Wilmes Raffael

Der Pazifikkrieg in der japanischen Erinnerungskultur

Kultur als Fundament der Erinnerung

Masterarbeit

Eingereicht an der Leopold-Franzens Universität Innsbruck

zur Erlangung des akademischen Grades

Master of Arts

Betreuerin:

assoz. Prof. Mag. Dr. Eva Pfanzelter

Institut für Zeitgeschichte

Innsbruck, 2.05.2019 Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung 2 2. Historischer Kontext 5 3. Das Konzept des kollektiven Gedächtnisses 7 3.1. Maurice Halbwachs 7 3.2. Pierre Nora 9 3.3. Jan und Aleida Assmann 11 3.4. Medien als Träger und Vermittler der Erinnerung 13 4. Charakteristiken japanischer Gesellschaftsstruktur und Kultur 17 4.1. Merkmale individualistischer und kollektivistischer Gesellschaften 18 4.2. Risikobereitschaft und Unsicherheitsvermeidung 21 4.3. Machtdistanz 21 4.4. Maskulinität und Femininität 22 4.5. Lang- und kurzfristige Orientierung 22 4.6. Genuss versus Zurückhaltung 23 4.7. High- und Low-context-Kulturen 23 4.8. Einheit und Solidarität 25 4.9. Ein Blick auf Japans visuelle Kultur 27 4.10. Shintoismus 35 5. Nanjing und Japans Kriegsanteil im Diskurs 39 5.1. Das Massaker von Nanjing 39 5.2. Über die Einigung Japans nationaler Geschichte 42 6. Was erinnert Japan? 54 6.1. Yasukuni-Schrein 55 6.2. Filme 65 6.3. Manga 74 6.4. Anime 93 6.5. Die Monster der Shōwa-Periode 99 7. Fazit 101 8. Abkürzungsverzeichnis 105 9. Literaturliste 106 10. Abbildungsverzeichnis 115

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1. Einleitung

Was erinnern wir? Wie erinnern wir? Und was versuchen wir zu vergessen oder zu verdrängen? Dies sind wesentliche Fragen dieser Masterarbeit, welche sich mit der Thematik der Erinnerungskultur auseinandersetzt. Der gewählte Rahmen dafür ist die Zeit um den Zweiten Weltkrieg. Jedoch fällt dieses Mal der Fokus der Erinnerungskultur nicht auf Europa, sondern auf Japan. Japan stand in den letzten Jahrzehnten immer wieder im Rampenlicht und wurde von der westlichen Welt 1 aufgrund einer mangelhaften Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und seinem damit zusammenhängenden eigensinnigen öffentlichen Verhalten kritisiert. Diese Arbeit geht diesem Verhalten auf den Grund und versucht die Beweggründe und die kulturelle Beschaffenheit dahinter zu erkennen. Ausschlaggebend für diese Untersuchung ist somit das Verstehen der japanischen Kultur und Gesellschaft. Es kann nicht genug betont werden, wie groß die kulturellen Unterschiede zwischen dem jahrhundertelang isolierten Japan und der westlichen Welt tatsächlich sind. Das Aufschlüsseln und Herauskristallisieren der für diese Arbeit relevanten Differenzen werden somit eine tragende Säule der Untersuchung sein. Häufig überträgt die westliche Zivilisation beim Bewerten diverser Fakten und Ereignisse ihr Wertesystem und kulturelles Verständnis auf asiatische Nationen, in diesem Fall speziell die japanische. Die Eigenarten der japanischen Kultur werden dabei meistens außer Acht gelassen. Das gleiche Verhaltensmuster ist auch auf der Seite asiatischer Kulturen zu beobachten. Dies führt zweifellos zu Missverständnissen oder gar zu einem gegenseitigen Unverständnis. Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit der Versuch unternommen, die Ereignisse nicht nur aus westlicher Perspektive zu bewerten, sondern sie auch aus japanischer Sicht darzustellen und dem Leser somit grundlegende kulturelle Einblicke zu gewähren. Tatsächlich weisen Deutschland und Japan wesentliche Unterschiede beim Umgang mit der eigenen verbrecherischen Geschichte auf. Obwohl die Nazivergangenheit Deutschlands in gewisser Weise noch immer ein heikles Thema ist, wird sie dennoch kontinuierlich thematisiert und praktisch öffentlich ausgeschlachtet. In Japan hingegen, so scheint es, wird die Rolle des Täters2 tabuisiert und unter den Tisch gekehrt. Diese Arbeit wird jedoch von der These geleitet, dass Japan sich tatsächlich sehr intensiv mit der eigenen Vergangenheit beschäftigt und es diverse Stimmen gibt, die versuchen, die im Pazifikkrieg

1 Gemeint sind hier vor allem Nationen Europas und Nordamerikas, deren Kulturen gemeinsame Ursprünge aufzuweisen haben. 2 Aufgrund der teilweise schweren Lesbarkeit der Arbeit (wegen vieler Fremdwörter und japanischer Schriftzeichen) wird von einer gendergerechten Sprache abgesehen. Darum sind in den meisten maskulinen Formen auch Frauen mit inbegriffen.

2 begangenen Gräueltaten in das öffentliche Bewusstsein zu bringen. Vor allem der Umgang mit Fragen der eigenen Schuld und Verantwortung sind hier interessant.

