen (Protokolle) Haarmann durch Ernst Schultze in Hannover, 26.7.-9.8.1924.” NHStA Hann. 155 Göttingen/ 864a, Bll. 676- 734, Bll. 679, 682; “Vernehmungen (Protokolle) Haarmann durch Ernst Schultze in der Niedersächsischen Heil- und Pflegeanstalt zu Göttingen, 18.8.-25.9.1924.” NHStA Hann. 155 Göttingen/ 864a, Bll. 298-586, Bll. 304-305, 499, 505, 515. The Cannibal and the Caterpillar 215

Instead of undergoing the military drill and of being integrated into the hierarchical system of martial masculinity, all sex criminals in ques- tion were connected to another series of disciplinary measures, namely the prison.72 They were repeat offenders who had come into conflict with the law regularly since adolescence. Großmann had been penalized several times before his arrest in 1921, for offences such as begging, dis- turbing the peace, damage to property, assault as well as sexual assault, and bestiality.73 All in all, Großmann had been incarcerated for 23 years of his life before he was put to what turned out to be his final trial.74 He was 19 years of age when he first went to jail, in 1882. In a very similar manner, Haarmann had been imprisoned repeatedly before his last con- viction. Between 1905 and 1922 he received a number of sentences, each lasting several months, for theft, damage to property, fraud, beg- ging, and assault.75 He had also been confined to several institutions as an adolescent. In 1896, after being discharged from a pre-military school in Neubreisach at the age of 16, he was sent to a psychiatric clinic in Hil- desheim for observation because of a pending prosecution for sexual as- sault on three children. Although the charges were dropped, he was held in psychiatric hospitals in Hannover, Hildesheim, and Langenhagen. He escaped in 1897.76 He received his first prison sentence eight years later, in 1905. Kürten had a similar criminal record. He was first penalized in 1899, at the age of 15, for vagrancy. Two years later, after stealing two bicycles and being considered a repeat offender because of his earlier convictions, he was detained for 24 months. He was subjected to severe disciplinary measures such as bodily restraint during this first longer sentence.77 In his interviews with the medico-psychiatric experts evalu- ating his mental condition in 1930/31, Kürten gave detailed descrip- tions of the conditions of his imprisonment, providing us with the op- portunity to catch a more detailed picture of the relationship between

72 Goffman. Asylums, 11. 73 His latest prison sentence lasted fifteen years and was meted out in 1899 for raping and killing a ten year old girl. “Anklageschrift gegen Carl Großmann, 6.6.1922.” LAB: A Rep. 358-01/ 1522, Bd. 8, Bll. 120-132, Bl. 120. 74 “Gutachten Strauch über Carl Großmann, 26.4.1922.” LAB: A Rep. 358-01/ 1522, Bd. 4, Bll. 210-245, Bl. 224. 75 “Urteil und Urteilsbegründung im Prozess gegen Friedrich Haarmann und Hans Grans, 19.12.1924.” NHStA Hann. 173 Acc. 30/87, Nr. 80, Bll. 107-155, Bll. 110-112. 76 Ibid., Bl. 108. Whenever questioned about this time later on in his life, Haarmann de- scribed his experiences in these institutes as traumatizing and emphasized that he was willing to do everything to prevent being returned into the custody of any psy- chiatric institution. 77 “Urteil und Urteilsbegründung im Prozess gegen Peter Kürten, 22.4.1931.” HStA Düs- seldorf: Rep. 17/ 543, Bll. 8-20; Bll. 8-11.

216 Eva Bischoff penal discipline, violence, and the articulation of masculinity. I will therefore focus on his reports to map these connections. Kürten had been convicted not only of desertion, as already men- tioned above, but also of theft, embezzlement, marriage fraud, and sexu- al assault. He spent almost the complete time period between 1899 and 1921 in jail (21 years and nine months). He was incarcerated in a peni- tentiary (“Zuchthaus”) designed for ‘hardened’ criminals, in which in- mates were forced into hard labor and subjected to a tighter disciplinary regime, for several years during this time. He received the first seven years of this aggravated form of penance in 1905 as punishment for his desertion and was incarcerated in the penitentiary in Münster. The sec- ond penitentiary sentence was pronounced as a reprimand for his par- ticipation in a prison revolt in 1913, effectively prolonging and aggravat- ing his initial sentence for another two years. Kürten described the cir- cumstances he and the other inmates were subjected to during this sec- ond period, in the penitentiaries at Siegen, Rheinbach and Brzeg (in German Brieg, close to ). According to his account, conditions worsened during the war. Prison cells were overcrowded and nutrition insufficient, especiallyWrocław/Breslau in Brzeg. The corpses of inmates who had died of hunger and exhaustion were hidden by their fellow prison- ers in order to claim their rations and distribute their food among those who were still alive. He sketched a grim picture of a community in which only the strong survived and the dead sustained the living. The situation, he reported, was gravest in the institution’s hospital:

“up to fifteen, twenty [of us] were packed together, and sometimes, when some [men] had died, two, three, also four, we just covered them up, so you could not see it easily. The warden only came to the door, and then we got food for the others, too; those who were still able to stand upright received the food: ‘How many men?’ – ‘Eighteen men, sir.’ Well, all [food] received, including for those who were already dead.”78

During his imprisonment, Kürten was subjected to several forms of dis- ciplinary measure such as full body-restraint by chains, solitary con- finement, or detention in a black cell; often these were applied in com- bination with each other. It was during this time that Kürten trans- formed into a caterpillar. Medical and psychiatric experts examining him in the context of his last trial in 1930/31 identified this behavior as a mental condition, the so-called “prison psychosis.”79 None of the psychi- atrists, however, was surprised that he was not submitted to medico-

78 “Stenogramme der von Professor Sioli geführten Untersuchungen mit Kürten, Unter- suchung am 7.10.1930.” In Peter Kürten. Edited by Lenk and Kaever, 103-114, 111. 79 Ibid., 105 (Düsseldorf-Derendorf), 107-108 (Anrath), 109 (Münster), 110-111 (Brzeg). The Cannibal and the Caterpillar 217

psychiatric care after this incident. They regarded his actions as “noth- ing extraordinary for a person of psychopathic predisposition,” and an attempt to “escape reality of imprisonment […] without any significance in terms of a permanent pathological disturbance or characteristic of personality or of behavior outside of prison.”80 Since Kürten claimed that the suffering and trauma he experienced during his incarceration triggered his crimes and twisted his sexuality into a sadistic form, the prosecution in 1930/31 tried to establish the accuracy of his descrip- tions.81 All civil servants, wardens and medical personnel questioned in this context, however, namely Strafanstaltsinspektor Schneider, Haupt- wachtmeister Tetzlaff as well as the physician Dr. Rixen, decried Kürten’s accounts as lies and false accusations.82 Regardless of the accuracy of his descriptions or their status as repre- sentative experiences of inmates of German prisons and penitentiaries at the beginning of the twentieth century, we can nevertheless recognize a number of elements as significant to the assemblage established and into which Kürten, Großmann, and Haarmann were integrated. First, all three perpetrators were institutionalized for a long period of their life, starting at an early age. Secondly, in contrast to service in the military, penal sentences explicitly excluded men from participating in those practices and rituals that were crucial to the articulation of hegemonic masculinity.83 Third, the prison excluded men from exercising socially accepted forms of violence. Fourth, and most importantly with regard to the topic at hand, pain and violence played a crucial role within the “society of captives.”84 As sociological studies have demonstrated, the “principal axis” around which all masculinities are organized, is the hierarchical “structure of gender relations as a whole.”85 As such, devaluating femininity is a cen-

80 “Ärztliches Gutachten in der Strafsache gegen Peter Kürten, Dr. M. Raether, 2.1.1931.” HStA Düsseldorf Rep. 17/ 731, Bl. 260; “Ärztliches Gutachten in der Straf- sache gegen den Arbeiter Peter Kürten, Prof. N. Sioli, 14.11.1930.” HStA Düsseldorf: Rep. 17/ 728, Bl. 253; Berg, Der Sadist, 140. 81 List of Kürten’s statements regarding his treatment in prison by compiled by prosecu- tor Jansen, dated 15.11.1930, HStA Düsseldorf: Rep. 17/ 541, Bll. 201-207. 82 “Brief Dr. med. Peter Rixen an Oberstaatsanwaltschaft Düsseldorf, 26.6.1930.” HStA Düsseldorf: Rep. 17/ 541, Bl. 88; “Aussagen Dr. Peter Rixen, 17.3.1931.” Ibid., Bl. 96; “Aussage Strafanstaltsinspektor Michael Schneider, 17.3.1931.” Ibid., Bll. 95-96; “Aussage Hauptwachtmeister Erich Tetzlaff, 17.3.1931.” Ibid., Bl. 95. 83 Their attempts to appropriate the values and esteem of martial masculinity for them- selves were unsuccessful as we have seen in Großmann’s and Haarmann’s cases. 84 Mechthild Bereswill. “‘The Society of Captives’ – Formierungen von Männlichkeit im Gefängnis. Aktuelle Bezüge zur Gefängnisforschung von Gresham M. Sykes.” Krimino- logisches Journal 36,2 (2004): 92-108. 85 R. Connell. The Men and the Boys. Cambridge: Polity Press, 2000, 31.

218 Eva Bischoff tral part of establishing a social, hierarchical order amongst men in soci- ety in general. Closed, all-male systems, however, like penal institutions preclude the possibility of referring back to a femininity coupled to a female body. Instead, “the everyday strategies of subjection, of establish- ing boundaries, and of creating a sense of protection” connect male bod- ies only, relying on corporeal violence in general and on enforced male- to-male sex practices in particular in order to establish social hierarchy. Yet the “hypermasculinity” articulated in this manner nevertheless re- fers back to the traditional ideal of martial masculinity, emphasizing physical strength and virility.86 Both masculinities were firmly knotted together. Unfortunately, we lack similar analyses of the historical situation in penal institutions around 1900, but statements made by (ex)convicts in the context of the criminal cases at hand indicate that inflicting pain, transgressing the physical boundaries of others, and demonstrating that other males were sexually available were all included in the set of strat- egies and practices which established a hierarchical order amongst the prisoners. Kürten, for instance, was reported to grab other men’s crotches and brag about his violent and sadistic heterosexual practices in front of other inmates.87 Considering the age Kürten entered penal in- stitutions as well as the length of his respective incarcerations, opportu- nities for sexual encounters outside of prison must have been rare for him. During adolescence he would also have been especially vulnerable to sexual assault from other inmates due to his physical inferiority. Thus, emphasizing his heterosexuality in the context of an all-male social envi- ronment while touching another man’s penis, an act clearly coded as homosexual behavior, fulfilled another purpose than merely relaying in- formation. It shows that, although male bodies were connected in an af-

86 Aptly demonstrated by Mechthild Bereswill in her studies on male-to-male sexual- ized violence in prisons. See: Ead. “‘Die Schmerzen des Freiheitsentzugs’ – Gefäng- niserfahrungen und Überlebensstrategien männlicher Jugendlicher und Heranwach- sender.” In Forschungsthema Strafvollzug. Edited by Mechthild Bereswill and Werner Greve, Baden-Baden: Nomos, 2001, 253‐285; Ead. Society of Captives; Ead. “Männ- lichkeit und Gewalt. Empirische Einsichten und theoretische Reflexionen über Gewalt zwischen Männern im Gefängnis.” Feministische Studien 24,2 (2006): 242-255, 253 (quote). On the exertion of violence to articulate masculinities as well as to establish hierarchies in all male groups in general see: Michael Meuser. “Gewalt, hegemoniale Männlichkeit und ‘doing masculinity’.” Kriminologisches Journal, Beiheft 7 (1999): 49- 65; Id. “Gewalt als Modus von Distinktion und Vergemeinschaftung. Zur ordnungsbil- denden Funktion männlicher Gewalt.” In Geschlecht - Gewalt - Gesellschaft. Edited by Siegfried Lamnek and Manuela Boatca, Opladen: Leske + Budrich, 2003, 37-54; Gerlinda Smaus. “Die Mann-von-Mann-Vergewaltigung als Mittel zur Herstellung von Ordnungen.” In Ibid., 100-122. 87 “Aussage Wilhelm Hofer, 27.5.1960.” HStA Düsseldorf: Rep. 17/ 531, Bll. 5-6, Bl. 5. The Cannibal and the Caterpillar 219

fective and perhaps even erotic way, homosexuality was nevertheless strongly ostracized by the prisoners. It also demonstrates that, in con- junction to the findings of sociological studies among inmates today,88 female bodies and female femininity outside of the institution were an important point of reference for the practices and acts employed by the convicts.

The Cannibal and the Caterpillar: The Violence and Pain of Becoming-Man

The sequences of technologies and practices I have described above bear a number of similarities. They are also interconnected. All three of them rely on the human body as their material resource. The first, the medico-psychiatric complex, established the anachronistic body by measuring, comparing and evaluating male anatomies. It also located each individual man within a continuum of male (ab)normality ranging from the healthy, white, bourgeois man to the degenerative, criminal felon or the colonial ‘savage,’ based on the assumption that all of them shared an inherent corporeal inclination to violence. Although white men were supposed to be capable of exercising a sufficient level of self- control to prevent outbursts of their impulses on their own, a whole ap- paratus was installed to monitor and regulate male bodies and their urges. Apart from the medico-psychiatric complex, this apparatus also in- cluded compulsory military training. Here the recruits not only appro- priated behavioral traits that were considered fitting for a citizen, for in- stance obedience, loyalty to the crown, punctuality, or cleanliness. The young men also experienced that the exertion of violence according to circumstance was socially accepted, even highly valued in terms of the construction of martial masculinity. The other component of the appa- ratus to monitor and regulate male bodies was the prison. As a “total in- stitution,”89 the barracks as an assemblage of bodies, architecture, and disciplinary rules bore a number of important similarities to the prison. Both rested on the human body’s affective capacity to experience pain, fear, anxiety, or sexual arousal. They aimed at dismantling individual identities, but for prisoners, no inclusion into the valorized model of martial masculinity beckoned as a reward for enduring drill and disci- pline. Both structures relied on the distinction between bodies open and

88 Bereswill. Männlichkeit und Gewalt, 249-250. 89 Goffman. Asylums, 11.

220 Eva Bischoff available to the infliction of pain and those who were not. The preroga- tive to issue corporeal punishment, initially reserved to officers and wardens, was appropriated by recruits and convicts alike to establish a hierarchical order amongst themselves. When Kürten transformed him- self into a caterpillar during his incarceration in Münster, by wrapping an additional layer of skin/cloth around his otherwise vulnerable and open body, he established secure corporeal boundaries. He took control of the flows of affects going through him, connecting him to his fellow inmates, the wardens, the institution, and cut them off. Becoming a cat- erpillar, then, could be regarded as a means to exit the assemblage through which he was articulated as an embodied subject. From a DeleuzoGuattarian perspective, this act is particularly inter- esting. As mentioned at the very beginning of my analysis, Deleuze and Guattari consider becoming to be an inherently material process. Rest- ing on the capacity to establish affective and material connections, it simultaneously has the potential to dissolve molar, segmented struc- tures created through knowledge|power such as gendered subjectivi- ties.90 Beginning with “subtracting the unique from the multiplicity” (n- 1) which is then to be continued in a new rhizomatic mesh, a new multi- plicity.91 As such, becoming drives the Wankel engine of deterritorializa- tion and territorialization.92 In A Thousand Plateaus Deleuze and Guat- tari discuss two lines of becoming, becoming-woman and becoming- animal, describing both as privileged points of departure for the destabi- lization of existing power structures.93 This privilege has been questioned by several scholars. Rosi Braidotti, for instance, claims that the DeleuzoGuattarian concept of becoming dis- regards the different subject positions from which men and women em- bark on such a route. She argues that “the process of becoming, far from being the dissolution of all identities in a flux […] may itself be sex- specific, sexually differentiated, and, consequently, take different forms according to different gendered positions.”94 Paul Patton points out that, if we take Deleuze’s and Guattari’s own assertion that becoming “has neither beginning nor end, departure nor arrival, origin nor destination” seriously, “it makes no sense to regard becoming-woman as a necessary stage in a broader process of abolition of molar subjectivity or human

90 Deleuze and Guattari. A Thousand Plateaus, 306. 91 Schmiedel. Contesting the Oedipal Legacy, 36. 92 König, Perinelli, Stieglitz. Einleitung Praktiken, 13-14. 93 Deleuze and Guattari. A Thousand Plateaus, 306, see also 272-273. 94 Braidotti. Nomadic Subjects, 259. The Cannibal and the Caterpillar 221

liberation.”95 Norbert Finzsch recently demonstrated that, if considered in the larger network of Deleuze’s oeuvre, especially with regard to his clarifications on the topic of homosexuality, a much broader concept of becoming emerges which emphasizes the movement of deterritorializa- tion, regardless of its starting point.96 From a historian’s point of view, this issue has to be considered care- fully. And there are three aspects I would like to discuss in further detail as they highlight how historical analyses can enrich feminist theory on the one hand and how DeleuzoGuattarian pursuits can deepen our his- torical understanding on the other. First: as my short sketch of the med- ico-psychiatric assemblage and the male anachronistic body has demon- strated, manliness was articulated through a multiplicity of practices and technologies wrought by power|knowledge. Contemporary dis- courses described white, healthy, bourgeois men as capable of denying their physicality and of controlling their bodies, but simultaneously con- ceptualized every male body as inherently violent, savage, in socio- political terms as minor; not only men who could have been categorized to represent non-hegemonic masculinities such as colonized men or criminals, to speak in Cornell’s terms, but every single man. Men were, in this regard, as much embodied subjects as women. Hence, Braidotti’s figuration of the ‘nomadic subject’ can be fruitfully applied to the analy- sis of the socio-historical location of these masculinities, allowing us to systematically reflect on the how the strings of power (potestas) and po- tential (potentia) were spun together and in order to “identify possible sites and strategies of resistance.”97 Considering these findings and tak- ing up Braidotti’s call to recognize different starting points of lines of be- coming, a historically specific form of becoming-man is not only con- ceivable, but would have to be put into the larger context of Deleu- zoGuattarian thinking on becoming-minor.98 This conclusion stands in apparent contradiction to the majority of Deleuzian scholarship, which stresses their open rejection of the notion of becoming-man: “man is the molar entity par excellence.”99 If, however, we understand ‘man’ in terms of a socially and historically located subjectivity, articulated in a web of “productive relations of power, knowledge, and desire,” as

95 Deleuze and Guattari. A Thousand Plateaus, 323; Paul Patton. Deleuze and the Politi- cal. London: Routledge, 2000, 82. 96 Norbert Finzsch. “Becoming Gay: Deleuze, Feminismus und Queer Theory.” Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten 12 (2010): 104-124, 120-123. 97 Braidotti. Nomadic Subjects, 18, 10. 98 Just as Finzsch argues to consider the potential of “becoming-gay” (Finzsch. Becom- ing Gay, 123). 99 Deleuze and Guattari. A Thousand Plateaus, 320-322, quote 322.

222 Eva Bischoff demonstrated above, this refusal may not be productive but in fact be analytically constrictive.100 Secondly, mapping three distinct yet interconnected sequences that generated male corporealities at the beginning of the twentieth century from a materialist perspective demonstrated that the notion of the hu- man body as text|matter, to be inscribed (by civilisatory or social pro- cesses) and to be deciphered (by experts), was part of those discursive practices that constituted masculinities around 1900. It would therefore seem prudent to explore alternative explanatory models such as new materialism further, as it allows us to unfold and reflect on these conti- nuities and interconnections rather than operating on the same basic as- sumptions. Thirdly, my map rendered visible the central role not only violence but also bodily affects such as fear, pain, or arousal played in the assem- blages in question. DeleuzoGuattarian scholars, most prominently Brian Massumi, argue that studying affects provides critical analysis with a privileged access point when we are interested in finding out more about pre-discursive bodies. Their argument rests on a distinction be- tween affect and emotion. An “affect,” to quote Massumi,

“is autonomous to the degree to which it escapes confinement in the particular body whose vitality, or potential for interaction, it is. Formed, qualified, situated percep- tions and cognitions fulfilling functions of actual connection or blockage, are the cap- ture and closure of affect. Emotion is the intensest (most contracted) expression of that capture and of the fact that something has always and again escaped.”101

His position, just as the position of other advocates of the “new material- ism” or a radical “ontological turn,” which supports the existence of a pre-discursive body|matter, is highly contested among feminist and cul- tural studies scholarship alike. Sara Ahmed, one of the most outspoken critics of Massumi’s position, argues that his “distinction between affect and emotion under-describes the work of emotions” and insists that they “involve forms of intensity, bodily orientation and direction that are not simply about ‘subjective content’ or qualification of intensity.” They are not simply “‘after-thoughts’, but shape how bodies are moved by the world they inhabit.”102 Instead of assuming the autonomy of af-

100 Braidotti. Nomadic Subjects, 17. 101 Brian Massumi. “The Autonomy of Affect.” In Deleuze: A Critical Reader. Edited by Paul Patton, Oxford: Blackwell, 1996, 217-239, 228. See also: Id. Parables for the Virtual: Movement, Affect, Sensation. Durham: Duke University Press, 2002, 23‐45. 102 Sara Ahmed. “Creating Disturbance. Feminism, Happiness and Affective Differ- ences.” In Working with Affect in Feminist Readings: Disturbing Differences. Edited The Cannibal and the Caterpillar 223

fects, Ahmed recommends to begin “with the messiness of the experien- tial, the unfolding of bodies into worlds.” According to her understand- ing, this messiness or “stickiness” is the defining characteristic of af- fects.103 To conclude: It cannot be the task of the article at hand to solve this dispute. My analysis does, however, provide a historical case study pro- voking questions that might stimulate the ongoing debate. As my inves- tigation of Kürten’s accounts of his prison experiences has demonstrat- ed, our knowledge of the human body is mediated through language. Kürten was a particularly unreliable informant. He testified as an em- bodied subject, with a vested, even strategic interest. But are not all ac- counts of bodily experiences always also narrations of the self? If this is an irreducible process, we might want to turn this to our advantage, as constructivist feminism does, and explore this narration and its location in the network of power|knowledge. Such an analysis would not be in- terested in authenticity but in location. It would also accept that bodies may be irretrievably lost in a web of language, discourse and power. Yet, as my sketchy maps of three of the assemblages that constituted mascu- linities at the beginning of the twentieth century has shown, a Deleu- zoGuattarian perspective can be very productive for historical analysis. To conceptualize the body as “continually becoming” provided the pos- sibility to reconstruct the male anachronistic body and to expose similar- ities between the medico-psychiatric notion of the human body as text|matter and recent constructivist approaches.104 What lines of (historical) inquiry would open up if we conceptualized affects as autonomous, pre-discursive entities? And how to reconcile this perspective with the discursive condition of the human body with which we as historians are confronted with in our sources? In her study on Volatile Bodies, Elizabeth Grosz envisions the relationship between mind and body in analogy to the Möbius strip, a mathematical object which has only one surface and only one boundary. Following the band one arrives back at the starting point, yet on the opposite side of its sur- face. A Möbius band therefore connects different|same points at any one time and has always simultaneously an inside|outside surface. Accord- ing to Grosz, the strip has the “advantage of showing that there can be a relation between two ‘things’ – mind and body – which presumes nei- ther their identity nor their radical disjunction.”105 Moreover, it also

by Marianne Liljeström and Susanna Paasonen, Hoboken: Taylor & Francis, 2010, 31-44, 32. 103 Ibid., 32-33. 104 Schmiedel. Contesting the Oedipal Legacy, 34. 105 Grosz. Volatile Bodies, 209.

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“shows that while there are disparate ‘things’ being related, they have the capacity to twist one into the other.”106 Imagining autonomous af- fects and qualified emotions, body and mind, matter and discourse as locked to each other in a Möbius strip, I would like to argue, provides us with an opportunity to analyze their interconnectedness while bypass- ing the questions of supremacy of one over the other.107 Or to come back to my initial question about the relationship between the cannibal and the caterpillar: according to this mode of thinking, they are two discrete yet connected points on the band (embodiments), each located within a historically distinct assemblage of power|knowledge. Each is constituted by an equally distinct relationship between emotions and affects, be- tween congealing territorializing discourses, practices and technologies and transformative lines of flight.

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106 Ibid., 209-210. The model is not, as Grosz points out, “well suited for representing modes of becoming, modes of transformation.” Ibid., 210. 107 Making a similar argument, Clare Hemmings proposes to think about self-reflexive “affective cycles” in which an “ongoing, incrementally altering chain – body-affect- emotion-affect-body – [is] doubling back upon the body and influencing the individ- ual’s capacity to act in the world.” Clare Hemmings. “Invoking Affect. Cultural Theo- ry and the Ontological Turn.” Cultural Studies 19,5 (2005): 548-567, 564. The Cannibal and the Caterpillar 225

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Eva Bischoff, contact: bischoff (at) uni-trier.de. Dr. phil., studied History, Political Science, Philosophy, Homo- en Lesbo Studies, and American Cultural History at the universities of Cologne, Amsterdam, and Munich. Research interests: history of British, German, and US-American colonialism, postcolonial studies, history of criminology and psychiatry, gender and queer studies. She is currently working on a book project on the history of settler colonialism in early nineteenth-century Australia.

Body Politics 1 (2013), Heft 2, S. 231-258 Kampf – Kunst – Körper. Zum Verhältnis von Körper- und Gewaltgeschichte in »fernöstlichen« Kampftechniken in (West-)Deutschland (1920er bis 1980er Jahre) Marcel Streng

English abstract: This contribution explores the field of »Asian martial arts« in Germany between the 1920s and the 1980s in the Federal Republic. From the onset, I argue, the evolution of »Asian martial arts« in Germany was deeply affected by diverging defini- tions of their very nature. The discourse on whether they should be seen as elaborate gymnastic practices for health improvement, or rather be defined as training methods for mere violence or self-defence in everyday life materialised into a double organisational structure of sporting associations on the one hand and private martial arts enterprises on the other. Beyond this controversial context, »Asian martial arts« – and especially those which in the German context were related to or constructed as traditionally Japanese – developed as sophisticated techniques of body formation, self-defence training or gen- eral self-empowerment. They related to specific strategies and purposes, revealed highly ambivalent and thus produced historically diverging bodies.

»Die Handkante ist meine beste Waffe«.1 Das schrieb der Kölner Poli- zeihauptmeister Alfred Hasemeier zur Widmung in ein Exemplar seiner 1954 erschienenen Broschüre »Die moderne Selbstverteidigung«. Sie richtete sich an »Polizeibeamte, Bundesgrenzschutz, Zoll-, Bahn-, und Postbeamte« und enthielt mit Fotografien versehene Übungsanleitungen für Selbstverteidigungstechniken, die in den 1920er Jahren in Deutsch- land unter der Bezeichnung Jiu Jitsu größere Bekanntheit erlangt hatten. Beamte mit häufigem Bürgerkontakt sollten mithilfe dieser Übungen un- ter anderem lernen können, wie man aus der eigenen Handkante eine »unsichtbare und zumeist unterschätzte Waffe«2 machte. Freilich lernten das nicht nur Beamte. Vielmehr entstand zwischen den 1920er und 1980er Jahren ein immer breiteres Feld an Körpertech- niken, Lehrformen und Ausbildungsstätten, die sich an alle möglichen gesellschaftlichen Akteure richteten. Keineswegs ging es dabei immer um die Transformation der Handkante in eine Waffe oder des gesamten

1 Alfred Hasemeier, Die moderne Selbstverteidigung, Köln 1954, S. III. Ich danke den beiden anonymen GutachterInnen sowie Gudrun Löhrer (JFK-Institut, FU Berlin) und Joachim Haeberlen (MPI für Bildungsforschung, Berlin) für kritische Anmerkungen und weiterführende Hinweise. 2 Ebd., S. 15.

www.bodypolitics.de | urn:nbn:de:gbv:547-201400153 | ISSN 2196-4793 232 Marcel Streng

Körpers in ein Verteidigungs- und Angriffsinstrument. Die noch weitge- hend unerforschte Geschichte der »asiatischen Kampfkünste« in Deutschland weist eine ganze Reihe von (nicht nur körpergeschichtli- chen) Aspekten und Bezügen auf, die genauer zu untersuchen sich lohnt.3 Wenn im Folgenden dennoch hauptsächlich körper- und gewalt- geschichtliche Aspekte thematisiert werden, dann vor allem deshalb, weil die sogenannten »asiatischen« Kampftechniken in diesem Punkt eine eigenartige Ambivalenz auszeichnet, die für Überlegungen zum bis- lang zwar oft angeregten4, aber noch eher unausgeschöpften Beitrag der Körpergeschichte zur historischen Gewaltforschung fruchtbar gemacht werden kann. Denn auf der einen Seite wurden diese Kampftechniken im (west)deutschen Kontext von Beginn an von der Frage begleitet, ob es sich dabei um »Sport« oder um »Gewalt« handele. Es erweist sich heuristisch als unfruchtbar und bei näherem Hinsehen auch als viel zu einfach, die »asiatischen Kampfkünste« einer Seite dieser Unterschei- dung zuzuschlagen. Umgekehrt skizziere ich im ersten Abschnitt, welche produktiven Effekte diese semantische Kontroverse5 und die mit ihr einhergehenden Strategien der Akteure insbesondere für die Entste- hung und organisatorische Ausdifferenzierung des Feldes hatten. Ab- seits – aber freilich nie ganz unabhängig – von dieser semantisch- diskursiven Kontroverse handelte (und handelt) es sich auf der anderen Seite um Körpertechniken mit je eigenen Dispositiven, Zwecksetzungen und Wissensformen. Auf welche Weise Körper in diesem Rahmen adres- siert, umgewandelt und mit agency ausgestattet wurden (und werden) ist Gegenstand des zweiten Abschnitts. Übungsbücher und Zeitschrif-

3 Für einen historischen Überblick zu verschiedenen Aspekten (Film, Sport, Kultur, Mig- ration) s. Thomas A. Green/Joseph R. Svinth (Hg.), Martial Arts in the Modern World, Westport 2003; für sportgeschichtliche Ansätze und Kontexte s. Olaf Stieglitz/Jürgen Martschukat/Kirsten Heinsohn, Sportreportage: Sportgeschichte als Kultur- und Sozi- algeschichte, in: H-Soz-u-Kult 28.05.2009, URL: http://hsozkult.geschichte.hu- berlin.de/forum/2009-05-001 (letzter Zugriff: 3.12.2012). 4 Vgl. etwa Maren Lorenz, Physische Gewalt – ewig gleich? Die Problematik absoluter Theorien im Spiegel historischer Kontexte und veränderter Körperwahrnehmung, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 8 (2004), H. 2, S. 9-14; Dirk Schumann, Gewalt als Grenzüberschreitung: Überlegungen zur Sozialgeschichte der Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 37 (1997), S. 366-386; Jörg Baberowski, Gewalt verstehen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contempo- rary History, Online-Ausgabe, 5 (2008), H. 1, URL: http://www.zeithistorische- forschungen.de/16126041-Baberowski-1-2008, Abs. 6 und 7 (letzter Zugriff: 10.12.2012). 5 Willem de Haan, Violence as an Essentially Contested Concept, in: Sophie Body- Gendrot/Pieter Spierenburg (Hg.), Violence in Europe. Historical and Contemporary Perspectives, New York 2008, S. 27-40; Heinz-Gerhard Haupt, Gewalt und Politik im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2012, Kap. I. Kampf – Kunst – Körper 233 tenartikel bilden die Grundlage der Argumentation, die sich aus rein for- schungspragmatischen Gründen auf die Weimarer Republik und West- deutschland bezieht.6

1. Sport vs. Selbstverteidigung: Semantische Strategien und organisatorische Differenzierung im Feld der »fernöstlichen Kampfkunst«

Die Entstehung und Ausdifferenzierung des Felds der »fernöstlichen Kampfkunst« in (West)Deutschland sowie die korrespondierenden se- mantischen Strategien der Akteure waren zwischen den 1920er und 1980er Jahren durch einen Prozess der Versportlichung geprägt, der gleichzeitig ein Feld kommerzieller Selbstverteidigungsschulen aus- grenzte und mitkonstituierte. Im Hinblick auf die historische Entwick- lung des Felds können bisher drei Phasen unterschieden werden: eine Phase der Etablierung in den 1920er und 1930er Jahren, eine Phase der Konsolidierung vor allem in den 1960er Jahren und schließlich eine Phase der sprunghaften Ausdifferenzierung seit Mitte der 1970er Jahre.7 Auf die Gründung der ersten kommerziellen Jiu-Jitsu-Schule in Berlin 1905 folgte in den 1920er und 1930er Jahren eine erste Phase der Kon- solidierung und Ausdifferenzierung. Zu Beginn der 1920er Jahren wur- den in Berlin, Dresden und Frankfurt die ersten Sportvereine gegründet, Mitte der 1920er Jahre existierte vorübergehend sogar ein Reichsver- band der Jiu Jitsu-Kämpfer mit eigener Zeitschrift. Im Jahr 1930 gab es bereits rund 60 Jiu-Jitsu-Abteilungen in den großen Sportverbänden und

6 Teilnehmende Beobachtung hat zu faszinierenden Ethnographien geführt, bleibt His- torikerInnen aber weitgehend verwehrt. Vgl. Einat Bar-On Cohen, Survival, an Israeli Ju Jutsu school of martial arts Violence, body, practice and the national, in: Ethnography 10 (2009), H. 2, S. 153–183; Loïc Wacquant, Whores, Slaves and Stallions: Language of Exploitation and Accommodation among Boxers, in: Body & Society 7 (2001), H. 2/3, S. 181–94. 7 Die historiographische Literatur genügt bis auf wenige Ausnahmen kaum wissen- schaftlichen Ansprüchen. Vgl. aber zur Entwicklung des Judo in Deutschland Gertrud Pfister, The Fascination of the Exotic? On the development of Jujitsu and Judo in Ger- many, in: dies./Liu Yueye (Hg.), Sports – the East and the West. Documentary Volume of the 3rd International ISHPES Seminar Sports, Sankt Augustin 1999, S. 19-24; für Frankreich s. Michel Brousse, Du Samouraï à l’Athlète: L’Essor du Judo en France, in: Sport et histoire 3 (1989), S. 17. Besonders gut und vergleichsweise früh erforscht ist die Sozialgeschichte des Judo in Großbritannien – s. B. C. Goodger/J. M. Goodger, Or- ganisational and Cultural Change in Post-War British Judo, in: International Review for the Sociology of Sport 15 (1980), S. 21-48; B. C. Goodger/J. M. Goodger, Jûdô in the Light of Theory and Sociological Research, in: International Review of Sport Sociology 12 (1977), H. 5, S. 5-34. 234 Marcel Streng in den 1930er Jahren fand in Frankfurt am Main alle zwei Jahre eine Ju- do-Sommerschule statt. Internationale Kontakte ermöglichten Ver- gleichswettkämpfe zwischen den ersten deutschen, französischen, engli- schen und schweizerischen Vereinsmannschaften. Die organisatorische Differenzierung war nicht zuletzt das Ergebnis einer nachhaltigen Abgrenzungsarbeit der beteiligten Akteure. Die Grenzen zwischen Sport und Selbstverteidigung, zwischen »Kano-Jiudo« und »Jiu Jitsu« waren umstritten. In diesem Prozess stellte die Semantik des Sports für die Akteure innerhalb des noch vergleichsweise kleinen, noch weitgehend unerforschten Felds der »Jiu-Jitsu-Männer« eine stra- tegische Ressource dar.8 Mit ihrer Hilfe ließen sich zum einen diese noch relativ unbekannten Bewegungslehren in die Reihe der in der Weimarer Republik bekannten »Leibesübungen« einordnen und zugleich von den kommerziellen Schulen abgrenzen, die sich auf Jiu Jitsu als »waffenlose Selbstverteidigung« für den Alltag sowie für verschiedene Beamten- gruppen und das Militär zu spezialisieren begannen. In einem Beitrag über Jiu Jitsu von Fritz Strube zu dem von Edmund Neuendorff 1927 herausgegebenen Handbuch Die Deutschen Leibesübungen trat der ar- gumentative Gebrauch der Unterscheidung von Sport und Gewalt deut- lich hervor:

»Im allgemeinen ist das Wesen des Jiu-Jitsu noch zu wenig erkannt, ja man brachte ihm noch vor nicht allzu langer Zeit starke Abneigung entgegen, wahrscheinlich, weil die ersten Erfolge bei der Einführung falsch ausgenützt wurden. Außerdem galt Jiu- Jitsu als überaus gefährlich und körperverletzend […] In letzter Zeit ist neben allen anderen Arten der Leibesübungen auch der Jiu-Jitsu-Sport stark in den Vordergrund getreten und nimmt heute eine beachtliche Stellung im deutschen Sportleben ein«.9

Zwischen Mitte der 1920er Jahre und Ende der 1930er Jahre erschien eine ganze Reihe von häufig kleinformatigen Übungsbüchern und bebil- derten Anleitungen zum Selbstunterricht, die noch zu Beginn der 1940er Jahre neu aufgelegt (und in überarbeiteter Fassung teilweise auch in der frühen Bundesrepublik vertrieben) wurden. Die meisten Au- toren stellten wie Strube den gesundheitsförderlichen Nutzen von Jiu Jitsu als »Leibesübung«10, »sachgemäße Körperkultur«11 und als Mittel

8 Vgl. hierzu die Beiträge in Felix Axster/Jens Jäger/Kai Marcel Sicks/Markus Stauff (Hg), Mediensport. Strategien der Grenzziehung, München 2009, besonders Felix Axster, Die Welt sammeln. Strategisches Potenzial der Sportsemantik um 1900, ebd., S. 107-126. 9 Fritz Strube, Jiu Jitsu, in: Edmund Neuendorff (Hg.), Die deutschen Leibesübungen, Berlin/Leipzig 1927, S. 630-636, hier S. 630. 10 Ebd., S. 630. 11 Erich Stephan, Körperkultur und Selbstverteidigung, Berlin/Oldenburg 1922, S. 4. Kampf – Kunst – Körper 235

zur »körperlichen und geistigen Ertüchtigung«12 in den Vordergrund. Im Kontext der Weltkriegsniederlage und der »Körperkrise«13 der Weima- rer Republik erhielt Jiu Jitsu sowohl als eine Form der »Leibesübung« unter anderen wie als spezifisch auf Selbstverteidigung ausgerichtete Praxis in einigen Anleitungen sogar eine genuin politische Konnotation: »Die Armee, die Schule der Wehrhaftigkeit, ist uns durch den Vernich- tungswillen unserer Feinde genommen«, schrieb der Polizei-Leutnant Stephan 1923. »Strebe darum jeder danach, allein seinen Körper zu stählen und durchzubilden, um wehrhaft zu werden«.14 In diesem Sinn notierte auch der Wiener Revier-Inspektor Diwischek: »Der große Krieg und die darauffolgende sogenannte Entwaffnung und nicht zuletzt auch einige Bestimmungen des Friedensvertrages haben es mit sich gebracht, daß in letzter Zeit für waffenlose Selbstverteidigung besonderes Inte- resse gezeigt wird«.15 Die von den Insidern des Feldes hervorgehobene, gesundheitsför- dernde Wirkung des Jiu Jitsu verstand sich nicht von selbst. Zwar räum- ten sie eine gewisse Gefährdung des Körpers und der Gesundheit durch Jiu Jitsu ein, ließen dies jedoch nur für eine bestimmte Form der Aus- übung gelten. Die Unterscheidung zwischen Jiu Jitsu als »Kampfsport«16 und Jiu Jitsu als »Waffe«17 für den »Ernstfall«18 spielte an dieser Stelle eine zentrale Rolle. Es sei »auf alle Fälle zu unterscheiden zwischen Jiu Jitsu als Waffe und in seiner schulmäßigen Ausübung zur Ertüchtigung von Körper und Geist«,19 schrieb der Regierungs-Medizinalrat Heine- mann-Gründer in einer medizinischen Expertise, die Erich Rahn, der Gründer der erwähnten ersten Berliner Jiu-Jitsu-Schule, vorsichtshalber in seiner Broschüre abdrucken ließ. Es war Heinemann-Gründer zufolge

12 Ludwig Bach, Verteidige Dich selbst. Gymnastik, Boxen, Jiu Jitsu, Köln 1928, S. 3. 13 S. Michael Mackenzie, Maschinenmenschen, Athleten und die Krise des Körpers in der Weimarer Republik, in: Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hg.), Die »Krise« der Wei- marer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt/M. 2005, S. 319-346; vgl. auch Erik Norman Jensen, Body by Weimar: Athletes, Gender, and German Mo- dernity, Oxford/New York 2010, S. 83, 180. 14 Stephan, Körperkultur, S. 4. 15 Joseph Diwischek, Jiu Jitsu und Judo, Leipzig/Wien 1927, S. 5. 16 Stephan, Körperkultur, S. 7, 8; Heinz Mägerlein, Jiu-Jitsu, der waffenlose Nahkampf, Leipzig 1934, S. 4, 5, 9; Diwischek, Jiu Jitsu, S. 5, 14. 17 Bach, Verteidige Dich selbst, S. 16; Diwischek, Jiu Jitsu, S. 5. 18 Edmond Vary, Jiu Jitsu. Die Kunst der japanischen Selbstverteidigung und Körperstäh- lung, Leipzig 1927, S. 25; Franz Dauhrer, Der waffenlose Nahkampf. (Jiu Jitsu). Ein Lehrbuch zum Selbstunterricht, Hamburg 1932, S. 6, 7, 52; Bach, Verteidige Dich selbst, S. 9, 10; Hans Knorn, Das japanische Jiu-Jitsu in deutscher Übung. Ein Lehr- buch der Kunst der Selbstverteidigung, 5. Aufl., Dresden 1938, S. 3, 9, 10; Wolfram Werner, Die Waffe Jiu Jitsu und Judokampfsport, Dresden 1939, S. 5, 12. 19 Erich Rahn, Die unsichtbare Waffe, Berlin 1926, S. 10. 236 Marcel Streng möglich, Jiu Jitsu gefahrlos zur »Ertüchtigung« zu betreiben, sich dabei aber gleichzeitig auch in eine Waffe zu verwandeln. Eine weitergehende Differenzierung vertrat Diwischek: »Das Jiu-Jitsu ist kein Kampfsport im eigentlichen Sinne des Wortes«, notierte er, denn »zum Sportkampf, zum Messen der Körperkräfte und Fähigkeiten sind die Griffe zu gefähr- lich«.20 Stattdessen führte er das Jiudo ein, eine der gefährlichen Griffe entkleidete Form des Jiu Jitsu, das er wiederum mit dem Ringen ver- glich: »Den regelrechten Ringkampf mit diesem scheinbar so gefährli- chen Griff nennt man nicht mehr Jiu-Jitsu, sondern Jiudo«.21 Tatsächlich diente der Vergleich mit dem Ringen mehr noch als der Vergleich mit dem Boxen und dem Fechten zur semantischen Versportlichung des Jiu Jitsu. Strube definierte ebenfalls: »Jiu Jitsu ist eine Art freier Ring- kampf«22, und Vary vermerkte in diesem Sinn: »Mit dem Ringkampf hat … das Jiu Jitsu wohl noch das meiste gemeinsam«.23 Halten wir bezüglich der Etablierung der »fernöstlichen Kampfkunst« in der Weimarer Republik also vorläufig fest, dass sie mithilfe einer dop- pelten Strategie erfolgte: auf der einen Seite wurde sie mit Boxen, Fech- ten und vor allem dem Ringen verglichen und unter der Bezeichnung Judo zunehmend sowohl versportlicht als auch eingedeutscht; gleichzei- tig blieb dem tendenziell mit Körperverletzung, Gesundheitsgefährdung und Gewalt identifizierten Jiu Jitsu das Feld der kommerziellen Ausbil- dung in Selbstverteidigung überlassen. Über die Geschichte des Jiu Jitsu im Nationalsozialismus ist noch verhältnismäßig wenig bekannt. Das liegt zum Teil auch daran, dass sich die Akteure selber in den 1950er und 1960er Jahren weitgehend ausschwiegen.24 Die eigenständigen Jiu- Jitsu-Verbände gingen in den NS-Sportorganisationen auf und es ist durchaus wahrscheinlich, dass Jiu Jitsu unter der deutschen Bezeich- nung »waffenloser Nahkampf«25 weiter eine Rolle in der vor- bzw. pa- ramilitärischen Ausbildung spielte. Fest steht, dass der Alliierte Kontrollrat nach dem Zweiten Weltkrieg Jiu Jitsu in den Westzonen zusammen mit Fechten und Schießen bis

20 Diwischek, Jiu Jitsu, S. 14. 21 Ebd., S. 8. 22 Strube, Jiu Jitsu, S. 630. 23 Vary, Jui Jitsu, S. 20. 24 Das Verbandsmagazin Judo veröffentlichte in den 1960er Jahren regelmäßig kurze Interviews mit bekannten Judoka, die ihre Ausbildung teilweise in den 1930er Jahren begonnen hatten. Die Zeit des Nationalsozialismus wurde hier schlicht ausgeklam- mert, vgl. nur die beiden Interviews mit zwei der Gründerväter aus den 1920er Jah- ren: Das Interview [mit Alfred Rhode], in: Judo 1 (1961), H. 4, S. 2; Das Interview [mit Erich Rahn], in: Judo 2 (1962), H. 9, S. 2. 25 Mägerlein, Jiu-Jitsu, S. 4; Dauhrer, Der waffenlose Nahkampf, S. 4. Kampf – Kunst – Körper 237