Roman Rosenbaum, Experte auf dem Gebiet der japanischen Nachkriegsliteratur, erklärt in seinem Beitrag von 2007, Motomiya Hiroshi's The Country Is Burning3, dass es zwar eine ganze Menge wissenschaftlicher Publikationen bezüglich des Nanjing4-Massakers (eines der bekanntesten und auch am kontroversesten diskutierten japanischen Kriegsverbrechen) gibt, die Wirkung populärer Medien (wie Manga) auf die Geschichtswahrnehmung der Gesellschaft bisher jedoch stark vernachlässigt wurde. Diese Arbeit versucht nun einen Beitrag in diesem Forschungsfeld zu leisten und einige der verbleibenden Lücken zu füllen. Rosenbaum glaubt außerdem, dass die in Manga erzählten Geschichten, so trivial sie auch zu sein scheinen, dennoch einen bedeutenden, nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft haben.5 Zur Bearbeitung dieses Themas werden somit diverse Medien herangezogen. Als Hauptquellen werden jedoch Manga (japanische Comics) und Anime (japanische Animationsfilme oder -serien) genutzt. Des Weiteren wird Sekundärliteratur in Form von Büchern, japanischer Presse, „Erinnerungsorten“ und digitalen Medien wie Filme verwendet. Bisher gibt es nur eine geringe Menge an deutschsprachiger Literatur zu diesem Thema. Aus diesem Grund stammt ein Großteil der verwendeten Literatur aus dem englischen oder dem japanischen Sprachraum. Dennoch bleibt die Auswahl an Fachliteratur relativ bescheiden. In einem ersten Schritt wird das Konzept des kollektiven Gedächtnisses erläutert. Hierfür wird La mémoire collective6 von Maurice Halbwachs herangezogen. Es sollen aber auch modernere Ansätze erläutert und umgesetzt werden. Darum werden auch die Arbeiten von Aleida Assmann7 und Pierre Nora8 berücksichtigt. Zudem darf Astrid Erll9, die einen rezenten Überblick und eine gute Einführung in das Thema der Erinnerungskultur bietet, nicht übergangen werden. Anschließend wird ein Kapitel der japanischen Kultur und Gesellschaft gewidmet. Hier werden einige Aspekte aufgegriffen, die die immensen

3 Roman Rosenbaum, Motomiya Hiroshi's The Country Is Burning, in: International Journal of Comic Art 9 (2007), Nr. 1, S. 591–609. 4 Nanjing oder auch Nanking genannt. In dieser Arbeit wird in der Regel die chinesische Schreibung Nanjing benutzt, es sei denn, die Nanking-Schreibweise wird beispielsweise in Buchtiteln oder direkten Zitaten verwendet. 5 Ebd., S. 594. 6 Maurice Halbwachs, La Mémoire Collective, Paris 1950. 7 Aleida Assmann, Kollektives Gedächtnis, 26.8.2008, [https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichtegeschichte -und-erinnerung/39802/kollektives-gedaechtnis?p=all], eingesehen 4.11.2018. 8 Pierra Nora, Between Memory and History: Les Lieux de Mémoire, in: Representations 26. Sonderheft: Memory and Counter-Memory (1989), S. 7–24. 9 Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 20173.

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Unterschiede zwischen der japanischen und den westlichen Kulturen verdeutlichen sollen. Dafür werden die Überlegungen von Geert Hofstede10 (Sozialpsychologe), Edward Hall11 (Anthropologe und Ethnologe) und Yoshio Sugimoto12 (Soziologe) herangezogen. Auch der Shintoismus, die ursprüngliche Religion Japans, bedarf einiger Erklärungen. Darüber hinaus wird kurz die Entwicklung der Manga beziehungsweise der visuellen Kultur Japans erläutert, wodurch der Wert der Manga als historische Quelle verdeutlicht werden soll. Im fünften Kapitel wird auf das sogenannte Massaker von Nanjing (1937) eingegangen. Dieses kann durchaus als Symbol für Japans Erinnerungskultur bezüglich des Pazifikkrieges verstanden werden und ist somit ein wichtiger Bestandteil dieser Arbeit. Zur Bearbeitung des Nanjing- Diskurses der Nachkriegszeit war Yoshida Takashis The Making of the “Rape of Nanking”13 von unschätzbarem Wert. Yoshida schafft es, dem Leser einen guten und vor allem verständlichen Überblick über die äußerst verwirrende und verstrickte japanische Forschungsdebatte zu vermitteln. Im Quellenteil werden dann unterschiedliche „Erinnerungsorte“, also diverse Kristallisationspunkte der Erinnerung vorgestellt, darunter der berühmte Yasukuni-Schrein, Filme und, wie bereits angekündigt, Manga und Anime als Hauptquelle. Es soll jedoch gesagt sein, dass die hier ausgewählten Werke nur einen Bruchteil des Gesamtbestandes repräsentieren. Die Auswahl beruht zum Teil auf dem Bekanntheitsgrad der Werke, aber auch auf ihrer Verfügbarkeit (gemeint ist auch die Verfügbarkeit einer Übersetzung). Dennoch wurde ein Manga mit in die Arbeit aufgenommen, auf welchen leider nicht direkt zugegriffen werden konnte. Da er für diese Arbeit jedoch von großer Bedeutung ist, wurde er über Berichte und Artikel verwertet. In diesem Fall trägt nämlich auch die Verfügbarkeit des Mangas zu seiner Aussagekraft bei. Die Rede ist von dem Titel Kuni ga moeru14. Dieser Manga führt zudem unumgänglich zu dem kontroversen, aber zur Diskussion anregendem Buch The Rape of Nanking15 von Iris Chang.