1949 mit einem Verbot belegte.26 Erst Anfang der 1950er Jahre begann der Aufbau neuer Vereins- und Verbandsstrukturen ausgehend von Nordrhein-Westfalen und zwar unter der Bezeichnung Judo - als Deut- scher Judo-Bund (DJB). Der DJB konsolidierte Judo als Sportart in der Bundesrepublik und trug wesentlich zur internationalen Vernetzung der deutschen Vereine und Judoka bei. Bis Ende der 1960er Jahre zentrali- sierte diese Organisation aber auch die Sportverwaltung der neu hinzu- kommenden Kampftechniken Karate, Aikido und Taekwondo, bis diese in den 1970er Jahren sukzessive eigene Dachverbände ausgründeten. Sportpolitisch getragen von einer wachsenden Zahl an Vereinen, neu gegründeten Landesverbänden und einem Dachverband etablierte sich Judo in den 1960er Jahren als Freizeitsport, wie an den schnell steigen- den Zahlen der Aktiven abzulesen ist – von 30.000 Anfang der 1960er Jahre auf fast 100.000 am Ende des Jahrzehnts und auf knapp 200.000 in den 1980er Jahren. Karate zählte Ende der 1980er Jahre knapp 180.000 Aktive.27 Mit der Wahl der Bezeichnung Judo war eine Entscheidung für die versportlichte Variante des Jiu Jitsu gefallen, die die Vereins- und Ver- bandsmitglieder auf die Ausbildung, Graduierung und die Teilnahme an Meisterschaftswettkämpfen ausrichtete. Inwiefern dabei das Nach- kriegsverbot im Sinn der frühzeitigen Weichenstellung eine Rolle spiel- te, muss noch näher überprüft werden. Seit 1954 erschien jedenfalls in geringer Auflage eine erste kurzlebige Verbandszeitschrift Judo und Selbstverteidigung, die den vormals engen Zusammenhang zwischen Ju- dosport und Jiu-Jitsu-Selbstverteidigung noch explizit artikulierte. Die Durchsicht der seit 1961 in Judo umbenannten (und noch heute noch unter dem Titel Judo-Magazin erscheinenden) Zeitschrift zeigt, dass Selbstverteidigung weiterhin eine zentrale Rolle spielte, aber nun auf einer völlig veränderten Grundlage problematisiert und konzipiert wur- de – auf der Basis der »Budo-Philosophie«.28 Das Editorial »Was ist Judo?«, erschienen in der Juni-Ausgabe 1961 der Zeitschrift, unterschied drei verschiedene Verhältnisse zum Judo: den »Laien (Judo als Selbstverteidigungskunst)«, den »Anfänger (Judo als Sport)« und den »Meister (Judo als Philosophie)«.29 Die Erläuterun-

26 Pfister, The Fascination of the Exotic, S. 21f. 27 Colin Goldner, Fernöstliche Kampfkunst. Zur Psychologie der Gewalt im Sport, Mün- chen 1988, S. 12. Wobei hier Dopplungen nicht ausgeschlossen sind. 28 Die Zeitschrift veröffentliche etwa mit ihrem ersten Erscheinen im Januar 1961 Eugen Herrigels Klassiker über »Zen in der Kunst des Bogenschießens«, vgl. Judo 1 (1961), H. 1, S. 8-9; vgl. hierzu Yamada Shõji, The Myth of Zen in the Art of Archery, in: Japa- nese Journal of Religious Studies 28, Nr. 1-2, S. 1-30 und zum orientalistischen Kon- text Yamada Shõji, Shots in the dark: Japan, Zen, and the West, Chicago 2009. 29 Was ist Judo? in: Judo 1 (1961), H. 6, S. 3. 238 Marcel Streng gen zeigen, dass der Bezug auf die »Budo-Philosophie« es erlaubte, diese Verhältnisse entlang einer pädagogischen Strategie zu hierarchisieren. Für den Laien, führte der Autor aus, sei Judo »eine dem Ringen und Bo- xen verwandte Sportart, oft begleitet mit fremden und anmaßenden, ostasiatischen Zeremonien«.30 Für den Anfänger dagegen sei es »eine unterhaltsame und zweckgerichtete japanische Kampfsportart, so wie jeder andere Sport«.31 Der Anfänger lerne »seine Kräfte stählen und sei- ne körperliche und geistige Schnelligkeit und Reaktion verbessern. Ebenso erringt er auf Meisterschaften erfolgreich Titel und damit Aner- kennung, die ihm ein Sicherheitsgefühl und ein Selbstvertrauen in ho- hem Maße vermittelt«.32 Mit der dritten Stufe ging Judo in eine Exis- tenzweise über. Für den Meister nämlich sei Judo »ein Weg (jap. ‚Do’), welcher ihn mit einer gewollten Zwangsläufigkeit zu einem Ziele führt, bei dem die Harmonie des Körperlichen (Physischen), des Geistigen (Verständlichen) und des Seelischen (Moralischen) als oberstes Gesetz gilt«.33 Der Meister betrachte Judo zwar auch als Sport - aber auf eine ganz besondere Weise, nämlich auch außerhalb des Trainings, wenn »er selbstvergessen und ichlos alle Handlungen und Regungen …. mit einer unbewußten, natürlichen Gelassenheit vollendet und so eine unge- schriebene magische, aber lebendige Philosophie erreicht hat und lebt«.34 Wer sich also als Laie für Selbstverteidigung interessierte, sollte als Sportler in einem Verein bleiben und auf Wettkämpfe hin trainieren, um schließlich als Meister in esoterisches Wissen einzutauchen und Ju- do als Existenzweise zu begreifen.35 Diese sportpolitische Strategie, Judo als Transformationstechnik von latent im Alltag vorhandenen Gewaltpotenzialen zu bewerben, scheint in den 1960er Jahren nicht vollkommen aufgegangen zu sein. So sah sich der Deutsche Judobund im August 1969 zu einer offiziellen Stellung- nahme bemüßigt. Unter der Überschrift »Judo, Karate, Aikido und Row- dies« verfasste der Polizeibeamte Karl Böhlein einen langen Artikel für die Zeitschrift, in dem er das Argument zu widerlegen versuchte,

»dass solchen Jugendlichen [Halbstarke, Rocker und Rowdies, M.S.] durch Teilnahme am Judo und Karate in Sportvereinen die Möglichkeit geboten wird, sich Fähigkeiten

30 Ebd. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Es greift deshalb wohl auch zu kurz, die Entwicklung des Judo mit den Prozessbegrif- fen Versportlichung und Säkularisierung zu beschreiben, vgl. Pfister, The Fascination of the Exotic?, S. 20-21. Kampf – Kunst – Körper 239

besonderer Art anzueignen, die sie in vermehrtem Maße befähigen, ihren Unter- nehmungen zum Erfolg gegenüber wehrlosen Bürgern zu verhelfen«.36

Der Verfasser hielt diese Vorwürfe für »völlig abwegig«. Das Gegenteil sei der Fall: »Durch die Beschäftigung mit Judo, Karate und anderen Bu- dosportarten werden Jugendliche gleichzeitig zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen«.37 Auch Rolf Brand, Sachbearbeiter für Bu- dosportarten im DJB, war dieser Ansicht. In seiner Argumentation, die Böhleins Artikel einführte, schien die entschlossene Pädagogisierung des Judo auf: »Die Beherrschung hochwirksamer Techniken führt letzt- lich zur Gewaltlosigkeit. Allen verantwortungsbewussten Eltern wird … ein Weg aufgezeigt, wie man junge Menschen durch Überwindung des ICH zum besseren Verständnis für den Mitmenschen führen kann«.38 Auf der Grundlage der »Budo-Philosophie« konnte indes auch das Verhältnis des Judo-Sports zur Selbstverteidigung neu verhandelt wer- den. Wie ein ebenfalls 1961 in Judo erschienener Artikel »Selbstvertei- digung. Was ist Budo?« ausführte, bezeichnete »’Bushido’ (Bu = Soldat, Shi = Edelmann, Do = Weg) die Ritterlichkeit schlechthin«. Alle japani- schen Kampftechniken seien »untrennbar verbunden mit dem Begriff«, der den »ungeschriebenen Ehrenkodex der damaligen Ritterkaste, der Samurai, versinnbildlicht«.39 Dass sich der Deutsche Judo-Bund fortan auf dieser Grundlage der Selbstverteidigung zuwandte, hatte jedoch noch einen zweiten, nicht minder gewichtigen Grund: der Wettbewerb mit den kommerziellen Ausbildungsstätten um Mitglieder und damit auch um Einnahmen. Gerade private Schulen wie die 1963 in Wilhelms- haven gegründete Budo-Akademie-Europa40 übernahmen in den 1960er Jahren die Ausbildung in Selbstverteidigung, die die Judo-Vereine größ- tenteils nicht boten. Wolfgang Heim, ein Verbandsfunktionär aus Hes- sen, beschrieb diese Situation und die sportpolitischen Konsequenzen in einem Leserbrief an die Zeitschrift 1961 folgendermaßen:

»Im Kampf gegen die gewerblichen Judo-Schulen der uns wohlbekannten ›Geschäfts- leute‹ soll künftig die Selbstverteidigung zu einer größeren Breitenarbeit, insbeson- dere zur verstärkten Werbung und Heranführung von Interessenten für und an un- sere Judovereine beitragen. Dabei wurde klar erkannt, dass in dieser Hinsicht in den letzten Jahren sowohl vom Deutschen Judo-Bund als auch von den Landesverbänden

36 Karl Böhlein, Judo, Karate, Aikido und Rowdies, in: Judo 9 (1969), H. 8, S. 8-9, 13, hier S. 8. 37 Ebd., S. 13. 38 Rolf Brand, Sachbearbeiter für Budo-Sportarten im DJB, in: Judo 9 (1969), H. 8, hier S. 8. 39 Selbstverteidigung. Was ist Budo? In: Judo 1 (1961), H. 2, S. 12-14, hier S. 12. 40 Budo-Akademie Europa, in: Karate-Revue 4 (1979), H. 5, S. 28-31. 240 Marcel Streng etwas versäumt wurde. Der Kampfsport wurde allzu ausschließlich in den Vorder- grund gestellt und die Selbstverteidigung als Stiefkind behandelt. So entstand ein fruchtbarer Boden für die gewerblichen Judoschulen, die sich vorwiegend der Selbstverteidigung widmen und dem nachweislich vorhandenen Bedarf ein entspre- chendes Angebot entgegensetzen. Wie man heute sieht, mit gutem Erfolg. Es gilt also für unsere Vereine, wieder mehr als bisher die Interessengruppe anzusprechen, die nur einen persönlichen Selbstschutz sucht und aus diesem Grunde Selbstverteidi- gung erlernen, statt aktiven Kampfsport zu betreiben wünscht.«41

Die Reaktion der Zeitschriftenredaktion zeigt, dass Anfang der 1960er Jahre mit der Einführung und Verbreitung vor allem von Karate und Aikido neue Möglichkeiten zur Abgrenzung des Judo als Sport von der Selbstverteidigung entstanden. Der zitierte Artikel über Selbstverteidi- gung und Budo aus dem Jahr 1961 nannte folgende Definitionen: »Judo – Kampfsport; Ju-Jitsu – ältere Selbstverteidigung, Karaté-Do – harte Nah- kampftechnik; Aiki-Do – moderne und elegante Selbstverteidigung«.42 Entsprechend verwies die Redaktion Wolfgang Heim nun auf die ver- bandsinternen Ausbildungsmöglichkeiten in Aikido und Karate und empfahl insbesondere die Deutsche-Karate-Akademie von Jürgen Sey- del.43 Als dieser, einer der frühen Protagonisten des Karate in West- deutschland, an den DJB herantrat und um organisatorische Unterstüt- zung bat, schlug man ihm vor, »den Namen Karate fallenzulassen und diesen Kampfsport unter dem Namen ›Judo-Selbstverteidigung‹ zu be- treiben«.44 Die Ablehnung, auf die Wolfgang Heim mit einer Serie über Selbstverteidigung bei der Redaktion stieß, weil die Fotos mit den Be- wegungssequenzen Übende in Straßenkleidung zeigten, um den Realis- mus des »Ernstfalls« hervorzuheben, belegt die entsprechenden Wider- stände. »Zwischen Judo als Kampfsport und der Selbstverteidigung für den Ernstfall ist eben ein Unterschied«, stellte Heim fest: »Warum ihn nicht realistisch anzeigen?«45 Die Diskussionen über das Angebot, das man der Konkurrenz der ge- werblichen Schulen entgegensetzen konnte, wurden in den 1960er Jah- ren dennoch sehr viel stärker als Debatte über das Verhältnis zwischen Judo und Jiu Jitsu geführt, so etwa in einem Artikel im Jahr 1963, den der Judoka Herbert Velte für die Redaktion der Judo verfasste. Velte kam zu

41 Betr.: Wiedereinführung von Kyu-Graden für Selbstverteidigung. Offener Brief von W. Heim, 1. Dan, Hessischer Verbandspressewart, an das DDK, in: Judo 1 (1961), H. 2, S. 21. 42 Selbstverteidigung. Was ist Budo? In: Judo 1 (1961), H. 2, S. 12-14, hier S. 12. 43 Ebd. 44 Jürgen Seydel, Leserbrief, in: Judo 4 (1964), H. 7, S. 23. 45 Werner Heim, Nicht gewünschte Selbstverteidigungsserie, in: Judo 1 (1961), H. 12, S. 18. Kampf – Kunst – Körper 241

einem für Jiu Jitsu ungünstigen Ergebnis und nannte Kriterien für die Ausarbeitung einer neuen Selbstverteidigungstechnik:

»Eine dankbare Aufgabe (dies wurde auch bereits vom DJB anerkannt) würde sich nun demjenigen bieten, der es fertigbringt, eine neue, europäische Selbstverteidi- gung zu entwickeln, welche noch über die westliche Methodik Rahns hinausgeht. Er müsste versuchen, sie in ein brauchbares System zu kleiden und dieses wiederum mit Karate und Aikido bereichern«.46

Dann, so Velte weiter,

»wäre auch die Popularität des Jujitsu, oder wie man es sonst nennen würde, für die Leute wieder gerettet, die diese Selbstverteidigung aus beruflichen Gründen vorzie- hen. Und dem Deutschen Judobund wäre nicht nur etatmäßig geholfen, sondern ihm würde auch eine weitere Anerkennung seitens militärischer und ähnlicher Instituti- onen zuteil«.47

Tatsächlich bildete sich im »Dan-Kollegium«, dem sportpolitischen Gre- mium, das über die Lehrinhalte der Judo-Ausbildung beriet und ent- schied, eine Kommission, die sich dieser Aufgabe annahm. Jiu Jitsu, seine Techniken und (Vorkriegs-)Geschichte gehörten 1965 zu den Themen, die bei der Abnahme der Prüfungen zur DJB-Trainerlizenz abgefragt wurden.48 Im Jahr 1968 schließlich präsentierten Wolfgang Heim und Franz-Josef Gresch das aus Judo, Aikido und Karate zusammengesetzte »Jujutsu«, das fortan als Selbstverteidigung eine eigenständige, vierte organisatorische Sparte im DJB bildete.49 Für die Neugründungs- und Konsolidierungsphase in der Bundesre- publik der 1960er Jahre kann man also vorläufig festhalten, dass die Sportpolitiker des Deutschen Judo-Bunds mit einem Dilemma konfron- tiert gewesen zu sein scheinen: auf der einen Seite grenzten sie Judo als »Kampfsport wie jeder andere« kategorisch von der Selbstverteidigung »für den Ernstfall« ab und definierten Judo mithilfe der »Budo- Philosophie« als pädagogische Strategie, die bei Interessierten und An- fängern vorhandene Gewaltpotenziale absorbieren und in geregelten Wettkampfsport umwandeln konnte. Auf der anderen Seite wurde »rea- listische« Selbstverteidigung aber im Publikum konstant nachgefragt. Um diese Interessenten nicht den privaten Ausbildungsinstituten über- lassen zu müssen, stellte man schließlich aus den inzwischen bekannten

46 Red., Wird das westliche Judo mit Jujitsu verglichen?, in: Judo 3 (1963), H. 6, S. 3-4. 47 Ebd. 48 Rebanus, Die Jiu-Jitsu-Prüfung. Themen zur Judo-Lehrer-Lizenz, in: Judo 5 (1965), H. 12, S. 8-9. 49 Die Selbstverteidigung als vierte Sparte im Deutschen Judo-Bund, in: Judo 8 (1968), H. 2, S. 26-27. 242 Marcel Streng

»japanischen Kampfkünsten« ein Selbstverteidigungsprogramm zu- sammen und gliederte es in eine eigene sportorganisatorische Sparte. Das in einem langwierigen Prozess ausgearbeitete und kontrovers diskutierte Jujustu war jedoch spätestens ab Mitte der 1970er Jahre nur noch eine »Ernstfall«-Technik unter vielen – wenn auch mit starkem or- ganisatorischem Hintergrund. Das Feld der ab diesem Zeitpunkt in Westdeutschland trainierten Kampftechniken – nun war allerdings we- niger von »Techniken« und mehr von »Stilen« die Rede – ist noch weit- gehend unüberschaubar.50 Vor allem die privaten Schulen erlebten mit der »Eastern-Welle«, dem enormen Erfolg der Kung Fu-Filme von Bruce Lee und anderen Produktionen aus Hongkong und Hollywood einen Boom, von dem insbesondere die ab Mitte der 1970er Jahre zahlreicher werdenden Übersetzungen von Publikationen aus dem Amerikanischen und Hochglanzmagazine wie etwa die Karate-Revue zeugen. Auch dort wurde (vor allem in den Leserbriefspalten) unablässig über die beste und realistischste Selbstverteidigungstechnik diskutiert.51 Mit diesem Boom verschob sich, so lässt sich vorsichtig formulieren, mit Ausnahme des Karate die Aufmerksamkeit insgesamt eher weg vom »japanischen Weg«. China wurde entdeckt und die inzwischen geläufige Unterschei- dung in »harte« (Karate) und »weiche« (Aikido) Kampfkunst durch eine weitere zwischen »inneren« (Tai Chi) und »äußeren Stilen« (Kung Fu) kompliziert.52 Die Esoterisierung des Kampfsports, die sich im Judo be- reits Anfang der 1960er Jahre abzeichnete, war nun allgegenwärtig und machte die internationale Kampkunstszene – und dies ist nur vorder- gründig paradox53 – erst recht anschlussfähig an das breite Spektrum der im New Age kultivierten Selbst- und Körpertechniken.54 In diesem

50 Im Jahr 1976 erschien erstmals das von Herbert Velte herausgegebene Budo-Lexikon, welches das umfangreiche Wissen ordnete, vgl. Herbert Velte, Budo-Lexikon. 1500 Fachausdrücke fernöstlicher Kampfsportarten, Wiesbaden 1976. 51 Vgl. etwa die in Paris veranstaltete Gesprächsrunde, die einige der französischen Bu- do-Spezialisten versammelte: Ist Karate ein wirksames Verteidigungsmittel? Gespäch mit Hiroo Mochizuki, André Nocquet, Jean-Paul Coché, Dominique Valéra, Luc Poras und Sacha Rhoul, in: Karate-Revue 4 (1979), H. 5, S. 60-62. 52 Vgl. dazu sehr sachkundig: Jan Peter F. Hintelmann, Fernöstliche Kampfkunst, Le- benskraftkonzepte und Selbsttransformationstechnologien. Theorie und Praxis asia- tischer Sinnsysteme, Univ. Diss., Hamburg 2009, passim. 53 S. dazu Joseph R. Svinth, Martial Arts Meet the New Age: Combatives in the Early Twenty-First-Century American Military, in: Thomas A. Green/Joseph R. Svinth (Hg.), Martial Arts in the Modern World, Westport/Connecticut 2003, S. 263-270. 54 Vgl. Pascal Eitler, Körper – Kosmos – Kybernetik. Transformationen der Religion im „New Age“ (Westdeutschland 1970-1990), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 4 (2007), H. 1+2, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Eitler-2-2007 (letzter Zugriff: 10.12.2012). Kampf – Kunst – Körper 243

Sinn berichtete etwa Marilyn Ferguson, die amerikanische Vordenkerin des New Age im Jahr 1982:

»Einzelpersonen, die den Fragebogen zur Verschwörung im Zeichen des Wasser- manns beantworteten, berichteten über folgende auslösenden Momente (…) Unzäh- lige körperliche Disziplinen und Therapien: Hatha Yoga, Reich-Therapie, das System von Bates zur Verbesserung des Sehens, T’ai Chi Ch’uan, Aikido, Karate, Jogging, Tanzen, Rolfing, Bioenergetik, Feldenkrais- und Alexander-Techniken, angewandte Kinesiologie. (…).«55

Der immer kontroverse, changierende Grenzverlauf zwischen »versport- lichten« und »gewalthaften« Kampftechniken, so kann das Zwischenfazit hier lauten, hat die organisatorische Ausdifferenzierung des Feldes der »fernöstlichen Kampfkünste« während der Weimarer Zeit und in der Bundesrepublik nachhaltig mitgeprägt. Das Problem der Körperverlet- zung und der Gesundheitsgefahren war in dieser Kontroverse allerdings nicht immer sichtbar. Auch deshalb ist es nun an der Zeit, die körperge- schichtlichen Dimensionen dieser kontroversen Kampftechniken genau- er zu untersuchen.

2. Körperformierung in der »fernöstlichen Kampfkunst« – zwischen Verteidigung des Selbst und Förderung der Gesundheit

Anders als die oben skizzierte Grenzziehung zwischen Selbstverteidi- gung und Kampfsport sowie die daran anschließende organisatorische Ausdifferenzierung des Feldes erwarten lässt, stellt sich die Produktion der Körper und ihre Ausstattung mit spezifischen Fähigkeiten auf der Ebene der Praktiken eher als Kontinuum unterschiedlicher Körper- und Selbstverhältnisse dar. Während am einen Pol die Wappnung und Be- waffnung des Körpers für den »Ernstfall«, mithin die Vorbereitung auf Gewalt zu finden ist, diente die Arbeit am und mit dem Körper am ande- ren Ende des Spektrums eher therapeutischen und/oder meditativen Zwecken. Zwischen diesen beiden Polen existierte und existiert eine Fül- le anderer, teils technisch fixierter, teils eher undefinierter Körperver- hältnisse, in deren Fluchtpunkt jedoch meist die Sicherheit der Übenden stand. Wie also im Einzelnen die Zwecke der Kampftechniken gesetzt wurden, ob es sich um Selbstverteidigung, Persönlichkeitsbildung oder

55 Marylin Ferguson, Die sanfte Verschwörung, Basel 1982, S. 95-96, 97. Vgl. aus einer Fülle an Hinweisen außerdem: Die Geheimnisse des Zen, in: Karate-Revue 4 (1979), H. 6, S. 67-70; André Nocquet, Der Weg des Aikido: Leben und Vermächtnis des Aikido-Gründers O-Sensei Morihei Uyeshiba, 4. Aufl., Weidenthal 1985. 244 Marcel Streng

Gesundheitsförderung handelte, scheint in einem Punkt völlig unerheb- lich: bei den in (West)Deutschland zwischen den 1920er Jahren und 1980er Jahren trainierten Kampftechniken handelte es sich um »präven- tive Praktiken«, die ihre Adepten vor Verletzungsrisiken und Gesund- heitsgefahren bewahren sollten.56 Diese Verortung in einem breiteren Spektrum an zeitgenössischen Körper- und Selbstverhältnissen sollte man im Hinterkopf behalten, wenn im Folgenden die Produktion von Körpern und ihre Ausstattung mit speziellen Fähigkeiten untersucht werden. Soweit bisher ersichtlich lässt sich im Hinblick auf die Historizi- tät der aus Kampftechniken, Körper- und Gewaltwissen, speziellen Kör- pern, Bedrohungsszenarien und Sicherheitsstrategien zusammengesetz- ten Selbstverteidigungstechniken auf die 1960er Jahre ein Umbruch da- tieren. Diese Hypothese macht es jedenfalls einfacher, die Unterschiede und Verschiebungen zwischen der Jiu-Jitsu-Selbstverteidigung der 1920er bis 1950er Jahre und den in den 1970er Jahren verbreiteten Ver- teidigungstechniken herauszuarbeiten. a) Dass Jiu Jitsu um 1900 in Deutschland als »waffenlose Selbstvertei- digung« eingeführt, gelehrt und geübt wurde, bevor sich mit dem Judo eine versportlichte Variante durchsetzte, ist oben bereits angemerkt worden. Die in den 1920er und 1930er Jahren erschienene und teilweise in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg neu herausgegebene Übungsli- teratur für Jiu Jitsu als Selbstverteidigung kombinierte meist mindestens zwei Elemente: ein bestimmtes technisches Wissen über den Körper und die Wirksamkeit der einzelnen Techniken auf der einen Seite und mehr oder weniger konkrete Überlegungen bezüglich möglicher Bedro- hungssituationen im Alltag auf der anderen. Das Jiu-Jitsu-Körperwissen, das im Verlauf von Übungen in Fleisch und Blut übergehen sollte, war eher ein »Wissen vom Körper« (seinen Möglichkeiten, Grenzen und Einsetzbarkeiten) als ein »Wissen des Kör- pers«57 oder anders gesagt: im Jiu Jitsu der ersten Phase fehlte die Vor- stellung von einer relativ selbstständigen agency des ausgebildeten Kör- pers noch nahezu vollständig. Der Körper des »Jiu Jitsu-Mannes« wurde vielmehr im Verlauf des Trainings zu einem gefühllosen, schmerzun- empfindlichen Ding. Jiu Jitsu galt den Protagonisten als ein Mittel zur

56 Vgl. Martin Lengwiler/Jeannette Madarász, Präventionsgeschichte als Kulturge- schichte der Gesundheitspolitik, in: dies. (Hg.), Das präventive Selbst. Eine Kulturge- schichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010, S. 11-28; in soziologischer Hin- sicht instruktiv: Ulrich Bröckling, Vorbeugen ist besser... Zur Soziologie der Präventi- on, in: Behemoth. A Journal on Civilisation 1 (2008), S. 38-48; Thomas Lemke, Dispo- sitive der Unsicherheit im Neoliberalismus, in: Widersprüche 24 (2004), S. 89-98. 57 Zu dieser Unterscheidung s. Reiner Keller/Michael Meuser, Wissen des Körpers – Wissen vom Körper. Körper- und wissenssoziologische Erkundungen, in: dies. (Hg.), Körperwissen, Wiesbaden 2011, S. 9-27. Kampf – Kunst – Körper 245

»Stählung und Entwicklung des Körpers«58, zur »ausgezeichneten Kör- perstählung«59, eine Vorstellung, die an die Herstellung einer schmiede- eisernen Rüstung oder eben eines Stahlpanzers erinnert. Zwei Aspekte dieses technischen Körperwissens verdienen besondere Aufmerksam- keit. Wie die eingangs zitierte Bezeichnung der Handkante als »unsichtba- re und zumeist unterschätzte Waffe«60 nahelegt, konzentrierte sich das Jiu Jitsu auf einen Körperteil61 ganz besonders – auf die Hand. Schläge mit der Handkante galten als »die schärfste Waffe«62, als »die größte und wirksamste Waffe«63, als die »gefährlichste Waffe«64, die dem Jiu- Jitsu-Kämpfer zur Verfügung stand. Damit die Handkante diese Aufgabe erfüllten konnte, musste »auf ihre Ausbildung eine ganz besondere Sorg- falt verwendet werden«.65 Diese Ausbildung bestand im Wesentlichen darin, sie »zu härten«66, bzw. in ihrer »Abhärtung«67 und »Stählung«68. Um dies zu erreichen, wurden zwei in einem spezifischen Punkt vonei- nander abweichende Trainingsmöglichkeiten vorgeschlagen. Die erste Empfehlung lautete: »Man schlägt zuerst mit den Handkanten beider Hände gleichmäßig auf eine Holzunterlage (Tisch), und zwar so, dass die kleinen Finger mit der Handkante eine Linie bilden«.69 Da jedoch »der kleine Finger … in der ersten Zeit besonders empfindlich« war, gab es eine zweite Möglichkeit: zuerst »schlage man, Daumen nach oben, mit der ganzen Kante, d.h. vom Handgelenk bis zur Spitze des kleinen Fin- gers auf die Muskeln der Oberschenkel« und erst dann »auf eine harte Unterlage, z.B. Tisch«70. Im Übrigen galt, und diese Einschränkung ist hier wichtig, dass »das Schlagen zur Abhärtung der Handkante … der Gefährlichkeit wegen nicht am Körper des Übungspartners vorgenom- men werden [darf], der schließlich dazu weder da ist, noch sich dies auf Dauer gefallen ließe. Man erprobe vielmehr die Schläge zunächst am ei- genen Körper. Hierzu eignet sich der Oberschenkel an der Stelle, auf die

58 Rahn, Die unsichtbare Waffe, S. 11. 59 Vary, Jui Jitsu, S. 11. 60 Ebd., S. 15. 61 Zur Zerlegung des Körpers in Teile zur effektiven Bearbeitung s. Maren Möhring, Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur, Köln 2004, S. 94-95. 62 Mägerlein, Jiu-Jitsu, S. 78. 63 Rahn, Die unsichtbare Waffe, S. 108. 64 Ebd., S. 108; Mägerlein, Jiu-Jitsu, S. 78. 65 Stephan, Körperkultur, S. 15. 66 Ebd.; Mägerlein, Jiu-Jitsu, S. 78; Strube, Jiu Jitsu, S. 632; Bach, Verteidige Dich selbst, S. 28; 67 Knorn, Das japanische Jiu-Jitsu, S. 16. 68 Bach, Verteidige Dich selbst, S. 20. 69 Rahn, Die unsichtbare Waffe, S. 108. 70 Stephan, Körperkultur, S. 15. 246 Marcel Streng der Schumacher die Stiefel zwecks Nagelung auflegt«.71 Diese Übung, so Stephan, sei unablässig zu wiederholen. Die Handkante »ist bei jeder Ge- legenheit … zu härten«, insbesondere auch »in nur kurzen Arbeitspau- sen«72. »Erst derjenige, der auf der Tischkante nichts mehr spürt, hat eine harte guttrainierte Handkante«.73 Einige Anleitungen holten zur Erläuterung der Wirksamkeit des Handkantenschlags etwas weiter aus und verglichen ihn mit dem Faust- schlag des Boxers. Hier kam Wissen aus der Physik ins Spiel. Dass ein Handkantenschlag »schmerzhafter« sei als ein Faustschlag, sei »nicht nur praktisch erwiesen, sondern auch theoretisch ganz logisch. Je gerin- ger nämlich die Berührungsflächen zweier sich treffender Körper sind, desto heftiger ist die Wirkung«.74 Die geballte Faust sei nach der auftref- fenden Seite »drei bis sechs Mal so dick« wie die Außenkante der geöff- neten Hand und treffe daher nicht nur die Stelle, die sie treffen solle, sondern verteile sich auf die unmittelbare Umgebung.75 Der Schlag sollte aus dem Ellenbogen geführt werden, der Oberarm, so Dauhrer, habe »dabei fast gar nichts zu tun. Er bringt dadurch, dass wir ihn je nach Hö- he des Zieles etwas heben oder senken, den Unterarm lediglich in die Richtung der Schläge«.76 Die auf diese Weise zu einem stählernen, vom Rest des Körpers relativ unabhängigen Ding gewordene Handkante hat- te wiederum Ähnlichkeit mit Hieb- und Stichwaffen: »Der Jiu Jitsu- Kämpfer ficht mit der Handkante ähnlich wie der Soldat mit dem Sä- bel«,77 merkte Knorn an, während Vary die Schlagwirkung der Handkan- te mit der eines Beils verglich: »Mit dem dünnen, scharfen Ende kann man den stärksten Baum fällen, mit dem dickeren und schwereren obe- ren Ende kann man aber nichts ausrichten.«78 Der zweite Aspekt des technischen Körperwissens bezog sich auf die Schmerzproduktion. Stets wurde in den Ausbildungsanleitungen ge- warnt: »Kräftig ausgeführte Schläge gegen bestimmte Körperstellen ha-

71 Knorn, Das japanische Jiu-Jitsu, S. 16. 72 Stephan, Körperkultur, S. 15. 73 Bach, Verteidige Dich selbst, S. 20. 74 Vary, Jui Jitsu, S. 18. 75 Ebd. 76 Dauhrer, Der waffenlose Nahkampf, S. 52. 77 Knorn, Das japanische Jiu-Jitsu, S. 16. Hier zeigt sich eine gleichsam metaphorische Zwischenstufe der Entwicklung, die Thomas Lindenberger in der Ablösung »harter« Formen der Polizierung mit dem Säbel hin zu vorgeblich »sanfteren« Formen vermit- tels Kampfsporttechniken nachgezeichnet hat – ders., Vom Säbelhieb zum sanften Weg? Lektüren physischer Gewalt zwischen Bürgern und Polizisten im 20. Jahrhun- dert, in: WerkstattGeschichte 35 (2003), S. 7-22. 78 Vary, Jui Jitsu, S. 18. Eine Kombination aus Axtmetapher und der Biegsamkeit des Kirschbäumchens benutzte Hasemeier zur Erläuterung der Schlagwirkung der Hand- kante – vgl. ders., Die moderne Selbstverteidigung, S. 15. Kampf – Kunst – Körper 247

ben tötliche (sic!) Wirkung!«79 Generell griffen sie für die Beschreibung der Wirksamkeit einzelner Jiu-Jitsu-Techniken auf eine besonders dras- tische Gewaltsemantik zurück. So sagte der Arzt Ludwig Bach aus Kö- nigswinter im Verlauf seiner Jiu-Jitsu-Radiovorträge im Jahr 1928 etwa: »Gefährlicher und schmerzhafter [als der Handkantenschlag gegen den Hals, M.S.] ist aber das Verdrehen von Gliedmaßen, das Brechen gewis- ser Gelenke und Knochen. Erschrecken Sie bitte nicht, daß wir etwas derartiges überhaupt hier besprechen, dass wir es besprechen müssen, wie man ganz bewusst einem anderen Menschen die Knochen bricht«.80 Mithin ging das Körperwissen an dieser Stelle in ein spezielles Ge- waltwissen über. »Zur wirksamen Selbstverteidigung ist die Kenntnis des anatomischen Aufbaus des menschlichen Körpers von besonderer Bedeutung«81, erläuterte im Jahr 1954 etwa der eingangs zitierte Poli- zeikommissar Hasemeier. Die Anleitungen enthielten Schaubilder, auf denen die besonders empfindlichen Stellen markiert waren: »Schläfen- bein, Nasenwurzel, Oberlippe, Hinterkopf, Genick, Kehlkopf, Hals, Schlagadern, Herz und Nieren«.82 Diese Zeichnungen können auch als Landkarten gelesen werden. Sie übersetzten Körperoberfläche in die zweidimensionale Karte eines Schlachtfelds, auf dem die verzeichneten Angriffsziele mit dem zu verteidigenden Hinterland allerdings in eins fielen. In Hasemeiers Broschüre waren in einem Abschnitt zu »Grundbe- griffen der Anatomie« gleich vier gezeichnete Schaubilder abgedruckt: das »menschliche Skelett«, zwei Karten der »empfindlichen Stellen des Körpers« in Vorder- und Rückansicht sowie eine Ansicht der Wirbelsäu- le. Einzelne Punkte oder Regionen waren auf den Zeichnungen mit Zah- len versehen, die auf Knochen oder eben empfindliche Stellen verwie- sen, die in der Legende genannt wurden. Hasemeier führte auf der Vor- derseite des Körpers 18 und auf der Rückseite 11, insgesamt also 29 »empfindliche Stellen« auf. Doch das anatomische Wissen bezog sich nicht nur auf die Körperoberfläche und das Knochengerüst, sondern auch auf den »Blutkreislauf«, das »Kapillarnetz« und das Herz als »Druckpumpe«: »Ein schnelles außer Gefecht setzen des Angreifers be- steht darin, seinen Blutkreislauf zu unterbrechen«.83 Auf der einen Seite sollte der Körper durch Jiu Jitsu »durchgearbei- tet«, »ertüchtigt« und »gestählt« werden, während ihm auf der anderen Seite »Geschmeidigkeit«, »Spannkraft« und »Schnelligkeit« abverlangt wurden – der Handkantenschlag etwa sollte, das erklärten die Anleitun-

79 Mägerlein, Jiu-Jitsu, S. 78. 80 Bach, Verteidige Dich selbst, S. 11. 81 Hasemeier, Die moderne Selbstverteidigung, S. 9. 82 Mägerlein, Jiu-Jitsu, S. 78. 83 Hasemeier, Die moderne Selbstverteidigung, S. 14. 248 Marcel Streng gen übereinstimmend, »kurz und federnd«84 ausgeführt werden. Das ist jedoch nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Die meisten Anleitun- gen benutzten das mythische Gleichnis des sich unter einer Schneelast biegenden Kirschbäumchens, um das »Jiu-Jitsu-Prinzip Siegen durch Nachgeben« zu erklären,85 und griffen auf »physikalische Hebelgesetze« zurück, um die Wirkweise des Jiu Jitsu näher zu erläutern.86 Allerdings ging es im Jiu Jitsu nicht darum, das übende Subjekt mit einer Körper- lichkeit auszustatten, die es ihm erlaubt hätte, als dieser Körper relativ selbständig handlungsfähig zu werden. Im Gegenteil, der Körper des Jiu- Jitsu-Mannes befand sich vollständig in seiner Gewalt: »Auf jeden Fall ist Jiu-Jitsu eine ausgezeichnete Waffe, welche man immer bei sich haben kann«.87 Eingebettet war diese Transformation des Körpers in einen Panzer und der Handkante in eine Waffe durch Jiu Jitsu in mehr oder weniger konkrete Überlegungen bezüglich der Bedrohungslage im Alltag.88 Wel- che Szenarien jeweils beschrieben wurden, hing nicht zuletzt vom adressierten Publikum ab.89 Für die breite Öffentlichkeit wurden in den 1920er und 1930er Jahren zwei unterschiedliche und dennoch mitei- nander zusammenhängende Gefahren kultiviert: auf der einen Seite der ›Verfall des Volkskörpers‹, auf der anderen Seite konnte der Alltag selbst zur Gefahr werden. So baute etwa Mägerlein das Jiu Jitsiu in den ‚Kampf ums Dasein’ ein: »Das Leben ist ein Reich des immerwährenden Kamp- fes, nie das eines ewigen Friedens. Bestehen bleibt in diesem Kampfe nur das Gesunde und Starke. Das ist ein erstes, dem Leben zutiefst in- newohnendes Gesetz«.90 Die Presse spielte für die Plausibilisierung der

84 Stephan, Körperkultur, S. 15; Mägerlein, Jiu-Jitsu, S. 78; Diwischek, Jiu Jitsu, S. 7; Knorn, Das japanische Jiu-Jitsu, S. 16; Rahn, Die unsichtbare Waffe, S. 108. 85 Strube, Jiu Jitsu, S. 630. 86 Mägerlein, Jiu-Jitsu, S. 78. 87 Diwischek, Jiu Jitsu, S. 7. 88 Im Folgenden orientiere ich mich an Michel Foucaults Überlegungen zu den antiken »Technologien des Selbst«. Als richtige, »zugleich offene und auf einen Zweck gerich- tete Vorbereitung«, so Foucault, habe in der antiken Askese diejenige gegolten, die auf zukünftige Ereignisse gerichtet sei. Es genüge die Einübung »einiger elementarer Bewegungen, die gleichzeitig allgemein und wirksam genug sind, um an alle Umstän- de angepasst werden zu können, denen man begegnen kann, und auf die man in sol- chen Umständen zurückgreifen kann.« Der Asket der griechischen Antike sei folglich ein »Athlet des Ereignisses« – s. Michel Foucault, L’herméneutique du soi, Paris 2001, S. 306-307 (eigene Übersetzung). 89 Vgl. etwa die Anpassungen der Jiu Jitsu-Griffe, die Arno Kleinke im Hinblick auf ihre Anwendung in der Strafvollzugsanstalt vornahm: ders, Einführung in die Judo- Selbstverteidigung im Strafvollzug, in: Zeitschrift für Strafvollzug 14 (1965), Nr. 2, S. 67-113. 90 Mägerlein, Jiu-Jitsu, S. 3. Kampf – Kunst – Körper 249

Selbstverteidigung eine wichtige Rolle: »Sehen wir heute in eine Zeitung und lesen die vielen Verbrechen und Morde, überkommt uns ein gewis- ses Gruseln, und oft stellt sich spontan auch der Gedanke ein, was hät- test du wohl in einer ähnlichen Situation getan, wie hättest du dich ge- wehrt oder verteidigt.«91 Selbst Polizisten, die stets zu den eifrigsten Popularisierern der Selbstverteidigung gehörten, konnten nicht umhin festzustellen: »Daß nicht immer im gleichen Moment ein Hüter der Ord- nung zur Stelle ist…. Es wird selten einem Gewalttäter einfallen, vor den Augen eines Polizisten einen anderen Menschen anzugreifen. Er wird sich zu seiner Handlung gewiß einen Platz aussuchen, wo er weiß, dass Hilfe zu spät kommen wird«.92 Neben der Kneipe und der Begegnung mit Betrunkenen93 waren »Anrempelungen«94 in Menschenmassen Orte, die in solche Bedrohungsszenarien eingebaut wurden. Einen Schritt weiter als die meisten Ratgeber der Zwischenkriegszeit ging Werner Wolfram. Unter der Überschrift »Wie wappnet man sich gegen verbrecherische Überfälle?« gab er über die konkreten Übungsan- leitungen hinausgehende Verhaltensrichtlinien. Der Jiu-Jitsu-Schüler müsse sich »über die verschiedenen Arten des Angriffs klar sein« und sich »vergegenwärtigen, wo, wann und wie ein Überfall stattfinden« könne: »Niemand, ob Mann oder Frau, kann behaupten, in seinem Leben vor Überfällen sicher zu sein«.95 Diese könnten prinzipiell »überall« stattfinden: »In der Wohnung, im Flur, auf der Straße, auf einsamen We- gen im Freien, ebenso wieder im Menschengewühl, bei Straßenaufläu- fen, in Gasthäusern, Banken usw.«. Gelegenheiten für Überfälle, so Wer- ner weiter, entstünden hauptsächlich auf zweierlei Art: »Entweder durch Anrempeln mit einem darauf folgenden raschen aber wohlüber- legten Frontangriff oder aus dem Hinterhalt… Diese Art dürfte zweifel- los die gefährlichere sein und die höchsten Anforderungen an die Geis- tesgegenwart des Überfallenen stellen«96. Unter dem Stichpunkt »Wappnungspunkte« hielt er die LeserInnen dazu an: »Halte die Augen offen und gehe nicht träumend deiner Wege während der Nachtstunden und in schwach belebten Gegenden! Denn Wachsein und Geistesgegen- wart gehen Hand in Hand. (…) Der Wille zum Kampf muß derart gestei- gert sein, dass nervöse Erregung überhaupt gar nicht erst aufkommen,

91 Bach, Verteidige Dich selbst, S. 2; vgl. auch Diwischek, Jiu Jitsu, S. 15. 92 Diwischek, Jiu Jitsu, S. 15; Strube, Jiu Jitsu, S. 631. 93 Bach, Verteidige Dich selbst, S. 5. 94 Werner, Die Waffe Jiu Jitsu, S. 98. 95 Ebd., S. 97. 96 Ebd., S. 97. 250 Marcel Streng sondern blitzschnell der Angriff erfasst und der richtige Abwehrgriff so- fort angewandt werden kann«.97 Diese Ausführungen mündeten in eine Erläuterung, die sich im Hin- blick auf die übrigen Jiu-Jitsu-Anleitungen dieser Zeit verallgemeinern lässt: »Sofort mit deiner ersten Bewegung zur Verteidigung wächst näm- lich das Gefühl der Sicherheit für deine eigene Person. Hierin liegt auch der Schlüssel zum Sieg«.98 So sehr die Übungen auf alle möglichen An- griffe aus allen Richtungen vorbereiteten – »es gibt für jede bestimmte Situation eine gewisse Anzahl von Griffen«99 – waren sich die »Jiu- Jitsuer« mehr oder weniger darin einig, dass bereits die Tatsache, dass man überhaupt übte, das Sicherheitsgefühl verstärkte. »[U]nbedingte Sicherheit gegenüber jedem Angreifer und das dadurch gesteigerte Selbstvertrauen … sind es, die die Erlernung des Jiu-Jitsu vorteilhaft«100 erscheinen lassen; »[b]esonders die Übungen zur Ausbildung des Geis- tes, die Übungen also, die Konzentration, schnelles Erfassen irgendeiner Lage, schnelles, blitzschnelles Denken und Handeln verlangen, stärken das Selbstbewußtsein in selten gekannter Art«101; »[e]in Einhalten der notwendigen Leibesübungen und Trainingsbedingungen im besonderen, in Verbindung mit dem Beherrschen der Jiu Jitsu-Griffe, gibt die Gewähr, einem wirklichen Gegner im Ernstfalle mit dem Bewusstsein der Sicher- heit entgegentreten zu können.«102 b) Der in den 1960er Jahren in Westdeutschland einsetzenden Diver- sifizierung der »asiatischen Kampfkünste« entsprach unter dem Ge- sichtspunkt der Selbstverteidigung eine Spezialisierung und Neukatego- risierung einzelner Körpertechniken. Während etwa beim Judo Wurftechniken dominierten, legte das Aikido besonderen Wert auf Schwungtechniken, während Karate, Taekwondo und Kung Fu (bzw. Ving Tsun) mit Schlag- und Tritt-Techniken arbeiteten. Das setzte je- weils unterschiedliche Haltungen und Bewegungsführungen der einzel- nen Glieder voraus, ihre entsprechende Schulung und eines dann auf be- stimmte Weise zusammen funktionierenden Körpers voraus. Einige der Verschiebungen, die mit der Zunahme der ab den 1960er Jahren verfüg- baren Techniken einhergingen, können am Beispiel des vom Deutschen Judo-Bund konzipierten Jujutsu erläutert werden. Formal erinnerte die Körperproduktion dieser aus einzelnen Techni- ken des Judo, Jiu Jitsu, Aikido und Karate zusammengesetzten Selbstver-