10 Larry A. Samovar/Richard E. Porter/Edwin R. McDaniel, Communication between cultures, Belmont CA 20076, S. 140–150. 11 Ebd., S. 158 ff. 12 Yoshio Sugimoto, An Introduction to Japanese Society, Melbourne 20144. 13 Takashi Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”. History and Memory in Japan, China and the United States, New York 2006. 14 Hiroshi Motomiya, 国が燃える (Kuni ga moeru), Tokyo 2002–2005. 15 Iris Chang, Die Vergewaltigung von Nanking, Das Massaker in der chinesischen Hauptstadt am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, Zürich 1999.

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2. Historischer Kontext

Vorab soll eine kurze Zusammenfassung der politischen Situation in Asien sowie des Kriegsverlaufs für einen Einstieg in die Materie sorgen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts galt Japan als regionale Großmacht in Ostasien. Auffallend waren die kaisertreuen, militaristischen und nationalistischen Tendenzen der Regierung. Immer wieder versuchte Japan, gewaltsam zu expandieren, und beanspruchte die alleinige Hegemonie im asiatischen Raum. Ziel war es, eine „großasiatische Wohlstandszone“ unter japanischer Führung zu errichten. Dies setzte auch die Vertreibung der noch in Asien vorhandenen und sehr präsenten europäischen Kolonialmächte (v. a. Großbritannien, Niederlande und Frankreich) voraus. Japan provozierte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehrmals gewaltsame Grenzkonflikte mit China und dem russischen Reich bzw. der Sowjetunion. 16 Mit der Expansion Japans nach Korea17 und Russlands nach Sibirien wurde besonders das Gebiet der Mandschurei für die folgenden drei Nationen interessant: das russische Reich, Japan und China. Im Jahr 1900 besetzte das russische Reich die Mandschurei, was zu Spannungen mit Japan führte und schließlich im russisch-japanischen Krieg von 1904/5 gipfelte. Das russische Kaiserreich musste das Gebiet räumen und es wieder zurück an China geben. Japan konnte seinen Einfluss auf dieses Gebiet verstärken; dies gelang v. a. durch die Übernahme der südmandschurischen Eisenbahn, welche von der japanischen Kwantung-Armee beschützt wurde 18 . Diese wurde genutzt, um Rohstoffe (u.a. Kohle, Eisen und Erdöl) 19 aus der Mandschurei nach Korea zu bringen, welche von dort aus weiter nach Japan verschifft wurden. 1931 kam es zur sogenannten Mandschurei-Krise. Die japanische Kwantung-Armee besetzte die Mandschurei und wandelte sie zum Marionettenstaat Mandschukuo um. Der Völkerbund sowie die nicht zum Völkerbund gehörenden USA kritisierten das aggressive Verhalten Japans vergeblich. Anschließend versuchte Japan seine Einflusssphäre sowohl

16 Lemo. Lebendiges Museum online (Hrsg.), Japan als Verbündeter des Deutschen Reiches, 19.5.2015, [https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/kriegsverlauf/japan.html], eingesehen 31.7.2017. 17 1905, nach dem russisch-japanischen Krieg wurde das Kaiserreich Korea (1897–1910) zum Protektorat Japans. 1910 erzwang Japan die Abdankung des koreanischen Kaisers und gliederte Korea schließlich offiziell als Kolonie ein. Christian Schmidt-Häuer, Die Koreanische Tragödie, in: Zeit Online, 23.5.2017, [https://www.zeit.de/2010/34/G-Korea], eingesehen 6.2.2019. 18 Sören Urbansky, Auf dem Dampfross in die Mandschurei, in: Neue Zürcher Zeitung, 11.7.2014, [https://www.nzz.ch/feuilleton/auf-dem-dampfross-in-die-mandschurei-1.18341358], eingesehen 6.2.2019. 19 Hal Gold, Unit 731 testimony. Japan's wartime human experimentation program, Boston 20034, S. 28.

5 nach Norden als auch nach Süden auszudehnen, was diesen regionalen Konflikt zu einem Teil des globalen Weltkriegs machte.20 In den 1930er-Jahren bemühte Japan sich um eine Annäherung an das NS-Regime und versuchte es für einen Krieg gegen die Sowjetunion zu gewinnen. Am 25. November 1936 schlossen beide Staaten schließlich den Antikominternpakt21 und versuchten 1940 ihre Beziehungen und gemeinsamen Ziele durch den Dreimächtepakt weiter zu stärken.22 Das japanisch-amerikanische Verhältnis befand sich durch die Besetzung der Mandschurei und Japans Einmarsch in China (1937) an einem Tiefpunkt. Im April 1941 besetzte Japan Französisch-Indochina, woraufhin die USA und Großbritannien ein Erdöl-Embargo über den Aggressor verhängten. Die Rohstoffknappheit (4/5 des Erdöls stammten aus dem Handel mit den USA) veranlasste Japan dazu, noch schneller in die rohstoffreichen südostasiatischen Regionen vorzudringen und diese zu besetzen. Die darauffolgenden Verhandlungen zwischen den USA und Japan blieben erfolglos. Mit dem Überraschungsangriff der Japaner auf den US-Flottenstützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii am 7. Dezember 1941 kam es zum Eklat. Folglich verwandelte dieser Angriff auch den Pazifikraum in einen Schauplatz des Zweiten Weltkriegs.23 Bis 1942 schaffte Japan es, große Teile des Pazifikraums einzunehmen, darunter Thailand, die malaiische Halbinsel, die Philippinen, Britisch-Burma, Niederländisch-Indien sowie große Teile Neuguineas. Nach 1942 geriet die japanische Offensive ins Stocken und wurde mit hohen Verlusten immer weiter von den USA und ihren Verbündeten zurückgedrängt. Die Eroberung der japanischen Inseln Iwo Jima und Okinawa sollte schlussendlich die Landung der alliierten Truppen auf den japanischen Hauptinseln vorbereiten. Nachdem Japan die am 26. Juli 1945 geforderte bedingungslose Kapitulation ablehnt hatte, warf die US-Armee am 6. und 9. August jeweils eine Atombombe über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki ab. Aufgrund der äußerst schlechten