97 Ebd., S. 97-98. 98 Ebd., 98. 99 Diwischek, Jiu Jitsu, S. 7. 100 Ebd., S. 15. 101 Strube, Jiu Jitsu, S. 633. 102 Knorn, Das japanische Jiu-Jitsu, S. 3. Kampf – Kunst – Körper 251

teidigungstechnik durchaus noch entfernt an das Jiu Jitsu der Zwischen- kriegszeit. Das Jujutsu-Programm enthielt eine nun »Konditionstrai- ning« genannte »Zweckgymnastik«, empfahl ein »Härtetraining am Schlagpfosten« und formulierte Anleitungen zum »Schocken«; es bein- haltete wie die Jiu-Jitsu-Broschüren eine detaillierte Landkarte mit emp- findlichen Körperstellen, eine juristische Abhandlung über Notwehr und eine Verhaltensrichtlinie für den »Ernstfall«. Insbesondere das Härtetra- ining am Schlagpfosten, das »Kräftigen der Gliedmaßen, das Abhärten der auftreffenden Flächen« wurde jedoch nicht mit der Herstellung ei- ner Waffe verbunden, sondern galten nun als »notwendig, um sie im Training nicht unnötig zu verletzten«.103 Aber schon mit den Verhaltens- richtlinien für den Ernstfall, die eine Form des autosuggestiven Trai- nings nahelegten, um die »Angst und Unsicherheit«104 in den Griff zu be- kommen, hörten die Gemeinsamkeiten auf. Der erste Unterschied zwischen Jiu Jitsu und Jujutsu bestand darin, dass das neue System nicht von der Vielfalt der Angriffsmöglichkeiten ausging, also nicht von der bedrohlichen Umwelt, sondern von den Selbstverteidigungstechniken selbst.105 Die neue Technik verzichtete auf die Kultivierung allgegenwärtiger Gefahr, auf Bedrohungsszenarios und ihre Umsetzung in der Übungssituation – gerade das war in der Ausei- nandersetzung mit dem Jiu Jitsu 1963 ein Hauptkritikpunkt: für die »An- tipathie am ‚Griffe-Kloppen’« machte Helmut Velte unter anderem das »Fehlen der Notwendigkeit, sich immer und überall bedroht zu fühlen und verteidigen zu müssen verantwortlich«.106 Der zweite Unterschied bestand in einer veränderten Konzeption des herzustellenden Körpers. »Jede Verteidigungstechnik ist gegen mehrere Angriffsarten anwendbar und beständig zu üben mit dem Ziele, die Bewegungsabläufe zu automa- tischen Reflexen (sog. Automatismen) im Unterbewusstsein zu entwi- ckeln«.107 Und weiter: »Automatische Reflexe werden nur durch fort- währendes Üben mit der Zeit erreicht. Die ganze Selbstverteidigung ist von solchen automatischen Reflexen abhängig. Nicht mehr bewusst denken und handeln, sondern unbewußt richtig reagieren«.108 Jujutsu stattete den Körper im Trainingsprozess mit speziellen Selbstführungs-

103 Franz Josef Gresch/Werner Heim, Ju-Jutsu. Grundtechniken – Moderne Selbstver- teidigung 1, Niedernhausen/Ts. 1971, S. 124. 104 Ebd., S. 144. 105 Ebd., S. 10. 106 Red., Wird das westliche Judo mit Jujitsu verglichen?, in: Judo 3 (1963) 6, S. 3-4, hier S. 4. 107 Gresch/ Heim, Ju-Jutsu, S. 10 (Herv. M.S.). 108 Ebd., S. 31. 252 Marcel Streng fähigkeiten, mit agency aus: Im Ernstfall sollte der in Jujutsu ausgebilde- te Körper selbständig richtig handeln können. Der entscheidende Unterschied gegenüber dem Jiu Jitsu knüpfte an diesem veränderten Körperkonzept an, ist jedoch eher auf der Ebene der Rationalität des gesamten »Verteidigungssystems« anzusiedeln: beim Jujutsu handelte es sich um eine Kopplung von »Budo- Philosophie« und Kybernetik.109 »Neue Erkenntnisquellen«, führten Gresch und Heim, die Begründer des Jujutsu, aus,

»sind die Elektronengehirne und Rechenautomaten mit ihren ‚zielsuchenden’ Me- chanismen. Hieraus ziehen die Psychologen den Rückschluss, dass der Mensch zwar keine Maschine ist, aber eine Maschine in sich hat und sich ihrer bedient. Dieser Me- chanismus ist das Unterbewusstsein, eine aus Gehirn und Nervensystem bestehende ‚zielsuchende Programmsteuerung’, die wir mit unserem Bewusstsein betätigen und lenken. (…) Wie jede programmgesteuerte Maschine macht es [das Unterbewusst- sein, MS] von den im Gedächtnis gespeicherten Informationen Gebrauch und verar- beitet die Angaben, mit denen wir es beschicken. Über das Gehirn beeinflusst das Unterbewußte z.B. die Funktionen aller unserer Organe entscheidend«.110

Die Semantik erinnert hier nur noch vorn fern an die »moralische Selbststeuerung«111 des Jiu Jitsu, daran, dass »Jiu Jitsu nicht nur eine Körper-, sondern in hohem Maße eine Geisteswaffe« sei und »das Gehirn … hier einen großen Teil der Arbeit leisten [muß]«.112 Vielmehr dachten Heim und Gresch das Verhältnis von Körper und Selbst im Jujutsu radi- kal neu als systemisch gekoppelte Ganzheit. Aus genau diesem Grund konnte der Umweltbezug der Selbstverteidigungstechniken auf mögli- che Angriffe und der Entwurf konkreter Gefahrenlagen entfallen: im »Ernstfall« steuerte sich der Jujutsu-Körper selbst und er tat dies auf der Grundlage seiner eigenen, somatisierten Handlungsprogramme. Die Bedrohungsszenarien, die sich seit den 1960er und vor allem in den 1970er Jahren im Rahmen des Selbstverteidigungsdiskurses entwi- ckelten, weisen Schnittmengen mit denjenigen der Jiu Jitsu-Programme auf, aber auch entscheidende Unterschiede. Die Publikums-Zeitschrift Er. Das Herrenmagazin druckte 1972 unter dem Titel »Der Griff zur Si- cherheit« einen Selbstverteidigungskurs und kommentierte: »Als die Menschen noch keine Atombomben hatten, waren sie bessere Verteidi-

109 Zur Konjunktur der Kybernetik in den 1960er und 1970er Jahren s. die Beiträge in Michael Hagner/Erich Hörl (Hg.), Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt/M. 2008 sowie zur Übersetzungsge- schichte kybernetischer Konzepte Andrew Pickering, The Cybernetic Brain: Sketches of Another Future, Chicago 2010. 110 Gresch/Heim, Ju-Jutsu, S. 147/148. 111 Rahn, Die unsichtbare Waffe, S. 12. 112 Ebd., S. 12. Kampf – Kunst – Körper 253

gungskünstler. Karate ist nichts weiter als eine Erinnerung an diese Zeit«.113 Ganz offensichtlich machte die Atombombe mit ihrem Vernich- tungspotential im Kalten Krieg als Drohkulisse einen deutlichen Unter- schied in der Art und Weise aus, wie Selbstverteidigungstechniken für den Alltag plausibel gemacht werden konnten. Gegenüber der nuklearen Postmoderne muteten waffenlose Verteidigungstechniken wie Karate geradezu archaisch an, wie der Artikel mit einem Hinweis auf die »Ne- andertaler« unterstrich. Dennoch druckte die Fachzeitschrift Judo bis- weilen Artikel aus der Tagespresse nach, in denen auf den erhöhten Be- darf an Selbstverteidigungskursen hingewiesen wurde.114 Durchgehend sind in den 1960er Jahren Rubriken und einzelne Artikel zu finden, die verschiedene Selbstverteidigungssysteme vorstellten, das jeweilige Für und Wider diskutierten und damit an einem in den 1970er Jahren ex- pandierenden, vielfältigen Diskurs über Risiken und Sicherheitsstrate- gien teilhatten.115 Zunehmend rückten dabei um 1970 zwei Komplexe in den Vordergrund: Auf der einen Seite fokussierte die Selbstverteidigung immer stärker Frauen und Mädchen. Für die Spezialisten der Selbstverteidigung im DJB waren die speziell an Frauen adressierten Kurse ein Experimentierfeld in mehrfacher Hinsicht: sie boten zunächst überhaupt die Möglichkeit, im Rahmen des DJB nachdrücklich über Selbstverteidigung nachzuden- ken; zweitens fanden um 1970 auch neue Formen der Vermittlung in der Zeitschrift Judo ein Forum. Werner Heim konnte 1971 schließlich doch einen »realistisch« illustrierten Selbstverteidigungskurs publizie- ren, in dem eine Frau im Minirock sich gegen einen Mann im Anzug vor Parkkulisse verteidigte und so auf eine bestimmte Gefahrenlage Bezug nahm;116 drittens bot dieser gesamte an Frauen adressierte Selbstver- teidigungsdiskurs die Möglichkeit, die zutiefst gegenderte Virilisie- rungsstrategie der Kampfkünste neu zu formulieren. Wie das unter an- derem aussah, zeigte sich etwa in einem Bericht über eine Tagung der Kriminalämter der Bundesländer, die im Mai 1971 in Flensburg zum Thema »Verhalten bei Notzuchtdelikten« stattgefunden hatte: »Die von der Bundesgruppe [Jujutsu, MS] gewählte Alternative zwischen ‚lieber fünf Minuten vergewaltigt als ein Leben lang tot’ und ‚Verteidige Dich in

113 Der Griff zur Sicherheit, in: Er. Das Herrenmagazin 4/1971, S. 76-79. 114 Wiesbadener Kurier: Wehrlose Frauen sollen sich wehren können, in: Judo 11 (1971), H. 5, S. 3. 115 Vgl. aus der Fülle der inzwischen erschienenen Literatur: Nils Zurawski, Sicherheits- diskurse: Angst, Kontrolle und Sicherheit in einer ›gefährlichen‹ Welt, Frankfurt/M. 2007; mit Blick auf Selbstverteidigung, s. Daniela Klimke, Wach- & Schließgesell- schaft Deutschland: Sicherheitsmentalitäten der Spätmoderne, Wiesbaden 2008. 116 Werner Heim, Selbstverteidigung für Frauen, in: Judo 11 (1971), H. 5, S. 22-23. 254 Marcel Streng jedem Fall’ fand bei den Polizeisachverständigen … große Beachtung und allgemeine Zustimmung.« Damit war die Wahl zwischen den fol- genden zwei Alternativen gemeint: »Wenn ein aggressiver Angriff er- folgt, ist in jedem Fall die gezielte und gekonnte Selbstverteidigung bes- ser als planlose Gegenwehr. Darum ist die Empfehlung richtig: Erlernt die Selbstverteidigung!« und: »Eine Frau sollte erkennen lernen, ob Wi- derstand im Extremfall noch sinnvoll ist oder lebensgefährliche Folgen haben kann. Die reelle Einschätzung der Lage gehört zum Bestandteil einer sinnvollen Selbstverteidigung«.117 Mit der Zunahme in den 1970er Jahren der durch die »Eastern-Filme« bekannt gemachten und in Westdeutschland praktizierten Kampftech- niken rückte andererseits die Effizienz der einzelnen »Systeme« und »Stile« im Ernstfall der Selbstverteidigung immer stärker in den Mittel- punkt. Die Zeitschrift Karate-Revue organisierte 1979 in Paris mit meh- reren führenden französischen Budo-Experten (Karate und Aikido) so- wie dem Leibwächter des französischen Rockstars Johnny Halliday eine Diskussion über »Karate als Selbstverteidigungsmittel«. Im Grunde, so der Tenor, seien die meisten Systeme aufgrund ihrer Versportlichung untauglich. Der Jiu-Jitsu-Spezialist Luc Poras brachte das bündig auf den Punkt: »Sowie eine Kampfkunst in ein System gepresst wird, wird sie zum Sport. Sowie sie zum Sport wird, gibt es Schläge, die laut Definition nicht mehr ausgeführt werden können, da sie zu gefährlich sind. (…) Das Problem scheint mir unlösbar«.118 Genau deshalb hatte die Redaktion Sacha Rhoul, Halliday’s Leibwächter eingeladen: sie ging davon aus, dass er »fast täglich mit der rauen Wirklichkeit auf der Straße konfrontiert« sei. Und seine Lösung war bestechend einfach:

»Die Schwierigkeit liegt für einen Karateka oft darin, dass er nicht weiß, was ein Schlag ist. Wenn man noch nie einen Faustschlag ins Gesicht gekriegt hat, weiß man eben nicht, was das ist. Die Schläger aber wissen das und haben keine Angst. Bei gleicher Erfahrung in Schlägereien ist ein Karateka mit seiner Technik allerdings überlegen. Aber eben nur bei gleicher Erfahrung.«119

Den zweiten Punkt, auf den sich die Diskussionsrunde einigen konnte, formulierte der Karateka Valera, indem er sich implizit auf die Budo- Persönlichkeitsbildung bezog: »Karate ist bei Leuten wirksam, die selbst

117 Kriminalämter der Bundesländer raten: „Selbstverteidigung für Frauen und Mäd- chen“, in: Judo 11 (1971), H. 6, S. 5. 118 Ist Karate ein wirksames Verteidigungsmittel? Gespäch mit Hiroo Mochizuki, André Nocquet, Jean-Paul Coché, Dominique Valéra, Luc Poras und Sacha Rhoul, in: Kara- te-Revue 4 (1979), H. 5, S. 60-62, hier S. 61. 119 Ebd., S. 61f. Kampf – Kunst – Körper 255

wirksam sind«.120 Den Hintergrund für dieses Gespräch über die Wirk- samkeit im Ernstfall bildete nicht zufällig die Kontroverse über das Full- contact-Karate, bei dem die Sportler auch im Wettkampf Körpertreffer landeten, anstatt sie nur vorzutäuschen. Sie füllte 1979-1981 die Leser- briefspalten der Karate-Revue.121 Anfang 1979 erschien hier ein Artikel, der sich ebenfalls mit Karate als Selbstverteidigung beschäftigte.122 Die Argumente Für und Wider den Vollkontakt, die Vergleiche mit dem Bo- xen und die Abgrenzung gegenüber Gewalt – all das nahm unter schril- len und aufgeregten Vorzeichen eine Diskussion wieder auf, die in den 1920er und 1930er Jahren zwischen Jiu-Jitsu-Vertretern, Boxern und Ringern geführt worden war. Dass sich diese Diskussionen dennoch eher sportnah bewegten, zeigt ein abschließender Blick auf das »Anti-Terror-Kampfsystem« (ATK), das von Horst Weiland an der Budo-Akademie-Europa (Wilhelmshaven) seit 1965 entwickelt wurde. Ein Artikel, der 1981 in der Karate-Revue er- schien, stellte das ATK als »ein zweckgebundenes, radikales und direk- tes Selbstverteidigungssystem« vor, das »auf schockierenden Schlägen und Tritten im direkten Angriff in Verbindung mit den Reißtechniken, insbesondere durch gleichzeitigen Druck auf das Nervensystem« basier- te.123 In ihren schwarzen Kampfanzügen erinnerten die ATKler an Nin- jas, aber »der Anti-Terrorkampf ist keine Vervollkommnung der Budo- Praktiken, er hat nichts mit den üblichen Budo-Sportarten zu tun, son- dern ist in sich selbst nach der Naturmethode aufgebaut«. Das ATK stell- te also auf jene realistische »Härte« der Gewalterfahrung ab, über die im Jahr 1979 in Paris diskutiert wurde. Und dennoch kamen auch die Pro- tagonisten des ATIK nicht umhin, die Beherrschbarkeit des so aufgebau- ten Gewaltpotentials zu betonen: »Ein Anti-Terror-Kämpfer wird in der Akademie nicht zum Dschungelkrieger oder gar Schläger erzogen, son- dern zur Fairneß, Ritterlichkeit und Härte, um wirklich gewappnet zu sein«.124

120 Ebd., S. 61. 121 Hans Jürg Günther, Leserbrief: Fullcontact!!! Karate?, in: Karate-Revue 4 (1979), H. 4, S. 58; W. Seeholzer, Leserbrief: Fullcontact Karate, in: Karate-Revue 4 (1979), H. 3, S. 58f; Anonym, Leserbrief: Überlegungen zum Artikel „Karate und die Selbstver- teidigung“, in: Karate-Revue 4 (1979), H. 3, S. 60; Lothar Gründing, Leserbrief: Betrf. Heft 1/1979, Artikel „Karate und die Selbstverteidigung“, in: Karate-Revue 4 (1979), H. 3, S. 60f; Manfred Cecior, Leserbrief: Betr. Reale Selbstverteidigung, in: Karate- Revue 6 (1981), H. 1, S. 50. 122 Heinz Hollitschke, Karate und die Selbstverteidigung, in: Karate-Revue 4 (1979), H. 1, S. 46-47. 123 Was ist eigentlich ATK?, in: Karate-Revue 6 (1981), H. 8, S. 27-29. 124 Ebd., S. 28. 256 Marcel Streng

Aus Platzgründen hat sich die Argumentation zur Körperformung zwischen Bewaffnung und Gesundheitsförderung auf jene Techniken beschränkt, die auf »japanische Traditionen« zurückgeführt wurden. Insbesondere die Vielfalt der ab den 1970er Jahren in Westdeutschland mit verschiedenen Kung Fu-Versionen verbreiteten Körperformen, Be- wegungsführungen und Trainingslehren kann hier nur gestreift wer- den.125 Gerade in diesem expandierenden Abschnitt des Feldes zeichnet sich jedoch eine Entwicklung ab, die mit der Verknüpfung von Judo und »Budo-Philosophie« bzw. Jujutsu und Kybernetik angedeutet wurde. Mi- chael Minick zufolge, dessen 1974 in den USA erschienene Einführung 1977 übersetzt wurde, »brauchte der Westen« Kung Fu, um dem körper- lichen Verfall entgegenzuwirken.126 Minick verstand Kung Fu als eine der »höchstentwickelten Formen heilgymnastischer Übungen, die sich der Mensch je ausgedacht hat«127 und diskutierte sie vor dem Hinter- grund der in den USA einsetzenden Fitnessbewegung.128 Auf ähnliche Weise verstand der Frankfurter Philosoph Rudolf zur Lippe 1978 die Aikido-Partnerübungen als einen »der Wege, auf denen wir als Individu- en die bewusste Übung der körperlichen Bewegungen mit einer Klärung der geistigen verbinden können« und der »Einsichten in die Formen, in denen Leben lebt, in denen das geistig bewusste menschliche Leben le- ben kann und in denen wir Menschen den richtigen Umgang miteinan- der und mit der Natur erlernen können« eröffne.129 In diesem Kontext wurde auf die »Zen-Traditionen des Fernen Ostens«130 Bezug genom- men. Manfred Pabst, ein Pionier des Kung Fu in Westdeutschland, erläu- terte mit Blick auf Kung Fu, »daß es ein Ziel der [Shaolin-]Mönche war, eine Körperschule – eine Art in Bewegungsaktionen umgesetzte Medita- tions-Übung – zu entwickeln, die von der lebendigen Kraft der Unmittel- barkeit und der inneren, vitalen Automatik bestimmt wurde«.131 Auch in diesem Fall ging es darum, »die Körperglieder zu natürlichen Waffen aus[zubilden]«, aber »und das ist das Entscheidende, orientierte man sich an den Bewegungsformen verschiedener Tiere, also gerade an sol- chen, die gekennzeichnet sind durch spezialisierte, automatische Bewe-

125 Vgl. zu den Körperkonzepten ausführlicher Hintelmann, Fernöstliche Kampfkunst. 126 Michael Minick, Kung Fu. Die berühmte chinesische Kampfschule – ein Fitnesstrai- ning für Körper, Geist und Seele, München 1977, S. 49-57. 127 Ebd., S. 7. 128 Ebd., S. 57-63. 129 Rudolf von zur Lippe, Am eigenen Leibe – zur Ökonomie des Lebens, Frankfurt a. M. 1983, S. 83. 130 Ebd., S. 83. 131 Manfred Pabst, Kung Fu. Theorie und Praxis klassischer und moderner Stile, Wies- baden 1976, S. 22. Kampf – Kunst – Körper 257

gungsweisen«.132 Diese Hinweise müssen hier genügen, um den Kontext der 1970er und 1980er Jahre zu markieren, vor dessen Hintergrund sich die Ambivalenz der Selbstverteidigungstechniken – zwischen Gewalt- vorbereitung und Lebensschutzethik – entfaltete.133

3. Zusammenfassung und Ausblick

In diesem Beitrag habe ich argumentiert, dass die organisatorische Ent- wicklung und Ausdifferenzierung der sogenannten »fernöstlichen Kampfkünste« in (West-)Deutschland zwischen 1920 und 1980 nachhal- tig von der Kontroverse über die Natur dieser Kampftechniken geprägt worden ist. Die Unterscheidung zwischen Gewalt und Sport und die da- ran anschließenden Grenzziehungen trugen zur Entstehung einer dua- len Struktur bei. Auf der einen Seite setzte sich Judo als Freizeit- und Wettkampfsport und als pädagogische Strategie zur Zähmung und Um- wandlung in der Gesellschaft vorhandener Gewaltpotentiale durch. Zu- gleich entstand jedoch auf der anderen Seite eine breitgefächerte Szene an privaten Ausbildungsinstituten, an denen auch »harte« Selbstvertei- digung zur Vorbereitung auf Gewalt im Alltag gelernt werden konnte. Diese Argumentation bezog sich auf die von Akteuren im Feld produ- zierten Diskurse und wird zukünftig durch die Einbeziehung der Fremdbeschreibungen des Feldes und der Kampftechniken ergänzt und gegebenenfalls korrigiert werden müssen. Klar scheint jedoch nach dem Überblick über die als Selbstverteidigung trainierten Techniken, die ihnen zugrundeliegenden Körperkonzepte und Zwecksetzungen in der Körperbildung, dass sich die Praxis der »asiatischen Kampfkünste« in (West-)Deutschland nicht einfach nach Sport und Gewalt sortieren und entsprechend kategorisieren lässt. Die Macht der Sportmetaphorik kann nicht zuletzt darin gesehen werden, dass selbst den Techniken zur Um- wandlung der Handkante in eine Waffe – trotz des mitgeführten Ge- waltwissens – noch gesundheitsfördernde Aspekte zugeschrieben wer- den konnten. Der diachrone körpergeschichtliche Vergleich zwischen den Jiu Jitsu und dem als »europäische Komposition« beworbenen Jujutsu zeigt schließlich, dass die vermittels dieser Techniken produzier-

132 Ebd. 133 Es macht deshalb wenig Sinn, dem Kampfsport generell die Förderung aggressiven Verhaltens zu unterstellen, wie Colin Goldner dies Ende der 1980er Jahre tat, s. ders., Fernöstliche Kampfkunst, S. 11/12. Goldner stellte seiner These eine Diskussi- on der sozial- und verhaltenspsychologischen Aggressionstheorien voran, S. 12-34. Vgl. die Analyse ganz ähnlicher Konstellationen im Boxen: Loïc Wacquant, Leben für den Ring. Boxen im amerikanischen Ghetto, Konstanz 2003. 258 Marcel Streng ten Körper völlig unterschiedliche Körperkonzepte somatisierten: wäh- rend im Jiu Jitsu aus der Handkante ein unempfindliches Ding wurde, eine unsichtbare Waffe, die ihr Träger beherrschte, immer mit sich führ- te und für deren Einsatz er übte, verlegte sich das Jujutsu auf der Basis von Budo-Philosophie und Kybernetik auf die Herstellung eines Ab- wehrautomaten, der im akuten Bedrohungsfall selbstbezüglich handeln können sollte, indem er ein somatisiertes Handlungsprogramm abrief. Auch wenn das Thema sicher weiterer Forschung bedarf, dürfte doch zumindest ein Punkt klar geworden sein: Diese Gewalt-Körper haben eine Geschichte.

Marcel Streng, Kontakt: marcel.streng (at) googlemail.com. Historiker, Doktorarbeit an der Universität Bielefeld zum Thema »Subsistenzpolitik. Die Ordnung des Brot- und Fleischmarktes in Frankreich (1846-1914)«; Forschungsinteressen: Gewaltgeschichte, Körpergeschichte des Hungerns, Geschichte des Strafvollzugs in der BRD, Politik- und Wirtschaftsgeschichte Frankreichs im 19. Jahrhundert. Veröffentlichungen: „Abrechnun- gen unter Nordafrikanern?“ Algerische Migranten im Alltag der französischen Gesell- schaft während des Algerienkriegs (1954-1962), in: WerkstattGeschichte 35 (2003), S. 57- 80; »Sozialtherapie ist eine Therapie, die sozial macht«. Therapeutisierungsprozesse im westdeutschen Strafvollzug der langen 1970er Jahre, in: Sabine Maasen/Pascal Eit- ler/Jens Elberfeld/Maik Tändler (Hg.), Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeu- tisierung in den ‚langen’ Siebzigern, Bielefeld 2011, S. 263-290; »Vie chère«, Violent Pro- test, and Visions of Protection. The »Vie chère«-Controversy on the Eve of WWI in France (1905-1914), in: Willibald Steinmetz/Ingrid Gilcher-Holtey/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Writing Political History Today, Frankfurt a.M. 2013, S. 317-348.

Body Politics 1 (2013), Heft 2, S. 259-296 Das „Reich der Sinne“? Pornographie, Philosophie und die Brutalisierung der Sexualität (Westdeutschland 1968-1988) Pascal Eitler

English abstract: This article addresses a new kind of entanglement between visualized sexuality and sexualized violence within hard-core and especially soft-core pornography in the 1970s and 1980s. It reconstructs and contextualizes how sharply increasing vio- lence against women within the pornography of this timeframe constituted a brutaliza- tion of sexuality. The article thereby analyzes what sort of concrete knowledge about violence practices, the imagined female body, and the propagated female self was of- fered by pornography around and after 1968. Against this background, it also tries to historicize and to better understand the feminist Anti-Pornography-Movement of the 1970s and 1980s, focusing on the harmed feelings of women who not only observed vio- lence within pornography but experienced it themselves while observing it.

„Ich lebte in einer Welt der Bilder: kauernde, ausgebreitete, aufgehängte, gefesselte und zerschnittene Frauen [...] Gruppenvergewaltigung, Paar- vergewaltigung, Vergewaltigung von Frauen durch Männer, Vergewalti- gung von Frauen durch Tiere, Herausreißen von Eingeweiden, Folter, Penetration, Exkremente [...] Mir wurde übel [...] Ich war zittrig und tod- krank [...] Ich wurde furchtsam und leicht irritierbar [...] die Alpträume waren das geringste.“1 Als Andrea Dworkin dies schrieb, las und be- trachtete sie – Pornographie. In drastischen, teilweise dramatischen Worten beschrieb und verurteilte sie nicht nur die in diesem Medium bzw. Genre ihrem Eindruck nach übliche Darstellung von Gewalt gegen- über Frauen, sie erfuhr diese tendenziell stark sexualisierte Gewalt auch selbst, zumindest – und darauf kommt es hier an – in ihrer eigenen Wahrnehmung. Sie beobachtete nicht nur Verletzungen von anderen Frauen, sie fühlte sich als Frau auch selbst durch die Darstellung eben dieser Gewalt verletzt, ausdrücklich auch körperlich: Sie war bzw. be- schrieb sich selbst als verängstigt, angeekelt, gereizt, schlaflos, „körper- lich krank“.2

1 Andrea Dworkin, Pornographie – Männer beherrschen Frauen, Köln 1987, S. 15f. Der vorliegende Beitrag entstand am Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin. Für wichtige Hinweise danke ich den anonymen Gutachterinnen und Gutachtern von Body Politics. 2 Ebd., S. 16. www.bodypolitics.de | urn:nbn:de:gbv:547-201400160 | ISSN 2196-4793 260 Pascal Eitler

Andrea Dworkin wurde mit ihrem 1979 auf Englisch und 1987 auf Deutsch erschienenen Buch Pornographie – Männer beherrschen Frauen zu einer international kontrovers diskutierten Referenzfigur nicht allein der nordamerikanischen, sondern auch der westeuropäischen und spe- ziell der westdeutschen Anti-Pornographie-Bewegung.3 Die historische Forschung hat in den letzten Jahren zwar wiederholt verdeutlicht, wie vielfältig und weitreichend die Geschichte der Sexualität um und nach 1968 sowohl in die Politik- als auch in die Religions-, die Konsum-, die Medien-, die Wissenschafts- und allen voran in die Geschlechterge- schichte der Nachkriegszeit verstrickt war, gerade auch im Fall der Bun- desrepublik Deutschland.4 Die Geschichte der Pornographie und der An- ti-Pornographie-Bewegung aber ist in diesem Rahmen bislang erst sehr selten auf ernsthaftes Interesse gestoßen. Inzwischen weiß die histori- sche Forschung vor allem etwas über die Produktionsverhältnisse und die Vertriebskontexte der Pornographie zu berichten.5 Über die Porno- graphie selbst – über den Inhalt der schon bald zahllosen pornographi- schen Texte und Bilder, Publikationen und Filme – wird jedoch meist höflich und mehr oder weniger betroffen geschwiegen, gerade so, als besäße die Pornographie als solche gar keine Geschichte, als böte sie stets dasselbe.6 Zwar gerät die Pornographie seit den 1980er und 1990er Jahren im- mer öfter in den Fokus der soziologischen oder psychologischen For- schung, der Medienwissenschaften und vor allem der Filmanalyse.7 Sie

3 Siehe zur westdeutschen Entwicklung vor allem Bettina Bremme, Sexualität im Zerr- spiegel. Die Debatte um Pornographie, Münster 1990; zur nordamerikanischen Ent- wicklung siehe zum Beispiel Carolyn Bronstein, Battling Pornography. The American Feminist Anti-Pornography Movement 1976-1986, Cambridge 2011. 4 Vergleiche insbesondere Dagmar Herzog, Politisierung der Lust. Sexualität in der deut- schen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2005; Franz X. Eder, Kultur der Be- gierde. Eine Geschichte der Sexualität, München 2002; Peter-Paul Bänziger u.a. (Hg.), Fragen Sie Dr. Sex! Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion des Sexuel- len, Berlin 2010; siehe demnächst auch ders. u.a. (Hg.), Sexuelle Revolution? Sexuali- tätsgeschichte im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren, Bielefeld 2014. 5 Siehe neben Bremme, Zerrspiegel, vor allem Elizabeth Heineman, Before Porn Was Legal. The Erotica Empire of Beate Uhse, Chicago 2011; Annette Miersch, Schulmäd- chen-Report. Der deutsche Sexfilm der 70er Jahre, Berlin 2003. 6 Vergleiche allerdings Georg Seeßlen, Der pornographische Film, Frankfurt am Main 1990; Linda Williams, Hard Core. Macht, Lust und die Traditionen des pornographi- schen Films, Basel 1995; Dian Hanson, The History of Men’s Magazines, Bd. 1-6, Köln 2004-2005; Enrico Wolf, Bewegte Körper – bewegte Bilder. Der pornografische Film, München 2008. Sehr knapp: Pascal Eitler, Die Produktivität der Pornographie. Visuali- sierung und Therapeutisierung der Sexualität nach 1968, in: Nicolas Pethes/Silke Schicktanz (Hg.), Sexualität als Experiment, Frankfurt am Main 2008, S. 255-273. 7 Siehe darüber hinaus beispielsweise auch Al di Lauro/Gerald Rabkin, Dirty Movies. An Illustrated History of the 1915-1970, New York 1976; Jakob Pastötter, Erotic Das „Reich der Sinne“? 261 wird dabei aber sehr häufig nur unzureichend historisch und gesell- schaftlich kontextualisiert, nicht selten gerät sie unter der Hand zu ei- nem Anlass philosophischer – ästhetischer oder moralischer – Reflexio- nen bzw. Spekulationen.8 Der Darstellung sexualisierter Gewalt – nicht nur, aber allen voran – gegenüber Frauen widmet man sich dabei in der Regel allenfalls für die Gegenwart, höchst selten indes für die Vergan- genheit.9 Die Frage nach deren historisch bestimmbarem Hintergrund und nach deren historisch wandelbaren Bedeutung wird dementspre- chend von der Frage nach den potentiell drohenden Gefahren des Kon- sums von Pornographie nahezu vollständig überlagert – auf der einen Seite werden diese genauso leidenschaftlich heraufbeschworen wie sie auf der anderen Seite kurzerhand beiseite gewischt werden.10 Die Behauptung, dass Pornographie entweder stets oder aber niemals mit einer solchen, tendenziell stark sexualisierten Gewalt verbunden sei, bringt die historische Forschung indes nicht voran, da sich die in diesem Genre üblicherweise dargestellte Gewalt ebenso sehr verändert hat wie sich die Frauen verändert haben, die eben dieser Gewalt ausgesetzt wurden. Tatsächlich haben pornographische Texte und Bilder, Publika- tionen und vor allem Filme aus den 1970er oder 1980er Jahren, wie sich noch zeigen wird, auch hinsichtlich der Darstellung sexualisierter Ge- walt mit solchen aus den 1940er oder 1950er Jahren nur noch erstaun- lich wenig gemein. Zwischen Ende der 1960er und Ende der 1980er Jah- re erfuhr dieses Genre einen signifikanten Wandel, nicht allein auf der Ebene der erst teilweise erfassten Geschlechterverhältnisse, sondern

Home Entertainment und Zivilisationsprozess. Analyse des postindustriellen Phäno- mens Hardcore-Pornographie, Wiesbaden 2003; Linda Williams, Screening Sex, Durham 2008; dies. (Hg.), Porn Studies, Durham 2004; Claire Hines/Darren Kerr (Hg.), Hard to Swallow. Hard-Core Pornography on Screen, London 2012. 8 Historisch daher eher problematisch zum Beispiel: Werner Faulstich, Kultur der Por- nographie. Kleine Einführung in Geschichte, Medien, Ästhetik, Markt und Bedeutung, Bardowick 1994; Marcus Stiglegger, Ritual und Verführung. Schaulust, Spektakel und Sinnlichkeit im Film, Berlin 2006; Svenja Flaßpöhler, Wille zur Lust. Pornographie und das moderne Subjekt, Frankfurt am Main 2007; Sven Lewandowski, Die Pornographie der Gesellschaft. Beobachtungen eines populärkulturellen Phänomens, Bielefeld 2012. 9 Wenig erkenntnisfördernd leider: Werner Faulstich/Andreas Vogel (Hg.), Sex und Gewalt im Spielfilm der 70er und 80er Jahre, Bardowick 1991. Einen ausführlichen Forschungsüberblick bieten beispielsweise Ana Bridges u.a., Aggression and Sexual Behavior in Best-Selling Pornography Videos. A Content Analysis Update, in: Violence Against Women 16 (2010), S. 1065-1085. 10 Insgesamt beiseite gewischt werden sie beispielsweise in Faulstich, Kultur der Porno- graphie; Rüdiger Lautmann/Michael Schetsche, Das pornographische Begehren, Frankfurt am Main 1990. Zum größeren Zusammenhang siehe auch Isabell Otto, Ag- gressive Medien. Zur Geschichte des Wissens über Mediengewalt, Bielefeld 2008. 262 Pascal Eitler ebenfalls auf der Ebene der keineswegs besser erforschten Gewaltver- hältnisse.11 Pornographie bot mitnichten stets dasselbe – sie eröffnet rückbli- ckend vielmehr einen überaus vielschichtigen Einblick in eine tiefgrei- fende Transformation des Sexualitätsdispositivs um und nach 1968 in einem noch sehr viel umfassenderen Sinne. Sie rückt unter anderem, wie sich noch zeigen wird, eine ehedem weitgehend unbekannte und über- aus facettenreiche Therapeutisierung der Sexualität in den Fokus und entfaltet ein regelrechtes Tableau von sich in diesem Zusammenhang und Zeitraum markant wandelnden sexuellen Praktiken und Diskursen, Artefakten und Institutionen.12 Die Pornographie war sowohl Indikator als auch Katalysator dieser Transformation des Sexualitätsdispositivs. Die historische Forschung sollte daher zum einen dem Umstand stärker Rechnung tragen, dass die sogenannte „Porno-Welle“, die im Fall der Bundesrepublik Deutschland seit Mitte der 1960er Jahre immer rascher an Gestalt und Gewicht gewann, zu den eindeutig wichtigsten, doch sel- ten genauer untersuchten Kennzeichen der sogenannten „Sex-Welle“ zählt. Zum anderen gilt es, die Zeitgeschichte der Sexualität im Allge- meinen wie auch der Pornographie im Besonderen erheblich gezielter im Rahmen einer Zeitgeschichte der Gewalt zu begreifen, die in körper- geschichtlicher Perspektive erst noch umfassend zu erschließen ist. Ge- rade im Hinblick auf den Zeitraum zwischen Anfang der 1970er und An- fang der 1980er Jahre wird man von einer fortwährenden Verknüpfung der Visualisierung von Lust und der Sexualisierung von Gewalt und in genau diesem Sinne von einer forcierten Darstellung sexualisierter Ge- walt und einer insgesamt stark zunehmenden Brutalisierung der Sexua- lität sprechen müssen. Der vorliegende Beitrag folgt an dieser Stelle zwar dem Versuch von Andrea Dworkin, zu beschreiben und zu untersuchen, „was gezeigt wird“.13 Allerdings zielt er zunächst weniger auf eine strikte Verurtei- lung als auf eine historische Verortung dessen, „was gezeigt wird“. In Zukunft sollte es zudem stärker darum gehen, auch zu beschreiben und zu untersuchen, was in pornographischen Texten und Bildern, Publika- tionen und Filmen zu lesen bzw. zu hören ist.14 Allen voran in Softcore- und Hardcore-Pornofilmen wurde zwischen Anfang der 1970er und Mit- te der 1980er Jahre fast so viel informiert und diskutiert wie mastur-

11 Siehe ganz allgemein vor allem Williams, Hard Core. Zum Begriff der Gewaltverhält- nisse vergleiche ausführlicher die Einführung zum vorliegenden Heft. 12 Vergleiche lediglich Eitler, Produktivität. 13 Dworkin, Pornographie, S. 13. 14 Siehe auch Feona Attwood, The Paradigm Shift: Pornography Research, Sexualization and Extreme Images, in: Sociology Compass 5 (2011), S. 13-22. Das „Reich der Sinne“? 263 biert und penetriert – anders als zuvor und vor allem auch anders als danach.15 Doch wenngleich der vorliegende Beitrag in dieser Hinsicht Andrea Dworkin und anderen Referenzfiguren der Anti-Pornographie- Bewegung in ihrem, wie sich noch zeigen wird, weitgehend unhistori- schen Verständnis von Pornographie nicht folgen wird, sollte empirisch nicht länger ignoriert oder gar denunziert werden, dass die Visualisie- rung von Lust um und nach 1968 auf signifikante Weise und in sukzessi- vem Maße auch auf eine Sexualisierung von Gewalt baute bzw. zielte, auf eine immer ausführlichere und umfassendere Darstellung sexualisierter Gewalt – nahezu ausschließlich gegenüber Frauen. In den Augen von Andrea Dworkin und in der – vorbehaltlos ernstzu- nehmenden – Wahrnehmung zahlreicher anderer Frauen und einiger weniger Männer stellte Pornographie eben diese Gewalt nicht nur dar, sie übte sie vielmehr auch ihrerseits aus. Diese Gewalt ging jedoch offen- sichtlich nicht vom Genre als solchem aus, denn sie wurde keineswegs von allen Zuschauerinnen oder Zuschauern gleichermaßen wahrge- nommen und kontrovers diskutiert.16 In genau diesem Sinne geht es im Folgenden nicht um eine medienwissenschaftlich hergeleitete oder aber kategorisch geleugnete Gewalthaftigkeit der Pornographie als solcher, sondern um ein historisch genau datierbares Gewaltverhältnis und die gesellschaftlich umkämpfte, sehr unterschiedliche Rezeption von Por- nographie, sowohl innerhalb als auch außerhalb der maßgeblich von der Frauenbewegung getragenen Anti-Pornographie-Bewegung. Statt Pornographie allein auf der Ebene der Repräsentation zu begrei- fen, als symbolischen Ausdruck für eine angeblich bereits unabhängig davon etablierte Sexualität, zielt der vorliegende Beitrag darauf, Porno- graphie auf der Ebene der Produktion zu befragen, als effektiven Beitrag zu einer immer wieder erst noch zu konstituierenden Sexualität – in ih- rer informierenden und vor allem auch instruierenden Bedeutung für die sukzessive Durchsetzung von jeweils ganz bestimmten sexuellen Praktiken und Diskursen, Artefakten und Institutionen.17 Im Hinblick auf die innerhalb der Pornographie stark zunehmende Darstellung von Gewalt gegenüber Frauen werde ich mich dabei allein der in den 1970er und 1980er Jahren und bis heute noch eindeutig vorherrschenden Re- präsentation und Produktion von Heterosexualität widmen.18

15 Vergleiche insbesondere Williams, Hard Core. 16 Vergleiche insbesondere Bremme, Zerrspiegel. 17 Siehe auch Eitler, Produktivität. Zur Ebene der Repräsentation siehe vor allem Susan- ne Kappeler, Pornographie. Die Macht der Darstellung, München 1988. 18 Zur Darstellung und Herstellung von Homo-, Bi- oder Transsexualität in und durch Pornographie liegen bislang, zumindest für die Bundesrepublik Deutschland, kaum historische Untersuchungen vor. 264 Pascal Eitler

Es geht nachstehend weniger um insgesamt abstrakt bleibende Domi- nanzstrukturen und Herrschaftsverhältnisse zwischen Männern und Frauen.19 Im Zentrum des Interesses stehen vielmehr vollkommen un- verhohlene, von jeder Zuschauerin und jedem Zuschauer unschwer er- kennbare Gewaltverhältnisse, es geht um als solche gezielt inszenierte und klar identifizierbare Misshandlungen und Vergewaltigungen, Gefan- genschaften oder Ermordungen von Frauen, denen jene Frauen in der Regel gar nicht oder allenfalls zu Beginn – so ein ebenso effektives wie perfides Deutungsmuster zur Rechtfertigung eben dieser Gewaltver- hältnisse – zugestimmt haben und in die sich diese Frauen auch nur sehr widerwillig oder gar nicht fügen. Zwischen Ende der 1960er und Ende der 1980er Jahre ging die Visua- lisierung von Lust mit der Sexualisierung von Gewalt sehr häufig gera- dezu erwartungsgemäß Hand in Hand. Um diese historisch spezifische, zwei Jahrzehnte lang charakteristische Amalgamisierung von Sexualität und Brutalität angemessen verorten und umfassend befragen zu kön- nen, ist es wichtig, Pornographie nicht zu genau zu definieren und zum Beispiel nicht zwischen augenscheinlich „schnöder“ Pornographie und angeblich „raffinierter“ Erotik zu differenzieren. Nahezu jede Darstel- lung von mehr oder weniger nackten Körpern wurde in der Vergangen- heit bereits und kann auch zukünftig als Pornographie gedeutet, begrüßt oder beklagt werden. Ich überlasse die Definition dessen, was Porno- graphie ist oder nicht ist, daher dem Sexualitätsdispositiv selbst, seinen unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren, ihren Deutungspraktiken und Deutungskonflikten um und nach 1968.20 Der vorliegende Beitrag bemüht an dieser Stelle lediglich eine recht oberflächliche – nicht streng analytisch, sondern allein heuristisch zu gebrauchende – Unterscheidung zwischen Softcore- und Hardcore- Pornographie, er zielt dabei ausschließlich auf die fehlende oder vor- handene Darstellung eines Penis oder einer Vagina im Zusammenhang sexueller Handlungen. Diese holzschnittartige Unterscheidung ermög- licht es und verlangt geradezu danach, sehr unterschiedliche pornogra- phische Texte und Bilder, Publikationen und Filme gleichermaßen zu berücksichtigen – allen voran im Fall der Softcore-Pornographie – und vermeintlich klare Genregrenzen zu unterlaufen. Erst in diesem Rahmen und mit Blick auf vielfältige Genrevermischungen lässt sich die Brutali- sierung der Sexualität um und nach 1968 meinem Eindruck nach ange-

19 Diese stehen bislang im Zentrum des Interesses. 20 Zur Geschichte der Filmzensur, die es diesbezüglich ebenfalls zu berücksichtigen gilt, vergleiche lediglich Jürgen Kniep, „Keine Jugendfreigabe“. Filmzensur in West- deutschland 1949-1990, Göttingen 2010. Das „Reich der Sinne“? 265 messen begreifen, auch und nicht zuletzt der Widerstand gegenüber be- stimmten Entwicklungen, zum Beispiel in Hinsicht auf die Anti- Pornographie-Bewegung der 1970er und 1980er Jahre. Ferner sollten neben pornographischen Texten und Bildern, Publika- tionen und Filmen auch begleitende Stellungnahmen eingehender be- fragt werden. Vor diesem Hintergrund gilt es sowohl die Hardcore- als auch die Softcore-Pornographie zu berücksichtigen, pornographieaffine und pornographiekritische Wortmeldungen, philosophische Manifeste und wissenschaftliche Abhandlungen, Wochenzeitungen oder Politma- gazine.21 Der vorliegende Beitrag möchte in genau diesem Sinne ledig- lich einen groben Überblick zur Diskussion stellen.

1. „Revolution“ und „Transgression“ – Pornographie als Philosophie?

Die sogenannte „Sex-Welle“, die Mitte der 1960er Jahre auch West- deutschland erreichte, war von Beginn an auch und nicht zuletzt eine „Porno-Welle“.22 Diese ehedem schlichtweg unbekannte Multiplizierung und Diversifizierung von sexuellen Praktiken und Diskursen, Artefakten und Institutionen innerhalb und vermittels von Pornographie war dabei stets in weitaus umfassendere Auseinandersetzungen um eine vielbe- schworene Politisierung – und eine vermeintliche Liberalisierung23 – der Sexualität, um weibliche Emanzipationsansprüche und antiautoritä- re Erziehungsstile verstrickt.24 Regelmäßig ging es an dieser Stelle nicht zuletzt um die Frage, ob und wie die vermeintliche „pornographische Transgression“ die sogenannte „sexuelle Revolution“ eher befördere o- der behindere. Die Zeitgeschichte der Pornographie und deren beein- druckender Siegeszug durch die Massenkonsumgesellschaft der 1970er und 1980er Jahre können in diesem Sinne nur im Kontext dieser Politi- sierung der Sexualität um und nach 1968 angemessen begriffen werden.

21 Diesbezüglich anregend: Rolf Thissen, Sex (v)erklärt. Der deutsche Aufklärungsfilm, München 1995. 22 Vergleiche insbesondere Miersch, Schulmädchen-Report. Siehe auch Pascal Eitler, Sexualität als Ware und Wahrheit, in: Heinz-Gerhard Haupt/Claudius Torp (Hg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890-1990, Frankfurt am Main 2009, S. 370-388. 23 Zu dieser vermeintlichen Liberalisierung ganz unterschiedlicher Gesellschaftsbereiche vergleiche beispielsweise Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutsch- land. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002. 24 Siehe vor allem Herzog, Politisierung. Vergleiche ebenfalls Pascal Eitler, Die „Sexuelle Revolution“ – Körperpolitik um 1968, in: Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hg.), 1968. Ein Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Stuttgart 2007, S. 235-246. 266 Pascal Eitler

Der Pornographie – der Visualisierung von Lust, aber auch der Sexuali- sierung von Gewalt – wurde dabei im Zuge der „sexuellen Revolution“ seit Ende der 1960er und nochmals verstärkt seit Anfang der 1970er Jahre immer öfter eine ausdrücklich politische und, wie sich noch zeigen wird, geradezu philosophische Bedeutung zugeschrieben. Im Zentrum der „sexuellen Revolution“ stand diesbezüglich das in ganz unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen zeitgleich vorangetrie- bene Phantasma der wechselseitigen Konstitution von sexueller „Befrie- digung“ und individueller „Befreiung“. Diese – von Sabine Maasen auf den Begriff gebrachte und inzwischen ausführlich untersuchte – Thera- peutisierung der Sexualität prägte das Sexualitätsdispositiv um und nach 1968 einschneidend und nachhaltig.25 Im Umkehrschluss zielte die „sexuelle Revolution“ mit Verweis auf Überlegungen von Wilhelm Reich oder Theodor Adorno – nicht allein aufseiten der „Studentenbewegung“ – auf eine sehr viel weiter reichende Gesellschaftskritik im Kampf gegen eine angeblich pausenlos drohende „autoritäre Persönlichkeit“.26 Innerhalb einer als „repressiv“ – faschistisch oder auch kapitalistisch – verurteilten Gesellschaft, so die Überzeugung vieler Pornographiebe- fürworter, leiste die Pornographie angeblich einen überaus wichtigen Beitrag zum „Selbstverständlichwerden der Sexualität“. Sie sei geradezu eine „notwendige Bedingung“ für eine „freie Entfaltung“ der Sexualität.27 Innerhalb einer „repressiven“ Gesellschaft besitze die Pornographie darüber hinaus auch eine wichtige „Ventilfunktion“ – im Hinblick auf die vermeintlich „aufgestauten“, sogenannten „Bedürfnisse“ vorrangig von Männern. Gebetsmühlenartig wurde in diesem Kontext auf den angeb- lich starken Rückgang von Vergewaltigungen in Ländern wie Dänemark oder Schweden verwiesen, wo die „Porno-Welle“ gegen Ende der 1960er Jahre wenn nicht ihren Anfang, so doch jedenfalls ihren Aufschwung nahm.28 In genau diesem Sinne glaubte Henryk Broder, einer der mittei- lungsbedürftigsten Pornographiebefürworter um und nach 1968, erklä-

25 Siehe vor allem Sabine Maasen, Genealogie der Unmoral. Zur Therapeutisierung se- xueller Selbste, Frankfurt am Main 1998. Siehe beispielsweise auch Bänziger u.a. (Hg.), Fragen Sie Dr. Sex! Sehr knapp: Eitler, Sexuelle Revolution. 26 Vergleiche insbesondere Herzog, Politisierung. Siehe zeitgenössisch auch beispiels- weise Arno Plack, Die Gesellschaft und das Böse, Frankfurt am Main 1967. Siehe ferner vor allem Theodor Adorno u.a., The Authoritarian Personality, New York 1950. 27 Henryk Broder, Wer hat Angst vor Pornographie?, Darmstadt 1970, S. 10f.; Anton- Andreas Guha, Sexualität und Pornographie. Die organisierte Entmündigung, Frank- furt am Main 1971, S. 195-198. 28 Siehe auch Henryk Broder, Freiheit für die Pornographie, in: Spontan 11/1969, S. 38- 40, S. 40. Vergleiche beispielsweise Maj-Briht Bergström-Walan u.a., Modellfall Skandinavien? Sexualität und Sexualpolitik in Dänemark und Schweden, Reinbek 1970. Siehe auch Seeßlen, Film, S. 170-174. Das „Reich der Sinne“? 267

ren zu müssen, dass es letztlich darauf ankomme, gegen die „Ursache“ der – seinem Eindruck nach lediglich teilweise zu beobachtenden – Amalgamisierung von Sexualität und Brutalität vorzugehen und er glaubte eben diese in der inhärenten, häufig aber eher indirekten „Bru- talität dieser Gesellschaft“ ausfindig gemacht zu haben.29 Die bis heute oftmals erhitzt geführte Debatte um die Darstellung sexualisierter Ge- walt besaß diesbezüglich in den 1970er und 1980er Jahren zahlreiche Bezüge zur zeitgleich öffentlichkeitswirksam vorangetriebenen Diskus- sion um die Bedeutung der sogenannten „strukturellen“ Gewalt.30

Abb. 1: Bomben und Fesseln – „freie Entfaltung“ in der „sexuellen Revolution“ (Links: Ti- telblatt der Pardon 1/1968. Rechts: Titelblatt der Konkret 8/1969).

Auch Politmagazine im weiteren Umfeld der „Studentenbewegung“, wie die Konkret, die Pardon oder die Spontan, trieben dieses „Selbstver- ständlichwerden“ – nicht etwa der Sexualität an und für sich, sondern lediglich – einer ganz bestimmten Art von Sexualität seit Mitte und nochmals verstärkt seit Ende der 1960er Jahre reichlich bebildert schnell voran. „Selbstverständlich“ war an dieser Form der Visualisie- rung von Lust indes auch, dass sie sich immer wieder und scheinbar bei- läufig mit einer Sexualisierung von Gewalt verband (Abb. 1). Die sich in diesen Rahmen bereits stellenweise abzeichnende Brutalisierung der Sexualität zwischen Ende der 1960er und Ende der 1980er Jahre bildete mithin keineswegs einen Gegenpol zu deren Politisierung.

29 Henryk Broder, „Reform“. Im Rahmen des Erlaubten, in: Spontan 3/1971, S. 6-9, S. 8f. Siehe auch Jos van Ussel, Sexualunterdrückung, Reinbek 1970. 30 Johan Galtung, Strukturelle Gewalt, Reinbek 1982. Siehe auch Wolfgang Maier im Streitgespräch mit Alice Schwarzer, in: Halina Bendkowski/Irene Rotalsky (Hg.), Die alltägliche Wut. Gewalt, Pornographie, Feminismus, Berlin 1987, S. 140-158, S. 145. 268 Pascal Eitler

Im Zentrum der Diskussion stand dabei, wie Dagmar Herzog gezeigt hat, die vor allem innerhalb der „Studentenbewegung“ weit verbreitete Überzeugung, der Faschismus in seiner „ungehemmten“, aber stets „un- befriedigenden“ Brutalität ließe sich in seinen Grundzügen auf eine „un- gehemmte“, aber stets „unbefriedigte“ Sexualität zurückführen.31 Die viel debattierte „autoritäre Persönlichkeit“ im Faschismus oder auch im Kapitalismus gäbe sich in diesem Sinne als eine „sadistische Persönlich- keit“ zu erkennen. Einige der öffentlich kontrovers diskutiertesten Soft- core-Pornofilme um und nach 1968 widmeten sich dementsprechend einer Gesellschaftskritik in Gestalt einer Faschismusanalyse und bilde- ten gegen Mitte der 1970er Jahre ein regelrechtes Subgenre aus – den sogenannten sadiconazista oder naziploitation film (Abb. 2).32

Abb. 2: Das „Dritte Reich der Sinne“ – Gesellschaftskritik als Faschismusanalyse (Links: Filmplakat zu Der Nachtportier von 1974. Rechts: Filmplakat zu Die 120 Tage von Sodom von 1975).

Den Höhepunkt dieser – sowohl pornographischen als auch politischen – Auseinandersetzung mit dem Faschismus markiert zweifelsohne der Softcore-Pornofilm Die 120 Tage von Sodom von 1975, der nicht nur dem Titel nach ganz offen auf eines der bis dahin noch eher weniger bekann- ten Werke des Marquis de Sade referierte.33 In einem kaum zu überbie-

31 Siehe vor allem Herzog, Politisierung; dies., Antifaschistische Körper. Studentenbe- wegung, sexuelle Revolution und antiautoritäre Kindererziehung, in: Klaus Naumann (Hg.), Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001, S. 521-551. Vergleiche ebenfalls Eit- ler, „Sexuelle Revolution“. 32 Siehe vor allem Marcus Stiglegger, Sadiconazista. Faschismus und Sexualität im Film, St. Augustin 1999. Vergleiche ebenfalls den naziploitation film Salon Kitty von 1976. 33 Donatien Alphonse Marquis de Sade, Die 120 Tage von Sodom, München 1968. Das „Reich der Sinne“? 269 tenden Ausmaß bezog dieser naziploitation film die Darstellung sexuali- sierter Gewalt gegenüber Frauen, Kindern und teilweise auch Männern – ob geglückt oder geschmacklos – auf die vermeintlichen Grundzüge fa- schistischer oder auch kapitalistischer Herrschaft bzw. Unterdrückung und die Legitimation oder besser Exekution einer radikalen Absage ge- genüber jedweden moralischen Werten. In genau diesem Sinne urteilte ein Artikel in der Konkret 1978, dieser „Skandalfilm“ sei letztlich „nicht perverser als unsere Gesellschaft“, er thematisiere bzw. problematisiere lediglich deren „Konsequenzen“.34 Zwischen Ende der 1960er und Ende der 1980er Jahre rückte die Pornographie dabei nicht nur, aber auch in der Bundesrepublik Deutschland in ein insgesamt neuartiges Verhältnis zur Philosophie – zumeist unter Bezug auf den ebenso berühmten wie berüchtigten Mar- quis de Sade. Nicht allein im Fall von Die 120 Tage von Sodom – oder im Fall anderer Adaptionen von dessen Werken35 – geriet der Begriff des Sadismus regelmäßig, direkt oder indirekt, in den Fokus der Debatte um die stark zunehmende Visualisierung von Lust, die damit regelmäßig einhergehende Sexualisierung von Gewalt und die Sexualität in all ihren vermeintlich auch „dunklen“ Facetten. Geadelt durch so unterschiedliche „Meisterdenker“ wie Theodor Adorno und Max Horkheimer, Simone de Beauvoir und dann vor allem Georges Bataille, avancierte der Marquis de Sade dabei entweder zu einem frauenhassenden Monster oder zu ei- nem unangepassten Provokateur, zum erschreckenden Gipfel männli- cher Tyrannei oder zum ersehnten Ende bürgerlicher Individualität, zum Zerrbild einer emphatisch beschworenen „Freiheit“ oder zum Voll- strecker einer kritisch beurteilten „Aufklärung“.36 Bereits 1966 widmete der Spiegel dem Marquis de Sade und dem Phänomen des Sadismus eine eigene, überaus umfangreiche Titelgeschichte.37 Und die Pardon sprach bereits ein Jahr später nicht nur von einer allgegenwärtigen „Sex-Welle“, sondern ebenfalls von einer sich ankündigenden „Sadismus-Welle“.38

34 Karl Pawek, Im Dritten Reich der Sinne, in: Konkret 8/1978, S. 44-45, S. 44 u. 45. 35 Siehe zum Beispiel die Softcore-Pornofilme De Sade von 1969; Justine de Sade von 1972. 36 Max Horkheimer/Theodor Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Frag- mente, Frankfurt am Main 1969; Simone de Beauvoir, Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus, München 1964; Georges Bataille, Der hei- lige Eros, Neuwied 1963; ders., Das obszöne Werk, Reinbek 1972. Siehe zum Beispiel auch Ulrike Heider (Hg.), Sadomasochisten, Keusche und Romantiker. Vom Mythos neuer Sinnlichkeit, Reinbek 1986; Elke Heitmüller, Zur Genese sexueller Lust. Von Sa- de zu SM, Tübingen 1994. 37 Anon., Marquis de Sade. Die Natur, dieses Tier, in: Spiegel 27/1966, S. 80-95. 38 Eckhart Schmidt, Sadismus – das neue Lebensgefühl. Die rohe Welle im Film, in: Par- don 3/1967, S. 37-39, S. 37. 270 Pascal Eitler

Andernorts wurde der Sadismus sogar als „Charakterzug des Geistes un- serer Zeit“ bezeichnet.39 Zahlreiche der kontrovers diskutiertesten Softcore- oder Hardcore- Pornofilme der 1970er und 1980er Jahre verband diesbezüglich die Thematisierung und mitunter auch die Propagierung von Sadismus oder – gewissermaßen spiegelbildlich – auch Masochismus bzw. Sadomaso- chismus. Neben viel besprochenen naziploitation films wie Die 120 Tage von Sodom von 1975 oder Der Nachtportier von 1974 gilt es in diesem Zusammenhang jedoch noch sehr viel stärker, „Skandalfilme“ wie die Geschichte der O von 1975 und Im Reich der Sinne von 1976 in den Fokus zu rücken. Der Körper – allem voran der Körper nackter oder halbnack- ter Frauen – wurde im Rahmen dieser Brutalisierung der Sexualität so- wohl als „Hölle der Lust“ als auch als scheinbar einziger „Hort der Lust“ imaginiert oder besser inthronisiert, stilisiert und sanktioniert. In die- sem Sinne seien die Werke des Marquis de Sade, so urteilte 1984 zum Beispiel Hartmut Böhme, „ein radikaler Einspruch gegen das entkörper- te Cogito abendländischer Philosophie“ und genau betrachtet „eher phi- losophisch als pornographisch“.40 Der Hardcore-Pornofilm Im Reich der Sinne wurde dementsprechend als ein wahrhaft „revolutionärer“ Film bezeichnet und für seine angebli- che „Radikalität“ gelobt.41 In dessen Verlauf lernen eine Frau und ein Mann ihren wechselseitigen Lustgewinn immer stärker aus einer wech- selseitigen Gewalterfahrung zu ziehen – bis die Frau den Mann schließ- lich auf dessen Wunsch hin während des Beischlafs erwürgt.42 Gertrud Koch sprach an dieser Stelle vom „heimlich gewünschten Tod als der Verewigung der Ekstase“.43 Die Darstellung sexualisierter Gewalt war in diesem Rahmen von Beginn an in philosophische Auseinandersetzungen um sogenannte und vermeintlich alles verändernde „Grenzüberschrei- tungen“ verstrickt: Tabubrüche, Normverstöße, Kontrollverluste. Und diese lautstark beschworenen „Grenzüberschreitungen“ zielten nicht allein auf eine „Revolution“ dieser oder jener Gesellschaft, sondern auch

39 Friedrich Doucet, Sadismus und Masochismus, München 1967, S. 19. Siehe auch Eberhard Schorsch, Vorwort, in: Andreas Spengler, Sadomasochisten und ihre Sub- kulturen, Frankfurt am Main 1979, S. 7-16. 40 Hartmut Böhme, „Beim Glockenschlag des Wahnsinns schlagen die Stunden der Ve- nus“. Marquis de Sade, in: Thomas Ziehe/Eberhard Knödler-Bunte (Hg.), Der sexuelle Körper – ausgeträumt?, Berlin 1984, S. 183-198, S. 185. 41 Gertrud Koch, Radikalität des Eros. Oshimas Im Reich der Sinne, in: dies. u.a. (Hg.), Lust und Elend. Das erotische Kino, München 1981, S. 57-58, S. 57. 42 Auch dieser Wunsch wird bereits im Werk des Marquis de Sade geäußert: Ulrike Hei- der, Sadomasochismus – eine romantische Liebe, in: dies. (Hg.), Sadomasochisten, S. 15-37. 43 Koch, Radikalität, S. 57. Das „Reich der Sinne“? 271 und nicht weniger auf die vermeintliche „Transgression“ jeder und jedes Einzelnen.44 Von einem „Reich der Sinne“ war in diesem Rahmen auch im Hinblick auf zahlreiche andere pornographische Texte und Bilder, Publikationen und Filme die Rede, insofern die Darstellung sexualisierter Gewalt im- mer öfter in eine das Sexualitätsdispositiv um und nach 1968 insgesamt prägende Therapeutisierung der Sexualität überführt wurde – als Aus- druck einer Sinnsuche, innerhalb derer allein mehr die Sinne noch Sinn zu versprechen schienen, der Körper, die Gewalt, die ihm zugefügt wur- de, und die Gefühle, die er zu ertragen wusste. In eben diesem Sinne sprach beispielsweise der Stern 1978 von der Reeperbahn als dem „deutschen Reich der Sinne“ und meinte feststellen zu müssen: „So hart war Sex noch nie“ (Abb. 4). Die lautstark ersehnte, pausenlos beschrie- bene „Ekstase“ geriet dabei zum wichtigsten oder sogar einzigen Mo- ment der vermeintlichen „Transgression“. Gewalterfahrung und Lust- gewinn wurden in diesem Zusammenhang immer wieder in einen Pro- zess der Subjektkonstitution eingebunden bzw. überführt. In diesem Rahmen glaubte ein Artikel in der Pardon bereits 1967 im Sadismus und Masochismus bzw. Sadomasochismus ein vermeintlich anbrechendes „neues Lebensgefühl“ ausfindig gemacht zu haben.45 Über Die 120 Tage von Sodom sprach ein Artikel in der Konkret dem- entsprechend als dem „Dritten Reich der Sinne“.46 Andernorts ging man davon aus, dass diese beiden „Skandalfilme“ die Pornographie endgültig an die „Grenzen der Darstellung“ geführt hätten – an die Grenzen der Visualisierung von Lust wie auch an die Grenzen der Sexualisierung von Gewalt.47 Tatsächlich jedoch präsentierten bzw. repräsentierten diese beiden „Skandalfilme“ sehr unterschiedliche Möglichkeiten der Ver- knüpfung von visualisierter Lust und sexualisierter Gewalt: Denn wäh- rend die Gewalt im Fall von Im Reich der Sinne nahezu einvernehmlich stattfindet, tut sie dies üblicherweise gerade nicht, weder im Fall von Die 120 Tage von Sodom noch in anderen, damals ebenfalls kontrovers dis- kutierten „Skandalfilmen“ wie insbesondere im Fall der Geschichte der O (Abb. 3).

44 Um diese angeblich einschneidenden Grenzüberschreitungen dreht sich auch heute noch die Debatte um die vermeintliche Subversivität zumindest einiger weniger por- nographischer Texte oder Bilder, Publikationen oder Filme. Siehe zum Beispiel Oliver Demny/Martin Richling (Hg.), Sex und Subversion. Pornofilme jenseits des Main- streams, Berlin 2010. 45 Schmidt, Sadismus, S. 37. Siehe zum Beispiel auch Thomas Wetzstein u.a., Sadoma- sochismus. Szenen und Rituale, Reinbek 1993. 46 Pawek, Im Dritten Reich der Sinne, S. 44 u. 45. 47 Anon., Zensur: Die freigesprochene Sexualität, in: Spiegel 7/1978, S. 180-189, S. 180. 272 Pascal Eitler

Frauen wurden dieser Gewalt und ihren damit einhergehenden Ge- fühlen um und nach 1968 meist vollkommen unfreiwillig ausgesetzt – um sich mitunter allmählich, aber dann scheinbar freiwillig auch selbst der Gewalt und diesen Gefühlen zu unterwerfen. In nahezu allen der in diesem Kontext zur Diskussion stehenden pornographischen Texte und Bilder, Publikationen oder Filme geht es mithin, wie sich noch zeigen wird, um Sadismus und nicht um Masochismus bzw. Sadomasochismus im Sinne von vollkommen einvernehmlich eingegangenen Gewaltver- hältnissen. Am Beginn der ausgiebig beschriebenen Gewaltverhältnisse stand fast immer eine Vergewaltigung – und keine Verzückung.

Abb. 3: Die „Verewigung der Ekstase“? Sadismus und Masochismus (Links: Filmplakat zu Im Reich der Sinne von 1976. Rechts: Filmplakat zu Geschichte der O von 1975).

Die Geschichte der O markiert dabei 1975 einen veritablen Einschnitt in der Thematisierung von Sadismus und vor allem auch von Masochismus bzw. Sadomasochismus in der Bundesrepublik Deutschland.48 Noch im selben Jahr berichtete dementsprechend ein Artikel im Spiegel unter Be- zug auf die Geschichte der O von einem weitgehend neuartigen „Kino der Lüste“, das immer öfter und immer offener „den Spuren des Marquis de Sade“ folge.49 Die Frau, deren Subjektkonstitution oder besser Subjekti- vierungsodyssee dieser Softcore-Pornofilm erzählt, wird entführt, miss- handelt, vergewaltigt, gefoltert und zu einer „Sexsklavin“ erzogen bzw. abgerichtet – bis zu dem Punkt, an dem sie sich in ihr neues Leben fügt

48 Siehe auch Seeßlen, Film, S. 219-223. Vergleiche beispielsweise Hermann Schreiber, Die Sex-Welle, München 1970, S. 121ff. Siehe zudem Pauline Réage, Geschichte der O, Darmstadt 1967. Siehe auch den Softcore-Pornofilm Die flambierte Frau von 1983. 49 Anon., Film: „Es kommt die totale Anarchie“, in: Spiegel 37/1975, S. 124-129, S. 126. Das „Reich der Sinne“? 273 und beginnt, Lustgewinn aus der Gewalterfahrung zu ziehen. An diesem Punkt – so das ebenso effektive wie perfide Deutungsmuster zur Recht- fertigung eben dieses Gewaltverhältnisses – wird aus der erzwungenen Unterdrückung eine freiwillige Unterwerfung: Das anfangs noch wider- willige Gewaltverhältnis eröffnet der Hauptdarstellerin schließlich ein neuartiges Selbstverhältnis. Die im Auspeitschen, Brandmarken und an- deren Gewaltpraktiken bestehende „Arbeit am Fleisch“ zeigt ihr einen ehedem unbekannten Zugang zu sich selbst auf und besitzt in diesem Sinne eine subjektivierende Bedeutung.50 Der – um und nach 1968 im- mer weiter ausgeweitete und verschärfte 51 – Anspruch auf Selbstver- wirklichung wurde dabei in einen Auftrag zur Selbstbeherrschung über- führt. Das Paradox dieser Subjektkonstitution: Die sogenannte Selbst- findung erreichte ihr Ziel im angeblichen Selbstverlust. Die „Sexsklavin“ avanciert in der Geschichte der O zu einer – sich ihres Körpers und ihrer Gefühle stets bewussten – „Liebesgöttin“. In diesem Softcore-Pornofilm treffen Sadismus und Masochismus mithin vermeintlich sinnvoll aufei- nander – und aus eben diesem Aufeinandertreffen wird zuweilen auch heute noch die angeblich „seduktive Qualität“ des Sadomasochismus in „Skandalfilmen“ wie der Geschichte der O und Im Reich der Sinne oder aber auch Der letzte Tango in Paris abgeleitet.52 In körpergeschichtlicher Perspektive kann es an dieser Stelle nicht darum gehen, sadistische oder masochistische bzw. sadomasochistische Gewaltpraktiken und Gewaltverhältnisse an und für sich als „frauenver- achtend“ zurückzuweisen.53 Von zentralem Interesse ist vielmehr der Umstand, dass die betroffenen Frauen in den in den 1970er und 1980er Jahren öffentlich lautstark verhandelten pornographischen Texten und Bildern, Publikationen und Filmen fast nie freiwillig in diese Gewaltver- hältnisse eintraten – und es waren stets Frauen, die von Männern in die- se allmählich gedrängt oder kurzerhand gezwungen wurden.54 Diesen ebenso banalen wie basalen Umstand hat die Anti-Pornographie- Bewegung stets richtig erkannt und klar benannt.

50 Siehe auch Jutta Brückner, Sexualität als Arbeit im Pornofilm, in: Thomas Ziehe/ Eberhard Knödler-Bunte (Hg.), Der sexuelle Körper – ausgeträumt?, Berlin 1984, 137- 144, S. 138. 51 Vergleiche insgesamt Sabine Maasen u.a. (Hg.), Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den „langen“ Siebzigern, Bielefeld 2011; Sven Reichardt/ Detlef Siegfried (Hg.), Das alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968-1983, Göttingen 2010. 52 Vergleiche lediglich Stiglegger, Ritual, S. 81-87. 53 Dies war, wie sich noch zeigen wird, ein stark umstrittener Punkt innerhalb der Frau- enbewegung der 1970er und 1980er Jahre. Siehe auch Pat Califia, Sapphistrie. Das Buch der lesbischen Sexualität, Berlin 1981. Vergleiche lediglich Bremme, Zerrspiegel. 54 Siehe auch Williams, Hard Core, S. 261f. u. 288. 274 Pascal Eitler

In einem zuvor schlichtweg unbekannten Ausmaß wurde in der Mehrzahl dieser „Skandalfilme“ Gewalt gegenüber Frauen nicht nur dar- gestellt, sondern teilweise auch als Lust an der Gewalt gerechtfertigt, sowohl aufseiten der meist männlichen, als Sadisten inszenierten „Tä- ter“ als auch aufseiten der meist weiblichen, als Masochistinnen imagi- nierten „Opfer“. Vor eben diesem Hintergrund wandte sich Susan Brownmiller in einem – erstaunlicherweise – in dem Softcore- Pornomagazin extra dry 1979 wieder abgedruckten Ausschnitt aus ih- rem innerhalb der Frauenbewegung sehr einflussreich gewordenen Buch Gegen unseren Willen unter der Überschrift „Sind Frauen Masochis- tinnen?“ gegen den innerhalb der Pornographie regelmäßig vermittelten Eindruck, alle Frauen zögen aus Gewalterfahrungen einen solchen Lust- gewinn.55 Die Begriffe des Sadismus und des Masochismus bzw. des Sadomaso- chismus eröffnen vor diesem Hintergrund einen viel versprechenden Zugang zur Brutalisierung der Sexualität um und nach 1968. Anstatt an dieser Stelle jedoch erneut in eine mehr oder weniger gut unterrichtete Detailanalyse von diesen oder anderen „Skandalfilmen“ und sogenann- ten „Kunstwerken“ einzutreten, wird im Folgenden ein Tableau von teilweise sehr unterschiedlichen – besonders verbreiteten oder beson- ders einschneidenden – Formen der Brutalisierung der Sexualität entfal- tet. Ich widme mich diesbezüglich einer schwer überschaubaren Ge- mengelage von pornographischen Texten und Bildern, Publikationen und Filmen.56 Die Forschung hat die Brutalisierung der Sexualität um und nach 1968 bislang meist nicht näher untersucht, da sie sich entweder in lang- atmige Diskussionen um die mögliche Subversivität einiger weniger, vermeintlich außergewöhnlicher „Kunstwerke“ verstrickt hat oder aber – zweifelsohne sehr erkenntnisfördernd – vor allem den Massenmarkt der Hardcore-Pornographie ins Zentrum ihres Interesses gerückt hat, eher selten hingegen den nochmals sehr viel größeren Massenmarkt der Softcore-Pornographie.57 Im Alltag von Männern und vor allem auch von Frauen war die Softcore-Pornographie allerdings sehr viel gegenwärti- ger als die – öffentlich kaum wahrnehmbare – Hardcore-Pornographie. Die Softcore-Pornographie indes war um und nach 1968 tatsächlich na-

55 Susan Brownmiller, Sind Frauen Masochisten?, in: extra dry. Ein Büchermagazin für Männer 3/1979, S. 34-39. Siehe auch dies., Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und Männerherrschaft, Frankfurt am Main 1978. 56 Vergleiche lediglich Eitler, Produktivität. 57 Siehe zum Beispiel die – überaus wichtigen – Arbeiten von Linda Williams. Vergleiche ebenfalls Stiglegger, Sadiconazista; ders., Ritual. Siehe demgegenüber aber Miersch, Schulmädchen-Report. Vergleiche ebenfalls Thissen, Sex (v)erklärt. Das „Reich der Sinne“? 275

hezu allgegenwärtig, sei es auf den Titelblättern am Kiosk, sei es auf den Filmplakaten im Kino. Ihre – historisch rekonstruierbare – Bedeutung gewann die Darstel- lung sexualisierter Gewalt noch stets innerhalb einer öffentlichen Ausei- nandersetzung (Abb. 4). Sie erhielt diese nicht von diesem oder jenem – philosophisch reflektierbaren – „Kunstwerk“ an und für sich, sondern erlangte diese immer wieder neu innerhalb eines jeweils ganz bestimm- ten Sexualitätsdispositivs in einem sehr viel umfassenderen Sinne, in Wechselwirkung mit zahlreichen anderen pornographischen Texten und Bildern, Publikationen und Filmen und deren jeweiliger Rezeption.

Abb. 4: „So hart war Sex noch nie“ – das Sexualitätsdispositiv um und nach 1968 (Links: Titelblatt des Spiegel 37/1975. Rechts: Titelblatt des Stern 24/1978).

Während der in den 1970er Jahren stetig expandierende und schließlich explodierende Markt für pornographische Publikationen nicht zuletzt aufgrund seiner Ausweitung bzw. Aufsplitterung in zahllose und kleinste Nischensegmente und Fetischbereiche rückblickend kaum noch ange- messen zu erschließen ist, vor allem im Hinblick auf Hardcore- Pornomagazine, stellt der ebenfalls in den 1970er Jahren unaufhaltsam anwachsende Markt für pornographische Filme, sowohl für Softcore- als auch für Hardcore-Pornofilme, einen insgesamt viel umfassender zu er- schließenden Quellenkorpus dar.58 Den Softcore-Pornofilmen kommt dabei, wie sich noch zeigen wird, im Rahmen der Verknüpfung von visu- alisierter Lust und sexualisierter Gewalt eine wesentlich größere Bedeu- tung zu als den Hardcore-Pornofilmen.

58 Einen vielseitigen Einblick in den Markt für pornographische Publikationen gewährt beispielsweise Hanson, Men’s Magazines. Zum Markt für pornographische Filme ver- gleiche insbesondere Williams, Hard Core; Seeßlen, Film. 276 Pascal Eitler 2. Die „Hölle der Lust“ – Sexualität und Brutalität um und nach 1968

In der Bundesrepublik Deutschland kamen allein zwischen 1968 und 1978 fast eintausend Hardcore- und vor allem Softcore-Pornofilme ins Kino.59 Es kann in körpergeschichtlicher Perspektive indes nicht darum gehen, einige dieser Filme als „subversiv“ oder „avantgardistisch“ zu lobpreisen, andere hingegen als „frauenverachtend“ oder „gewaltver- herrlichend“ zu verurteilen oder einige dieser Filme gar nicht als „por- nographisch“, sondern als „erotisch“ zu bezeichnen und auf diese Weise in der Regel auch zu rechtfertigen. Ich interessiere mich im Folgenden nicht dafür, dass „es in jedem Genre gute und schlechte Filme“ geben mag.60 Derartige Etikettierungsprobleme mögen für die Filmkritik oder die Bildungspolitik von Interesse sein, im Rahmen einer Untersuchung zur Verknüpfung von visualisierter Lust und sexualisierter Gewalt je- doch werden sie nicht zum Erkenntnismittel, sondern allenfalls zum Er- kenntnisgegenstand – auch in derartigen Etikettierungsproblemen spie- gelte und formte sich das sogenannte „Reich der Sinne“. In diesem „Reich der Sinne“ kannte die sexualisierte Gewalt gegen- über Frauen kaum oder gar keine Grenzen: Frauen wurden nicht einfach von Männern beherrscht oder unterdrückt, sie wurden geschlagen, ge- treten, gefesselt, gefügig gemacht und gefangen gehalten, sie wurden vergewaltigt und verbrannt, erstochen und erhängt, gefoltert, zerfleischt und mitunter sogar aufgefressen, zumeist von Männern, mitunter aber auch von Frauen, nicht in einigen wenigen Ausnahmefällen, sondern – darauf kommt es hier an – in bemerkenswerter Regelmäßigkeit. Ange- sichts eben dieser rasanten Pluralisierung und sodann auch enormen Intensivierung nicht allein der Darstellung, sondern, wie sich noch zei- gen wird, auch der Wahrnehmung sexualisierter Gewalt spricht der vor- liegende Beitrag von einer Brutalisierung der Sexualität vor allem zwi- schen den frühen 1970er und den frühen 1980er Jahren.61 Das kaum überschaubare Angebot von sogenannten „Trashfilmen“ erweist sich in diesem Zusammenhang nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ als sehr viel bedeutsamer als die verhältnismäßig weni- gen, von der Filmkritik oder Bildungspolitik ausgerufenen „Skandalfil- me“. Bereits ein grober Überblick über diese Gemengelage von meist günstig hergestellten, teilweise aber international erfolgreich vertriebe-

59 Vergleiche lediglich Miersch, Schülerinnen-Report, S. 132. 60 Oliver Demny, Per Anhalter durch die Pornolandschaft, in: ders./Richling (Hg.), Sex und Subversion, S. 7-20, S. 7. 61 Siehe auch Stiglegger, Gewalt, Lust und Terror, in: Demny/Richling (Hg.), Sex und Subversion S. 87-103, S. 87; ders., Ritual, S. 81-107; Seeßlen, Film, S. 270. Das „Reich der Sinne“? 277

nen sexploitation films verdeutlicht das Ausmaß und die Vielfalt der Bru- talisierung der Sexualität in den 1970er und 1980er Jahren 62 Doch während ein „Skandalfilm“ wie Die 120 Tage von Sodom auch heutzutage noch kontrovers diskutiert wird, sind zahlreiche „Trashfil- me“, die kaum weniger in die um und nach 1968 quasi omnipräsente Politisierung der Sexualität verwickelt waren, inzwischen weitgehend in Vergessenheit geraten – insbesondere die sogenannten „Frauengefäng- nisfilme“ (Abb. 5).63

Abb. 5: Frauen im Widerstand? (Links: Filmplakat zu Frauengefängnis von 1975. Rechts: Filmplakat zu Sadomania – Hölle der Lust von 1980).

Kennzeichnend für die „Frauengefängnisfilme“ war zwar üblicherweise, dass die zumeist von Militärs oder Medizinern gefangen gehaltenen Frauen ihre Wärter und sehr häufig auch Wärterinnen schließlich ge- waltsam überwinden konnten. Zuvor jedoch wurden sie zielstrebig misshandelt und wiederholt vergewaltigt und zweifelsfrei stand die Darstellung sexualisierter Gewalt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – der pausenlos beschworene und ausgiebig beschriebene Sadismus der Wärter oder auch Wärterinnen und nicht der Widerstand der Frauen. Was in den „Frauengefängnisfilmen“ im Sinne von Andrea Dworkin „ge-

62 Einen kurzen – perspektivisch eher problematischen – Überblick bietet auch Hans Gerhold, Von den Entgrenzungen bis zum Ende der Ekstase. Sex und Gewalt im Film von 1970 bis heute, in: Faulstich/Vogel (Hg.), Sex und Gewalt, S. 21-31. Zur Vorge- schichte des vergleiche lediglich Eric Schaefer, „Bold! Daring! Shocking! True!“ A History of Exploitation Films, 1919-1959, Durham 1999. Siehe auch Seeßlen, Film, S. 192-196. 63 Wegweisend wirkten die Softcore-Pornofilme Lovecamp 7 von 1969 und Ilsa – die Hündin von Liebeslager 7 von 1974. Siehe auch Daniel Magilow u.a. (Hg.), Nazisploi- tation! The Nazi Image in Low-Brow Cinema and Culture, New York 2012. 278 Pascal Eitler zeigt wird“, ist weniger der Widerstand von Frauen als eine „Hölle der Lust“, in der diese Frauen – mehr oder weniger erfolgreich – um ihr Überleben kämpfen.64 Statt diese Form des sexploitation film als subversiv zu interpretieren, schlägt der vorliegende Beitrag vor, sie innerhalb des Sexualitätsdisposi- tivs der 1970er und 1980er Jahre zu kontextualisieren.65 Die Verknüp- fung von visualisierter Lust und sexualisierter Gewalt ereignete sich nämlich keineswegs nur im Rahmen jener Politisierung der Sexualität. Männer als „Täter“ und Frauen als „Opfer“ dieser Brutalisierung der Se- xualität erfuhren um und nach 1968 – zwar keine Omnipräsenz, aber doch – eine bemerkenswerte Dauerpräsenz in den Massenmedien.

Abb. 6: „Erst nackt, dann tot“? Männliche „Täter“ und weibliche „Opfer“ (Links: Titelblatt der Wochenend 32/1969. Rechts: Titelblatt der Praline 4/1972).

Softcore-Pornomagazine wie die Praline, die Wochenend oder die Sexy berichteten vor allem zwischen Ende der 1960er und Mitte der 1970er Jahre nahezu wöchentlich von vergewaltigten, gefolterten, ermordeten Frauen – die Verknüpfung von visualisierter Lust und sexualisierter Ge- walt trieben sie bereits auf dem Titelblatt mustergültig voran (Abb. 6). Große gesellschaftliche Aufmerksamkeit kam dabei dem Thema oder besser der Figur des sadistischen „Triebtäters“ und „Serienmörders“ zu. In nie gekannter Ausführlichkeit wurde die Gewalt dieser meist männli-

64 Siehe zum Beispiel auch die Softcore-Pornofilme Greta – Haus ohne Männer von 1977, Gefangene Frauen von 1980, Das Foltercamp der Liebeshexen von 1980. Ver- gleiche lediglich Gerhold, Von den Entgrenzungen, S. 29. 65 Vergleiche ebenfalls die Softcore-Pornofilme Die Satansweiber von Tittfield von 1965, Supervixens von 1975. Das „Reich der Sinne“? 279 chen „Täter“ gegenüber ihren meist weiblichen „Opfern“ nicht nur pau- senlos beschrieben, sondern nunmehr auch im Film nachgestellt. Diese bemerkenswerte Dauerpräsenz in den Massenmedien lässt sich unter- schiedlich kontextualisieren, so zum Beispiel in Bezug auf die teilweise sehr umfangreiche Berichterstattung über den Prozess gegen Jürgen Bartsch von 1967 oder Charles Manson von 1970.66 Für den vorliegen- den Beitrag sehr viel wichtiger ist allerdings der Umstand, dass sich die Darstellung von Gewalt um und nach 1968 nicht allein im Medium bzw. Genre der Pornographie stark gewandelt hat, sondern beispielsweise ebenfalls im Westerngenre und noch sehr viel mehr im Horrorgenre – sowohl im sogenannten splatter als auch im gore film.67 An dieser Stelle gilt es mitnichten, wie unter anderem Jakob Pastötter unterstellt, ein „grobes Missverständnis“ zu verzeichnen.68 Der Anti- Pornographie-Bewegung unterlief keineswegs eine irreführende Ver- wechselung insbesondere von Porno und Horror, als sie für den Zeit- raum der 1970er und 1980er Jahre eine immer stärkere Brutalisierung der Sexualität konstatierte und kritisierte – im Folgenden geht es viel- mehr um eine insbesondere zwischen Anfang der 1970er und Anfang der 1980er Jahre überaus weit verbreitete und ehedem so nahezu unbe- kannte Vermischung von Porno und Horror. Ich ziele in diesem Zusammenhang nicht auf die wohl möglich konsti- tutiven Wahlverwandtschaften und latenten Wechselwirkungen inner- halb der sogenannten body genres Porno und Horror.69 In den Fokus rückt vielmehr eine historisch klar eingrenzbare Konjunktur, innerhalb derer eine ehedem nahezu unbekannte Brutalisierung der Sexualität sehr rasch an Gestalt und Gewicht gewann und schließlich auch wieder verlor. Insofern der vorliegende Beitrag weniger auf eine Analyse be- stimmter Genrecharakteristika als auf die Analyse eines bestimmten Gewaltverhältnisses abhebt, erscheint es mir historisch nicht weiterfüh- rend, kategorial zwischen Porno und Horror zu differenzieren. Histo- risch bedeutsam sind meinem Eindruck nach weniger die scheinbaren Genrecharakteristika als die zahlreichen Genrevermischungen, in deren Rahmen es oftmals eben nicht länger eindeutig bestimmbar war, ob man

66 Vergleiche zum Prozess gegen Jürgen Bartsch lediglich Kerstin Brückweh, Mordlust. Serienmorde, Gewalt und Emotionen im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2006. 67 Siehe zum Westerngenre vor allem Für eine Handvoll Dollar von 1964 und Django von 1966. In eben diesem Sinne sprach das Filmplakat zu Venus im Pelz von 1969 von diesem Softcore-Pornofilm als dem „Django der Sex-Welle“. Zum Horrorgenre ver- gleiche lediglich Catherine Shelton, Unheimliche Inskriptionen. Eine Studie zu Kör- perbildern im postklassischen Horrorfilm, Bielefeld 2008. 68 Pastötter, Entertainment, S. 79f. 69 In Weiterentwicklung der Überlegungen von Carol Clover siehe vor allem Linda Willi- ams, Film Bodies: Gender, Genre, and Excess, in: Film Quarterly 44 (1991), S. 2-13. 280 Pascal Eitler es mit Porno oder mit Horror zu tun hatte.70 In genau diesem Sinne sprach ein Artikel in den St. Pauli Nachrichten 1979 von einer zeitgenös- sisch zunehmend beobachtbaren, geradezu „prickelnden Mischung“ von Porno und Horror – und keineswegs zufällig bezeichnete er dabei so- wohl den meist männlichen „Täter“ als auch dessen meist weibliche „Op- fer“ als „sadomasochistisch“.71 Das Ausmaß an Gewalt, das im Rahmen derartiger Genrevermischun- gen zwischen Porno und Horror aufseiten der Anti-Pornographie- Bewegung beobachtet wurde, war alles andere als „rein fiktiv“.72 Es war schlichtweg beispiellos. Die Gewalt äußerte sich zudem nahezu aus- schließlich gegenüber Frauen, bis hin zum – schonungslos vorgeführten – Herausschneiden der Gebärmutter und Abschneiden der Brüste.73

Abb. 7: „Triebtäter“ und „Serienmörder“ – „kein Film für Frauen“ (Links: Filmplakat zu Die Bestie mit dem Skalpell von 1968. Rechts: Filmplakat zu Jack the Ripper – der Dir- nenmörder von London von 1976).