20 Susan Townsend, Japan´s Quest for Empire 1931 – 1945, in: BBC, 30.3.2011, [http://www.bbc.co.uk/history/worldwars/wwtwo/japan_quest_empire_01.shtml], eingesehen 6.2.2019. 21 Ein vorerst auf fünf Jahre befristetes Abkommen basierend auf der antikommunistischen Grundeinstellung beider Vertragspartner. Ein geheimes Zusatzprotokoll rief die Unterzeichner zudem zur Neutralität im Fall eines nicht provozierten Angriffs der Sowjetunion auf und untersagte das Abschließen von Verträgen mit der Sowjetunion, die der antikommunistischen Grundhaltung des Pakts zuwiderliefen. In den darauffolgenden Jahren traten noch Italien, Mandschukuo, Ungarn, Spanien, Bulgarien, Kroatien, das besetzte Dänemark, Finnland, Nanking-China, Rumänien und die Slowakei dem Pakt bei. 1940 wurde schließlich der Dreimächtepakt zwischen NS-Deutschland, Japan und Italien geschlossen. Lemo. Lebendiges Museum online (Hrsg.), Der Antikominternpakt, 15.10.2015, [https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/aussenpolitik/antikomintern], eingesehen 31.7.2017. 22 Lemo. Lebendiges Museum online, Japan als Verbündeter. 23 Lemo. Lebendiges Museum online (Hrsg.), Der Krieg im Pazifik, 19.5.2015, [https://www. dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/kriegsverlauf/krieg-im-pazifik.html], eingesehen 31.7.2017.

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Versorgungslage und der verheerenden Zerstörungen willigte Japan am 2. September 1945 schließlich in die Kapitulation24 ein.25 Praktisch über die gesamte Kriegszeit hinweg wurden Verbrechen an der Zivilbevölkerung und Soldaten durch Japaner begangen. Zu den wohl bekanntesten dürften das Massaker von Nanjing (1937), der Todesmarsch von Bataan (1942) und die Experimente des Ishii-Netzwerks (Einheit 731) gehören. In Kapitel 5 wird das Massaker von Nanjing als Fallbeispiel herangezogen und näher erläutert.

3. Das Konzept des kollektiven Gedächtnisses

Dieses Kapitel beschäftigt sich mit einem wesentlichen Teil dieser Arbeit, dem kollektiven Gedächtnis. Die Forschung diesbezüglich begann erst am Anfang des 20. Jahrhunderts. Seitdem wurden verschiedene Theorien und Ansätze entwickelt. Zu den Vorreitern auf diesem Forschungsgebiet gehören zweifellos Maurice Halbwachs mit seiner soziologischen Forschungsarbeit zur mémoire collective und Aby Warburg mit ihrer kulturhistorischen Studie zum europäischen Bildgedächtnis. Das Thema wurde jedoch erst in den 1980er-Jahren wiederentdeckt. Dieses neugewonnene Interesse war sicherlich auf Pierre Noras neues Konzept der lieux de mémoire (dt.: Erinnerungsorte) zurückzuführen. Noras Studien, wenn auch heftig kritisiert, katapultierten ihn an die Spitze dieses Forschungsfelds. Nicht unbeachtet sollten jedoch auch die Studien von Aleida und Jan Assmann zum kulturellen Gedächtnis bleiben. 26 Sämtliche theoretischen Ansätze der hier genannten Autoren anzuführen und zu analysieren, ist jedoch nicht Sinn und Zweck dieser Arbeit. Darum sollen nur einige Aspekte verschiedener Ansätze aufgegriffen werden, die das methodische Fundament bilden werden.

3.1 Maurice Halbwachs Zuerst soll auf einen der Wegbereiter und Begründer der Studien zum kollektiven Gedächtnis eingegangen werden: Maurice Halbwachs. Hierfür wird sein Werk La Mémoire Collective herangezogen. Halbwachs´ Werk beschränkt sich nicht allein auf das Konstrukt des kollektiven Gedächtnisses, sondern versucht auch, die Erinnerung an sich sowie deren Ursprung, Entstehung und Aufbau zu entschlüsseln. Erwähnenswert ist hierbei, dass er die

24 Die Kapitulation wurde von Außenminister Shigemitsu Mamoru und Generalstabschef Umezu Yoshijirō auf dem US-Schlachtschiff Missouri in der Bucht von Tokio unterzeichnet. 25 Lemo. Lebendiges Museum online, Der Krieg im Pazifik. 26 Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 11.