Die Darstellung sexualisierter Gewalt ging demnach in einigen Fällen sogar sehr viel weiter als in Horrorfilmen wie Halloween von 1978 oder Freitag der Dreizehnte von 1980. In dieser Form des sexploitation film gab es in der Regel auch kein final girl, das sich im Kampf gegen den

70 Zu derartigen Genrevermischungen siehe auch Markus Kuhn u.a., Genretheorien und Genrekonzepte, in: ders. u.a. (Hg.), Filmwissenschaftliche Genreanalyse, Berlin 2013, S. 1-38, S. 29f. 71 Anon., Graf Dracula, in: St. Pauli Nachrichten 15/1979, S. 8-9, S. 8f. 72 Pastötter, Entertainment, S. 79f. Diesbezüglich ebenfalls nicht überzeugend: Willi- ams, Hard Core, S. 250 u. 258. 73 Siehe zum Beispiel die Softcore-Pornofilme Jack the Ripper – der Dirnenmörder von London von 1976, Black Emanuelle – Stunden wilder Lust von 1977, Sado – stoß das Tor zur Hölle auf von 1980. Das „Reich der Sinne“? 281

„Triebtäter“ oder „Serienmörder“ letztlich behaupten konnte. Auch in dieser Hinsicht war der sexploitation film – so warb und warnte das Filmplakat zu dem Softcore-Pornofilm Die Bestie mit dem Skalpell – „kein Film für Frauen“ (Abb. 7). Fragt man im Rahmen derartiger Genrevermischungen zwischen Por- no und Horror nach unterschiedlichen Strategien oder besser Narrati- ven – der Herleitung oder auch Rechtfertigung – der Brutalisierung der Sexualität, so zeigt sich, dass sich die Figur des „Triebtäters“ oder „Seri- enmörders“ in der Regel innerhalb eines Narrativs der Pathologisierung sexualisierter Gewalt bewegte. Der „Täter“ wurde dementsprechend üb- licherweise als „geisteskrank“ beschrieben und verfolgt. Im Folgenden treten indes noch drei weitere Narrative der Brutalisierung der Sexuali- tät in den Blick: das der Dämonisierung, das der Historisierung und schließlich insbesondere das der Exotisierung sexualisierter Gewalt, nicht allein, aber insbesondere gegenüber Frauen. Filmelemente aus dem Horrorfilm fanden sich in den 1970er und 1980er Jahren in überaus zahlreichen sexploitation films – und auch vice versa.74 Der klassische Horrorfilm – der „Vampirfilm“ ebenso wie der „Frankensteinfilm“ – bediente sich dabei jedoch weniger des Narrativs einer Pathologisierung als eines Narrativs der Dämonisierung sexuali- sierter Gewalt: Die meist männlichen „Täter“ waren im Gegensatz zu ih- ren meist weiblichen „Opfern“ nämlich gar keine Menschen. Wem es um die unterschiedliche Rezeption und öffentliche Diskussion von Porno- graphie geht, der wird gerade für den Zeitraum der 1970er und 1980er Jahre auch den klassischen Horrorfilm berücksichtigen müssen, insofern dieser durchaus den Charakter eines Softcore- oder sogar eines Hard- core-Pornofilms annehmen konnte. Die Gewalt gegenüber Frauen wurde im Gegensatz zur Gewalt gegenüber Männern tendenziell stark sexuali- siert, nicht nur geradezu erwartungsgemäß in zahlreichen „Vampirfil- men“, sondern mitunter auch in „Frankensteinfilmen“.75 Im unmittelba- ren Vergleich mit anderen Formen der Genrevermischung zwischen Porno und Horror nahm sich die Verknüpfung von visualisierter Sexuali- tät und sexualisierter Gewalt innerhalb von „Vampirfilmen“ und „Fran- kensteinfilmen“ jedoch insgesamt eher verhalten aus. Eine die Brutalisierung der Sexualität bereits deutlich stärker prä- gende Verknüpfung von visualisierter Sexualität und sexualisierter Ge- walt verhandelten in den 1970er und 1980er Jahren „Hexenfilme“ und

74 Siehe allgemein auch den Beitrag von Hendrik Pletz im vorliegenden Heft. 75 Siehe zum Beispiel die Softcore-Pornofilme Vampyros Lesbos – Erbin des Dracula von 1971, Eine Jungfrau in den Krallen von Vampiren von 1972, Dracula jagt Mini- Mädchen von 1972, Frankenstein ’80 von 1972; Andy Warhol's Dracula von 1974. 282 Pascal Eitler der sogenannte film. Innerhalb dieses Subgenres bediente sich die Brutalisierung der Sexualität weder des Narrativs einer Patho- logisierung noch des Narrativs einer Dämonisierung, sondern in erster Linie eines Narrativs der Historisierung sexualisierter Gewalt: In zahl- reichen pornographischen Texten und Bildern, Publikationen und Fil- men wurde die Gewalt gegenüber Frauen in eine andere Epoche verlegt, in der Regel in das Mittelalter bzw. in die Frühneuzeit, mitunter aber auch in die Antike (Abb. 8). Ob am Beispiel von vermeintlichen Hexen oder widerständigen Nonnen, die Brutalisierung der Sexualität bediente sich innerhalb dieser – meist handelte es sich um – Softcore-Pornofilme eines zeitlichen Entrückens und neugierigen Bestaunens.76 Auffallend häufig bewegte sich diese Historisierung sexualisierter Gewalt dabei vor einem mehr oder weniger religiösen Hintergrund und verband sich mit einer zeitgenössisch geradezu allgegenwärtigen Kritik gegenüber der Kirche und deren sogenannten „Sexualunterdrückung“.77

Abb. 8: Hexen und Nonnen – „gequält“ und „gezüchtigt“ (Links: Filmplakat zu Hexen bis aufs Blut gequält von 1969. Rechts: Filmplakat zu Castigata – die Gezüchtigte von 1974).

Noch verbreiteter und folgenreicher war allerdings ein Narrativ der Exotisierung sexualisierter Gewalt – unter Bezugnahme auf einen an- geblich rätselhaften, als verheißungsvoll beworbenen oder als unheim- lich gefürchteten „Orient“, der für einen „ägyptischen“ ebenso

76 Siehe beispielsweise auch die Softcore-Pornofilme Der Hexentöter von Blackmoor von 1970, Die Nonnen von Clichy von 1972, Hexen – geschändet und zu Tode gequält von 1973, Liebesbriefe einer portugiesischen Nonne von 1976. Vergleiche lediglich Anon., Sadismus und Masochismus. Im Wandel der Zeit, in: St. Pauli Extra Illustrierte 7/1974, S. 28-29. 77 Siehe neben Ussel, Sexualunterdrückung, und den zahlreichen Arbeiten von Karlheinz Deschner zum Beispiel auch Stephan Pfürtner, Kirche und Sexualität, Reinbek 1972. Das „Reich der Sinne“? 283

stehen konnte wie für einen „brasilianischen“ Regenwald oder einen „philippinischen“ Palmenstrand. Im Zentrum des Interesses stand jedoch die Exotisierung sexualisier- ter Gewalt im Fall von „Japan“. Die Authentifizierung „Japans“ im sexploi- tation film der 1970er und 1980er Jahre erfolgte dabei – rassistisch co- diert – über die „japanischen“ Darstellerinnen und Darsteller, über ihr Aussehen und ihre behaupteten Fähigkeiten, ihren Körper und ihre vermeintlichen Gefühle: „Japanerinnen“ und „Japanern“ war die Lust an der Gewalt angeblich inhärent.78 In diesem Sinne war unter Bezugnah- me auf sogenannte „Schwedenfilme“ – als dem Archetyp des Pornofilms 79 zwischen Mitte und Ende der 1960er Jahre – bereits gegen Ende der 1960er Jahre von „Japanfilmen“ die Rede. Ein Artikel in der Konkret ver- kündete dementsprechend unter der Überschrift „Sex und Sadismus“, dass „der japanische Film für brutalen Sex“ stehe und betonte dabei das geläufige „Unverständnis gegenüber fernöstlichem Brauchtum“.80 In ge- nau diesem Zusammenhang sprach das Filmplakat zu dem Softcore- Pornofilm Das Freudenhaus von Nagasaki von der „asiatischen Grausam- keit“ als einer „perversen Lust“ (Abb. 9).

Abb. 9: „Perverse Lust“ und „asiatische Grausamkeit“ (Links: Filmplakat zu Das Freuden- haus von Nagasaki von 1969. Rechts: Filmplakat zu Im Rausch der Sinne von 1969).

Sehr verschiedene Formen von Sadismus und Masochismus bzw. Sado- masochismus wurden in diesem Rahmen als für „Japan“ vermeintlich charakteristisch beschrieben. In „Japan“, so ein Artikel im Spiegel von

78 Sehr knapp: Eitler, „Sexuelle Revolution“. 79 Vergleiche lediglich Williams, Hard Core. 80 Klaus Lackschewitz, Sex und Sadismus, in: Konkret 5/1968, S. 28-31, S. 30f. 284 Pascal Eitler

1978, genieße „Sexualität in jeder nur vorstellbaren Form, unbelastet von moralischen Bedenken, seit jeher größere Freiheit“ als sonst wo.81 Gewaltpraktiken avancierten in diesem Rahmen sehr häufig zu Selbst- techniken, zu Techniken der Selbstfindung oder besser des Selbstverlus- tes, am bekanntesten und vielleicht auch einflussreichsten im Fall von Im Reich der Sinne von 1976, später besonders ausgeprägt ebenfalls im Fall von Tokyo Decadence von 1992.82 Eine solche Exotisierung sexuali- sierter Gewalt findet sich aber zum Beispiel auch im Fall der Geschichte der O – in diesem Fall erfolgt sie durch das räumliche Ensemble und das entsprechende Interieur, durch Schleier, Federn, Tücher, Perlen, der Ausbildungsort der Hauptdarstellerin gleicht teilweise durchaus einem Harem oder besser dessen exotisiertem Abbild.83 Diese Exotisierung sexualisierter Gewalt fügte sich zum einen in eine noch sehr viel umfassendere – nicht weniger rassistisch codierte – Exo- tisierung der Sexualität, die in der Bundesrepublik Deutschland seit En- de der 1960er Jahre sehr rasch voranschritt. In diesem Rahmen ging es in erster Linie um eine Multiplizierung und Diversifizierung von Selbst- techniken, etwa im Rahmen des Kamasutra oder Tantra, um eine man- nigfach beworbene „Liebeskunst“, eine als „orientalisch“ – vor allem als „japanisch“, „indisch“ oder „thailändisch“ – imaginierte und inszenierte ars erotica.84 Softcore-Pornomagazine wie die Praline, die Wochenend oder die Sexy berichteten vor allem zwischen Anfang und Ende der 1970er Jahre pausenlos von ungeahnten „Liebeswonnen“ in „Asien“ oder mitunter auch „Afrika“.85 In genau diesem Rahmen wurde nicht nur von einem „Reich der Sinne“, sondern auch von einem „Rausch der Sin- ne“ gesprochen (Abb. 9). Nicht zuletzt auf diese Weise schrieben sich immer mehr pornographische Texte und Bilder, Publikationen und Fil- me zwischen Ende der 1960er und Ende der 1980er Jahre in die noch- mals sehr viel umfassendere Therapeutisierung der Sexualität ein: Sie

81 Anon., „Sex wie Essen genießen“. Über das Verhältnis der Japaner zur körperlichen Liebe, in: Spiegel 10/1978, S. 159-169, S. 159. 82 Vergleiche insgesamt ebenfalls Yomota Inuhiko, Im Reich der Sinne – 100 Jahre japa- nischer Film, Frankfurt am Main 2007. 83 Siehe zum Beispiel auch die Softcore-Pornofilme Der lüsterne Türke von 1971, Die Mädchenhändler von 1972, Emmanuelle – die Schule der Lust von 1974, Black Ema- nuelle 2 von 1976. 84 Siehe hierzu auch die – eine solche Orientalisierung der Sexualität unreflektiert re- produzierende – Unterscheidung von ars erotica und scientia sexualis bei Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main 1983. Überaus zeitgenössisch diesbezüglich ebenfalls: Gertrud Koch/Karsten Witte, Kino als Reich der Sinne, in: dies. u.a. (Hg.), Lust und Elend, S. 63-69. 85 Siehe zum Beispiel Anon., Mit Raana genieße ich alle Liebeswonnen des Kamasutra, in: Sexy 48/1972, S. 6-7. Vergleiche lediglich Eitler, „Sexuelle Revolution“. Das „Reich der Sinne“? 285

„stellten Sexualität als ein Problem dar, dessen Lösung eine bessere oder andere Sexualität“ war – eine als exotisch mystifizierte ars erotica.86 Zum anderen ging diese Exotisierung sexualisierter Gewalt mit der wachsen- den Popularität von als „asiatisch“ beworbenen „Kampfkünsten“ einher, nicht allein, aber auch in der Bundesrepublik Deutschland.87 Sowohl im Rahmen der ars erotica als auch im Rahmen der sogenannten martial arts wurden Gewaltpraktiken und Selbsttechniken gezielt ineinander überführt – als Ausdruck einer Sinnsuche.

Abb. 10: „Lebendig gefressen“ – „Ekstase“ und „Exotik“ (Links: Filmplakat zu Lebendig gefressen von 1980. Rechts: Filmplakat zu Nackt und zerfleischt von 1980).

Eine besonders stark ausgeprägte Exotisierung sexualisierter Gewalt lässt sich auch im Fall von damals sehr kontrovers diskutierten „Kanni- balenfilmen“ aufzeigen. Dieses Subgenre erfuhr zwischen Mitte der 1970er und Anfang der 1980er Jahre eine kurze, aber heftige Blütezeit – nicht zuletzt in der Bundesrepublik Deutschland.88 Innerhalb der soge- nannten „Kannibalenfilme“ trat eine – ebenso massive wie perfide – Exo- tisierung sexualisierter Gewalt ganz offen zutage. „Ekstase“ und „Exotik“ wurden diesbezüglich lebensbedrohlich ineinander überführt. Nahezu immer bewegte sich diese Form des sexploitation film nämlich innerhalb eines „südostasiatischen“ oder „südamerikanischen“ Kontextes, die „Höl- le der Lust“ war in diesem Fall in der Regel ein undurchdringlicher Re- genwald oder ein abgelegener Inselstrand.

86 Williams, Hard Core, S. 289. 87 Siehe allgemein auch den Beitrag von Marcel Streng im vorliegenden Heft. 88 Vergleiche unter anderem die Softcore-Pornofilme Mondo Cannibale von 1972, Die weiße Göttin der Kannibalen von 1978, Die blonde Göttin der Kannibalen von 1980, Jungfrau unter Kannibalen von 1980, Die Rache der Kannibalen von 1981. 286 Pascal Eitler

Der vielleicht bekannteste „Kannibalenfilm“ stammt aus der interna- tional erfolgreich vertriebenen Black-Emanuelle-Reihe – der Softcore- Pornofilm Emanuelle und die letzten Kannibalen von 1977. Der kontro- vers diskutierteste „Kannibalenfilm“ war allerdings zweifelsfrei der Softcore-Pornofilm Nackt und zerfleischt von 1980, in dem die Gewalt gegenüber nackten oder halbnackten Frauen teilweise so realistisch in Szene gesetzt wurde, dass dieser Film kurzzeitig sogar verdächtigt wur- de, ein sogenannter „Snuff-Film“ zu sein, in dem eine der zahlreichen Nebendarstellerinnen tatsächlich ermordet worden sei – eine „Eingebo- rene“ (Abb. 10).89 Mehr noch als die meisten anderen „Kannibalenfilme“ gab sich Nackt und zerfleischt dementsprechend in manchen Abschnit- ten gezielt einen Dokumentarfilmcharakter, verwackelte Freihandauf- nahmen inbegriffen. Dieser – oftmals vorgespielte – Dokumentarfilm- charakter prägte seit Anfang der 1960er Jahre nicht nur das Subgenre des shockumentary oder auch , der sich – nicht selten rassis- tisch codiert – vor allem vermeintlich fremdartigen Gewaltpraktiken in „Afrika“ und „Asien“ widmete.90 Dieser Dokumentarfilmcharakter zeich- nete insbesondere zwischen Ende der 1960er und Mitte der 1970er Jah- re auch zahlreiche andere Softcore- und Hardcore-Pornofilme aus.91 Er sollte nicht nur die Gewalt der „Täter“, sondern vor allem auch die Ge- fühle der „Opfer“ bezeugen bzw. betonen. Auch die „Kannibalenfilme“ leisteten so gesehen einen Beitrag zum „Selbstverständlichwerden“ der Sexualität in all ihren vermeintlich auch „dunklen“ Facetten. Der sogenannte „Snuff-Film“, über den in der Bundesrepublik Deutschland verstärkt seit Mitte der 1970er Jahre debattiert bzw. spe- kuliert wurde, bediente sich anfangs ebenfalls dieses Narrativs einer Exotisierung sexualisierter Gewalt: Die „Täter“ ermordeten ihre „Opfer“ scheinbar stets in „Südamerika“. Letztlich aber bewegte sich der „Snuff- Film“ insbesondere innerhalb des Narrativs einer Pathologisierung se- xualisierter Gewalt: Die „Täter“ wurden in erster Linie als „Triebtäter“ oder „Serienmörder“ imaginiert und inszeniert. In diesem Rahmen und unter Verweis auf den Marquis de Sade, wähnte ein Artikel in der Konk- ret im „Snuff-Film“ sogar die „Zukunft der Pornographie“. Im „Snuff- Film“ erreiche die „Perversion eine neue Qualität“.92 Bereits 1967 mut-

89 Vergleiche lediglich Gerhold, Von den Entgrenzungen, S. 28; Stiglegger, Ritual, S. 80 u. 188ff. Siehe auch Arno Meteling, Monster. Zur Körperlichkeit und Medialität in modernen Horrorfilmen, Bielefeld 2006, S. 153-176. 90 Vergleiche zum mondo film ganz allgemein von 1962, Mondo di notte – Welt ohne Scham von 1963, von 1966, Gesichter des Todes von 1978. 91 Siehe vor allem Williams, Hard Core. Daran anschließend: Eitler, Produktivität. 92 Hans Christoph Buch, Die Zukunft der Pornographie, in: Konkret 12/1975, S. 52-53, S. 52. Das „Reich der Sinne“? 287 maßte ein Artikel in der Pardon in diesem Zusammenhang über eine schrittweise „Eskalation des Sadismus“ – mit wirklichen „Tätern“ und wirklichen „Opfern“.93 Der dieses Subgenre anfangs prägende Softcore-Pornofilm American cannibale – Snuff von 1976 vermochte die Gewalt gegenüber Frauen teilweise bemerkenswert realistisch in Szene zu setzen. Am Ende des Films, scheinbar bereits nach dem eigentlichen Drehschluss, hält eine Freihandaufnahme angeblich die tatsächliche Ermordung – die Ver- stümmelung und Zerstückelung – einer Frau fest.94 Der vielleicht be- kannteste „Snuff-Film“ stammt jedoch wiederum aus der international erfolgreich vertriebenen Black-Emanuelle-Reihe – der Softcore-Porno- film Black Emanuelle – Stunden wilder Lust von 1977. Auch in diesem Film hält eine Freihandaufnahme – als Film im Film – vermeintlich die tatsächliche Ermordung mehrerer Frauen fest, in Schwarzweiß, ohne Ton und geradezu erschreckend realistisch in Szene gesetzt (Abb. 11).95

Abb. 11: Der „Snuff-Film“ und die „Eskalation des Sadismus“ (Links: Filmplakat zu Ameri- can cannibale – Snuff von 1976. Rechts: Filmplakat zu Black Emanuelle – Stunden wilder Lust von 1977).

Bereits dieser grobe Überblick vermittelt einen Eindruck davon, warum sich zahlreiche Frauen und vereinzelt auch Männer innerhalb der Anti- Pornographie-Bewegung in den 1970er und 1980er Jahren von verge- waltigten, gefolterten, ermordeten Frauen nahezu pausenlos umgeben fühlten, gänzlich unfreiwillig und – darauf kommt es hier an – vollkom-

93 Chlodwig Poth, Mach Dir ein paar schöne Leichen oder die Eskalation des Sadismus, in: Pardon 3/1967, S. 40-41. 94 Siehe auch Seeßlen, Film, S. 270ff. 95 Erst das making-off bewies, dass diese Frauen nicht tatsächlich ermordet wurden. 288 Pascal Eitler men öffentlich. Nach einer Verknüpfung von visualisierter Lust und se- xualisierter Gewalt musste man nicht gezielt suchen, man konnte ihr im „Reich der Sinne“ vielmehr kaum entgehen – um und nach 1968 begeg- nete man ihr nicht erst in bestimmten Zeitschriften oder Filmen, son- dern bereits auf entsprechenden Titelblättern und Filmplakaten, insge- samt weniger innerhalb der Hardcore- als vielmehr innerhalb der Soft- core-Pornographie. Die Gewalt gegenüber Frauen wurde im Vergleich zur Gewalt gegenüber Männern zudem nicht nur meist sehr viel offen- sichtlicher sexualisiert, sondern darüber hinaus auch meist sehr viel ausführlicher dokumentiert. Es geht in diesem Zusammenhang nicht um einen Sentimentalismus des großen Mitgefühls, sondern um einen Positivismus der großen An- zahl: Der vorliegende Beitrag verhandelt diesbezüglich die Brutalisie- rung der Sexualität in ihrer – zwar nicht Omnipräsenz, aber doch – be- merkenswerten Dauerpräsenz in den Massenmedien in der Bundesre- publik Deutschland in den 1970er und 1980er Jahren. Wie bereits deut- lich wurde, gilt es an dieser Stelle keineswegs ein „grobes Missverständ- nis“ zu verzeichnen und noch weniger geht es mir darum, einem – ver- meintlich oder tatsächlich – „naiven Realismus“ das Wort zu reden.96 Der vorliegende Beitrag widerspricht an dieser Stelle jedoch der Auffas- sung, dass die Pornographie lediglich einen „Symptomcharakter“ besitzt und „nicht die Funktion einer Handlungsanweisung in der Realität“.97 Ich werde im Folgenden allerdings nicht – entweder in Übereinstim- mung mit oder aber umgekehrt in Absetzung von der Anti-Porno- graphie-Bewegung – erforschen oder besser erörtern, ob die Pornogra- phie an und für sich Männer zur Gewalt gegenüber Frauen auffordert bzw. nicht auffordert.98 Es sollte meiner Ansicht nach stattdessen sehr viel stärker darum gehen, dass pornographische Texte und Bilder, Pub- likationen und Filme – in einem bestimmten Zeitraum und in einem be- stimmten Zusammenhang – durchaus unterschiedliche Handlungsan- weisungen boten. Die Pornographie um und nach 1968 imaginierte und inszenierte weit mehr als eine „Hölle der Lust“ und die Vorstellung, dass die Frau an und für sich letztlich, unbewusst, heimlich Lust an der dort erfahrenen Ge-

96 So lautet zum Beispiel der Vorwurf von Linda Williams an die Adresse von Andrea Dworkin und die Anti-Pornographie-Bewegung. Vergleiche insbesondere Williams, Hard Core, S. 250 u. 258; Pastötter, Entertainment, S. 79f. 97 Siehe etwa Eberhard Schorsch, Zur Frage von Sexualität, Lust, Angst und Gewalt, in: Eva Dane/Renate Schmidt (Hg.), Frauen und Männer und Pornographie. Ansichten – Absichten – Einsichten, Frankfurt am Main 1990, S. 130-136, S. 131. 98 Vergleiche zeitgenössisch beispielsweise Herbert Selg, Pornographie. Psychologische Beiträge zur Wirkungsforschung, Stuttgart 1986. Das „Reich der Sinne“? 289 walt fände. Pornographische Texte und Bilder, Publikationen und Filme vermittelten ein sehr viel umfassenderes Bild von der Frau als solcher, von ihrem Körper und ihren Gefühlen. Sie vermittelten nicht zuletzt auch – darauf kommt es hier an – ein detailliertes Wissen über spezielle Werkzeuge und konkrete Fähigkeiten, um Frauen diese vermeintlich uneingestandene Lust an der Gewalt sichtbar abverlangen oder scho- nungslos aufzwingen zu können: vom „richtigen“ Schlagen des Hinterns über das „richtige“ Peitschen, das „richtige“ Fesseln, das „richtige“ Wür- gen bis hin zum „richtigen“ Durchstechen der Schamlippen. Gewaltprak- tiken sind Körpertechniken, die wie alle anderen Körpertechniken auch zunächst erlernt werden müssen und sodann immer weiter verfeinert werden können.99 Auch daher rührt die große Bedeutung von Gefangen- schaften im sexploitation film der 1970er und 1980er Jahre – es ging im sexploitation film nicht selten um zeitintensive Körpertechniken des wiederholten Quälens und der fortgesetzten Marter. Die Gewalt gegen- über Frauen bediente sich dementsprechend auch vorrangig Schlag- oder Schnittwaffen. Schlag- oder Schnittwaffen erlaubten es scheinbar besonders gut, den angeblichen Lustgewinn aus einer Gewalterfahrung – für die „Täter“ oder auch die „Opfer“ – genau zu steuern und schritt- weise zu steigern. Auch in diesem Sinne gilt es die Produktivität der Pornographie sehr viel eingehender zu untersuchen – nicht ausschließ- lich, aber allem voran in körpergeschichtlicher Perspektive.100 Einen besonders signifikanten und pausenlos rezitierten Fall stellt in diesem Zusammenhang auch der von Männern unverhohlen erzwunge- ne oder hartnäckig eingeforderte Analverkehr mit Frauen dar. Während etwa der insgesamt unfreiwillige Analverkehr in dem Softcore- Pornofilm Der letzte Tango in Paris von 1972 mit Hilfe von Butter sehr kurzfristig erzwungen wird, wird der letztlich freiwillige Analverkehr in dem international erfolgreich vertriebenen Hardcore-Pornofilm The De- vil in Miss Jones von 1973 unter Verwendung eines butt plug – einer Art von Dildo – eher langfristig vorbereitet. Männer wurden dergestalt überaus anschaulich, aber durchaus unterschiedlich nicht unbedingt aufgefordert zum, aber doch jedenfalls angewiesen im Einsatz von Gleitmitteln oder entsprechenden Dehnungsmaßnahmen – mit oder ge- gen den Willen der Frauen. Nicht der Analverkehr an und für sich zeitigt ein Gewaltverhältnis, wohl aber der in pornographischen Texten und Bildern, Publikationen und Filmen sehr häufig – auch gegen den Willen

99 Siehe auch Marcel Mauss, Die Techniken des Körpers, in: ders., Soziologie und An- thropologie, Bd. 2, Frankfurt am Main 1989, S. 197-220. Vergleiche ausführlicher die Einführung zum vorliegenden Heft. 100 Siehe auch Eitler, Produktivität. 290 Pascal Eitler der Frauen – als jederzeit ausführbar dargestellte und nicht zuletzt auch dadurch als vermeintlich begehrenswert hergestellte. In körpergeschichtlicher Perspektive geht es demnach gerade nicht darum, dass sich die Pornographie als solche in einer „Darstellung von Gewaltverhältnissen“ erschöpft.101 Diese Behauptung ist nach meinem Dafürhalten nicht nur oberflächlich, sondern schlichtweg falsch. Es geht vielmehr darum, gegebenenfalls zwischen durchaus unterschiedlichen pornographischen Texten und Bildern, Publikationen und Filmen und nicht zuletzt auch zwischen Hardcore- und Softcore-Pornographie – we- niger systematisch und kategorial als historisch und konjunkturell – er- kenntnisfördernd zu unterscheiden und die unterschiedliche Rezeption und öffentliche Diskussion der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen stär- ker zu gewichten.

3. „Taten gegen Frauen“? Die Anti-Pornographie-Bewegung (1978-1988)

Der vorliegende Beitrag hat versucht zu zeigen, dass die Kritik aufseiten der Anti-Pornographie-Bewegung am Ausmaß der Darstellung von Ge- walt gegenüber Frauen – nicht ausschließlich, aber insbesondere inner- halb der Softcore-Pornographie – insgesamt schlichtweg zutreffend war. Die Darstellung sexualisierter Gewalt erreichte zwischen Anfang der 1970er und Anfang der 1980er Jahre qualitativ wie quantitativ einen niemals zuvor erreichten Höhepunkt – nicht zuletzt auch insofern die Amalgamisierung von Sexualität und Brutalität gerade nicht nur vielfach die Pornographie auszeichnete, sondern sehr häufig eben auch deren öffentliche Rezeption bzw. entsprechende Interpretation durch – mehr oder weniger belesene und beredete – Akademiker und Journalisten. Meiner Ansicht nach erweist sich jede noch so differenzierte und wohl informierte Debatte über die Subversivität dieser oder jener Darstellung von Gewalt gegenüber Frauen angesichts dessen – zumindest für die 1970er und 1980er Jahre – als fragwürdig und inzwischen auch einfach als langweilig. Die maßgeblich von der Frauenbewegung getragene Anti-Porno- graphie-Bewegung konstituierte und etablierte sich in der Bundesre- publik Deutschland zwischen 1978 und 1988 im Rahmen zweier Kam-

101 Schorsch, Frage, S. 133. Siehe dementsprechend beispielsweise auch Barbara Renchkovsky Ashley/David Ashley, Sexualität als Gewalt. Der pornographische Kör- per als Waffe gegen Intimität, in: Christiane Schmerl u.a. (Hg.), Sexuelle Szenen, Op- laden 2000, S. 116-138. Das „Reich der Sinne“? 291 pagnen, die in erster Linie von der Emma und Alice Schwarzer initiiert und finanziert wurden. 1978 ging es um eine Klage gegen den Stern und mehrere seiner als „frauenverachtend“ bezeichneten Titelblätter (Abb. 4). 1988 ging es um einen Gesetzesentwurf zum Verbot der Produktion und Distribution von Pornographie und die sogenannte „PorNo-Kam- pagne“ (Abb. 12).102 Im Mittelpunkt dieses Gesetzesentwurfs – angeleitet durch einen vo- rangegangenen Entwurf von Andrea Dworkin und Catharine MacKinnon in den Vereinigten Staaten – standen pornographische Texte und Bilder, Publikationen und Filme, innerhalb derer Frauen oder auch Kinder „ge- fesselt, geschlagen, verletzt, misshandelt, verstümmelt, zerstückelt oder auf andere Weise Opfer von Zwang und Gewalt werden“.103 Pornogra- phie wurde begriffen und bekämpft als „Propagierung und Realisierung von Frauenerniedrigung und Frauenverachtung“ – sie „verknüpf[e] un- lösbar Sexualität mit Gewalt“.104 Alice Schwarzer verurteilte Pornogra- phie im Anschluss an Andrea Dworkin auch als den „Versuch einer Ver- hurung aller Frauen“.105 Ein Artikel in der Zeit sprach zu Beginn der „PorNo-Kampagne“ von „immer widerwärtigeren Auswüchsen“ und ei- ner „ungeheuren Eskalation“ der Gewalt gegenüber Frauen.106 Andern- orts war von einer zunehmenden „Brutalität der Pornographie“ die Re- de, der Hardcore- wie auch der Softcore-Pornographie, die nicht allein gegenüber der Darstellung, sondern wohl möglich auch gegenüber der Ausübung von Gewalt „desensibilisier[e]“.107 Pornographie, so Alice Schwarzer, war in diesem Sinne Teil eines weitaus umfassenderen „Geschlechterkrieges“. Männer seien in diesem „Geschlechterkrieg“ die „Täter“, Frauen seien die „Opfer“ – „ob sie wol- len oder nicht“. Die „Kausalität“ zwischen dem Konsum von Pornogra- phie einerseits und der Ausübung von Gewalt gegenüber Frauen ande- rerseits betrachtete die Anti-Pornographie-Bewegung dabei insgesamt als „längst vielfach bewiesen“.108 Bereits 1980 hatte ein Artikel in der

102 Zur Klage gegen den Stern vergleiche die gesammelten Artikel aus der Emma in: Alice Schwarzer (Hg.), PorNo, Köln 1994, S. 11-16 u. 204-245. Siehe auch Bremme, Zerrspiegel. 103 Anon., Der Gesetzesentwurf wird präsentiert in: Emma 12/1987, S. 20-21. 104 Siehe vor allem Alice Schwarzer, Die Begründung, in: Emma 12/1987, S. 22-23, S. 22; dies., Der Gesetzesentwurf von Emma, in: Eva Dane/Renate Schmidt (Hg.), Frauen und Männer und Pornographie, Frankfurt am Main 1990, S. 181-187, S. 183. 105 Alice Schwarzer, Vorwort, in: Dworkin, Pornographie, S. 9-12, S. 11. 106 Margrit Gerste, Gewalt gegenüber Frauen, in: Die Zeit 50/1987, S. 17, ebd. 107 Margrit Gerste, Gefesselt, geschlagen, zerstückelt. Kann ein neues Gesetz die Frau- en vor der Brutalität der Pornographie schützen?, in: Die Zeit 49/1987, S. 34, ebd. 108 Alice Schwarzer, Die Würde der Frau ist antastbar, in: Emma 12/1987, S. 18-19, S. 19; Margit Pahlke, Plastikrosa Ersatzteillager, in: Emma 8/1980, S. 6-7, S. 7. Siehe 292 Pascal Eitler

Emma an dieser Stelle von einem lediglich „kleinen Schritt“ gespro- chen.109 Catharine MacKinnon bezeichnete die Pornographie zum Auf- takt der „PorNo-Kampagne“ sogar als ein „Instrument des sexuellen Fa- schismus“ – es gehe der Anti-Pornographie-Bewegung streng genom- men nicht um Texte oder Bilder, sondern um „Taten gegen Frauen“.110

Abb. 12: „PorNo“ – die Anti-Pornographie-Bewegung (Links: Titelblatt der Emma 8/1978. Rechts: Titelblatt der Emma 12/1987).

In genau diesem Sinne beobachteten zahlreiche Frauen innerhalb der Anti-Pornographie-Bewegung nicht nur Verletzungen von anderen Frauen, sondern fühlten sich als Frauen auch selbst durch die Darstel- lung eben dieser Gewalt verletzt – ausdrücklich auch körperlich. Diese Frauen waren bzw. beschrieben sich in der Konfrontation mit Porno- graphie als „ungeheuer gedemütigt“, sie berichteten von ihren Ängsten und auch Schmerzen, von „Horrorerfahrungen“, „Gefühlen der Hilflosig- keit“ und „Gefühlen des Ekels“.111 Vor eben diesem Hintergrund war nicht nur von „Bildern der Gewalt“, sondern auch von der „Gewalt der Bilder“ die Rede.112

auch Alice Schwarzer, Ganz linker Sex, in: Emma 3/1986, S. 20-25; Anon., Frauen ge- gen Pornographie, in: Emma 10/1987, S. 16-24; Judith Rauch, Die Beweise liegen vor, in: Emma 11/1987, S. 23-26. 109 Pahlke, Ersatzteillager, S. 7. 110 Catharine MacKinnon, Das kalte Herz, in: Emma 10/1987, S. 29-31, S. 31. 111 Vergleiche lediglich Alice Schwarzer im Streitgespräch mit Wolfgang Maier, S. 144; dies., Vorwort, S. 12; Halina Bendkowski, Verschwänzte Ästehtik, in: dies./Rotalsky (Hg.), Wut, S. 106-109, S. 109; Sandra Mosquera, Leserinnenbrief, in: Emma 12/1987, S. 24, ebd. 112 Gisela Breitling, Bilder der Gewalt – Gewalt der Bilder, in: Bendkowski/Rotalsky (Hg.), Wut, S. 110-117. Das „Reich der Sinne“? 293

Unter dem Begriff der Gewalt hat der vorliegende Beitrag eine Verlet- zung des Körpers verhandelt, der Physis und nicht der Psyche, doch muss in körpergeschichtlicher Perspektive stark gemacht werden, dass die vermeintlich klare Grenze zwischen Physis und Psyche stets histo- risch wandelbar und sozial umkämpft war – und nach wie vor ist. Auch aus diesem Grund ist es zuweilen unklar, in welchem Fall eine Verlet- zung des Körpers vorliegt und wie sich eine solche dem „Opfer“, dem „Täter“ oder den Zuschauerinnen und Zuschauern gegenüber äußert. Die Darstellung von Gewalt kann in diesem Sinne durchaus als Aus- übung von Gewalt erfahren werden – je nach Wahrnehmung der Zu- schauerinnen oder Zuschauer kann Gewalt auch dort ausgeübt werden, wo sie scheinbar lediglich dargestellt wird.113 In eben diesem Sinne gilt es die vor allem zwischen Anfang der 1970er und Anfang der 1980er Jahre mitunter geradezu voraussehbaren, pausenlos wiederholten Ver- knüpfungen von visualisierter Lust und sexualisierter Gewalt als „Taten gegen Frauen“ historisch zu begreifen und kritisch zu befragen – als Ausübung von Gewalt nicht gegenüber allen Frauen, wohl aber gegen- über denjenigen Frauen, die von einer Verletzung ihrer Gefühle als einer Verletzung ihres Körpers berichtet haben. Der überaus vielseitige und teilweise erfolgreiche Versuch, die Dar- stellung sexualisierter Gewalt als „revolutionär“ zu beschreiben oder die Werke des Marquis de Sade als „philosophisch“ zu verteidigen und die Pornographie auf eben diesem Wege in ein insgesamt neuartiges Ver- hältnis zur Philosophie zu rücken, sei lediglich, so urteilte Ingrid Strobl, ein „Ablenkungsmanöver“ und letztlich der Versuch, die Brutalisierung der Sexualität dergestalt zu rechtfertigen.114 Jan Philipp Reemtsma kriti- sierte an dieser Stelle 1988 in einem Artikel in der Konkret die seinem Eindruck nach erschreckend weit verbreitete „linke Pornophilie“, Alice Schwarzer sprach nochmals deutlich verächtlicher von einem „ganz lin- ken Sex“.115 Bereits Anfang der 1980er Jahre hatte sich ein Artikel in der Emma in diesem Sinne ebenfalls gegen eine mitunter lautstark bekundete Aneig- nung von Sadismus und Masochismus bzw. Sadomasochismus unter Frauen und auch innerhalb der Frauenbewegung ausgesprochen. Un- verblümt war an dieser Stelle sogar von einer vermeintlich drohenden „sexuellen Konterrevolte“ die Rede.116 Gegen Ende der 1980er Jahre

113 Vergleiche ausführlicher die Einführung zum vorliegenden Heft. 114 Ingrid Strobl, Justine und Justiz, in: Emma 2/1988, S. 32-33, S. 32. 115 Jan Philipp Reemtsma, Porno, die linke Freiheit, in: Konkret 1/1988, S. 10-11, S. 10; Schwarzer, Ganz linker Sex, S. 20. 116 Anon., Die neue Frauenbewegung. Wie geht es weiter, in: Emma 10/1981, S. 32-42, S. 41. 294 Pascal Eitler wurde aus diesem Anlass immer öfter eine „Zersplitterung der Frauen- bewegung“ diagnostiziert bzw. prognostiziert.117 Zwar traten Frauen innerhalb der zeitgenössischen Pornographie sehr viel eher als „Opfer“ und Männer sehr viel eher als „Täter“ in Er- scheinung, doch wurde die Rolle der Gewalt in ihrer Beziehung zur Lust – in ihrer nicht nur objektivierenden, sondern zuweilen auch subjekti- vierenden Bedeutung – schließlich auch innerhalb der Frauenbewegung sehr kontrovers diskutiert.118 In eben diesem Sinne erklärte ein Artikel in der Emma bereits 1982: „Frauen wagen es, die Frage nach lustvoller Gewalt zu stellen.“ An anderer Stelle war in diesem Rahmen von einer neuen „Leibphilosophie“ die Rede.119 Forderungen nach einer neuen, einer vermeintlich „alternativen Pornographie“ von Frauen für Frauen wurden immer lauter – gerade auch im Hinblick auf Hardcore- Pornofilme.120 Mehr als jemals zuvor zielten um und nach 1968 neben vielen Soft- core-Pornofilmen auch viele Hardcore-Pornofilme ebenfalls und insge- samt sogar vorrangig auf die Subjektkonstitution von Frauen, nicht aus- schließlich, aber insbesondere in Hinsicht auf deren pausenlos be- schworene Lust als deren angeblich tiefste Wahrheit – diese galt es in- nerhalb und vermittels der Hardcore-Pornofilme immer detaillierter und immer differenzierter zu entdecken und zu erkunden, zu bekennen und zu beweisen, über den Körper und die Gefühle der Frauen, auch und selbst im Angesicht von Gewalt.121 Viele Hardcore-Pornofilme erzählten – insbesondere zwischen Anfang der 1970er und Mitte der 1980er Jahre – sechzig bis neunzig Minuten lange Entwicklungsgeschichten von Frau- en, die ihre individuelle „Befreiung“ vor allem in ihrer sexuellen „Befrie- digung“ suchten und angeblich auch fanden. Umfassend zu problemati- sieren und kritisch zu befragen gilt es diese Hardcore-Pornofilme dabei weniger im Hinblick auf verschleierte Gewaltverhältnisse als im Hinblick

117 Pamela Selwyn, Bürgerinnenkrieg, in: Bendkowski/Rotalsky (Hg.), Wut, S. 130-137, S. 137. 118 Vergleiche lediglich Claudia Gehrke, Frauen und Pornografie, Tübingen 1989; Co- rinna Rückert, Frauenpornographie – Pornographie von Frauen für Frauen. Eine kul- turwissenschaftliche Studie, Frankfurt am Main 2002. 119 Anon., Lust und Gewalt?, in: Alice Schwarzer (Hg.), Sexualität. Emma Sonderband 3, Köln 1982, S. 88-89, S. 89; Annegret Stopczyk, Leibphilosophie und Pornographie, in: Bendkowski/Rotalsky (Hg.), Wut, S. 118-127, S. 124. Siehe auch Sonia Mikich, Tele- fonat mit de Sade, in: Schwarzer (Hg.), Sexualität, S. 20-22. 120 Anon., Ausschnitte aus der Konferenz unter dem Titel: Das Schweigen ist gebro- chen, in: Emma 1/1988, S. 32-37, S. 34. Vergleiche insbesondere Rückert, Frauen- pornographie. Siehe auch Sabine Lüdtke-Pilger, Porno statt PorNo! Die neuen Por- nographinnen kommen, Marburg 2010. 121 Vergleiche insbesondere Williams, Hard Core. Das „Reich der Sinne“? 295 auf derartige Selbstverhältnisse: Nicht nur Männer, sondern auch Frau- en wurden nunmehr an ihre sogenannte Lust und deren vermeintliche Wahrheit gekettet. Zu Subjekten entwickelten sich Frauen demzufolge vor allem als Objekte der Beobachtung und Vermessung, des Experimen- tierens und Stimulierens.122 Die Anti-Pornographie-Bewegung hat dieses – die Therapeutisierung der Sexualität nicht nur widerspiegelnde, sondern auch weiter voran- treibende – Charakteristikum vieler Hardcore-Pornofilme um und nach 1968 insgesamt verkannt. Alice Schwarzer und andere Referenzfiguren der Anti-Pornographie-Bewegung haben die Therapeutisierung der Se- xualität vielmehr ihrerseits fortgeschrieben, insofern sie beispielsweise davon ausgingen, dass „die Pornographie die Erotik kaputtgemacht“ und Lust an und für sich nichts mit Gewalt zu tun habe.123 Das Phantasma der wechselseitigen Konstitution von sexueller „Befriedigung“ und indi- vidueller „Befreiung“ wurde dergestalt nahezu ungebrochen aufrecht- erhalten. Auch die Anti-Pornographie-Bewegung vermittelte mithin ein umfassendes Bild von der Frau als solcher, von ihrem Körper und ihren Gefühlen. Auch sie kettete Frauen an ihre Lust und grenzte diese Lust unter anderem sogleich dadurch ein, dass sie jede Form des Sadismus oder Masochismus bzw. Sadomasochismus als letztlich „frauenverach- tend“ zurückwies. Eine Brutalisierung der Sexualität lässt sich in den 1970er und 1980er Jahre zwar teilweise auch innerhalb von Hardcore-Pornofilmen be- obachten. Doch weisen diese alles in allem sehr viel weniger Genrever- mischungen auf als Softcore-Pornofilme. Vor allem Filmelemente aus dem Horrorfilm finden sich im Vergleich mit Softcore-Pornofilmen in Hardcore-Pornofilmen eher selten.124 Joseph Slade betonte Mitte der 1980er Jahre zurecht, dass die Gewalt, die in diesem Zeitraum üblicher- weise in Hardcore-Pornofilmen dargestellt wurde, eine „relatively mild aggression“ war.125 Als er unterstrich, dass „only recently has violence made much headway in this genre“, machte er damit allerdings darauf aufmerksam, dass und wie sich Hardcore-Pornofilme allmählich erneut veränderten.126 Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre hörten Hard-

122 Daran anschließend: Eitler, Produktivität. 123 Alice Schwarzer, Der Gesetzentwurf von Emma, in: Eva Dane/Renate Schmidt (Hg.), Frauen und Männer und Pornographie, Frankfurt am Main 1990, S. 181-187, S. 183; Alice Schwarzer, Die Begründung, in: Emma 12/1987, S. 22-23, S. 22. 124 Siehe zum Beispiel – nomen est omen – den eher unbekannten Hardcore-Pornofilm Hardgore von 1974. 125 Joseph Slade, Violence in the Hard-Core : A Historical Survey, in: Journal of Communication 34 (1984), S. 148-163, S. 162. 126 Ebd., S. 149. 296 Pascal Eitler core-Pornofilme immer öfter damit auf, sechzig bis neunzig Minuten lange Entwicklungsgeschichten zu erzählen und gingen stattdessen dazu über, fünf bis zehn Minuten lange Penetrationsorgien aneinander zu rei- hen. Erst innerhalb dieses sogenannten gonzo film wurden Frauen – de- ren Körper und Gefühle – vollauf zur reinen Verfügungsmasse. Ein Hardcore-Pornofilm der 1970er oder 1980er Jahre hat mit einem der 1990er oder 2000er Jahre daher in der Regel kaum noch etwas gemein – die im gonzo film imaginierten und inszenierten Gewaltverhältnisse be- inhalten bzw. berühren die Selbstverhältnisse von Frauen allenfalls noch ganz am Rande.

Pascal Eitler, Kontakt: eitler (at) mpib-berlin.mpg.de. Dr. phil., studierte Geschichtswis- senschaft, Soziologie und Philosophie an der Universität Bielefeld und der E.H.E.S.S. in Paris und ist zurzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Seine Forschungs- schwerpunkte liegen in der Körper- und Emotionsgeschichte des 19. und 20. Jahrhun- derts, in der Politik- und Religionsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland und in der Geschichte von Mensch-Tier-Verhältnissen.

Body Politics 1 (2013), Heft 2, S. 297-321

Das Wundmal im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Horrorvideos und die Herausforderungen des Affekts in den 1980er Jahren Hendrik Pletz

English abstract: The human body poses challenges for society in general and specifically for its media. However, it is often the effect on the viewers’ bodies rather than the moral- ly reprehensible mise-en-scene of the body on screen that fuels debate. This applies par- ticularly to the horror movie genre. The shock experienced while watching a becomes a threat to the inviolability of the viewer’s body and a threat to a socially con- stituted difference between fiction and reality resp. medium and world that is woven into the fabric of society itself. The article deals with the pedagogical discourse on horror vid- eos in the early and booming stage of the video recorder. It demonstrates how the wounds inflicted within the films threatened the audience’s body even more than its moral integrity.