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Erinnerung bzw. das Gedächtnis vielmehr aus einer soziologischen als aus einer streng biologischen Perspektive zu verstehen versucht. Halbwachs unterscheidet zwischen zwei Formen des Gedächtnisses, dem individuellen und dem kollektiven. Diese beiden Formen sind in jedem Menschen vorhanden. Das individuelle Gedächtnis (fr.: mémoire individuelle) besteht aus persönlichen Erinnerungen, also Erinnerungen an Ereignisse und Dinge, die wir selbst miterlebt, gefühlt und gesehen haben. Es ist jedoch aus diversen Gründen lückenhaft und wird darum vom kollektiven Gedächtnis unterstützt und ergänzt. Zudem ist es auf einen bestimmten (erlebten) Raum und eine Zeit limitiert27.28 Das kollektive Gedächtnis (fr.: mémoire collective) ist etwas schwieriger zu fassen. Wir erinnern uns an Ereignisse aus unserer Wahrnehmung, aber auch aus der Wahrnehmung anderer Leute, was unser Gesamtbild komplettiert und uns miteinander verbindet. Darüber hinaus sind unsere Erinnerungen immer kollektiv, sogar, wenn wir alleine sind, weil immer andere Menschen, Gruppen und unsere Kultur (auch verschiedene Personen in uns selbst, indem wir verschiedene Perspektiven adaptieren), uns beeinflussen oder beeinflusst haben.29 Das kollektive Gedächtnis erfüllt laut Maurice Halbwachs demnach u. a. die Funktion, die Lücken des individuellen Gedächtnisses auszufüllen, zu komplettieren und zu ergänzen. Das Individuum verinnerlicht den Sichtpunkt, die Erinnerungen eines Erinnerungskollektivs, und vervollständigt somit seine eigenen. Dafür sind jedoch nicht zwingend physische Personen notwendig. Menschen, Medien usw. können unsere Erinnerungen vervollständigen, präzisieren, aber auch verändern und verfälschen. Eine Erinnerung kann aus realen sowie fiktiven Erinnerungsfragmenten oder Bildern zugleich bestehen. Die Voraussetzung ist, dass, zumindest im Unterbewusstsein, ein Überbleibsel, ein Bild vorhanden geblieben ist. Ohne dieses können wir trotz äußerer Einflüsse nichts rekonstruieren. Würde einem Menschen solch ein Bild präsentiert werden, könnte es dennoch nie eine Erinnerung werden.30 Jeder Mensch ist Teil verschiedener Erinnerungskollektive, die als Gruppierungen von Menschen zu verstehen sind, die gemeinsame Interessen, Sichtweisen oder Erlebnisse teilen oder einfach Zeit miteinander verbracht haben. Beispiele hierfür sind das Interesse an einem

27 Das kollektive Gedächtnis ist auch in einem gewissen Maß in Raum und Zeit beschränkt. Dennoch ist die Reichweite des kollektiven Gedächtnisses um einiges größer als jene des individuellen. Berichte und andere Eindrücke ermöglichen es uns, unter bestimmten Bedingungen, „Erinnerungen“ von Ereignissen, an denen man selbst nicht bewusst Teil genommen hat, zu formen. Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 36 f. 28 Halbwachs, La Mémoire Collective, S. 36. 29 Ebd., S. 1 ff. 30 Ebd., S. 3–5.

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Sportverein, das Durchleben des Holocausts, das Studentenleben am Unicampus oder auch die Nation als großes Erinnerungskollektiv.31 „D´autres hommes ont eu ces souvenirs en commun avec moi. Bien plus, ils m´aident à me les rappeler: pour mieux me souvenir, je me tourne vers eux, j´adopte momentanément leur point de vue, je rentre dans leur groupe, dont je continue à faire partie, puisque j´en subis encore l´impulsion et que je retrouve en moi bien des idées et façons de penser où je ne me serais pas élevé tout seul, et par lesquelles je demeure en contact avec eux.“32

Das individuelle Gedächtnis allein reicht also nicht aus, um uns zu erinnern und das Vergangene wiederzuerkennen. Das kollektive Gedächtnis ist eine notwendige Voraussetzung dafür. Dieses ermöglicht uns emotionale Verbindungen mit der Vergangenheit zu knüpfen und uns zu erinnern. Die Rekonstruktion einer Folge einzelner Bilder reicht dabei nicht aus. Diese Rekonstruktion muss aufgrund von Bildern, die sowohl in unserem als auch im Geiste anderer gespeichert sind, erfolgen. Nur so kann eine Erinnerung wiedererkannt und wiederhergestellt werden.33

Der letzte für diese Arbeit wichtige Punkt ist die Anpassung bzw. die Programmierung. Halbwachs erklärt, dass Kinder in bestimmte soziale Kollektive, also in eine bestimmte Kultur hineingeboren werden. Folglich übernehmen sie auch die Werte und die übermittelten Erinnerungen dieser Kollektive. Der Inhalt und der Wahrheitsgehalt spielen dabei vorerst34 keine Rolle. Dies führt dazu, dass unser Gedächtnis sich vielmehr auf die gelebte als auf die geschriebene Geschichte stützt. Dabei sollte stets berücksichtigt werden, dass Erinnerungen innerhalb dieser Kollektive sehr lückenhaft oder (selektiv) abgeändert weitergegeben werden können.35

3.2. Pierre Nora Zu den wohl einflussreichsten (aber auch am stärksten kritisierten) Studien zum kollektiven Gedächtnis gehört Pierre Noras siebenbändiges Werk Les lieux de mémoire. Der Kern von Noras Überlegungen basiert darauf, dass das Gedächtnis und die Geschichte zwei

31 Halbwachs, La Mémoire Collective, S. 36. 32 Ebd., S. 3. Übers.: Andere Menschen teilen gemeinsame Erinnerungen mit mir. Sogar mehr, sie helfen mir, sie [die Erinnerung] in Erinnerung zu rufen: Um mich besser zu erinnern, wende ich mich ihnen zu, übernehme augenblicklich ihren Sichtpunkt, trete ihrer Gruppe bei und werde zukünftig Teil von ihr, da es mich dazu drängt, und auch da ich so, in mir, Ideen und Arten zu denken finde, auf die ich alleine nicht gekommen wäre, und durch die ich den Kontakt mit der Gruppe aufrechterhalten kann. 33 Ebd., S. 12 f. 34 Der Inhalt spielt hierbei so lange keine Rolle bis man sich dazu entscheidet aus diesem Kollektiv auszutreten. 35 Ebd., S. 57 f.

9 grundlegend verschiedene Konzepte sind. 36 Zur Unterscheidung liefert er folgende Definition: „Memory is life, borne by living societies founded in its name. It remains in permanent evolution, open to the dialectic of remembering and forgetting, unconscious of its successive deformations, vulnerable to manipulation and appropriation, susceptible to being long dormant and periodically revived. History, on the other hand, is the reconstruction, always problematic and incomplete, of what is no longer. Memory is a perpetually actual phenomenon, a bond tying us to the eternal present; history is a representation of the past. “37

Was Noras Ansatz von jenem vom Halbwachs und Assmann fundamental unterscheidet, ist die Prämisse, dass es keine „Atmosphäre“ der Erinnerung mehr gebe, da das traditionelle durch Erzählstruktur geprägte kollektive Gedächtnis nicht mehr so funktioniere wie früher. Er geht davon aus, dass diese Erinnerungen nunmehr in sogenannten lieux de mémoire, also in Erinnerungsorten gespeichert sind. Diese Erinnerungsorte ersetzten jedoch nicht eins zu eins die Funktion von Halbwachs´ kollektivem Gedächtnis. „There are lieux de memoire, sites of memory, because there are no longer milieux de memoire, real environments of memory.“ 38 Zur Zeit der III. Republik Frankreichs wäre das dortige kollektive Gedächtnis noch imstande gewesen, eine kollektive, nationale Identität zu stiften. In der nachfolgenden Zeit wäre dies jedoch nicht mehr möglich gewesen. Nora glaubt, dass sich die heutige Gesellschaft in einem Übergangsstadium befindet, in dem sich allmählich die Verbindung zu identitätsstiftenden Gruppierungen auflöst. Die lieux de mémoire füllen dieses Vakuum.39 Doch was sind diese Erinnerungsorte? Erinnerungsorte sind „Dinge“ die in einem bestimmten Rahmen eine gemeinsame Vergangenheit repräsentieren, diese jedoch nicht zur Gänze darstellen und somit nur einrn Teil der Erinnerung bilden. Noras Definition ermöglicht eine relativ weitläufige Interpretation von Erinnerungsorten, solange drei Voraussetzungen erfüllt werden: Da wäre zum einen die materielle Dimension. Der Erinnerungsort muss etwas Fassbares darstellen. Gemeint sind also materielle Objekte, aber auch immaterielle Dinge wie historische Ereignisse, Bräuche, Sprichwörter usw. Als zweite Voraussetzung ist die funktionale Dimension zu nennen. Diese verlangt, dass Erinnerungsorte eine gesellschaftliche Funktion erfüllen. Und schließlich sollte der Erinnerungsort auch noch eine symbolische

36 Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 20. 37 Nora, Between Memory and History, S. 8. 38 Ebd., S. 7. 39 Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 20.

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Bedeutung verinnerlichen. Erst durch die symbolische Erhebung einer Objektivation darf man, laut Nora, von lieux de mémoire sprechen.40 Die für diese Arbeit wichtigsten Punkte Pierre Noras wurden nun erläutert und es kann im Anschluss ein zeitlicher Sprung zu den Arbeiten von Jan und Aleida Assmann sowie Astrid Erll gemacht werden. Erll bietet in ihrer Einführung einen guten Überblick über die Hauptakteure der Forschung zur Erinnerungskultur, darunter auch Pierra Nora. Darüber hinaus bietet sie wertvolle Gedanken zu diversen Medien als Erinnerungsträger.

3.3. Jan und Aleida Assmann Einen weiteren Ansatz zur Erinnerungskultur bieten die Kulturanthropologen Jan und Aleida Assmann. Im Grunde widerlegen sie nicht wirklich Halbwachs´ Theorien, sie stellen stattdessen weiterführende Gedanken zur Verfügung, die jene von Halbwachs komplettieren. Jan und seine Ehefrau Aleida arbeiteten seit den 1980er-Jahren zusammen an der Re- Aktualisierung von Gedächtniskonzepten und führten außerdem Studien zu den Auswirkungen von Literatur und Schriftlichkeit auf die Erinnerungskultur durch.41 Obwohl die Zusammenarbeit und gegenseitige Beeinflussung des Ehepaars sichtbar sind, verfassten sie auch eigenständig Werke zu diesem Thema. Zu Jan Assmanns einflussreichsten Publikationen gehört zweifellos das bereits in mehreren Auflagen erschienene Das Kulturelle Gedächtnis 42. Aleida hingegen erlangte Aufsehen durch Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses43.44 In dem nun folgenden Teil wird auf einige Punkte von Aleida Assmanns Forschung eingegangen, wobei, Jans Einflüsse bei der Erarbeitung ebendieser eine tragende Rolle gespielt haben. Aleida Assmann erklärt, dass Institutionen und Körperschaften wie Staaten, Nationen und Religionen kein Gedächtnis „haben“ und somit auch keine eigenen Erinnerungen besitzen. Was diese Instanzen und Körperschaften jedoch täten, sei, sich durch das Konstruieren eines Gedächtnisses eine eigene Identität zu schaffen. Dafür benutzten sie verschiedene Symbole wie Texte, Rituale, Bilder, Monumente usw. Dieses künstliche, konstruierte Gedächtnis sei in jeder Hinsicht intentional und zur Erfüllung eines bestimmten

40 Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 21. 41 Jürgen Schraten, Zur Aktualität von Jan Assmann. Einleitung in sein Werk (Aktuelle und klassische Sozial- und KulturwissenschaftlerInnen), Wiesbaden 2011, S. 8. 42 Jan Assmann, Das Kulturelle Gedächtnis. Schrift Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. 43 Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. 44 Internationale Stiftung Balzan Preis (Hrsg.), Aleida und Jan Assmann. Deutschland. Balzan Preis 2017 für Kollektives Gedächtnis, o. D., [https://www.balzan.org/de/preistrager/aleida-und-jan-assmann], eingesehen 19.3.2019.