„Begreifen, was uns ergreift“ Emil Staiger

Geschichten wiederholen sich, nicht aber Geschichte. Diese Erkenntnis drängt sich regelrecht auf, betrachtet man die alle Jahre wiederkehren- den Debatten um die Vergleichbarkeit von Massenmorden, Kriegen oder ähnlich unschönen Dingen. Jedes Mal wird aufs Neue das Argument in Anschlag gebracht, dass die Kontexte sich zu sehr unterscheiden wür- den, als dass – abgesehen von quantitativen Zahlen – ein Vergleich sinn- stiftend bzw. politisch-moralisch erlaubt wäre. Ähnlich, wenn auch weitaus weniger brisant, verhält es sich in der Mediengeschichte. Mit dem Auftauchen neuer Medien artikulieren sich Ängste, die potentielle Gefahren im neuen Medium sehen. Eine besondere Spitze finden diese angstbesetzten Diskussionen, wenn es um die Medienwirkungsfor- schung von Gewaltdarstellungen für jugendliche Rezipienten geht. Und so hat Isabell Otto mit ihrer These, dass entsprechende Diskussionen „in exakt der gleichen Weise wieder“1 aufbranden würden, genauso Recht, wie sie Unrecht hat. Es gibt eine Kontinuitätslinie, vom Buch, über Film und Fernsehen bis hin zum Computer, die das Reden über ‚Medienge- walt’ prägt. Die historischen Kontexte, in denen Medien mit der Gesell- schaft in Kontakt traten, wie auch die spezifischen Eigentümlichkeiten

1 Otto, Aggressive Medien, S. 25.

www.bodypolitics.de | urn:nbn:de:gbv:547-201400176 | ISSN 2196-4793 298 Hendrik Pletz eines jeden einzelnen Mediums sind jedoch so verschieden, dass ein wirklicher Vergleich schwer fällt. Der vorliegende Aufsatz widmet sich ebenfalls der Wiederholung, je- doch aus einer gänzlich anderen Perspektive. Er untersucht die Einfüh- rung der Videotechnik, insbesondere des Videorekorders, in den 1980er Jahren. Horrorfilme, KonsumentInnen und Videotechnik werden als ein spezifisches Dispositiv beschrieben, in dem Wiederholung als Ereignis wie auch als Prozess konstitutiv war.2 Ziel ist es, am Beispiel des päda- gogischen Diskurses über Horrorvideos der 1980er Jahre zu zeigen, wie mit der vermeintlichen Bedrohung durch Horrorfilme umgegangen wurde. Der Körper spielte in diesem Kontext eine Schlüsselrolle. Die in die filmischen Körper geschlagenen Wunden sollten nicht auch den Zu- schauerkörper verwunden. Es galt die Körper vor den Affekten und we- niger die Gesellschaft vor der inszenierten Gewalt zu schützen. Nach einer kurzen (medien)theoretischen Reflexion über das Ver- hältnis von Filmen und Körper wird in den historischen Kontext der Vi- deotechnik und die in zeitgenössischen Filmen präsenten Körperinsze- nierungen eingeführt. Daraufhin wird in einer dichten Beschreibung der Horrorvideodiskurs analysiert. Schwerpunkt der Analyse bildet die Thematisierung des eigenen Körpers durch die Diskursteilnehmer bzw. der VideokonsumentInnen. Bevor im abschließenden Kapitel schließlich die pädagogischen Strategien zur Lösung der mit dem eigenen Körper wahrgenommenen Herausforderungen analysiert werden, wird zuvor die Entstehung der Medienpädagogik einleitend beschrieben.

Körper und Medium

Körper sind im medialen Kontext zweifach präsent. Zum einen im Medi- um, das heißt als SchauspielerInnenkörper bzw. als die beschriebene literarische Figur. Zum anderen ‚vor’ dem Medium, das heißt als Zu- schauerInnenkörper bzw. die das Medium konsumierende Person. Diese schematische Zweiteilung, die einen medialisierten respektive diskursi- vierten Körper vom ‚echten’ Konsumentenkörper kategorisch unter- scheidet, ist keinesfalls essentialistisch gemeint. Vielmehr gilt es einen permanenten Austausch beider Ebenen freizulegen, als zwei Seiten ein und derselben Medaille. Um dieses Verhältnis korrekt beschreiben und verstehen zu können, muss das Forschungsdesign der mittlerweile klas- sisch zu nennenden Diskursanalyse dahingehend erweitert werden, dass Diskurse nicht nur in irgendeiner Form zirkulieren, sich wiederholen,

2 Zum Begriff des Dispositivs vgl. Bührmann/Schneider, Vom Diskurs zum Dispositiv; Karis, Massenmediale Eigenlogiken.

Das Wundmal 299

verhandelt werden und schließlich einen Zustand des Gewohnten her- vorbringen. Diskurse artikulieren sich in Medien.3 Diese scheinbar trivi- ale, aber doch allzu oft sehr stark vernachlässigte Tatsache, führt zu ei- nem weiteren Punkt. Medien führen ihre Kommunikationsfunktion nicht alleinig über eine rationale Informationsvermittlung von Sender zu Empfänger bzw. des Kodierens und Dekodierens aus, sondern beruhen ganz massiv auf dem Faktor Emotion. Die Rolle der Emotion für den Me- dienkonsum wird momentan ausgiebig diskutiert.4 Dabei wird immer wieder darauf hingewiesen, dass beispielsweise für das Verstehen eines Films nicht nur rationales Denken, sondern auch emotionales Fühlen vorausgesetzt werden muss. ZuschauerInnenkörper und Schauspiele- rInnen/Filmkörper stehen entsprechend in einem permanenten Zu- sammenspiel und können nicht differenziert voneinander betrachtet werden. Dass der Zuschauer beim Anblick eines Horrorfilms affiziert wird, ist somit weniger ein grundsätzliches, als ein graduelles Differenz- kriterium gegenüber anderen Genres. Linda Williams prägte in diesem Kontext den Begriff der Body Genres.5 Darunter fasst sie Filmgenres, de- ren Eigentümlichkeit es ist, den menschlichen Körper auf besondere Art und Weise zu affizieren. Genauer: Das Body Genre des Horrorfilms lässt sich qualitativ nur über den Affekt bestimmen, das heißt über den Grad, wie es dem Film gelingt, den Körper des Konsumenten anzusprechen, ihn zu gruseln. Mit Deleuze/Guattari kann an dieser Stelle vorsichtig von einer Kör- per-Maschine gesprochen werden.6 Die Körper-Maschine beschreibt erstens die Austauschprozesse zwischen Menschen und Medien, zwei- tens die konstitutive Kraft, die für die Identität beider Seiten mitverant- wortlich ist, und drittens den im Medienkonsum performativ hervorge- brachten dritten Körper, der einen gesellschaftspolitisch prekären Sta- tus besitzt, da er nicht nur situativ und entsprechend vergänglich ist, sondern durch die Relativierung der Dichotomie Realität und Fiktion ei- nen Grundpfeiler westlicher Ideologie in Frage stellt.7 Dazu ein kleiner

3 Vgl. Karis, Foucault, S. 237-239. 4 Einen sehr guten Überblick findet sich in: Hediger/Tröhler, Ohne Gefühl ist das Auge der Vernunft blind. Aus historischer Perspektive sehr interessant: Bösch/Borutta, Die Massen bewegen. 5 Vgl. Williams, Film Bodies. 6 „Nicht mehr geht es darum, Mensch und Maschine zu konfrontieren, um darin die möglichen oder unmöglichen Korrespondenzen, Verlängerungen und Ersetzungen des einen oder des anderen einzuschätzen, vielmehr darum, beide zu verbinden und zu zeigen, wie der Mensch mit der Maschine oder wie er mit anderen Dingen zu einem Stück (einer Einheit) wird, um so eine Maschine zu konstituieren“ (Deleuze/Guattari, Anti-Ödipus, S. 498). 7 Das Verhältnis von Realität und Fiktion bzw. die Infragestellung dieser beiden Seiten ist und bleibt einer der großen Themen der (Medien-)Wissenschaft (vgl. Jerslev, Rea-

300 Hendrik Pletz

Exkurs ins frühe 17. Jahrhundert, genauer gesagt zu William Shakespea- res Hamlet. Shakespeare lässt im zweiten Aufzug seinen Protagonisten über das Theater, seine Schauspieler und das Publikum philosophieren:

„Is it not monstrous that this player here, But in a fiction, in a dream of passion, Could force his soul so to his whole conceit That from her working all his visage wanned, Tears in his eyes, distraction in 's aspect, A broken voice, and his whole function suiting With forms to his conceit? And all for nothing.“8

Die Bewunderung Hamlets für das Können der Schauspieler, ihren eige- nen Körper so zu beherrschen, dass sie auf Kommando weinen können, beinhaltet auch eine beängstigende Komponente. Diese beruht auf zwei Prinzipien. Erstens auf der Infragestellung von als authentisch konzepti- onalisierten Körperzeichen, dem Weinen, und zweitens auf dem mit dem Weinen verbundenen Affektpotential auf das Publikum. Die rheto- rische Frage des „is it not monstrous“ bezieht sich genau auf diese Dop- pelstrategie: die Körperbeherrschung des Schauspielers ist genauso monströs wie die Unmöglichkeit sich als Konsument diesem emotional entziehen zu können.9 Beide Strategien laufen dabei aber auf eine ge- meinsame Pointe hinaus, nämlich auf das Verwischen der Grenze zwi- schen realer und fiktiver bzw. medialer Welt. So wie der Schauspieler durch seine Tränen seine Performance authentifiziert, löst das Publikum durch sein mimetisches Beweinen die Grenze zur Bühne auf.10 Das Monströse bzw. das Monster könnte dann als eine Fähigkeit bestimmt werden, die im medialen Dispositiv festgeschriebenen Positionen unter- läuft, wobei dem Affekt eine besondere Rolle zukommt: Aus ‚heiterem Himmel’ wird aus der Immaterialität der Fiktion ein realer Körperreiz.

lism and ‚Reality’; Baum/Schmidt, Fakten und Fiktionen; Cuntz et al, Die Listen der Evidenz). Ohne dies an dieser Stelle befriedigend zusammenfassen zu können, ist eine in gewisserweise paradox erscheinende Konstellation zu vermerken. Wird auf der medienwissenschaftlichen Seite für ein störungsfreies Funktionieren die Unsichtbarkeit des Mediums postuliert (vgl. Winkler, Basiswissen Medien, S. 299- 312), fühlt sich die Gesellschaft durch eine Vorstellung der Verwechslung von Realität und Fiktion bedroht (vgl. bspw. von Hentig, Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit). 8 Shakespeare, The Tragedy of Hamlet, 2.2.553-559. 9 Vgl. ebd., 3.2.1728-1772; Dem Monster und dem Monströsen widmet sich seit 2011 die Fachzeitschrift „Monsters and the Monstrous“. Zum medientheoretischen Gehalt des Monströsen bzw. des Monsters vgl. Meteling, Monster. 10 Vgl. Döring, Mimetisches Beweinen.

Das Wundmal 301 Körper/Maschine – Realität/Fiktion

Von einem solchen Zugang aus wäre dann auch das pädagogische Inte- resse an dieser Figur erklärbar. Indem das Monster in seinen jeweiligen Medien stets droht, die Grenzen des Realen respektive des Fiktiven zu überschreiten, ist ihm auch subversives Potential zu unterstellen, wel- ches insbesondere die vom Diskurs als naiv gesetzten Nutzer, die Ju- gendlichen, manipulieren kann. Es gilt das monströse Affektpotential, das in immer wieder neu aufkommenden Medien die ihnen inhärente Demarkationslinie in Frage stellt, im Sinne eines pädagogischen Gesell- schaftsauftrags in Schach zu halten.

Abb. 1: „Horror-Video. Blutrausch im Kinderzimmer“, Titelbild, Der Spiegel, 12.3.1984.

Der Videorekorder entfachte diese Diskussion nun ein weiteres Mal. Dies lag selbstredend aber weniger an der Technik, als daran, dass diese Technik eine bis dato nie dagewesene Möglichkeit darstellte, Filme in ungeheurer Zahl auf den Markt zu bringen. Im Gegensatz zum Kino, das nur eine bestimmte Anzahl von Filmen während eines sehr eng gefass- ten Zeitraums anbieten konnte, war Video ein Distributionskanal, der diese Begrenzung ein für alle Mal auflöste. Doch dies ist nur ein Teil der Geschichte. Mit dem Videorekorder erreichten auch Produktionen den Markt, die zuvor gar nicht oder lediglich in Spartenkinos, wie beispiels- weise Pornokinos, zu sehen waren. Mit dem parallelen Aufkommen und

302 Hendrik Pletz der dann flächendeckenden Verbreitung der Videotheken, konnte mit Beginn der 1980er Jahre plötzlich jeder Mensch sich die Filme seiner Wahl anschauen.11 Martial Arts-, Kannibalen-, Ninja-, Horror-, Porno- oder Kriegsfilme füllten die Regale der Videotheken und fanden gerade in der Anfangsphase der Videotechnik enormen Zuspruch. Dies löste ei- ne panikartige Debatte aus, die zwischen dem Untergang des Abendlan- des und radikalen Zensur- und Verbotswünschen oszillierte (Abb. 1).12 Besonders umstritten waren Filme, die explizite Gewalt zeigten. Dass das Monster, welches zumeist durch den Zombie repräsentiert wurde, in der Videodebatte der 1980er Jahre, entgegen anderen Filmen mit ge- waltsamen Inhalt, eine exponierte Rolle einnahm, veranschaulicht eine Tabelle aus einer der zahllosen pädagogischen Studien dieser Zeit (Abb. 2).

Abb. 2: Henningsen/Strohmeier, Gewaltdarstellungen auf Video-Cassetten, S. 6.

Die Tabelle schlüsselt die von der Bundesprüfstelle für jugendgefähr- dende Schriften indizierten Videofilme nach Genres auf und stellt dabei den Zombiefilm an die Spitze. Diese Positionierung legitimiert sich inte- ressanterweise aber nicht quantitativ. Würde man die Tabelle dement- sprechend sortieren, müsste das Zombie-Genre an der vorletzten Stelle zwischen ‚Kung Fu’ und ‚Rassendiskriminierung, NS- und Kriegsverherr-

11 Den immer noch besten deutschsprachigen Überblick über diese Entwicklung liefert: Zielinski, Zur Geschichte des Videorecorders, S. 199-314; vgl. Marlow/Secunda, Shifting Time and Space; Levy, The VCR Age; Ganley/Ganley, Global Political Fallout; Wasser, Veni Vidi Video; Haupts/Schröter, Die Videothek; Greenberg, From Betamax to Blockbuster. 12 Vgl. Kniep, Keine Jugendfreigabe, S. 277-341. Beispielhaft für die Debatte: Reß, Die Faszination Jugendlicher am Grauen; Hell, Gefährdung durch Video; Scarbath, Videokonsum und pädagogische Verantwortung; Glogauer, Videofilm-Konsum; Henningsen/Strohmeier, Gewaltdarstellungen auf Video-Cassetten. Aber nicht nur in der Bundesrepublik fand eine solche Debatte statt. Unter dem Schlagwort der „Video Nasties“ vollzog sich in Großbritannien eine große Zensurwelle von auf Video erhältlichen Filmen (vgl. Bryce, Video Nasties).

Das Wundmal 303

lichung’ angesiedelt werden. Durch diese Hervorhebung kam dem Mons- ter die Rolle des pädagogisch besonders Fragwürdigen zu. Neben der konkreten Gewalt zeichneten sich die Filme auch durch ei- ne neuartige Ästhetik aus. Durch Großaufnahmen von Wunden drang der Zuschauer in die filmischen Körper regelrecht ein. Diese Wundäs- thetik, die gemeinhin mit dem sogenannten Splatter-Film in Verbindung gebracht wird, ein Genre, das sich in den 1980er Jahren erst etablierte,13 war aber nicht nur im Horrorfilm präsent. Zerplatzende Köpfe, detailge- treu abgetrennte Arme und die Entnahme von Innereien bei vollem Be- wusstsein finden sich auch in Filmen, die weder dem Horrorgenre noch einer anderen Nischenproduktion entstammen. Blockbuster mit Arnold Schwarzenegger, wie zum Beispiel CONAN DER BARBAR (USA 1982) oder RUNNING MAN (USA 1987) arbeiten mit Bildern, die durch Wundästhetik gekennzeichnet sind. Helmut Hartwig beschreibt 1986 in seinem Buch über „Horror und Faszination in alten und neuen Medien“ das Verhältnis von blutiger Gewalt und Affekt mit Bezug auf den Film INDIANA JONES UND DER TEMPEL DES TODES (USA 1984) folgendermaßen:

„Als ich den Film das erste Mal gesehen habe, ist mir tatsächlich körperlich fast übel geworden. Ich sage fast, weil ich mich nicht wirklich übergeben habe, aber überwäl- tigt wurde von einem Gefühl, das so körperlich war, wie es eine Mischung aus Angst, Ekel, Wut, falschem Verständnis und ohnmächtigem Protest halt ist. Ich hatte jede Distanz verloren. Mein Wissen um Sinn, Zweck und Mittel dieser Ästhetik, um ihre Aufdringlichkeit und Leere war gefährlich weg, unbrauchbar, für länger als einen Augenblick.“14

Die Wundästhetik brachte das Wissen des Autors über das Verhältnis von Mensch zum Medium ins Wanken. Er „hatte jede Distanz verloren“, jene Distanz, die die Grenze zwischen Fiktion und Realität, zwischen ihm und dem Medium gewährleistet. Interessanterweise thematisieren zahl- reiche Horrorfilme auf unterschiedliche Art und Weise diesen Punkt. Selbstreflexiv bildet sich der filmische Plot aus der Auflösung der media- len Grenzen bzw. der dispositiven Anordnung des Mediums.15 Ein gutes Beispiel ist der Film IM AUGENBLICK DER ANGST (Spanien 1987). Auf der Videokassettenhülle wird er folgendermaßen beschrieben:

13 Vgl. Köhne et al, Einleitung. 14 Hartwig, Die Grausamkeit der Bilder, S. 7. 15 Vgl. Engell, Die genetische Funktion des Historischen, S. 52-54. Lorenz Engell beschreibt in einem sehr lesenswerten medientheoretischen Aufsatz das Werden eines Mediums. Jedes Medium komme, so Engell, ab einem bestimmten Punkt in seiner Entwicklung in die Phase der Selbstreflexivität. In meiner Dissertation werde ich ausführlich auf das Phänomen der Selbstreflexion von Filmen und ihrem Verhältnis zur Videotechnik und der Epoche der Postmoderne eingehen.

304 Hendrik Pletz

„Für Patty (Talia Paul) soll der Kinobesuch zum Alptraum werden, der sie niemals loslassen wird. Denn etwas Unheimliches geht von dem Film aus, dessen Handlung das Mädchen in Schrecken versetzt... Unter dem Bann einer zwergwüchsigen Frau (Zelda Rubinstein) sperrt ein Arzt (Michael Lerner) Menschen in das Kino ein und sticht ihnen die Augen aus. Patty spürt den Schmerz in der Pupille – und sie weiß, dass der Mann neben ihr im Kino unter Zwang den Befehlen im Film folgen wird. Wie der Arzt, steht auch er unter Hypnose, und killt. Eine bizarre Situation entsteht. Das Kino – so wie das Kino im Kino – wird zur Horror-Bühne... Und im Augenblick der Angst wird Fiktion zur Realität und Realität zur Fiktion. Ein Entrinnen ist un- möglich.“16

David Cronenbergs Film VIDEODROME (USA 1984) geht noch ein Stück weiter. Der Film erzählt von einem Piratensender namens Videodrome mit gewaltpornografischem Programm. Der Hauptrolle Max wächst durch das Schauen des Senders ein Gehirntumor, der ihn zu halluzinie- ren beginnen lässt. Innerhalb dieser Halluzinationen entsteht in Max Bauch eine vaginaartige Öffnung. In einer der intensivsten Szenen des Films wird in einer Großaufnahme diese Öffnung durch eine Videokas- sette penetriert – Körper und Medium sind eins geworden (Abb. 3).

Abb. 3: Videodrome (Regie: David Cronenberg, USA 1983), Screenshot.

16 Im Augenblick der Angst, Videothekenkassettenhülle. Vertrieb: VCL/Virgin Commu- nications GmbH, München, 1988.

Das Wundmal 305

Das verletzte Publikum

Isabell Otto spricht in ihrer Arbeit über die diskursiven Formationen des Mediengewalt-Begriffs davon, dass eben dieser Begriff der Medienge- walt „nicht allein die dargestellte Gewalt meint, sondern schon eine ab- kürzende Verdichtung ist, also Wirkungsthesen impliziert“.17 Diese be- griffliche Verdichtung bezeichnet sie im Anschluss dann als „Kurz- schlussformel“.18 Die Rationalität des Mediengewalt-Diskurses impli- ziert aber nicht nur Aussagen zur Wirkung, sondern ganz besonders auch einen pädagogischen Handlungsauftrag.19 Dieser Handlungsauftrag legitimierte sich im speziellen Fall der Vide- otechnik durch den Affekt, also die körperliche Schockerfahrung der Konsumentinnen und Konsumenten. „So lange ich zurückdenken kann, zogen Schauermärchen mich magisch an. So war ich der festen Überzeu- gung, dass auch die neueren Horrorfilme mir keine allzu großen Schwie- rigkeiten bereiten würden.“ Mit diesen Sätzen betont Elmar Reß, einer der vielen Autoren in der Videodebatte, im Vorwort seiner Dissertation seine biografische Kompetenz und lässt dabei den Leser nicht sonderlich subtil erahnen, was nun folgt: „Doch die intensive Auseinandersetzung mit dem Genre des modernen Horrorfilms führte mir vor Augen, dass dieses Thema [...] im wahrsten Sinne des Wortes ‚zum Kotzen’ ist.“20 Reß, nach eigenen Angaben ein abgebrühter Fachmann in Sachen Schauergeschichten, kapitulierte damit sowohl vor der medialen Diffe- renz als auch ganz besonders gegenüber dem eigenen Körper. Genauer: Die Überwältigung des Körpers durch die Filme machte ihm die mediale Differenz bewusst und führte ihn ein paar Zeilen später zu der weiteren Annahme, dass die Filme gefährlich, ergo zu verbieten seien. Der affektive Schock fand darüber hinaus aber auch bewusst als Über- zeugungsstrategie seine Anwendung. So hob das Begleitbuch des ab 1985 durch die Bundeszentrale für politische Bildung vertriebenen Films PRÄDIKAT: BESONDERS GRAUSAM, die im Film angewandte Strategie des körperlichen Schocks deutlich hervor. Durch die Präsentation zwei-

17 Otto, Aggressive Medien, S. 27. 18 Vgl. ebd. 19 Im Laufe der 1980er Jahre versachlichte sich die Diskussion um Video. Eine Trierer Forschungsgruppe um den Soziologien Roland Eckert veröffentlichte 1991 eine Ende der 1980er Jahre durchgeführte Studie, die endgültig den Mythos des psycho- pathischen und verwahrlosten Videokonsumenten verabschiedete. Die Gruppe beschreibt sehr eindrücklich die Beweggründe und Konsumpraktiken von Horror- und PornofilmkonsumentInnen. Die Rolle des Affekts wird in dieser Studie immer wieder betont (Vgl. Eckert et al, Grauen und Lust; siehe auch: Vogelgesang, Jugendliche Video-Cliquen; Nikele, Horrorfilm als kultisches Phänomen). 20 Reß, Die Faszination Jugendlicher am Grauen, S. VII.

306 Hendrik Pletz er Szenen aus dem Film MAN-EATER (Italien 1980) sollte beim Publikum die „Erzeugung von Angst [...] durch ekelerregende Darstellung“21 erzielt werden. Die Selbsterfahrung von Ekel und Angst wird zur Grundlage des elterlichen erzieherischen Auftrags.22 Die im Juni 1984 im ZDF ausge- strahlte Dokumentation MAMA PAPA ZOMBIE geht einen ähnlichen Weg.23 Die Doku ist ebenfalls an ein erwachsenes Publikum gerichtet, was auch explizit in der Anmoderation betont wird. Das Verfahren der Erwachse- nenbildung wird aber nicht nur in der Adressierung der Erziehungsbe- rechtigten verfolgt, sondern auch in der Dokumentation selbst drama- turgisch umgesetzt. Finaler Höhepunkt der Doku ist ein Elternabend ei- ner vierten Schulklasse. Bei diesem wird der Film EIN ZOMBIE HING AM GLOCKENSEIL (Italien 1980) gezeigt, der neben MUTTERTAG (USA 1980) und TANZ DER TEUFEL (USA 1981) besonders in der Kritik stand. Zeitgleich zu den Eltern wird dem Zuschauer ein best of der vermeintlich brutalsten Szenen präsentiert. Die Eltern, welche den gesamten Film geschaut ha- ben, sind entsetzt. Und schon während der Filmvorführung wird immer wieder kurz auf die zu Salzsäulen erstarrten Eltern geschnitten. In der anschließenden Diskussion belassen es die Erziehungsberechtigten des- halb auch in keiner Weise beim Echauffieren über die Gewalt selbst, sondern führen zuerst immer ihren eigenen Körper als Messsonde für das soeben Gesehene und Unfassbare an. Schon die Eingangsfrage zur Eröffnung der Diskussion zielt hierauf ab. Man solle mitteilen, „wie der Film [...] gewirkt hat“. Darauf die Antworten: „Ich kann nur sagen wie ich mich fühle und was es in mir ausgelöst hat. Schweißnasse Hände, es läuft mir kalt den Rücken runter, die Schläfen pochen und das Herz klopft.“ Eine andere erschütterte Mutter ergänzt: „Mir geht es auch dre- ckig.“ Immer wieder wird dabei auf die auf sie zukommende Schlaflosig- keit hingewiesen und ein Vater weiß sich nur über gezielte Medikation seines Körpers zu helfen: „Ich kann heute gar nicht schlafen. Ohne Bier ist da, glaube ich, gar nichts zu machen.“ Damit bildete sich der Videogewaltdiskurs in einer komplexen Ge- mengelage, die aus den eigentlichen Horrorfilmen, den Diskursen um diese Filme und um die Affizierung menschlicher Körper durch diese Filme bestand. Diese als Schock wahrgenommenen Affizierungen wur- den dabei zwar durch ein Medium ausgelöst, selbst aber von den ‚Op-

21 Bundeszentrale für politische Bildung, Von einem, der auszog, das Gruseln zu lernen, S. 64. 22 Es ging keineswegs darum, die jugendlichen Konsumenten von der ‚Falschheit’ ihres Handelns zu überzeugen. Der besagte Film war und ist es bis heute durch das Einspielen der MAN-EATER Szenen auch gar nicht freigegeben für Jugendliche unter 18 Jahren. 23 Die Dokumentation kann im Internet angeschaut werden: http://www.dailymotion. com/video/x4td3_mama-papa-zombie_news (01.07.2012).

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fern’ nicht als medial vermittelt, sondern als originelle Verletzung des körperlich-identitären Selbst wahrgenommen. In der Imagination der Konsumenten, in welcher der Körper als Ort einer authentischen Erfah- rung verstanden wird, üben die Filme nicht fiktive, sondern reale Gewalt aus. Da es nicht möglich scheint, sich von der inszenierten Gewalt ratio- nal zu distanzieren, sondern man stattdessen von dieser ergriffen wird, muss diese auch real, sprich gefährlich sein. Der Affekt authentifiziert die Fiktion, indem sie sich im Körper materialisiert. Die filmische Kör- per-Maschine erreicht durch den Horrorfilm eine neue Qualität. Das Interessante ist, wie zentral diese Schockerfahrungen für den Vi- deodiskurs wurden, sich in ihn einschrieben und diskursiviert wurden. Wie Hamlets Sprechen von der Monstrosität des Gesehenen respektive Inszenierten andeutet, darf das Verhältnis von Monster, Zuschauer und Affekt allerdings nicht erst in diesem final scheinenden letzten Schritt als diskursiv verfasst beschrieben werden. Vielmehr wäre anzunehmen, dass dieses Verhältnis selbst einer historisch bedingten diskursiven Ordnung unterliegt. Die Doku MAMA PAPA ZOMBIE arbeitet in diesem Kontext mit dem selbstreflexiven Potential des Films EIN ZOMBIE HING AM GLOCKENSEIL, der auf eigentümliche Art und Weise die Blick-Angst-Konstellation selbst aufnimmt: Beim Anblick des Zombies, erstarren seine Opfer und sterben schließlich, indem sie ihre eigenen Eingeweide erbrechen. Und genau dieses zeigt die Dokumentation. So wird hier nicht nur eine Schuss- Gegenschuss Situation (re-)inszeniert, die die Blicke von Zombie und seinem filmischen Opfer gegeneinander schneidet, sondern diese auf ein Dreieck erweitert. Indem zusätzlich noch die Blicke der Eltern eingefügt werden, wird die Botschaft vollständig: So wie die Opfer im Film vor Angst sterben, wird es auch den Kunden der Horrorware ergehen. Dabei galt die Befürchtung weniger einem Tod durch Angst, als einem möglichen Vorbildcharakter für jugendliches Handeln. Die ‚Gewaltvi- deos’, so die immer wieder auftauchende Bezeichnung im Diskurs, besä- ßen nicht nur eine moralisch fragwürdige Aussage, sondern es komme ihnen auch eine Vorbildfunktion zu, die für die Jugendlichen selbst, wie auch für die Gesellschaft, ein unkalkulierbares Risiko implizieren würde. Diese imaginierte Kausalität zwischen Vorbild und Nachahmung bringt ein Plakat des Jugendamtes Köln beispielhaft auf den Punkt. Unter der Überschrift „Kinder lernen schnell!“ sieht man eine Fotomontage, die ei- ne Dopplung einer Hinrichtung eines Jugendlichen zum Thema hat: im Hintergrund das ‚Original’ eines „Horror-Videos“, im Vordergrund die Nachahmung in der ‚Realität’. Das Spiel mit Realität und Fiktion bzw. die Androhung der Auflösung einer solchen Grenze wird durch einfache wie wirkungsstarke Strategien vollzogen. Während das ‚Original’ im Hinter-

308 Hendrik Pletz grund durch einen medialen Rahmen, der an ein Fernsehgerät erinnert, gebannt wird, verzichtet die Szene im Vordergrund auf solche Relativie- rungen. Die dadurch erzeugte Suggestion medialer Mimesis, wird schließlich durch eine Fotomontage perfektioniert: Das mordende Monster des Horrorfilms ist durch einen Jungen ersetzt.

Abb. 4: „Kinder lernen schnell!“, Plakat, Jugendamt Köln (wahrscheinlich 1984). Aus: Jugendfilmclub Köln, Herausforderung Video, Heft 4, S. 33.

Zurück zur Dokumentation. Im Anschluss an die Elternabendsequenz holt sie zu einem letzten argumentativen Schlag aus. Es folgt eine Textta- fel, ein fernsehhistorisch zwar recht erstaunliches Stilmittel, das im Lau- fe der Dokumentation aber schon mehrmals benutzt wurde. Geschrie- ben liest man dort, wobei das Geschriebene ergänzend noch von einem Sprecher vorgelesen wird: „Klartext [gesprochen abweichend: Im Klar- text heißt das]. Die Verteufelung des Mediums bietet keine Lösung, mit Verboten allein ist es nicht getan. Kinder und Jugendlichen müssen zum kritischen Umgang mit Fernseher, Recorder und Kamera erzogen wer- den.“24

24 Schon Adorno sprach sich für eine Pädagogik aus, die es zum Ziel hat, die Ideologie der Kulturindustrie durch Aufklärung zu entschleiern, vgl. Adorno, Erziehung zur Mündigkeit, S. 145-146. Er spricht hier von einer „Erziehung des ‚Madigmachens’“.

Das Wundmal 309

Und so folgt auf die Texttafel auch ein Beispiel vermeintlich gelungener Medienpädagogik.

Die Erziehung mündiger Mediennutzer

Die Medienpädagogik war als Disziplin spätestens seit Ende der 1970er Jahre in einer neuen Situation; oder, wie es die Landeszentrale für Politi- sche Bildung Baden-Württemberg nennt, „im Umbruch“.25 Dies lag nicht zuletzt an zwei Phänomenen. Zum Ersten bot die Videotechnik ein neues pädagogisches Werkzeug, welches es erstmals ermöglichte, für relativ wenig Geld Filme selbstständig zu drehen. Zweitens forcierte sich zu diesem Zeitpunkt ein allgemein angelegter medienkritischer Diskurs. Wird Ersteres im Folgenden diskutiert, soll der zweite Punkt zuvor grob skizziert werden. Als ein wichtiges Ereignis muss hier die Markteinfüh- rung der sogenannten ‚Neuen Medien’ genannt werden. Denn nicht nur der Videorekorder wurde seit Ende der 1970er Jahre der Öffentlichkeit zum Kauf angeboten, sondern auch viele andere Geräte, die alle unter dem Stichwort ‚Neue Medien’ gehandelt wurden, beherrschten immer mehr die Internationalen Funkausstellungen.26 Diese Innovationen for- cierten eine gesamtgesellschaftliche medienkritische Debatte. Die Ar- gumente der Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er Jahre aktualisier- ten sich in einer dichten Gemengelage mit dem Videodiskurs der 1980er Jahre.27 Und auch die Pädagogik entzog sich nicht ihrer gefühlten Ver- antwortung und wurde so zum wichtigen Bestandteil des Diskurses. So

25 Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg, Medienpädagogik im Umbruch; Die Fachzeitschrift medienconcret – Magazin für die medienpädagogische Praxis bestätigt in ihrem Themenheft aus dem Jahr 2006 diesen Einschnitt. So lautet der Hefttitel: Retro-Perspekiven. 30 Jahre Medienarbeit mit Kindern und Jugend- lichen. Dabei geht es besonders um die Geburtsstunde des Kölner Jugendfilmclubs (JFC) im Jahr 1976. Kritisch könnte eingewendet werden, dass die HerausgeberInnen der Zeitschrift der Nachfolgeinstitution, dem JFC Medienzentrum Köln, angehören und dass sie demnach eine Gleichsetzung von Institutions- und Disziplingeschichte zu Gunsten ihres eigenen Jubiläums vollziehen. Dagegen wäre zu argumentieren, dass die Gründung des JFC nicht einer historischen Zufälligkeit geschuldet ist und es demnach möglich ist, an Hand der Geschichte des Clubs auch die Geschichte der Medienpädagogik zu schreiben; Müller, Zur Entstehungsgeschichte der Medienpä- dagogik. 26 Die Bekanntesten sind dabei neben dem VCR, die Bildplatte – ein gescheitertes Medium, welches heute seinen nachträglichen Sieg mit DVD und Blue-Ray feiert –, BTX, Kabel- und Sattelitenfernsehen und natürlich auch der PC. 27 Eine vollständige Literaturliste würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Auch mangelt es bis jetzt an einer detaillierten Studie zu diesem Thema. Beispielhaft wäre zu nennen: Betz/Holzer, Totale Bildschirmherrschaft; Zielinski, Tele-Visionen; Eurich, Das verkabelte Leben.

310 Hendrik Pletz bot ab 1987 das Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (FWU) eine vierteilige Serie über die Neuen Medien den verschiedenen pädagogischen Institutionen zum Verleih an, welche laut Cover unter anderem das Lernziel verfolgte, „Impulse zu medienkritischer Reflexion [zu] erhalten“.28 Ebenso machte diese Kritik nicht vor dem alteingeses- senen Leitmedium des Fernsehers halt. Neben einer fast schon klassisch zu nennenden Ideologiekritik, wie dem FWU-Vierteiler DALLAS, DENVER UND DIE FOLGEN29, ging es hier immer wieder darum, dem Fernsehen sei- ne Glaubwürdigkeit abzusprechen. In unterschiedlichsten Varianten wiesen FWU-Filme auf den Konstruktionscharakter der filmischen Ima- gination hin. Schritt für Schritt sollte den Schülerinnen und Schülern „ein ABC für Zuschauer“30 beigebracht und die Idee eines Fensters zur Welt entzaubert werden.31 Das Verhältnis von Mensch und Medien wird innerhalb eines pädago- gischen Imperativs auf vier Weisen organisiert, wobei selbstredend nur selten Reinformen, sondern in den unterschiedlichen Kontexten zumeist lediglich Hybride dieser Mensch-Medien Konfigurationen auszumachen sind. Die erste und bekannteste und sicherlich auch verbreitetste Variante ist das Medium als Aufklärungswerkzeug. Die Spannbreite reicht hier von schulischen Aufklärungsfilmen über Industriefilme bis hin zum Er- ziehungsauftrag der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten. Die Kon- sumentin und der Konsument werden in dieser Form als Lernende kon- zipiert: Via Medienkonsum soll ein Mangel an Spezialwissen bzw. mora- lischer Integrität behoben werden. Eine zweite Variante in der pädagogischen Mensch-Medien Beziehung ist die der eben schon erwähnten Medienkritik. Hier wird der Konsu- ment nicht eindimensional als passives und zu belehrendes Wesen ver- standen, sondern in ein komplexeres Verhältnis zu seinem Gegenstand gestellt. Zwar geht es ebenso um das Ziel, einen Mangel, nämlich die Na- ivität gegenüber der Ehrlichkeit der Medien, zu beheben. Allerdings

28 Die einzelnen Teile heißen: Was ist denn so neu daran?, FWU-Nr. 4200517; Bilder aus dem Telefon, FWU-Nr. 4200518; Fernsehen aus der Schüssel, FWU-Nr. 4200519; Schöne neue Medienwelt, FWU-Nr. 4200520. Die zitierte Textstelle ist in allen vier Begleitheften unter dem Punkt „Lernziele“ zu finden. 29 Die 1988 veröffentlichten einzelnen Teile heißen: Familienserien und kein Ende, FWU-Nr. 4201053; Wie das ‚Leben’ so spielt, FWU-Nr. 4201054; Alles schon mal dagewesen, FWU-Nr. 4201055; Die ‚Helden’ werden vermarktet, FWU-Nr. 4201056. 30 Das Zitierte entstammt dem Titel eines ‚populärwissenschaftlichen’ Aufklärungs- buches aus dem Jahr 1971, vgl: Knilli/Reiss, Einführung in die Film- und Fernseh- analyse. 31 Vgl. ‚Hab` ich schwarz oder hab` ich weiß gesagt?’, FWU-Nr. 4200512; Ein Film – Drei Einstellungen; FWU-Nr. 4200515; Filmsprache, FWU-Nr. 04200784; Wie informiert das Fernsehen?, FWU-Nr. 4278043.

Das Wundmal 311

wird dadurch gleichzeitig (wenn auch nicht notwendig bewusst) ein Un- terlaufen der eigenen sinnstiftenden Ordnung in Kauf genommen. Die Selbstreflexivität der Kritik stellt das Medium in Frage, durch welches die Kritik artikuliert wird.32 Die dritte Variante ist innerhalb der Wissenschaftsdisziplin Pädagogik selbst zu suchen. Hier geht es um das weite Feld der Medienwirkungs- forschung. Schon Platon attestierte einigen Sagen und Geschichten einen schlechten Einfluss auf den Menschen. Gerade Kinder und Jugendliche, und damit ist Platon tagesaktuell, werden in diesem Kontext als beson- ders beeinflussbar angenommen. „Denn der junge Mensch kann nicht beurteilen, was Sinnbild ist und was nicht, sondern was er in diesem Al- ter als Glaube erfasst, das pflegt er unauslöschbar und unverändert zu bleiben.“33 Geht es bei Platon besonders um die charakterlich- moralische Redlichkeit der Heranwachsenden, wird dieses Feld in den 1980er Jahren und auch heutzutage immer wieder – man erinnere sich an die Debatten um den Zusammenhang von Computerspielen und Amokläufen34 – auf die konkrete Praxis, sprich der Nachahmung der fil- mischen Gewalt, erweitert. Die vierte und letzte Variante medienpädagogischer Praxis ist die Förderung mehr oder weniger eigenständiger Produktionen. Und hier- für war gerade die Videotechnik die entscheidende Innovation. Zu rela- tiv niedrigen Preisen konnte von nun an jedermann Filme drehen bzw. es konnten pädagogisch geleitete Filmclubs gegründet werden. Dabei ging es allerdings nicht notwendig um das Erlernen einer reflektierten Mediennutzung, sondern oft auch um eine Form der Beschäftigung, die in dem Ziel einer sinnvollen Freizeitgestaltung vollkommen aufging. Nicht selten ging es darum, den Jugendlichen ein Werkzeug an die Hand zu geben, ihre alterstypischen Probleme reflektieren zu können. In dem im Jahre 1982 veröffentlichten Erfahrungsbericht des deutschlandweit ersten langfristigen Videoprojekts „Lurens“ (für Nicht-Kölner „Guck mal“), welches 1979 im Rahmen des Kölner Jugendfilmclubs ins Leben gerufen wurde, klingt dies folgendermaßen: „Unter dem LURENS-Motto: ‚Wir machen unser Programm selbst’ berichten die Jugendlichen in ih- ren Filmen über ihr Leben im Viertel, ihre Schüler- und Lehrlingssituati-

32 Gerne wird dieses Problem dadurch gelöst, dass die Kritik an einem Medium, wie z.B. dem Film oder dem Fernsehen, in einem anderen Medium, nämlich der Schrift bzw. der Sprache vollzogen wird. In anderen Fällen jedoch, also in jenen wie sie in den zuvor erwähnten FWU-Filmen anzutreffen sind, sieht die Lage anders aus. Hier wäre vorsichtig im Anschluss an Jacques Derrida von Dekonstruktion zu sprechen, wobei es in den FWU-Filmen nie um ein radikales Infragestellen eines allgemeinen Wahr- heitsbegriffs geht. 33 Platon, Der Staat, 378d-e. 34 Vgl. Otto, Aggressive Medien, S. 13-26.

312 Hendrik Pletz on, ihre Freizeit, ihre Musik, ihre Erfahrungen in der Mädchengruppe, ihre Arbeit im Zivildienst und vieles mehr.“35 Die medienpolitische Rele- vanz dieser sich noch recht unschuldig gebenden Zielsetzungen wird aber nur ein paar Zeilen später durch ein sich offenbar auf einen com- mon sense berufenden und somit nicht näher zu erläuternden Verweis unterstrichen. So reicht ein einfacher Hinweis auf die Existenz des Vide- oprogrammmarktes, um die „Bedeutung des kommunikativen und damit teilweise auch integrativen LURENS-Ansatzes“36 belegen zu können. Der Hinweis auf den Videoprogrammmarkt, welcher auch hier synonym mit dem Angebot von Horror- und Pornofilmen gesetzt wird, reichte damit in der Logik des Diskurses aus, um pädagogisches Handeln zu legitimie- ren. Im letzten Teil wird nun die Praxis einer Pädagogik skizziert, die es sich zum Ziel gemacht hat, den Horrorfilmen konkret entgegenzutreten. Dabei handelte es sich um eine Gemengelage dieser vier hier kurz skiz- zierten medienpädagogischen Formen. Es forcierte sich ein pädagogi- scher Ansatz, der versuchte, durch filmische Eigenproduktionen die Konstruiertheit von Filmen aufzudecken und damit die negativen Wir- kungen, die dem Medium unterstellt wurden, zu neutralisieren. Darüber hinaus produzierte bzw. vertrieb das FWU Filme, die diesen Ansatz wie- derum dokumentierten. Diese Filme werden als Legitimationsversuch interpretiert, die Sinnhaftigkeit eines solchen Vorgehens zu belegen. Zu Beginn dieser pädagogischen Arbeit stand jedoch ein anderer An- satz. Wie schon zuvor erwähnt, lag den ersten Ansätzen zu einer Video- produktion Jugendlicher weniger ein medienkritischer Duktus zu Grun- de, als die Hoffnung auf eine sinnvolle und kreative Freizeitbeschäfti- gung, die es auch ermöglichte, Alltagserfahrungen zu reflektieren und kompensieren. Erprobt wurde dieses bis heute noch gängige Verfahren in anderen Medien wie z.B. dem Theater und dem Malen von Bildern. Dementsprechend wurde auch zuerst versucht, die als traumatisch an- genommenen Horrorfilmerfahrungen, durch die bis zu diesem Zeitpunkt gängigen Mittel ‚zum Sprechen zu bringen’. So informiert ein Erfah- rungsbericht eines Kreuzberger Jugendzentrums aus dem Jahre 1984 über unterschiedliche Projekte, die sich dem Phänomen der Horrorvi- deos widmeten. Nachdem diverse Ausdrucksformen diskutiert wur- den,37 entschied man sich für das Theater und den Videofilm: „Der Fil- minhalt sollte von den Kindern entwickelt und mit ihnen umgesetzt

35 Balsen/Loos/Nakielski, LURENS, S. 7. 36 Ebd., S. 8. 37 Diskutiert wurden neben Video und Theater die Medien Fotografieren, Tanzen, Singen, Spielen und gestalterisches Formen, vgl. F.I.P.P., Projekte gegen Gewalt, S. 24.

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werden, da wir den Film nur als ein Mittel betrachteten, das den Kindern Raum geben sollte, ihre Erfahrungen und Gefühle auszudrücken.“38 Ei- nen therapeutischen Effekt im Sinne einer Affektkontrolle bescheinigt ein junger Darsteller in einem Artikel der taz aber dennoch: „Seitdem ich einen Film selbst gemacht habe, sehe ich andere Filme ganz anders. [...] Jetzt kann ich mir denken, wie irgendwelche Tricks gemacht werden.“39 Dennoch ging es in diesem Videoprojekt nicht um die grundsätzliche In- fragestellung filmischer Realität. Ansonsten wäre auch kaum der Ab- druck eines Feedbacks zu erklären, welches ein Kind gab, das zuvor den selbst gedrehten Film das erste Mal gesehen hatte: „Man hatte ein biß- chen Angst – aber nicht so richtig, wie bei echten Zombies, weil man ja wusste, dass alles nur Schminke war“.40 Der Idee von echten Zombies sollte in den kommenden Jahren der pä- dagogische Kampf angesagt werden. So folgte im Jahr 1984 auf den Be- schluss der Kultusministerkonferenz zur ‚Verbreitung jugendgefährden- der Videokassetten’ vom 24./25.11.1983 eine Sofortmaßnahme, was hieß, „geeignete Produktionen der ARD, des ZDF und des FWU zum Thema Medienerziehung zusammenzustellen und in Form einer Sonder- reihe“41 allen Bildstellen anzubieten. In den Jahren 1987 und 1988 schlossen sich zwei groß angelegte Projekte an. Zum einen der BLK- Modellversuch ‚Jugendgefährdende Videokassetten, Teilprojekt Lehrerfortbildung/Teilprojekt Medienerziehung’ und zum anderen der vom Freistaat Bayern und dem Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft geförderte Modellversuch ‚Gefährdung durch Video – Pä- dagogische Handlungsmöglichkeiten’. Auch hier wurden Medienkompe- tenz und Medienkritik aneinander gekoppelt:

„Wir sahen hierin zunächst eine Möglichkeit, den Kindern eine Gestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeit zu eröffnen, außerdem tragen die hierbei gewonnenen Erfah- rungen wesentlich dazu bei, bewusster und kritischer mit dem Medium Fernsehen umzugehen. Wer selbst mit der Kamera Inhalte bearbeitet hat, lenkt seinen Blick mehr auf die Gestaltung von Filmen, die ihm im Fernsehen vorgesetzt werden.“42

38 Ebd., S. 33; ähnlich verhält es sich auch in einem zum gleichen Zeitpunkt entstan- denen Theaterprojekt, welches vom Bayrischen Rundfunk dokumentiert wurde, vgl. ‚Wer Gewalt sät’. Videomarkt und Jugendschutz, BR 1984, FWU-Nr. 4200510. 39 taz, 26.7.1984, abgedruckt in: Ebd., S. 50. 40 Ebd., S.48. 41 Ebd., S. 293. 42 Kolb/Muschak/Pommerenke, Kinderwelt als Medienwelt, S. 511.

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Medienpädagogische Praxis wider den Affekt

Dieser Gedanke lag auch dem BLK-Projekt zu Grunde. Ähnlich zu den schon 1984 herausgegebenen Filmen, wurden ab 1987 über das FWU noch weitere Filme zu dem Thema ‚Gewaltvideos’ vertrieben.43 Neben mehreren Dokumentationen, die einen Blick hinter die Kulissen boten, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf die Special-Effects (nicht nur) des Horrorfilms gelegt wurde,44 berichteten zwei Filme über Videopro- duktionen Jugendlicher, die sich wiederum selbst dem Horrorfilm ver- schrieben hatten. Der Film AKTIVE VIDEOARBEIT: GEWALTFASZINATION beglei- tet eine Gruppe Jugendlicher beim Dreh eines eigenen Films (Abb. 5).45

Abb. 5: „Aktive Videoarbeit: Gewalt Faszination“, Videocover (ehemalige FWU-Nr. 4200673); „Gewaltiges Essen“, Videocover (ehemalige FWU-Nr. 4200737).

Der Film beginnt bei einer Reflexion der Jugendlichen über ihren priva- ten Horrorfilmkonsum. Daran anschließend interviewen die Jugendli- chen Personen auf der Straße zu ihrem Verhältnis zu Gewalt im Allge-

43 Vgl. Hell, Gefährdung durch Video, S. 287-298. 44 Vgl. Mit Filmblut und Pappmaché, FWU-Nr. 4200661; Der brennende Daumen: Spezialeffekte im Film, FWU-Nr. 4200526; ‚Tigerkralle’ schlägt zu. Kung-Fu-Filme und wie sie gemacht werden, FWU-Nr. 4200527. 45 Aktive Videoarbeit: Gewaltfaszination, FWU-Nr. 4200673.

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meinen und in den Medien im Speziellen. Hierauf folgt eine eigene Vide- oproduktion, in der die Inszenierung von Gewalt ein zentrales Thema ist. Abschließend reflektieren die Jugendlichen ihre während des Work- shops gemachten Erfahrungen. Der Film GEWALTIGES ESSEN geht einen gänzlich anderen Weg (Abb. 5).46 Er dokumentiert einen Workshop, in dem eine einzige Szene in verschiedenen Variationen gedreht wird. Der Inhalt der Szene ist sehr einfach: Ein Mann isst an einem Tisch ein Stück Fleisch. In jeder neuen Variation steigert sich der Aufwand in die Effek- te. An ausgewählten Szenen dieser Dokumentationen wird im Folgenden nun gezeigt, wie eine pädagogische Strategie zum Ausdruck kam, die sich eben nicht dem Dämonisieren von Horrorfilmen widmete, sondern eine Praxis der Remedialisierung wählte. Die Gewalt der Filme und die durch deren Affektpotential real verletzt scheinenden ZuschauerInnen- körper, sollte dadurch entmachtet werden, indem die Grenze zwischen ‚realer’ und ‚medialer’ Welt, welche durch den Affekt unterlaufen wurde, neu gezogen wird.47 Es galt den filmischen Körper vom ZuschauerIn- nenkörper zu trennen und so die Körper-Maschine zu ‚normalisieren’. An drei Variationen wird gezeigt, wie aus dem Prinzip der Wiederholung pädagogisches Kapital geschlagen wurde: der Subjektbildung, der Insze- nierung und der Nachbereitung des Films.48 Die erste Variante widmet sich der Subjektbildung. In einer an Foucault erinnernde Geständnissituation beginnt der Film AKTIVE VIDEO- ARBEIT: GEWALTFASZINATION mit den persönlichen Berichten der jugendli- chen WorkshopteilnehmerInnen über ihre jeweiligen Horrorvideoerfah- rungen.49 Sich selbst denunzierend erzählen sie vor laufender Kamera von Filmen, die sie geschaut und wie sie auf sie gewirkt haben und wie schlimm diese Erfahrungen bzw. die Filme selbst waren. Daraufhin schauen sich die Protagonisten die Aufzeichnungen ihrer Geständnisse an. Die Wiederholung erzeugt dabei eine Differenzerfahrung des persön- lichen Selbstbildnisses. Ein Blick auf Jacques Lacans Psychoanalyse, ge- nauer gesagt seinen Überlegungen zum Spiegelstadium machen dies

46 Gewaltiges Essen, FWU-Nr. 4200737. 47 Die Differenz zwischen den Räumen der ‚realen’ und der ‚medialen’ Welt ist keine ontologische. Es wird in diesem Aufsatz davon ausgegangen, dass die Grenze zwischen diesen einer permanenten Aushandlung unterliegt und performativ herge- stellt wird. In diesem Kontext nehmen Remedialisierungsprozesse eine zentrale Rolle ein, vgl. Seier, Remedialisierungen, S. 82-99. 48 An anderer Stelle beschreibe ich aus einer anderen Perspektive eine weitere Variation. Dort geht es um medieninhärente Prozesse, die im Windschatten des Videodiskurses über das Strukturmoment der Wiederholung eine Medienkompetenz generierten, die den Diskurs in eine Dynamik verwickelte und ihn schließlich ausklingen ließ (vgl. Pletz, Diskursiver Wandel). 49 Vgl. Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 75 ff.

316 Hendrik Pletz deutlich.50 Lacan beschreibt darin eine zentrale Entwicklungsphase der Subjektbildung des Menschen. Mit dem Blick in den Spiegel entwickelt der Mensch ein Bewusstsein von sich selbst als vollständiges Lebewe- sen. Da aber die Einheit, die über den Spiegel vermittelt wird imaginär ist, vollzieht sich hier quasi im Windschatten der Subjektbildung eine Spaltung des Ichs. Lacan nennt diese beiden Seiten je und moi, die in ei- nem in etwa gleichgewichtigen Nebeneinander von Narzissmus und Ent- fremdung stehen. Mit dem Blick auf den Videomonitor verschiebt sich nun für die Teilnehmer des Workshops dieses Nebeneinander zuguns- ten eines Übergewichts an Entfremdung: „Man sieht sich ganz anders als im Spiegel. Man ist ein ganz anderer Mensch.“ Durch eine Radikalisie- rung der für die Psychoanalyse konstitutiven Subjektspaltung wird den Jugendlichen ein Bewusstsein über die Andersartigkeit des Medialen ge- geben. Die Spaltung des Ichs in je und moi wird in eine Erkenntnis über die Differenz von ‚realer’ und ‚medialer’ Welt transformiert.51 Das Ge- stehen der eigenen Videoerfahrung bzw. -nutzung wird damit Teil eines therapeutischen Dispositivs. Die zweite Wiederholungs-Variante ist die filmische Inszenierung, wie sie im Film GEWALTIGES ESSEN zu sehen ist. Der Film wiederholt eine ein- zige Szene. In jeder Wiederholung steigern sich die Effekte, bis schließ- lich aus der recht unauffälligen Szene eines essenden Menschen ein Ef- fektspektakel wird, das sich der Wundästhetik des Horrorfilms bedient. Das repetitive Moment überführt hier den affektverursachenden Effekt in ein beliebiges Moment filmischer Realität. Die Teilnehmer des Work- shops bzw. die Adressaten des FWU-Films, erhielten, indem sie immer wieder die gleiche Szene drehten, ein neues Bewusstsein über das Ge- filmte. Und eben dies ist das Erstaunliche an diesem pädagogischen An- satz. Es ging nicht um das Bloßstellen ‚pervertierter Ausuferungen’ fil- mischer Inszenierungskunst, sondern umgekehrt um das Erlernen ge- nau dieser. Die Gewalt wurde dadurch zu einem sekundären Problem stilisiert, dem das eigentliche Problem, nämlich das transgressive Ver- fahren des Affekts vorausgestellt war. Oder anders: Das Problem war

50 Vgl. Lacan, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion. 51 Die feministische Videokunst der 1970er Jahre spricht von einem ‚elektronischen Spiegel’ (vgl. Adorf, Operation Video, S. 73). 1988 diagnostiziert Jean Baudrillard, dass „das Videostadium das Spiegelstadium abgelöst“ habe (Baudrillard, Videowelt und fraktales Subjekt, S. 256). „Die Distanz [...] des Spiegels [...] ist für den Körper überbrückbar, wodurch sie menschlich ist und die Möglichkeit eines Austauschs bestehen bleibt. Der Bildschirm aber ist virtuell, also unerreichbar, weswegen er nur jene abstrakte, jene unerbittlich abstrakte Form des Austauschs zulässt [...]. [...] Das virtuelle Bild ist zugleich zu nahe und zu fern: zu nahe um wahr zu sein (um die richtige Nähe des Szenischen zu haben), zu fern um falsch zu sein (um den Zuschauer des Künstlichen zu haben)“ (Baudrillard, Videowelt und fraktales Subjekt, S. 258).

Das Wundmal 317

innerhalb der Logik des Diskurses nicht die Gewalt selbst, sondern der den Affekt verursachende Effekt. Blut durfte solange im Film fließen, wie der ZuschauerInnenkörper meinte, nicht selbst davon betroffen zu sein. Dass dies sogar Spaß machen kann und darf, bezeugen die vielen Lacher der Teilnehmer und Teilnehmerinnen bei den jeweiligen Szenen. Die dritte Variante zielt ebenfalls auf ein sich distanzierendes Lachen ab. In diesem Fall jedoch über die Nachbearbeitung der Filme. Hartmut Winkler und Heike Klippel fassen dies folgendermaßen zusammen: „Je- der, der einmal am Schneidetisch oder mit dem Videorecorder gearbei- tet hat, [kennt] die Verblüffung, wie schnell eine filmische Bewegung, die eben noch als ‚Natur’ erschien, zerfällt und erstarrt, sobald man sie kurz hintereinander mehrfach betrachtet; allein die mechanische Wiederho- lung reicht dazu aus, die Mechanizität, die Starrheit und den Schriftcha- rakter der technischen Bilder unabweisbar zu Bewusstsein zu brin- gen.“52 Der (Video)schnittplatz ist ein wichtiger Ort für die Herstellung einer Distanz zwischen Film und Konsument. Von hier entführt der Film nicht den Menschen in eine andere Welt, sondern der Mensch übt Kon- trolle über den Film aus. Gerade das Medium Video bot hier einen neu- artigen Zugriff. War zuvor der Schnitt erst nach der Entwicklung der be- lichteten Filme möglich und auch dann nur über ein kompliziertes bild- gebendes Verfahren, bot Video erstmals eine unmittelbare Kontrolle des Bildmaterials und konnte einfach über einen normalen Fernseher abge- spielt werden. Der Film AKTIVE VIDEOARBEIT: GEWALTFASZINATION themati- siert genau diesen Moment. Der Zuschauer sieht das dramatische Ende des von den Jugendlichen produzierten Films. Der stark blutende Prota- gonist, der kurz zuvor von Unbekannten zusammengeschlagen wurde, schleppt sich mit letzter Kraft nach Hause, wo er von seiner Freundin vor der Tür vorgefunden wird. Dann kommt der Abspann. Noch wäh- rend der Abspann läuft, wird plötzlich die Szene durch ein Zurückspulen des Films unterbrochen. Die Kamera fährt langsam zurück und ein Ki- chern prägt die Tonspur. Was wir gesehen haben war nicht der ‚Origi- nalfilm’, sondern ein Abfilmen des Kontrollmonitors des Schnittplatzes. Es folgt eine Schuss-Gegenschussmontage zwischen den Macherinnen des gedrehten Films und dem gedrehten Film selbst: Teilnehmerinnen des Workshops kommentieren lachend die „Blutbrocken, die er da aus- spuckt“ – Bild des Blutbrocken Spuckenden – Teilnehmerin versteift krallenartig ihre Hände und sagt lachend: „Zombie kommt aus dem Bo- den!“ Der Zombie ist gebannt. Seine Existenz ist nur noch spielerisches Wissen über Dimensionen filmischer Zeichen. Genauso das Blut und die Wunde. Machte Video als Reproduktionstechnologie die Wundästhetik zu einem Massenphänomen, generierte die der Technik eingeschriebene

52 Klippel/Winkler, Gesund ist, S. 128.

318 Hendrik Pletz

Ökonomie der Wiederholung eine gegenläufige Tendenz. Die Wunde verlor ihre affektive Kraft und hörte auf, den Zuschauerkörper zu be- drohen.

Abspann

Die Körper-Maschine des Horrorfilms forderte die Gesellschaft der 1980er Jahre heraus. Die bis dato unbekannten Gewaltdarstellungen brachten das klassische Verhältnis von Medium und Konsument durch- einander. Die Filme schienen nicht nur moralisch, sondern auch real körperlich die Zuschauer zu verletzen – die Wundästhetik der Filme schlug auch Wunden beim Publikum. Ein Blick auf die Medienpädagogik und ihre spezifischen Strategien macht deutlich, dass die Verletzungs- androhung des ZuschauerInnenkörpers durch die Filme dem Medien- gewaltdiskurs alles andere als nachgeordnet war. Solange das Monster im Medium blieb und nicht die konstitutive Grenze zwischen Realität und Fiktion zur Disposition stellte, in dem es den menschlichen Körper von sich vereinnahmte, konnte es Gewalt ausüben wie es wollte. Blutige Wunden wurden reproduziert und inszeniert, bis die erzeugte Nähe wieder eine Distanz zum Medium gewährleistete. Bringt man die pädagogische Intention auf die Formel, dass die Ent- machtung der Affekte durch das Begreifen der Effekte zu erzielen sei, so möchte ich abschließend vorschlagen, die Videotechnik als ein herme- neutisches Medium zu fassen. Dabei geht es aber weniger um den Wahrheitswert einer hermeneutisch-zirkulären Wissensproduktion, sondern vielmehr um die hermeneutische Ideologie selbst, dass nämlich begriffen werden soll, was uns ergreift – womit wir wieder beim dem Staiger Zitat wären, das diesem Artikel vorausgeht (und somit auch der Zirkularität und der Wiederholung die Ehre erwiesen wäre).53

53 Da der vierte und letzte Band von Foucaults „Sexualität und Wahrheit“ nicht mehr erschien, ist ein Hinweis aus diesem Band selbstredend heikel. Nichts desto trotz gibt es berechtigte Annahmen, dass „Die Geständnisse des Fleisches“, so der Titel, das Verhältnis von Hermeneutik und Affektkontrolle ebenfalls – jedenfalls zu Teilen – zum Thema hat. Ulrich Brieler spricht in diesem Kontext auch von der „Hermeneutik des Begehrens“ (Brieler, Unerbittlichkeit der Historizität, S. 563).

Das Wundmal 319 Literaturverzeichnis

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Hendrik Pletz, Kontakt: www.pletz24.de. Studium der Geschichte, Philosophie und Geo- graphie an der Universität zu Köln. Seit 2006 freier Wissenschaftler. Seit 2010 Konzeptio- ner für Ausstellungen. Forschungsschwerpunkte sind die Medien- und Körpergeschichte seit 1945 mit einem Schwerpunkt auf den 1980er Jahren wie auch die Analyse der Bezie- hung von Geschichte und Film im Allgemeinen. Aktuelles Projekt: „Bilder – Technik – Kör- per. Der Videorekorder als Schnittstelle kulturhistorischer Umbrüche der 1980er Jahre“ (Arbeitstitel).

Body Politics 1 (2013), Heft 2, S. 323-346

Die Reform der Stadtmänner. Urbaner Wandel und Körperpolitik in Kairo am Ende des 19. Jahrhunderts

Joseph Ben Prestel

English abstract: This article considers debates about the detrimental effects of urban change in late nineteenth-century Cairo in the context of a history of the body. Con- trasting arguments about Cairo’s corrupting influence that surfaced in the Arabic lan- guage press with earlier debates on the transformation of the city, the author argues that the urban middle class began to see a connection between city life and the damage of the male body at the turn of the nineteenth century. As claims about Cairo’s damaging effects gave way to new bodily practices and building projects, this article views the emergence of suburbs and the spread of sports in the Egyptian capital around 1900 as interrelated to a form of body politics.

Am 19. September 1896 gab die arabischsprachige Zeitung „Der Berater“ (al-Mush Einblick in das Kairoer Nachtleben. Unter dem Titel „Die Lichter decken die Geheimnisse auf. Geheimnis der Nacht“ war zu lesen,īr) einenwie sich ein Mitarbeiter der Zeitung zu einem Streifzug durch die Bars und Tanzlokale der ägyptischen Hauptstadt aufmachte. Der Autor hob in seiner Erzählung die negativen Seiten des nächtlichen Ausflugs hervor. Er zeigte sich schockiert vom Verhalten eines „Teils der Männer in Kairo“, die „ihre Finanzen und ihre Körper“ - 1 Al- war mit solchen Beschreibungen der zerstörerischen Wirkung des mitNachtlebens Alkohol undin Kairo „Biermädchen“ nicht alleine. (banāt Auch alanderebīra) arabischs ruinierten.prachigeMushīr Zei- tungen und Zeitschriften al-Sharq oder al- ‘ - fentlichten um 1900 Artikel, die Alkohol, Glücksspiel und Prostitution in der Stadt als die Ursachewie einer Miṣbā allgemeinenḥ KorruptionMūsū männlicherāt veröf Körper ausmachten. Diese stadtkritischen Texte stehen in einem deut- lichen Gegensatz zu älteren Beschreibungen Kairos als einem Ort des Fortschritts. Besonders Texte aus den 1870er Jahren stellten die ägyp- tische Hauptstadt als Zentrum einer positiven historischen Entwicklung dar. Historiker haben verschiedene Erklärungen für diesen Wandel hin zur Stadtkritik um die Jahrhundertwende geliefert. Dabei wurde die Kri-

1 Al-anwār tafḍaḥu al-asrār. Sirr al-laīl, in: al-Mushīr 101 (19.9.1896). Dieser Beitrag ent- stand am Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin.

www.bodypolitics.de | urn:nbn:de:gbv:547-201400183 | ISSN 2196-4793 324 Joseph Ben Prestel tik an Männern in Kairo überwiegend aus der Perspektive der ägyp- tischen Nationalbewegung analysiert. Da die Autoren stadtkritischer Texte einen Vertretungsanspruch für die gesamte Nation geäußert hätten, so das Argument, müsste die Kritik an den Männern in der Stadt mit Bezug auf die ägyptische Nationalgeschichte verstanden werden.2 Diese Texte könnten so als die Aushandlung einer „ägyptischen Sub- jektivität“ interpretiert werden. Aus dieser Perspektive hat etwa Wilson Jacob vor kurzem gezeigt, wie die Debatte um den männlichen Körper um die Jahrhundertwende eine Reaktion auf den britischen Kolonia- lismus und Teil eines neuen ägyptischen Männlichkeitsideals innerhalb der Mittelschicht war.3 Während Jacobs Arbeit eine überzeugende Argumentation für die ägyptische Nationalgeschichte bietet, sagt sie we- nig über die Geschichte Kairos am Ende des 19. Jahrhunderts aus.4 In Abgrenzung dazu analysiert der vorliegende Artikel stadtkritische Texte als Teil einer Stadtgeschichte. Die Zeitungs- und Zeitschriftenartikel der Jahrhundertwende werden dafür im Hinblick auf die Betonung der Korruption männlicher Körper in der ägyptischen Hauptstadt gelesen. Dabei soll vor allem der präskriptive Aspekt der Debatte um die Ent- wicklung Kairos im Zentrum stehen. Anstatt als Quellen für eine Ge- schichte der Prostitution oder des Alkoholkonsums in Kairo zu dienen, liefern die stadtkritischen Texte so Informationen über eine Körper- politik innerhalb der urbanen Mittelschicht. Unter Körperpolitik ver- stehe ich hier eine Politisierung des Körpers in Form von Praktiken, die auf materielle Effekte im menschlichen Körper abzielen.5 Eine solche Politik ließe sich in Kairo um 1900 auch mit Bezug auf andere Gruppen wie Frauen oder Arbeiter untersuchen.6 Im Folgenden sollen jedoch die

2 Vgl. etwa: Hanan Kholoussy, For better, for worse. The marriage crisis that made modern Egypt, Stanford 2010; Michael Gasper, The power of representation. Public, peasants, and Islam in Egypt, Stanford 2009; Timothy Mitchell, Colonising Egypt, Berkeley 1988, S. 114-117; eine Ausnahme bildet die Studie von Roger Allen: Roger Al- len, A period of time. A study of Muhammad al-Muwaylihi's Hadith ʽIsa ibn Hisham, Reading, UK 1992; für eine Kritik der klassischen Historiographie zu Kairo vgl.: Khaled Fahmy, An olfactory tale of two cities: Cairo in the nineteenth century, in: Jill Edwards (Hg.), Historians in Cairo: essays in honor of George Scanlon, Kairo 2002, S. 155-188. 3 Wilson Jacob, Working out Egypt. Effendi masculinity and subject formation in colonial modernity, 1870-1940, Durham 2011. 4 Jacob deutet allerdings eine stadtgeschichtliche Perspektive für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg an: Jacob, Working Out Egypt, S. 158-159; ders., Eventful transforma- tions. Al-Futuwwa between history and the everyday, in: Comparative studies in socie- ty and history 49 (2007), S. 689-712. 5 Zu dem Begriff der Körperpolitik vgl. etwa: Pascal Eitler, Die „sexuelle Revolution“ - Körperpolitik um 1968, in: Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hg.), 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Stuttgart 2007, S. 235-245. 6 Vgl. zu diesen Debatten etwa: Lisa Pollard, Nurturing the nation. The family politics of modernizing, colonizing, and liberating Egypt, 1805-1923, Berkeley 2005; Zachary Die Reform der Stadtmänner 325

männlichen Mitglieder der Mittelschicht im Vordergrund stehen, da sie sowohl Produzenten als auch Adressaten der hier untersuchten ara- bischen Presseartikel waren.7 Um die stadtkritischen Texte als Teil einer Körperpolitik der urbanen Mittelschicht in Kairo zu analysieren, ist der vorliegende Artikel in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil wird der Zusammenhang zwischen urbanem Wandel seit den 1860er Jahren und Vorstellungen vom Einfluss der Stadt auf ihre Bewohner beleuchtet. Mit den tiefgreifenden Wandlungsprozessen in Kairo während der Regierungszeit des ‘ - - stellung der Stadt als einem Ort des Fortschritts an Bedeutung. Eine auf- Khedivenstrebende IsmāGruppeīl (1863 innerhalb1879), der so urbanendas Argument, Mittelschicht gewann profitierte auch die Darvon den Veränderungen in der ägyptischen Hauptstadt und propagierte eine positive historische Rolle Kairos. Diese Argumentation änderte sich mit der zunehmenden europäischen Kontrolle und dem Rückgang staat- licher Investitionen Ende der 1870er Jahre. Wie im zweiten Teil gezeigt werden soll, resultierte hieraus eine zunehmende Stadtkritik, die sich vor allem den männlichen Körper zur Zielscheibe nahm. Arabisch- sprachige Autoren argumentierten, dass Männer der urbanen Mittel- schicht unter dem Einfluss Kairos schwach und triebgesteuert würden. Aus diesem Kontext heraus entstanden verschiedene Reforminitiativen, die im dritten Teil behandelt werden. Neben Sportvereinen, in denen Männer ihre Körper trainieren sollten, zielte auch der Bau neuer Wohn- viertel auf eine körperliche Verbesserung ägyptischer Männer ab. Im Schluss werde ich argumentieren, dass diese Art von Körperpolitik als ein urbanes Phänomen verstanden werden kann, das über die ägyp- tische Geschichte hinausweist.

I. Stadt des Fortschritts

Unter dem Khediven (1863- Stadtbild Kairos. Auch die soziale Zusammensetzung der Stadtbevölke- rung und die Debatten Ismā‘īlum die gesellschaftliche1879) änderte Funktion sich der nicht Stadt nur wa dasn- delten sich. Die Veränderungen der 1860er und 1870er Jahre manifes- tierten sich damit sowohl in neuen Straßen und Gebäuden als auch in aufstrebenden sozialen Gruppen und der Vorstellung innerhalb der ur- banen Mittelschicht von Kairo als einem Zentrum des Fortschritts. Diese

Lockman, Imagining the working class. Culture, nationalism, and class formation in Egypt, 1899-1914, in: Poetics Today 15 (1994), S. 157-190. 7 Kholoussy, For better, for worse, S. 2. 326 Joseph Ben Prestel historische Zäsur bildete den Hintergrund, auf dem die Stadtkritik um die Jahrhundertwende aufbaute. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Kairo durch Ein- griffe der Regierung verändert worden. So hatten Mu ammad ‘ m- fassendes Hygieneprogramm, die Einführung einer zentralisierten Wehrpflichtigenarmee und die Eröffnung des Bahnhofsḥ von Kairo,Alīs uder die Stadt seit 1858 mit Alexandria und Suez verband, ihre Spuren in der ägyptischen Hauptstadt hinterlassen.8 Der Khedive baute auf diesen Veränderungen auf, als er zwischen 1867 und 1874 eine tiefgrei- fende städtebauliche Umgestaltung der ägyptischen Ismā‘īlHauptstadt vor- nahm. Älteren Darstellungen zufolge entschied sich nach einem Besuch auf der Weltausstellung in Paris von 1867 zum Ausbau Kairos. Der Umbau der französischen Hauptstadt durch EugèneIsmā‘īl Haussmann hät- te einen so nachhaltigen Eindruck hinterlassen, dass der ägyptische Herrscher ein eigenes „Paris am Nil“ bauen wollte.9 An dieser linearen Erzählung, die den Ursprung historischen Wandels in Europa verortet, sind in jüngster Zeit Zweifel aufgekommen. Während Paris zweifellos von großer Bedeutung für die Planungsvorhaben unter war, verweisen Historiker mittlerweile verstärkt auf andere Vorbilder, die bei der Umgestaltung Kairos eine Rolle spielten.10 So wird Ismā‘īlzunehmend die Bedeutung Istanbuls und der dortigen Veränderungen im Rahmen des imperialen Verhältnisses zwischen Ägypten und dem osmanischen Reich betont. Auch aus Alexandria wurden städteplanerische Neuerun- gen, wie der Gebäudetyp der „Okelle“, übernommen.11 Es scheint somit angemessener, von einer internationalen Planungswelle in den 1860er Jahren auszugehen, welche die Baumaßnahmen in Kairo inspirierte.12 In

8 Khaled Fahmy, Modernizing Cairo: a revisionist narrative, in: Nezar Alsayyad, Irene A. Bierman, Nasser Rabbat (Hg.), Making Cairo medieval, Oxford 2005, S. 173-200; ders., All the pasha's men. Mehmed Ali, his army, and the making of modern Egypt, Cambridge 1997; Mitchell, Colonising Egypt, S. 34-62; Janet Abu-Lughod, Cairo: 1001 years of the city victorious, Princeton 1971, S. 98-100. 9 Janet Abu-Lughod, Tale of two cities: The origins of modern Cairo, in: Comparative studies in society and history 4 (1965), S. 429-457; André Raymond, Le Caire, Paris 1993, S. 309-338; Cynthia Myntti, Paris along the Nile, Kairo 1999. 10 Mohammed Elshahed hat vor kurzem in einem pointierten Essay zusammengefasst, warum Kairo nie ein „Paris am Nil“ war: http://cairobserver.com/post/14185184147 (abgerufen am 29.5.2012). 11 Adam Mestyan, „A Garden with Mellow Fruits of Refinement“. Music theaters and cultural politics in Cairo and Istanbul, 1867-1892, Dissertation, Budapest 2011; Mark Crinson, Empire building: Orientalism and Victorian architecture, New York 1996, 167-197; Jean-Luc Arnaud, Le Caire: mise en place d’une ville moderne, 1867-1907, Arles 1998, S. 47-49, 154-155. 12 Zur Internationalisierung der Stadtplanung seit 1850 vgl.: Pierre-Yves Saunier/Shane Ewen (Hg.), Another global city. Historical explorations into the transnational munici- pal moment, 1850-2000, New York 2008. Die Reform der Stadtmänner 327

jedem Fall markierte die Rückkehr von einer Reise, die den Khediven 1867 unter anderem nach Paris und Istanbul führte, den Beginn umfas- sender Baumaßnahmen in der ägyptischen Hauptstadt. Ausgangspunkt der Neuerungen war eine Kreuzung im Westen der Stadt, die sich um die Jahrhundertmitte zu einem Verkehrsknotenpunkt entwickelt hatte. Am Azbakiyya-Platz trafen zwei Straßen aufeinander, die Kairo mit dem Bahnhof im Norden und dem Nilhafen im Westen verbanden. Ab 1867 ließ der Khedive dort mehrere Regierungsgebäude, ein Theater, eine Oper und einen Zirkus errichten. Bis 1871 wurde der Garten im Zentrum des Platzes nach Plänen des französischen Land- schaftsarchitekten Barillet-Deschamps zu einem öffentlichen Park aus- gebaut. Gleichzeitig entstand westlich des Azbakiyya-Platzes das ‘ -Viertel, das sich durch breite und gerade Straßen sowie par- zellierte Grundstücke vom Rest der Stadt abhob.13 Weiter südlich, in der Ismā īliyya - mittlere und niedrige Einkommensschichten geschaffen.14 In seiner Be- Umgebungschreibung Kairos des Bāb und al ÄgyptensLūq, wurden war bisder 1874Staatsbeamte neue Wohngegenden ‘ für des Lobes für die städtebaulichen Veränderungen unter . Alī Mubārak volli- nen Aufstrebens Ägyptens: „Straßen wurden verbreitert, die StadtviertelIsmā‘īl geräumigerMubārak beschrieb gemacht, den was Ausbau notwendig Kairos war, als um Konsequenz die Straßen eines und allgemeGebäude ausreichend tauglich für die Ausweitung des Handels zu machen, das Stadtbild dem Reichtum des Landes anzugleichen.“15 Urteil ist nicht verwunderlich, war er doch lange Zeit direkt in die Bau- vorhaben eingebunden. Zwischen 1868 und 1882 dienteMubāraks er unter positives ande- rem als Minister für öffentliche Arbeiten und Bildung.16 Er war damit Teil einer Gruppe von Ägyptern, die als Absolventen der unter

13 Arnaud, Le Caire, S. 104-124. 14 Während diese Bauvorhaben neue Stadtteile schufen und die Fläche Kairos um etwa ein Viertel erweiterten, erfuhr das ältere Stadtgebiet wenige Veränderungen. Hier war vor allem der Bau der Muḥammad-‘Alī-Straße von Bedeutung, welche den Azba- kiyya-Platz mit der Zitadelle verband und die Altstadt Kairos auf zwei Kilometern Länge durchquerte. Mit ihrer geraden Ausrichtung und ihren 20 Metern Breite be- deutete die Muḥammad-‘Alī-Straße einen deutlichen Einschnitt in dieser Gegend. Vgl.: Arnaud, Le Caire, S. 104-124; Aḥmad Rajab al-‘Arabi, shāri‘a muḥammad ‘alī, Kairo 2005. 15 Übersetzung aus: Stephan Fliedner, ‘Alī Mubārak und seine Hiṯaṯ: kommentierte Übersetzung der Autobiographie und Werkbesprechung, Berlin 1990, S. 71; zum Fortschrittsgedanken bei Mubārak vgl.: Andrea Geier, Von den Pharaonen zu den Khediven. Ägyptische Geschichte nach den Hiṯaṯ des ‘Alī Mubārak, Frankfurt am Main 1998. 16 Nezar Alsayyad, ‘Ali Mubarak’s Cairo: between the testimony of ‘Alamuddin and the imaginary of the Khittat, in: Nezar Alsayyad/Irene A. Bierman/Nasser Rabbat (Hg.), Making Cairo medieval, Oxford 2005, S. 56. 328 Joseph Ben Prestel

eingeführten Staatsschulen vom Ausbau der Verwal- tung, staatlichen Bildungseinrichtungen und den ehrgeizigen Bauvorha- benMuḥammad unter ‘Alī profitierten.17 Diese wachsende soziale Gruppe bildete einen neuen Bestandteil der urbanen Mittelschicht, die zwischen dem osmanischenIsmā‘īl Adel einerseits und den Unterschichten andererseits ange- siedelt war.18 Zu ihren Kennzeichen gehörte ein spezifisches Selbstver- ständnis, das sich vor dem Hintergrund der Verbreitung von Büchern, Zeitungen und Diskussionszirkeln entwickelte.19 Mit der Zulassung der ersten privaten Verlagshäuser in Ägypten stieg die Veröffentlichung gedruckter arabischer Texte ab 1860 sprunghaft an.20 verstärkte diese Dynamik, indem er die Produktion staatli- cher Zeitschriften für Lehrer, Ärzte und Militärs deutlich ausweitete. In den 1870erIsmā‘īl Jahren kamen die ersten privaten, arabischsprachigen Zei- tungen in Kairo und Alexandria hinzu.21 Für das Jahr 1881 schätzt Juan Cole die Leserschaft dieser Zeitungen im gesamten Land auf mindestens 72.000 Menschen.22 Die Lektüre gedruckter Texte blieb damit auf einen kleinen Teil der ägyptischen Gesellschaft begrenzt. Umso wichtiger war das Lesen dieser Texte als Distinktionsmerkmal in der urbanen Mittel- schicht. Verschiedene ägyptische Autoren präsentierten die Zeitungslek- türe als historische Errungenschaft, die helfe Ägypten aus einer langen „Lethargie“ zu befreien. So befördere das Lesen von Zeitungen neue Formen der Kommunikation und gebe Auskunft über die „öffentliche Meinung“ und das „öffentliche Interesse.“23 Gleichzeitig wurde auch die Bedeutung des direkten Meinungsaustauschs hervorgehoben - eine Praktik, welche in zahlreichen neuen wissenschaftlichen Gesellschaften, Freimaurerlogen und Salons gepflegt wurde.24 Texte aus den 1870er Jahren beschrieben auf diese Weise die Zeitungslektüre und das Disku-

17 Felix Konrad, „Fickle fate has exhausted my burning heart“: an Egyptian engineer of the 19th century between belief in progress and existential anxiety, in: Die Welt des Islams 51 (2011), S. 145-187. 18 Die Begriffe für diese Gruppe variieren. Während Juan Cole sie als „Intelligentsia“ bezeichnet findet sich in neueren Arbeiten vor allem der Begriff „’Afandiyya“. Wie Felix Konrad vor kurzem festgestellt hat, ist jedoch eine frühe Sozialgeschichte der ’Afandiyya weiterhin ein wichtiges Forschungsdesiderat. Vgl.: Juan Cole, Colonialism and revolution in the Middle East. Social and cultural origins of Egypts ‘Urabi move- ment, Princeton 1993, S. 101-109; Konrad, „Fickle fate“, S. 145-150. 19 Gasper, The power of representation, S. 15-61. 20 Nadia Al-Bagdadi, Vorgestellte Öffentlichkeit. Zur Genese moderner Prosa in Ägyp- ten, 1860-1908, Wiesbaden 2010, S. 59ff. 21 Ami Ayalon, The press in the Arab Middle East. A history, New York 1995, S. 39-45. 22 Cole, Colonialism and revolution in the Middle East, S. 124. 23 Gasper, The power of representation, S. 42-60. 24 Omnia El Shakry, The great social laboratory. Subjects of knowledge in colonial and postcolonial Egypt, Stanford 2007, S. 22-30. Die Reform der Stadtmänner 329

tieren als entscheidende Distinktionsmerkmale männlicher Mitglieder der urbanen Mittelschicht. Besonders im Kontrast zur analphabetischen und „ignoranten“ Landbevölkerung würden sich diese Städter damit als Träger des „Fortschritts“ auszeichnen. Zwar waren bereits vor den 1870er Jahren ähnliche Vorstellungen der Überlegenheit von Stadtbe- wohnern verbreitet, doch die aufkommende Diskussions- und Zeitungs- kultur in Kairo vertiefte die diskursive Trennung zwischen Stadt und Land. Begriffe des „Fortschritts“ und der „Zivilisation“ wie „’afandi“, „nabih“ und „mutamaddun“ wurden in dieser Zeit verstärkt genutzt, um den Unterschied zwischen „fortschrittlichen“ Städtern und „rückständi- gen“ Landbewohnern sprachlich hervorzuheben.25 Nicht zuletzt sollte sich die „Fortschrittlichkeit“ der Städter auch in ih- ren Körpern zeigen. Einerseits stand der Körper der Stadtbewohner im Zentrum medizinischer und hygienischer Vorstellungen wie der Mias- mentheorie, die seit den 1830er Jahren bei den staatlichen Eingriffen in Kairo eine wichtige Rolle spielten. Diese Eingriffe wurden von verschie- denen Autoren in Anlehnung an Michel Foucault als eine Art von Biopo- litik in der Stadt beschrieben.26 Sie konzentrierten sich insbesondere auf die „Hebung“ als problematisch wahrgenommener Gruppen in der Stadt. Eine Passage aus s Beschreibung von Kairo macht deutlich, wie die Baumaßnahmen der 1860er Jahre unter diesen Vorzeichen als eine Besserung ärmerer‘Alī Mubārak Stadtviertel und ihrer Bewohner gelesen wer- den konnten. Zu baulichen Veränderungen im Viertel Sayyida Zaynab r- richtet, wo vorher Orte des Schmutzes und verdorbener Abfälle gewe- sen,schrieb und Mubārak: nach all dem„Mit SchadenHilfe dieser für dieMittel Menschen wurden folgteviele Wohnungennun eine Phase e des allgemeinen Nutzens.“27 Im Gegensatz zu den Gruppen in der Stadt, die als „rückständig“ beschrieben wurden, hob sich die neue urbane Mit- telschicht durch besondere körperliche Praktiken hervor. Wie Michael Gasper überzeugend argumentiert, war ein „würdiges Auftreten“ und ein richtiges Halten des Körpers Vorrausetzung für den Zutritt zu neuen Räumen von Soziabilität und Arbeit wie Salons, wissenschaftlichen Ge- sellschaften, Gerichtsräumen oder Banken.28Auch die Kleidung kenn- zeichnete die Körper „fortschrittlicher“ Stadtbewohner. Hierfür liefert wiederum ein anschauliches Beispiel. In einer autobiogra- phischen Skizze erzählt er, wie er nach 14 Jahren Abwesenheit in sein ‘Alī Mubārak

25 Gasper, The power of representation, S. 48-51; Konrad, Fickle fate, S. 175-182. 26 Mitchell, Colonising Egypt; Khaled Fahmy, al-jasad wa al-ḥadātha, Kairo 2004; ders., Olfactory tale of two cities; Cole, Colonialism and revolution in the Middle East, S. 97- 101. 27 Übersetzung aus: Fliedner, ‘Alī Mubārak, S. 71. 28 Gasper, The power of representation, S. 37-51. 330 Joseph Ben Prestel

Mutter die Tür und erkannte ihren Sohn zunächst nicht wieder: „Ich war vonHeimatdorf meiner imMutter Nildelta 14 Jahrezurückkehrte. lang getrennt Mubārak gewesen, zufolge und öffnete sie hatte ihm seinemich in dieser Zeit nicht einmal gesehen, noch meine Stimme gehört, war da- her ganz unsicher, wer da wohl hinter der Tür sei. Also lugte sie hinaus und musterte mich eingehend, ich aber hatte zu alledem auch noch fran- zösische Militärkleidung an und trug einen Säbel zur Paradeuniform.“29 Die Kleidung wird hier einerseits als Kennzeichen des Umzugs vom Land in die ägyptische Hauptstadt deutlich. Sie ist neben der langen Ab- nicht erkannt wird. Andererseits spiegelt sie auch die Veränderungen innerhalbwesenheit der ein urbanen Grund dafür, Mittelschicht dass Mubārak Kairos vonwider. seiner Mit Mutterdem Aufstieg zunächst in höhere Ränge in Verwaltung und Militär übernahmen Ägypter seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt osmanische und europäische Klei- dungsstile.30 Die Körper der Männer innerhalb der urbanen Mittel- schicht wurden damit nicht als Problem beschrieben. Viel eher dienten sie als ein Kennzeichen der „Fortschrittlichkeit“ dieser aufsteigenden sozialen Gruppe. Neue körperliche Praktiken und Kleidungsstile mar- kierten die neuen Männer der Stadt.

II. Stadt der Korruption

Um die Jahrhundertwende hatte sich die Perspektive der Mittelschicht Kairos auf die Stadt verschoben. Anstelle ihres fortschrittlichen Einflus- ses stand nun immer wieder die zerstörerische Auswirkung der ägypti- schen Hauptstadt im Vordergrund. Der männliche Körper nahm bei die- ser Kritik eine zentrale Rolle ein. Prostitution, Alkohol und Glücksspiel wurden als neue urbane Phänomene beschrieben, welche die Körper der Stadtbewohner schädigten und ägyptische Männer triebhaft mach- ten. Diese Verschiebung der Perspektive auf die Stadt fand vor dem Hin- tergrund eines Rückgangs staatlicher Investitionen und einer zuneh- menden Intervention privater europäischer Akteure unter der briti- schen Kolonialherrschaft statt. Mit dem ägyptischen Staatsbankrott 1876 kamen die Bauprojekte s in Kairo zum Halten. Auf das Drängen europäischer Kreditgeber hin wurde die „Caisse de la Dette Publique“ eingeführt, durch welche europäischeIsmā‘īl Staaten eine effektive Kontrolle über den ägyptischen Staatshaushalt erhielten. Schlüsselministerien im ägyptischen Kabinett wurden mit Europäern besetzt und die Staatsausgaben deutlich gesenkt.