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Zwecks gestaltet worden. Das Gedächtnis einer Nation sei detailliert und beruhe auf symbolischen Zeichen, welche wiederum auf spezifischen, ausgewählten Erinnerungen basierten. Diese würden in Form von Erzählungen, Mythen und dergleichen von Generation zu Generation weitergegeben. Um ihre kontinuierliche Weitergabe zu garantieren, benötigten diese Erzählungen eine eindeutige Botschaft sowie eine klare Struktur. Lange habe das Gedächtnis verschiedener Nationen nicht einmal miteinander übereinstimmen müssen, und so sei das gleiche Ereignis in komplett unterschiedlichen Weisen wiedergegeben worden. Die Globalisierung habe es geschafft, diese Art der nationalen Erzählungen etwas abzuschwächen. Sie existierten jedoch weiterhin (wie im weiteren Verlauf dieser Arbeit erkennbar wird).45 Des Weiteren sieht Assmann die subjektive und perspektivische Organisation als Gemeinsamkeiten zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis. Beide Formen seien nicht dafür konzipiert, einen Zustand absoluter Vollständigkeit zu erschaffen; im Gegenteil, sie basierten lediglich auf einer spezifischen, scharfen Auswahl. Dies mache das Vergessen zu einem wichtigen konstitutiven Teil beider Gedächtnisformen.46 Die Auswahlkriterien zur Konstruktion eines nationalen Gedächtnisses zielen laut Assmann darauf ab, ein positives Selbstbild herzustellen und dieses aufrechtzuerhalten. Ereignisse, die nicht in dieses Schema passen, würden oft dem Vergessen überlassen. Demnach kämen also nicht nur heroische Siege, sondern auch tragische Niederlagen oder Unterdrückung als Material zum Erinnern in Frage. Im Grunde genommen betreffe dies alles, was den Zusammenhalt der Nation fördern könne. Widerstand gegen ungerechte Unterdrücker oder die Rolle des Opfers passten in dieses Schema, da diese es schafften, starke (nationale) Emotionen auszulösen. Momente der Schuld und der Schande hingegen ließen sich naturgemäß nur sehr schwer in ein positives Selbstbild integrieren.47 Assmann beschreibt, dass es Zeit braucht, bis sich neue Formen kollektiver Erinnerungen bilden, bis Erinnerungen, die zweckmäßig auf der Heroisierung der eigenen Geschichte beruhen, graduell Erinnerungen einer transnationalen Leidensgeschichte sowie der gemeinsamen Überwindung von Konflikten Platz machen. In diesem Kontext könnten auch mit Schuld behaftete Ereignisse, die Geschichte der Täter, wieder neu aufgelegt werden und durch die Erinnerung der Nachkommen in das (nationale) kollektive Gedächtnis aufgenommen und somit gleichzeitig in das nationale Selbstbild integriert werden. Assmann

45 Assmann, Kollektives Gedächtnis. 46 Ebd. 47 Ebd.

12 glaubt, dass sich in den letzten Jahrzehnten die Strukturen des Erinnerns grundlegend verändert haben oder zumindest gerade dabei sind, sich zu verändern. Grund dafür sei das engere Zusammenrücken der Nationen, teilweise bewirkt durch technische Neuerungen, die zuvor nie dagewesene Kommunikationsmöglichkeiten schafften. Ein friedliches gemeinsames Erinnern auf nationenübergreifender Ebene werde oftmals gewünscht und gefördert. Dies bedeute jedoch nicht, dass Formen eines kollektiven nationalen Gedächtnisses gänzlich verschwunden seien. Die Praxis zeige, dass einige Nationen eher dazu bereit seien, sich auf solche interkulturelle Beziehungen einzulassen und dadurch auf eine ethische Globalisierung hinarbeiteten als andere, die weiterhin an ihrer erinnerungspolitischen Selbstbestimmung festhielten.48 Die Assmannschen Theorien umfassen noch wesentlichmehr Punkte, so etwa die gegensätzlichen Gedächtnisformen: kulturelles und kommunikatives Gedächtnis, Gedächtnis als ars und vis oder Funktion- und Speichergedächtnis.49 Diese Konzepte würden jedoch zu weit führen und nichts Wesentliches zu dieser Arbeit beitragen. Lediglich die Aufzählung einiger Unterschiede zwischen dem Speicher- und dem Funktionsgedächtnis könnten dienlich sein. Das Funktionsgedächtnis stellt eine Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit her und macht uns die Kontinuität bestimmter Elemente bewusst. Die Erinnerungen sind selektiv und werden in strategischer und perspektivischer Weise eingesetzt. Das Speichergedächtnis hingegen trennt die Vergangenheit von der Gegenwart. Es findet keine interaktive Anbindung statt, beide verlaufen nebeneinander.50

Das anschließende Kapitel beschäftigt sich weniger mit Theorien zum kollektiven Gedächtnis an sich, sondern konzentriert sich viel mehr auf die Träger und Vermittler der Erinnerung. Astrid Erll zeigt, auf welche Eigenschaften bei den verschiedenen Medien zu achten ist.