29 Übersetzung aus: Fliedner, ‘Alī Mubārak, S. 31. 30 Konrad, „Fickle fate“, S. 154-156; Jacob, Working out Egypt, S. 196-198. Die Reform der Stadtmänner 331

Mit dem Beschuss von Alexandria und dem Einmarsch britischer Trup- pen 1882 gelangte Ägypten, obwohl nominell weiterhin Teil des osma- nischen Reiches, endgültig unter europäische Herrschaft. Eine Folge der britischen Kontrolle war, dass kaum noch staatliche Investitionen in der ägyptischen Hauptstadt getätigt wurden. Bereits geplante Projekte wur- den abgebrochen und keine neuen großen staatlichen Vorhaben ins Au- ge gefasst. Unter dem britischen Einfluss konzentrierte sich die ägypti- sche Verwaltung vor allem auf die effiziente Kartierung ländlicher Ge- genden und den Ausbau des Assuan-Staudamms, um die Baumwollpro- duktion zu steigern. Die zunehmende Kommodifizierung des Landes schaffte gleichzeitig Raum für kapitalistische Vorhaben, und so waren es um die Jahrhundertwende vor allem Privatinitiativen, welche die städ- tebauliche Entwicklung Kairos beeinflussten.31 In den 1890er Jahren entwickelte sich in der ägyptischen Hauptstadt ein regelrechter Bau- boom. Zahlreiche Grundstücke, die zuvor im Besitz des Khediven waren, wurden an private Investoren verkauft und bebaut.32 In diesem Zusam- menhang wandelte sich auch das iyya-Viertel. Durch die kapitalis- tische Dynamik begünstigt, entstanden hier neue Handelsgesellschaften, Banken und Versicherungen, die dasIsmā‘īl Viertel zu einer Finanz- und Dienst- leistungsgegend machten. Zeitgenössischen Statistiken zufolge stieg zwischen 1896 und 1907 die Zahl der Banken in der gesamten Stadt von 33 auf 44, die der Versicherungsgesellschaften von 55 auf 101 und die der Finanzmakler von 8 auf 67.33 Der Rückgang staatlicher Initiativen und die Expansion kapitalisti- scher Gesellschaften wirkten sich nicht zuletzt auch auf die urbane Mit- telschicht aus. Einerseits waren ägyptische Staatsangestellte seit der Kreditkrise von 1876 und besonders nach dem britischen Einmarsch 1882 mit stark beschränkten Aufstiegsmöglichkeiten und neuen Vorge- setzten konfrontiert. In Verwaltung, Polizei und Militär wurden Positio- nen zunehmend mit Europäern besetzt.34 Vor diesem Hintergrund konn- te die britische Besatzung insbesondere innerhalb der urbanen Mittel- schicht als Machtverlust und Unmündigkeit wahrgenommen werden.35

31 Arnaud, Le Caire, S. 185-356; Zum Prozess der Kommodifizierung des Landes in Ägyp- ten vgl.: Kenneth M. Cuno, The origins of private ownership of land in Egypt: a reap- praisal, in: International journal of Middle East studies 3 (1980), S. 245-275; Abu- Lughod, Cairo, S. 152. 32 Abu-Lughod, Cairo, S. 140-141. 33 Arnaud, Le Caire, S. 272, 392. 34 Vgl. etwa zur Polizei: Harold Tollefson, Policing Islam. The British occupation of Egypt and the Anglo-Egyptian struggle over control of the police, 1882-1914, Westport 1999. 35 Cole, Colonialism and revolution in the Middle East, S. 268-285; Jacob, Working out Egypt, S. 44-64. 332 Joseph Ben Prestel

Andererseits gewannen Angestelltenberufe in Finanzen und Dienstleis- tungen an Bedeutung.36 Die Presse blieb dabei ein wichtiges Betäti- gungsfeld für männliche Mitglieder der urbanen Mittelschicht und baute ihre Bedeutung sogar noch aus. Nach einer Verschärfung der Pressege- setze 1881 wurden die Zulassungs- und Zensurbestimmungen für Zei- tungen 1893 wieder gelockert. In der Folgezeit wuchs die Zahl von Peri- odika in Ägypten um ein Vielfaches. Allein in den 1890er Jahren ent- standen in der ägyptischen Hauptstadt etwa 90 neue Zeitschriften und Zeitungen, die im gesamten Land ein potenzielles Publikum von etwa 200.000 Lesern erreichen konnten.37 Dabei war besonders die arabisch- sprachige Presse weiterhin eng an die urbane Mittelschicht gebunden: „Egypt's Arabic-language press (as opposed to its upper-class French- editors, and writers of the various newspapers and periodicals wrote in the lan- guagelanguage of the press) urban was middle a middle class.” class38 forum in which the founders, Vor dem Hintergrund der britischen Besatzung und ihrer Folgen für die urbane Mittelschicht diskutierte die arabischsprachige Presse Grün- de und Rechtfertigungen für die politische Unmündigkeit von Ägyptern. Wie Wilson Jacob gezeigt hat, spielte dabei der Körper eine wichtige Rol- le. Verschiedene arabische Texte beschrieben um die Jahrhundertwende ägyptische Männer als schwächlich und damit nicht regierungsfähig.39 Ein Aspekt, den Jacob nur am Rand erwähnt, ist die Verbindung dieser Debatte zu Auseinandersetzungen um städtische „Zivilisation“ und Ver- änderungen in der Stadt. So diskutierten einige Texte die Auswirkung von Verstädterung und „Fortschritt“ auf die Bewohner Kairos.40 Am 27. Januar 1899 veröffentlichte etwa die Zeitschrift „Die Enzyklopädien“ (al- l- ter der Zivilisation?“ (hal na nu ‘a r al-madaniyy i- kelsMūsū‘āt war) einen‘Abd al sechsseitigen- amza, Artikel der zum unter Zeitpunkt dem Titel der „Sind Veröffentlichung wir im Zeita Student der khedivischen Rechtsschuleḥ fī ṣ in Kairo wara). Autorund später dieses zu Art ei- Qādir Ḥ

36 Sozialhistorische Annäherungen an die urbane Mittelschicht um 1900 verweisen im Gegensatz zu Analysen für die 1870er Jahre auf die Bedeutung von „white-collar workers“. Vgl. Lockman, Imagining the working class, S. 161; zur Ausbreitung des Journalistenberufs in Ägypten vgl. Ayalon, The press in the Arab Middle East, S. 50- 62. 37 Ayalon, The press in the Arab Middle East, S. 50-62. 38 Kholoussy, For better, for worse, S. 2. 39 Jacob, Working out Egypt, S. 65-91. 40 Die in dieser Debatte benutzten Begriffe wie „tamaddun“ und „madaniyya“ waren in verschiedenen arabischsprachigen Publikationen des späten 19. Jahrhunderts se- mantisch eng an die Stadt gebunden. Sie leiten sich aus der Wurzel m-d-n (siedeln, bewohnen, wohnen) ab. Vgl. Jens Hanssen, Fin de siècle Beirut. The making of an Ot- toman provincial capital, Oxford 2005, S. 226-228. Die Reform der Stadtmänner 333

nem bekannten Autor der Nationalbewegung werden sollte.41 amza begann seinen Artikel mit einer Reihe gängiger Vorstellungen von Fort- schritt. Die Menschen würden behaupten, so der Autor, dass sich Ḥim 19. Jahrhundert die Wissenschaften, der Handel und das Recht in den Nati- onen verbreitet hätten. Ebenso seien sie stolz auf die „gegenwärtige Zivi- lisation“ (al-madaniyya al- ir falsche Vorstellung davon, was „Zivilisation“ eigentlich sei. Mit Bezug auf islamische Philosophie argumentierteḥāḍ a). Diese amza, Menschen dass nur hätten eine jedoch Form einedes Zusammenlebens, die den Charakter der Menschen bessere und ihre gu- te Seele , es verdieneḤ „Zivilisation“ genannt zu wer- den. In den Städten der „gegenwärtigen Zivilisation“ würde hingegen das Band(nafs) zwischen hervorbringe den Menschen zerstört: „Jeder strengt sich für sich eil jede Per- son glaubt, dass sie alleine in der Welt ist.“ Anstatt sich um ihre Mitmen- selbstschen zuan, sorgen,niemand würden kümmert die sichMenschen um die sich Schwachen lediglich (...)mit wÄußerlichkei- ten beschäftigen und der „tierische“ Trieb der Leidenschaften würde die Oberhand gewinnen.42 Einen Grund für die Triebhaftigkeit und die Betonung der Äußerlich- keit fand ‘Abd al- in Alkohol, Glücksspiel und „Unzucht“. In dieser Beobachtung stimmte er mit zahlreichen anderen Artikeln aus Kairoer ZeitungenQādir und ZeitschriftenḤamza überein, die einen konkreten Bezug zu Kairo und dem männlichen Körper herstellten. In Form einer lokalen Berichterstattung prangerten diese Artikel neue Einrichtungen und Praktiken in der Stadt an, die Männer schwächlich und triebgesteuert machten. Ein Beispiel bietet die Artikelserie „Eine Phase der Zeit“ (fatra min al- ammad al-Muwayli i, die zwischen 1898 und 1902 in der Zeitung -Sharq erschien.43 Mithilfe einer fiktiven Erzählungzaman) sollte von den MuLesern,ḥ wie al-Muwayli ḥi betonte, ein „wahres“ Bild der ägyptischen HauptstadtMiṣbāḥ vermitteltal werden.44 Die Veränderungen in Kairo seit der Jahrhundertmitte standen dabeiḥ im Vordergrund. In al- Muwayli is Artikeln führt der Erzähler einen von den Toten auferstan- denen Pascha durch die Stadt. Der Pascha, der Kairo seit einem halben Jahrhundertḥ nicht mehr gesehen hatte, ist ob der Veränderungen in der Stadt immer wieder verwundert. Unter den neuen Einrichtungen, die der Pascha mit seinem Begleiter besucht, ist ein Tanzlokal, in dem Wein und „weibliche Begleitung“ zur Genüge vorhanden seien. Al-Muwayli i

ḥ 41 Arthur Goldschmidt, Biographical dictionary of modern Egypt, Boulder 1999, S. 70- 71. 42 ‘Abd al-Qādir Ḥamza, hal naḥnu fī ‘aṣr al-madaniyya, in: al-Mūsū‘āt 6 (27.1.1899). 43 Allen, A period of time. 44 Zum Wahrheitsbegriff und dem neuen Realitätsanspruch ägyptischer Autoren vgl.: Al-Baghdadi, Vorgestellte Öffentlichkeit, S. 38-52. 334 Joseph Ben Prestel beschreibt das Tanzlokal als heruntergekommenen Ort, dessen Luft, schwer von Haschisch, Wein, Schweiß und Tabak, die Körper der Anwe- senden schädige.45 Der Pascha ist angeekelt und kann nicht verstehen, warum die anwesenden Männer diesen Ort immer wieder aufsuchen. Er sucht Rat bei seinem Begleiter, der ihm antwortet:

Die Leute halten den Aufenthalt an diesem Ort aus und kommen so zahlreich zu ihm i- nem Gift infiziert werden und so seinen Schaden nicht spüren. Sie sind wie der Kranke,zurück aufgrund der liegt derund allmählichen seine schmerzhafte Übung (...) Krankheit Es ist als und ob sie seine Stück amputierten für Stück mit Glie sed- maßen vergisst.46

Auf diese Weise schilderte al-Muwayli i das Nachtleben als eine Art Droge, die den Körper abhängig mache und schädige. Ein Zeitgenosse von vor fünfzig Jahren könne nur angeekeltḥ auf die Orte blicken, denen die Männer Kairos sich nun aussetzen würden. Während sich in der Be- schreibung der schädlichen Luft im Tanzlokal Anklänge an die Miasmen- theorie finden, beschreiben stadtkritische Artikel oft den Verfall einer spezifischen Eigenschaft der Männer - den Verlust des ‘aql. Der Begriff „‘aql“ wird heute mit Einsicht, Verstand, Vernunft, Ratio, Geist, Intellekt oder Intelligenz übersetzt.47 Er spielte bereits bei islamischen Refor- mern wie -Din al-Af e- ne Eigenschaft eine wichtige Rolle.48 Um 1900 wurde in verschiedenen Artikeln diskutiert,Jamāl ad ob der ‘aqlghā materiellnī in den oder 1870er abstrakt Jahren und als ob gottgegeb er im Her- zen oder im Gehirn angesiedelt sei.49 Ein Artikel von 1892 verdeutlicht, dass ‘aql dabei in der Mittelschicht Kairos sowohl als körperliche als auch als geistige Eigenschaft verstanden werden konnte. So antwortete die Zeitung „der Professor“ (al- ines Lesers, ob der ‘aql in seinem innersten Wesen materiell oder abstrakt sei, dass die Gelehrten ihn heute als beides ansehenUstādh) würden. auf die FrageAuf der e einen Seite sei er abstrakt und mit „der sprechenden Seele“ (al-nafs al- r- gleichen, „auf die der Mensch hinweist, wenn er ich sagt.“ Auf der ande- ren Seite sei der ‘aql materiell, denn er könne nicht ohnenāṭ iqa)das zuGehirn ve funktionieren.50 Der Artikel betont dabei immer wieder, dass der ‘aql

45 Muḥammad al-Muwayliḥi, ḥadīth ‘isa ibn hishām, Kairo 1928, S. 294. 46 Ebd., S. 318. 47 Hans Wehr, Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart, Wiesba- den 1985, S. 861. 48 Gasper, The power of representation, S. 46. 49 Vgl. etwa: maqar al-‘aql, in: al-Hilāl 7 (1.12.1895). 50 Während ältere Texte den ‘aql vor allem im Herzen verorten, betonen die hier aus- gewerteten Artikel immer wieder die Bedeutung des Gehirns. Vgl.: A.S. Tritton, Man, nafs, ruh, ‘aql, in: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 3 (1971), S. 494-495. Auch im Hinblick auf islamisches Recht weist Birgit Krawietz auf eine starke Die Reform der Stadtmänner 335

den Menschen bei der Entscheidungsfindung helfe. Er sei „wie ein Licht im Herzen, welches das Richtige und das Falsche“ kennt.51 Zeitgenössische Artikel beschrieben, wie die Trias aus Alkohol, Prosti- tution und Glücksspiel den ‘aql der Männer zerstöre. So beklagte sich ein ‘ t al-fa 1894 in der Zeitschrift al- Leserihre freie im RahmenZeit zum einer Trinken Artikelserie von Wein über missbrauchen „Freizeit“ (sāwürdenā undrāgh), so ihre die Gehirne schädigten.52 NochHilāl deutl erschien,icher stellte dass zahlreiche die Zeitung Männer „Der Berain Kairoter“ (al- ‘aql dar. In dem Arti- kel „Die Lichter decken die Geheimnisse auf“ wurde eine nächtliche Tour durchMushīr) die Kaffeehäuser, die Wirkung Bars des Nachtlebensund Tanzlokale auf inden der Gegend um den Az- bakiyya-Platz beschrieben. Der Autor war ebenso wie die anderen Män- ner, die sich an diesen Orten aufhielten, als Mitglied der Mittelschicht Kairos zu erkennen. Dem Artikel waren Karikaturen beigefügt, auf de- nen er im Anzug und mit Tarbusch, deutlichen Kennzeichen der urbanen Mittelschicht, abgebild Bars beschrieb der Autor als mittlere Beamte des ägyptischen Staates. Diese Männer würden ihreet war „Finanzen (vgl. Abb. und 1). ihre Die Körper“ anderen in Kairos Gäste inNach dent- leben ruinieren. Dabei würden besonders die „schamlosen Sängerinnen“ den ‘aql der Männer rauben.53 Einige Wochen später unterstrich die gleiche Zeitschrift die Zerstörung des ‘aql in einer Serie über „die Spiel- höllen in Kairo“. Eine Gemeinsamkeit dieser Orte des Nachtlebens, so der Artikel, liege in der Abwesenheit des ‘aql.54 Obwohl Gott den dort anwesenden Männern einen „vollkommenen menschlichen“ Körper ge- geben habe, seien sie durch den Mangel an ‘aql gekennzeichnet.55 Auch Mu ammad al-Muwayli i brachte Alkohol, Glücksspiel und Prostitution mit der Zerstörung des ‘aql in Verbindung. Da der ‘aql unmittelbare Auswirkungenḥ auf die „rationale“ḥ Entscheidungsfindung hatte, kann sei- ne Zerstörung als materielle Ursache dessen beschrieben werden, was ‘Abd al- als die reine Triebhaftigkeit und den Verlust der Menschlichkeit in der „gegenwärtigen Zivilisation“ anprangerte. Vor dem HintergrundQādir Ḥamza des Eindrucks politischer Unmündigkeit gegenüber

Verbindung zwischen Körper und ‘aql hin: Birgit Krawietz, Body in law, in: Gudrun Krämer, Denis Matringe, John Nawas, Everett Rowson (Hg.), Encyclopaedia of Islam, Leiden 2009; http://referenceworks.brillonline.com/entries/encyclopaedia-of-islam- 3/body-in-law-COM_23722 (abgerufen am 12.10.2012). 51 Jawāb, in: al-Ustādh 13 (15.11.1892). 52 Sā‘āt al-farāgh wa afat al-dimāgh, in: al-Hilāl 20 (15.7.1894). 53 Al-anwār tafḍaḥu al-asrār, in: al-Mushīr 101 (19.9.1896). 54 Muḥarrir al-mushīr fi al-maqmara, in: al-Mushīr 15 (12.2.1898). 55 Rijāl al-shadda, in: al-Mushīr 19 (19.3.1898). 336 Joseph Ben Prestel der Kolonialmacht erschien diese Schädigung des Körpers als besonders dramatisch.56

Abb. 1: „Die Lichter decken die Geheimnisse auf. Geheimnis der Nacht“, Zeichnung aus: al- 101 (19

In ihrenMushīr stadtkritischen.9.1896). Artikeln nannten ägyptische Autoren immer wieder europäische Städte als Zentren der neuen schädlichen Praktiken. Die Serie über Spielhöllen in Kairo widmete einen Artikel der Haupt- stadt dieses Unheils: Monte Carlo.57 Andere Artikel beschrieben Mäd- chenhandel und Prostitution als ein vor allem in europäischen Städten verbreitetes Phänomen.58 Nicht zuletzt waren die Räume des beschrie- benen Nachtlebens in Kairo europäisch konnotiert. So war auf einer Ka- rikatur zu dem Artikel „Die Lichter decken die Geheimnisse auf“ zu er- sehr eine pauschale Verurteilung „europäischer“ Praktiken im Vorder- grund.kennen, Viel wie eher der Autorging es eine darum, „Bar“ die betrat „blinde (Abb. Nachahmung“ 1). Hierbei standdieser nicht Prakt soi-

56 Eine Historisierung des Begriffs ‘aql würde auch eine neue Kritikmöglichkeit der Ge- schichtsschreibung Ägyptens entlang des Konzepts der Rationalisierung erlauben. Zur Kritik dieser Geschichtsschreibung vgl. Fahmy, al-jasad wa al-ḥadātha, S. 21. 57 Al-maqmara fi bank munti karlu, in: al-Mushīr 18 (12.3.1898). 58 Vgl. etwa: Sūq al-hasān wa qatl al-insān, in: al-Mushīr 134 (28.5.1897); al-zina’, in: al- Mūsū‘āt 22 (10.9.1900). Die Reform der Stadtmänner 337

ken in der Mittelschicht Kairos zu kritisieren. Diese Männer würden in ihrem Eifer westlich zu sein, nicht darauf achten, was gut und was schlecht für sie sei.59 Vor diesem Hintergrund konnte die Verantwortung für den körperlichen Verfall in der Stadt zum Teil den Männern der ur- banen Mittelschicht selbst zugeschrieben werden. Andererseits konnte sich die Kritik an den Entwicklungen in Kairo jedoch auch auf die politi- sche Situation in Ägypten beziehen. So machten einige Autoren die Schwäche der Regierung und ihr Desinteresse am Wohl der Bevölkerung für das Verhalten der urbanen Mittelschicht verantwortlich. In al- war zu lesen, wie der Autor zunächst zögert, zu einem Ausflug in die Bars Kairos aufzubrechen. Nach einigem Überlegen entschließt Mushīrer sich um 11 Uhr abends, doch noch sein Haus zu verlassen, denn „wer beauf- sichtigt die jungen Männer Kairos in den Nächten des Glücks und des Vergnügens?“60 In al-Muwayli is Artikelserie wiederum fragt der Pa- scha seinen Freund, warum niemand dem Verfall der Männer in Kairo Einhalt gebiete. Darauf bekommtḥ er die Antwort, dass keine Autorität ein Interesse an einem Eingreifen hätte. Sein Freund fährt fort:

schlechten Praktiken, die Körper und Seele zerstören, erlaubt; eine Regierung, die aus ihrer HauptstadtWas kann man ein überSchmuckstück eine Regierung mit Tavernen, sagen, die Spielbanken (...) die Verbreitung und Bordellen dieser in seinem Zentrum gemacht hat?!61

In dieser Passage werden die zerstörerischen Praktiken in Kairo schließlich nicht nur auf eine fehlende Kontrolle durch die Regierung bezogen. Vielmehr wird ihr die Verantwortung für die Veränderungen in der ägyptischen Hauptstadt zugeschrieben, die diese Praktiken erst ge- schaffen hätten. Die stadtkritischen Artikel um die Jahrhundertwende unterschieden sich damit deutlich von Texten der urbanen Mittelschicht aus den 1870er Jahren. Einerseits wurde nun der zerstörerische Einfluss Kairos auf den männlichen Körper betont. Andererseits wandelte sich auch die Beschreibung der Rolle der Regierung. Während die Texte aus der Zeit s immer wieder die Regierung als die treibende Kraft hin- ter dem Fortschritt in der Stadt darstellten, hoben die stadtkritischen Artikel derIsmā‘īl Jahrhundertwende den schlechten Einfluss der Regierung auf die Entwicklung Kairos hervor. Der Rückgang der staatlichen Inves- titionen in Kairo, die veränderten Karrierechancen für Mitglieder der urbanen Mittelschicht und der Aufstieg privater Akteure, können dabei als der politische Hintergrund gelesen werden, auf dem diese Verschie-

59 Vgl. auch: Jacob, Working out Egypt, S. 198-201; Gasper, The power of Representa- tion, S. 40. 60 Al-anwār tafḍaḥu al-asrār, in: al-Mushīr 101 (18.9.1896). 61 Zitiert nach: Allen, A period of time, S. 331. 338 Joseph Ben Prestel bung der Darstellung der Stadt aufbaute. Die stadtkritischen Artikel zei- gen somit, dass sich die Kritik an kolonialen Machtverhältnissen nicht nur auf die nationale Ebene beziehen musste. Vielmehr konnte sie sich auch mit Bezug auf die Stadt äußern und zu einer Verschiebung der Per- spektive auf Kairo beitragen. Diese Beobachtung weist nicht nur auf eine veränderte „Wahrnehmung“ der Stadt hin. Vielmehr entwickelte die De- batte um den zerstörerischen Einfluss Kairos materielle Effekte: Sie be- einflusste Initiativen der urbanen Mittelschicht, die sich als Reform der Stadt und Reform des Körpers beschreiben lassen.

III. Reform der Stadt, Reform des Körpers

Einige Wochen nach dem Erscheinen seines ersten Artikels zur gegen- wärtigen Zivilisation veröffentlichte ‘Abd al- einen weite- ren Artikel mit dem Titel „Wie schaffen wir die wahre Zivilisation?“ amza plädierte darin für eine Besinnung aufQādir die arabische Ḥamza und islami- sche Geschichte. Das Studium dieser Geschichte würde zeigen, dass der „Orient“Ḥ Ursprung der wahren Zivilisation sei. Ein Bewusstsein für diese Tradition könne helfen, Fortschritt wieder zu einem positiven Prozess zu machen.62 amza war nicht der einzige Autor, der nach einem Ge- genmittel gegen die zerstörerische Wirkung der gegenwärtigen Zivilisa- tion in ÄgyptenḤ suchte. 1902 veröffentlichte der Staatsangestellte Mu ammad ‘Umar ein Buch unter dem Titel „Der Zustand der Ägypter oder das Geheimnis ihrer Rückständigkeit“. Umar argumentierte darin, dassḥ Eigenschaften wie Apathie, Ignoranz und Unmoral zur „Rückstän- digkeit“ der Ägypter geführt hätten. Dabei betonte er, wie selbst die Mit- telschicht (wasa al- durch die große Zahl von Kaffeehäusern, Bars und Tanzlokalen korrum- piert würde. Keinṭ Ortumma), sei schließlich die ansonsten so geeignet der Anführer für den Müßiggangder Nation wiesei, die Gegend des Azbakiyya-Platzes in der ägyptischen Hauptstadt.63 Um diese Missstände zu lindern, so ‘Umar, sei eine umfassende Reform (’ 64 Für die jungen Männer der Mittelschicht sei es un- erlässlich, dass sie ihre Körper fern der Stadt mit Übungen trainieren: islāḥ) notwendig. Sie bedürfen dem Training ihrer Körper mittels gesunder Übungen ebenso wie dem Atmen sauberer Luft an Orten, die weit von Wohnungen entfernt sind, denn wie wir

62 ‘Abd al-Qādir Ḥamza, kaifa naqūmu al-madaniyya al-haqīqīa, in: al- Mūsū‘āt 10 (27.3.1899). 63 Muḥammad ‘Umar, ḥāḍir al-miṣriyyn aw sirr ta’akhirihim, Kairo 1902, S. 200. 64 Lockman, Imagining the working class, S.168-171. Die Reform der Stadtmänner 339

gezeigt haben, sind sie gebildete und wohlerzogene Jugendliche, die wissen, dass dies ein Grund für den Aufstieg und Erfolg der europäischen Völker ist.65

‘Umars Buch ist ebenso wie ähnliche Texte, die für eine Reform der ägyptischen Gesellschaft plädierten, häufig als Ausdruck der ägyptischen Nationalbewegung gelesen worden.66 Tatsächlich kann man die darin geäußerten Tendenzen jedoch auch als Resultat der veränderten Per- spektive der Mittelschicht auf die Stadt verstehen. Die Passage aus ‘Um- ars Buch spiegelt dabei zwei Tendenzen wider, die einen wichtigen Ein- fluss auf die weitere Entwicklung Kairos hatten: den Bau neuer Stadt- viertel in Entfernung zum Stadtzentrum und die Gründung von Sporteinrichtungen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich Ägypten zu ei- nem beliebten Winterreiseziel für Europäer entwickelt. Nicht zuletzt bot der Aufenthalt am Nil während der kalten Jahreszeit deutliche Gesund- heitsvorteile. Ägypten sei ein „klimatischer Curort“ wie es die „deutsche medizinische Wochenschrift“ 1889 formulierte.67 Mit dem wachsenden Strom an gesundheitsbewussten Touristen ging der Ausbau einer neuen Infrastruktur in der Umgebung Kairos einher. Diese Besucher wollten zwar Kairo besuchen, jedoch von den „Zerstreuungen der Großstadt entrückt“ sein.68 Ein beliebtes Ziel bot die 1874 gebaute Stadt Helwan, die etwa 25 Kilometer südlich von Kairo lag. Nachdem in Helwan Schwe- felquellen entdeckt worden waren, ließ der Khedive dort Bade- anlagen, einen Palast, Straßen, Wasser- und Gasversorgung errichten. Gleichzeitig entstanden zahlreiche Villen und ein Luxushotel.Ismā‘īl 69 Deutsche Texte schrieben häufig von „Bad Heluan“ und zeigen, dass die neue Stadt europäische Reisende anzog, die zur „Kur“ nach Ägypten kamen.70 Der Tourist Heinrich Sabersyk berichtete 1896 über Helwan:

Kurz vor Weihnachten siedelten wir nach Heluan über, das von Kairo mit der Eisen- hier eine von alters her berühmte Schwefelquelle befindet, ist doch der ganze Ort erst seit etwa zwanzig bahn in ungefähr einer Stunde zu erreichen ist. (...) Obgleich sich

65 ‘Umar, ḥāḍir al-miṣriyyn, S. 199. 66 Zu ‘Umar vgl.: Lockman, Imagining the working class; Allen, A period of time, S. 27; Mitchell, Colonising Egypt, S. 117-119; Jacob, Working out Egypt, S. 78. 67 Julius Hirschberg, Aegypten als klimatischer Curort, Leipzig 1889. 68 Hermann Steckner, Beim Fellah und Khedive. Bilder und Skizzen aus dem modernen Ägypten, Halle 1892, S. 122; neben Helwan bietet etwa auch die Verlagerung einiger großer Hotels nach Giza und Gezira ein Beispiel für diese Dynamik. 69 Yunan Labib Rizk, Battle for Helwan, in: Al-Ahram Weekly 492 (2000). 70 Max Jacob, Kairo, in: Westermanns Monatshefte 70 (1891), S. 226; Hermann Peters, Die klimatischen Winterkurorte Egyptens, o.O. 1882, S. 28. 340 Joseph Ben Prestel

Jahren wieder neu aufgebaut worden, um solchen zum Aufenthalt zu dienen, die eine Zeit lang reine Wüstenluft einatmen wollen.71

Deutsche Reisende machten jedoch nur einen kleinen Teil der Besucher Helwans aus. Seit seiner Errichtung diente der Ort primär dem Khediven und der osmanischen Oberschicht als Rückzugsort in unmittelbarer Nä- he der Hauptstadt. Mit dem Bau einer neuen Eisenbahnverbindung 1889 entwickelte sich Helwan von einem Kur- zu einem Wohnort.72 In der arabischsprachigen Presse finden sich einige Hinweise darauf, dass die Stadt vor diesem Hintergrund eine zunehmend wichtige Rolle für die Mittelschicht Kairos spielte. So gaben Autoren und Leser von Kairoer Zeitungen Helwan als ihren Wohnort an. Gleichzeitig wurde Helwan in dieser Zeit selbst zum Sitz zweier arabischer Zeitungen.73 Ein weiter Hinweis für die zunehmende Popularität von Helwan in der Mittel- schicht ist, dass 1894 in der Zeitschrift al- n- wohner des Vorortes nach dem Bau einer Schule diskutiert wurde. Zwei Veröffentlichungen aus den 1890erHilāl Jahren die zeigen, Forderung dass derHelwa Ei n zur gleichen Zeit in der Kairoer Öffentlichkeit als gesunde Alternative zur Stadt beworben wurde. 1894 veröffentlichte ein Autor namens ‘Abd al-‘Aziz ein Buch unter dem Titel „Die Deutlichkeit des Be- weises der Vorteile und Vorzüge von Helwan“.74 Der Autor beschreibt Aḥmaddarin auf 64 Seiten die Gesundheitsvorteile von Helwan gegenüber Kairo. Nicht zu Unrecht, so ‘Abd al-‘Aziz, würden einige Weise sagen, dass die Menschen auf dem Land gesünder seien als die Bewohner der Stadt. Der Autor legt detailliert dar, dass die Luft in Helwan besser sei als in Kairo. Mit seiner guten Luft würde Helwan auch die Möglichkeit zu „körperlichen Übungen“ (ar- a al- seien in den Straßen und Gassen Kairos unratsam, denn dort sei die „Luft der Straßen“ und „der Häuser“riyāḍ nah.jasadia) In der bieten. reinen SolcheWüstenluft Übungen Hel- wans könne man diesen Übungen hingegen außerhalb der Wohnung nachgehen und so seinen Körper stärken.75 Drei Jahre später beschrieb eine weitere Broschüre die Vorteile des neuen Vorortes auf ganz ähnli- che Weise. Auch hier legte der als Arzt ausgewiesene Autor die Bedeu- tung der reinen Luft Helwans gegenüber der Luft in Kairo dar.76 Ein kur- zer Zeitungsartikel veranschaulicht, dass diese Broschüre auf ein Lese- publikum in der ägyptischen Hauptstadt zielte. Al- 16. Januar 1897 über die Broschüre als neue „Studie“ von Doktor A mad Mushīr berichtete am 71 Heinrich Sabersky, Ein Winter in Ägypten. Eine Reisebeschreibung, Berlin 1896,ḥ S. 67. 72 Rizk, Battle for Helwan. 73 Hierzu gehörte die Zeitung al-Ḥimāīa, die seit 1896 erschien. 74 Aḥmad ‘Abd al-‘Aziz, wuḍūḥ al-burhān fi fāḍil wa mazāīā helwān, Kairo 1894. 75 Ebd., S. 27-28. 76 Aḥmad al-Shāf‘ī, ṣiḥḥat al-abdān fi al-maṣif helwān, Kairo 1897. Die Reform der Stadtmänner 341

al- . Der „respektable“ Arzt zeige darin, dass das Wohnen in Helwan nützlich für die Gesundheit sei und den ‘aql fördere. Die Broschüre wur- de Shāallenf‘ī interessierten Lesern zum Kauf bei einem Buchhändler in Kairo oder am Bahnhof von Helwan empfohlen.77 Wenige Jahre nach der Jahrhundertwende baute ein weiteres Projekt auf den „Gesundheitsvorteilen“ durch die Entfernung von der Stadt auf. 1905 unterzeichneten der belgische Industrielle Edouard Empain und der ägyptisch-armenische Unternehmer Boghos Nubar Pascha einen Kaufvertrag mit der ägyptischen Regierung für ein Stück Wüste, das rund 10 Kilometer nordöstlich vom Stadtzentrum Kairos lag. Mithilfe einer neuen Eisenbahnstrecke sollte die „Helipolis Oasis Company“ die- ses Land an die ägyptische Hauptstadt anschließen und dort eine neue Vorstadt errichten. Das Gebiet zeichnete sich besonders durch seine klimatischen Vorteile aus, da es zwar etwas wärmer als Kairo war, gleichzeitig jedoch durch einen leichten Wind gekühlt wurde.78 Die reine Luft sollte zusammen mit günstigen Preisen Bewohner aus Kairo in die Vorstadt locken: „L'idée qui préside à cette création est d'attirer dans cet oasis, où les loyers seraient bon marché et où l'air serait pur, ceux qui trouvent aujourd'hui difficilement à se loger dans la capitale.“79 Auch die Anlage der Straßen und Häuser in Heliopolis zielte auf eine gute Durch- lüftung und viele Grünflachen ab. So schrieb der Bebauungsplan von 1909 vor, dass 8 % der Gesamtfläche mit Parks, öffentlichen Gärten und Freizeitanlagen bedeckt sein sollte. Insgesamt war Heliopolis von Ideen der Gartenstadt-Bewegung geprägt, welche die belgischen Unternehmer inspirierte.80 Auch Sportanlagen waren, wie die Gründung eines „Sport- ing Club“ unterstreicht, ein zentraler Bestandteil des Vorhabens.81 Ob- wohl das Unternehmen in der Planung „europäisch“ und tief in den ko- lonialen Machtverhältnissen verankert war, zog Heliopolis sowohl Eu- ropäer als auch Ägypter an. So waren im Jahr 1915 in der Gruppe mittle- rer Staatsbeamter, die in Heliopolis wohnten, etwa genauso viele Ägyp- ter wie Europäer vertreten.82 Helwan und Heliopolis veranschaulichen die Attraktivität neuer Vororte für Teile der Bevölkerung Kairos. Die ge- zielte Bewerbung dieser Wohngegenden als gesundheitsfördernde Orte, die Betonung der „reinen Luft“ und der große Abstand zum alten Stadt- zentrum Kairos zeigen deutliche Verbindungen zur Debatte um die zer- störerische Wirkung der Stadt auf den Körper innerhalb der urbanen

77 O. A., in: al-Mushīr 117 (16.1.1897). 78 Robert Ilbert, Heliopolis, le Caire 1905-1922. Genèse d'une ville, Paris 1981, S. 9. 79 Zitiert bei: Ilbert, Heliopolis, S. 9. 80 Ilbert, Heliopolis, S. 64-77. 81 Ebd., S. 123. 82 Ebd., S. 115-128. 342 Joseph Ben Prestel

Mittelschicht. Die neuen Vororte konnten damit nicht nur europäische Reisende und Kolonialbeamte anziehen, sondern auch als Beitrag für die Reform der Männer Kairos gelesen werden. Auf diese Weise lässt sich auch die Bedeutung „körperlicher Übungen“ und des Sports in beiden Projekten interpretieren.

Abb. 2: Wohnen in der frischen Wüstenluft. Postkarte aus Heliopolis von 1913, Quelle: Travellers in the Middle East Archive, http://scholarship.rice.edu/handle/1911/5724 (abgerufen am 04.10.2012).

Körperliche Übungen spielten während den 1860er und 1870er Jahren innerhalb der urbanen Mittelschicht kaum eine Rolle. Zentrale Praktiken für die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe wie Diskutieren und Debattieren bezogen sich eher auf die Haltung des Körpers, nicht auf dessen Kraft oder Fitness. Mit dem Einmarsch der Briten begannen sich koloniale Räume des Sports in der ägyptischen Hauptstadt zu entwickeln. Seit 1886 existierte auf der Nilinsel Gezira der „Gezira Sporting Club“. Dieser Club sollte vor allem britischen Offizieren Gelegenheit für Cricket, Polo, Golf und andere Sportarten bieten. Zu Beginn schloss der Club „Einhei- mische“ ganz aus, und erst nach einiger Zeit wurde eine kleine Gruppe reicher Ägypter aufgenommen.83 Auch andere Sporteinrichtungen, die unter britischer Kontrolle entstanden, setzten eine „rassische“ Trennung voraus. So wurde etwa der Bau einer Fechthalle im Azbakiyya-Park

83 Lanver Mak, The British in Egypt. Community, crime, and crises, 1882-1922, London 2012, S. 93-96. Die Reform der Stadtmänner 343

1893 nur unter der Voraussetzung gewährt, dass eine Trennung zwi- schen „indigener Bevölkerung“ und „Europäern“ gewährleistet sei.84 Pa- rallel zu diesem Aufkommen kolonialer Räume in der Stadt, spiegeln zeitgenössische arabischsprachige Publikationen eine zunehmende Be- deutung von „körperlichen Übungen“ als Reformprojekt wider. Das obi- ge Zitat von veranschaulicht etwa, wie „körperliche Übungen“ als ein Grund für die Überlegenheit „europäischer Völker“ und ein Mittel gegenMuḥammad den Verfall ‘Umar ägyptischer Männer beschrieben wurden. Zwischen 1899 und 1901 unterstrich eine Artikelserie in der Kairoer Zeitschrift al- Gesellschaft. Dabei wurde besonders das Gewichtheben hervorgehoben. Einige der ArtikelHilāl waren die Bedeutung mit genauen von Beschreibungen „körperlichen Übungen“ der körperlichen für die Abläufe versehen und stellten verschiedene Varianten dieses Sports vor.85 Hier wird deutlich, dass „körperliche Übungen“ nicht als rein „eu- ropäischer“ Import verstanden werden mussten. Stattdessen wurden auch „alte“ Formen des Gewichthebens etwa bei den „alten Ägyptern“ vorgestellt und diskutiert.86 Wie Wilson Jacob gezeigt hat, konnten kör- perliche Übungen auch an das ältere philosophische Konzept des a“ im Sinne von Selbstverbesserung anschließen.87 Körperliche Übungen wurden auf diese Weise von der urbanen Mittelschicht als „ägyptisches“„riyāḍ Reformprojekt angeeignet. Institutioneller Ausdruck die- ser Aneignung war die Gründung ägyptischer Institutionen des Sports. So wurde am 26. Februar 1909 im Süden von Gezira der „nationale Club für körperliche Übungen“ (al- al-ahli lil- a al-badaniy e- gründet.88 Die Gründung des al- -ahli zeigt, wie sich nicht nur in neuen Vororten, sondern auch innādi neuen sozialenriyā Räumenḍ in Kairoya) Sport g als körperliche Praxis der urbanennādi Mittelschicht al ausbreitete. Die Verbreitung von Sporteinrichtungen und neuen Vororten markie- ren einen Einschnitt in der Sozialgeschichte Kairos. Mit der Schaffung neuer Wohnviertel in größerer Entfernung zum Stadtzentrum breitete sich die Fläche Kairos deutlich aus, während die Stadt zunehmend sozial segregiert wurde.89 Nicht zu Unrecht sieht Khaled Adham im Bau von Heliopolis den Beginn der Suburbanisierung in der ägyptischen Haupt-

84 Ägyptisches Nationalarchiv (DWQ), Diwān ad-Dakhiliya, Dokument Nummer 2001- 018961. 85 Vgl. etwa: al-riyāḍa al-jasadiyya wa al-hiyāt al-ijtimā‘iyya, in: al-Hilāl 21 (1.8.1899). 86 Al-qudamā’ wa al-riyāḍa, in: al-Hilāl 11 (1.3.1902). 87 Wilson Jacob hat hier Pionierarbeit geleistet und dieser Abschnitt baut auf seinem Argument auf: Jacob, Working out Egypt, S. 71-91. 88 Jacob, Working out Egypt, S. 85-87. 89 Arnaud, Le Caire, S. 295-356. 344 Joseph Ben Prestel stadt.90 Während man hier den Bau anderer Vororte wie Helwan anfü- gen müsste, bot auch der Körper reformierter Stadtmänner ein soziales Distinktionsmerkmal. Die zunehmende Bedeutung körperlicher Übun- gen in der urbanen Mittelschicht führte spätestens in den 1920er Jahren zu einem neuen Ideal ägyptischer Männlichkeit. Die trainierten Körper der Stadtmänner zeichneten sie als Führer der Nationalbewegung aus und unterstrichen ihren Anspruch auf politische Herrschaft. Die Reform der Stadt und des Körpers mündete so in einem neuen hegemonialen Anspruch auf die Vertretung „ägyptischer Männer“ durch die urbane Mittelschicht.91 Diese Entwicklung war nicht zuletzt Teil der Geschichte Kairos.

Schluss

Was verbindet iyya mit Heliopolis? Lange Zeit lautete eine Ant- wort: Die Straßenbahn. Doch der Bau neuer Vororte kann nicht alleine durch technischeIsmā‘īl Innovationen erklärt werden. Eine Geschichte des So- zialen, die, wie David Harvey es ausdrückt, die Entstehung der Suburbs durch die Verbreitung des Autos erklärt, ist unbefriedigend.92 Gerade der Vergleich zu den 1870er Jahren verdeutlicht wie voraussetzungsvoll die Entwicklungen in Kairo um die Jahrhundertwende waren. Der Bau neuer Stadtviertel in der Wüste und die Verbreitung von körperlichen Übungen hätten auf ein Mitglied der urbanen Mittelschicht in den 1870er Jahren befremdlich gewirkt. In dieser Zeit waren die Lektüre von Zeitungen und Büchern sowie das öffentliche Debattieren bevorzug- te soziale Distinktionsmerkmale. Diese als urban beschrieben Praktiken konnten sich auch auf den Körper beziehen, etwa durch ein „korrektes Auftreten“ oder einen bestimmten Kleidungsstil. Die Stadt wurde somit nicht als ein Problem für den Körper dargestellt. Um die Jahrhundert- wende hatte sich diese Vorstellung gewandelt. Nun wurde innerhalb der Mittelschicht Kairos der zerstörerische Einfluss der ägyptischen Haupt- stadt betont. Glücksspiel, Prostitution und Alkohol, so war zu lesen, würden Kairo zu einem Ort machen, der die Körper von Männern zer- störe. Man könnte hier nach der sozialen Realität „hinter“ diesen Debatten fragen. So ließe sich etwa untersuchen, ob es tatsächlich eine Verände-

90 Khaled Adham, Cairo’s urban déjà-vu. Globalization and urban fantasies, in: Yasser Elsheshtawy (Hg.), Planning Middle Eastern cities, London 2004, S. 134-168. 91 Jacob, Working out Egypt. 92 David Harvey, The urbanization of consciousness, in: ders., The urban experience, Baltimore 1989, S. 229-255. Die Reform der Stadtmänner 345

rung in Praktiken der Prostitution oder des Alkoholkonsums um die Jahrhundertwende gab. War die Luft in Kairo am Ende des 19. Jahrhun- derts schmutziger geworden? Solche Fragen wären wichtig und könnten Einblicke über die urbane Mittelschicht hinaus liefern.93 Allein Broschü- ren, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel können darauf keine Antworten geben. Sie spiegeln vor allem die Perspektive der urbanen Mittelschicht auf bestimmte Praktiken in Kairo wider. Dieser Umstand macht sie als Quellen jedoch nicht weniger relevant für die Geschichte der ägypti- schen Hauptstadt. Vielmehr produzierte die Debatte um den zerstöreri- schen Einfluss der Stadt ihre eigenen materiellen Effekte. Die veränderte Sichtweise auf Kairo beeinflusste die Verbreitung neuer Praktiken, die auf eine Reform der Stadt und des Körpers abzielten: der Bau von Vor- orten und Sport. Argumente von der gesundheitsfördernden Wirkung dieser Praktiken waren hier nicht nur ein „kultureller Zuckerguss.“ Sie waren zentraler Bestandteil sozialen Wandels am Ende des 19. Jahrhun- derts. Die Debatte um Sport und neue Vororte in Kairo entwickelte sich aus dem wahrgenommenen Machtverlust einer Gruppe heraus, die in den 1860er und 1870er Jahren aufgestiegen war. Körperpolitik bot die Möglichkeit, die soziale Distinktion dieser „Stadtmänner“ fortzuschrei- ben. Paradoxerweise wurde der männliche Körper dabei von der Stadt getrennt. Anstatt zu einem urbanen Körper, sollte er nun zu einem ge- sunden und kräftigen Körper werden. Obwohl die hier analysierten Artikel somit Teil der Geschichte Kairos sind, weisen sie jedoch auch über den lokalen Kontext hinaus. Histori- kern anderer Städte werden die Debatten um neue Vororte und Sport am Ende des 19. Jahrhunderts vertraut erscheinen. Zieht man etwa Ber- lin als Vergleichsfall heran, so lassen sich viele Berührungspunkte mit Praktiken in der Lebensreformbewegung oder Initiativen zum Bau von Gartenstädten finden. Die Debatte in Kairo macht dabei deutlich, dass die Beobachtung solcher Parallelen in keinem Narrativ der „Verwestli- chung“ oder der kolonialen Intervention aufgeht. Der Bau neuer Vororte und die Verbreitung von Sport waren nicht einfach Erscheinungen aus europäischen Städten, die in Kairo wiederholt wurden. Viel eher bauten die Argumente für Sport und neue Vororte auf einer expliziten Kritik an der „blinden Nachahmung“ als europäisch beschriebener Praktiken auf. Die Sorge um den ‘aql verdeutlicht, wie die Artikel in der arabischspra-

93 Polizeiakten können hier eine geeignete Quelle sein, wie Liat Kozma in ihrer faszinie- renden Arbeit gezeigt hat: Liat Kozma, Policing Egyptian women. Sex, law, and medi- cine in Khedival Egypt, Syracuse 2011; Hanan Kholoussy hat durch die Kombination von Zeitschriftenartikeln mit Gerichtsakten versucht, die Debatten in der Mittel- schicht mit einer Analyse der sozialen Realität zu verbinden: Kholoussy, For better, for worse. 346 Joseph Ben Prestel chigen Presse in die Sprache und Begriffe der Kairoer Mittelschicht ein- gebettet waren. Anstatt auf „Nachahmung“ oder „Verwestlichung“ weist die Körperpolitik in Kairo somit eher auf parallele Entwicklungen in ganz unterschiedlichen Städten und Kontexten hin. Vor diesem Hinter- grund scheint das Argument eines genuin „westlichen“ Verhältnisses zwischen Körper und Stadt zumindest für das späte 19. Jahrhundert wenig überzeugend.94 Stattdessen wäre es fruchtbarer, die Parallelen zwischen Städten über „den Westen“ hinaus auszuloten. Arbeiten zu Stadtverwaltungen, zum Bürgertum oder zu Sittlichkeitsbewegungen bieten hier bereits produktive Anschlussmöglichkeiten.95 Der Vergleich „urbaner“ Körperpolitiken könnte in diesem Sinne zu einer globalen Stadtgeschichte des 19. Jahrhunderts beitragen.

Joseph Ben Prestel, Kontakt: prestel (at) mpib-berlin.mpg.de. Studium der Geschichte in Berlin, Paris und New York. Zurzeit Doktorand am Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin zum Thema „Groß- stadtgefühle? Auseinandersetzungen um ‚urbane‘ Emotionen in Berlin und Kairo, 1860- 1914“.

94 So etwa bei Richard Sennett, Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der west- lichen Zivilisation, Frankfurt 1997. 95 Saunier/Ewen (Hg.), Another Global City; Margrit Pernau, Bürger mit Turban. Musli- me im Delhi des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2008; zu Sittlichkeitsbewegungen vgl. etwa die Konferenz Fighting Drinks, Drugs, and Veneral Disease: Global Anti-Vice Ac- tivism, ca. 1870-1940, die im April 2012 stattfand: http://hsozkult.geschichte.hu- berlin.de/index.asp?pn=tagungsberichte&id=4311 (abgerufen am 14.7.2012).