3.4. Medien als Träger und Vermittler der Erinnerung Medien sind ein grundlegender Faktor bei der Konstruktion des kollektiven Gedächtnisses, da gerade die individuelle Prägung der Menschen über Medien verläuft. Unter dem Überbegriff Medien muss man sich eine ganze Reihe unterschiedlicher Methoden zur Verbreitung von Wissen und Informationen vorstellen, z. B. schriftliche und mündliche Medien oder Medien in Form von Bildern (Buch, Radio, Fernsehen, usw.). Zu beachten ist dabei, dass unsere

48 Assmann, Kollektives Gedächtnis. 49 Vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 24–28. 50 Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 28.

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Aufmerksamkeit nicht allein dem Inhalt und der Botschaft des jeweiligen Mediums gilt, sondern auch dem Medium selbst. Ein Grundsatz der Medienwissenschaft besagt, dass das Medium selbst die Botschaft prägt. Somit kann man festhalten, dass die unterschiedlichen Formen von Medien nicht als neutrale Behälter von Informations- und Gedächtnismaterial zu verstehen sind. 51 Die Darstellungen und die Darstellungsweise der unterschiedlichen Erinnerungsträger beeinflussen, wie und was wir erinnern.52 Astrid Erll erklärt, dass neben den schriftlichen Medien vor allem die visuellen große Aufmerksamkeit in der Gedächtnisforschung gefunden haben und deren Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte.53 Aufgrund technischer Errungenschaften ist die Reproduktion von Bildern in sämtlichen Formen (Fotos, Filme, Fernsehen usw.) so leicht wie nie zuvor. Diese „visuelle Revolution“ verleitete den Historiker Gerhard Paul dazu, das 20. Jahrhundert als „Jahrhundert der Bilder“ zu bezeichnen. 54 Ein großer Teil der in dieser Arbeit verwendeten Quellen werden visuelle Medien sein. Manga sollten definitiv zu diesen hinzugezählt werden. Man könnte sie sogar als eine Überschneidung von beiden, visuellen und schriftlichen Medien, verstehen. Leider finden Manga oder Comics keinen Einzug in Erlls Überlegungen.55 Fotografien als Medium der Erinnerung beherbergen ein wesentliches Problem, nämlich jenes, dass sie sehr anfällig für Retusche sind (durch die heutigen leicht zugängigen Technologien sicherlich noch mehr als je zuvor). Zudem besteht die Gefahr, dass die Fotos inszeniert sind. Wohlgemerkt unterliegen aber auch andere Medien der Gefahr der Verfälschung. Dennoch besitzen Fotografien einen dokumentarischen Charakter, welcher eine einzigartige Verbindung zur Vergangenheit ermöglicht. Darüber hinaus bemerkt Erll, dass die erinnerungsprägende Kraft der Fotografie nicht unbedingt mit ihrem Wahrheitsgehalt übereinstimmen muss. Laut Charles Sanders Peirce ist die Fotografie aus dreierlei Hinsicht interessant für die Gedächtnisforschung. Erstens ist sie als „Index“ kausal und materiell mit der Vergangenheit verbunden und wird dadurch zu einem Zeugnis der Geschichte. Zweitens spiegelt sie als „Ikon“ gezielt bestimmte visuelle Merkmale vergangener Zeiten wider (durch das Festhalten eines Augenblicks). Drittens repräsentiert sie als „Symbol“ die Bedeutung, die der Betrachter (und der Fotograf?) der Vergangenheit und dem festgehaltenen Augenblick beimisst. Erll beschreibt, dass die Fotographie sich jedoch in einer Hinsicht von den

51 Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 135 ff. 52 Christoph Classen, Medien und Erinnerung, 26.8.2008, [http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/ geschichte-und-erinnerung/39857/medien-und-erinnerung?p=all], eingesehen 20.3.2019. 53 Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 154. 54 Classen, Medien und Erinnerung. 55 Ebd., S. 154.

14 filmischen und schriftlichen Medien unterscheidet: Im Grunde sei die Fotographie nämlich kein narratives Medium. Das fotographische Medium selbst erzähle keine Geschichte, sondern rege lediglich zur Diskussion an oder zum Abrufen gespeicherter Erinnerungen. Aus diesem Grund könne Fotografie erst als Gedächtnismedium herangezogen werden, sobald sie narrativ kontextualisiert werdr. 56 Ähnliche Charakteristiken wird man wohl auch der Bildmalerei oder dem Zeichnen beimessen können. Ein wesentlicher Unterschied zur Fotographie besteht jedoch zweifellos: Bilder und Zeichnungen sind lediglich eine Reproduktion eines Teils der Gegenwart oder der Vergangenheit, wobei die Fotographie tatsächlich einen Augenblick der Gegenwart festhält. Ein weiteres für diese Arbeit bedeutendes Medium ist der (historische) Film57. Zu beachten gilt einerseits, ob die filmische Geschichtsdarstellung rein fiktionaler, semi-fiktional er oder nicht-fiktionaler Natur ist. Darüber hinaus sollte man verstehen, dass Filme gleich zwei mnemonische Dimensionen verkörpern können: Einerseits kann der Film als Repräsentation der Vergangenheit auftreten, sozusagen als Nacherzählung vergangener Ereignisse, und andererseits auch als archivarische Quelle durch die Verwendung von authentischem, dokumentarischem Bildmaterial. Dokumentarfilme verinnerlichen sogar beide mnemonischen Dimensionen. Michel Foucault sagte in einem Interview von 1974, dass die Kontrolle über das Gedächtnis der Menschen der Kontrolle des Wissens der Menschen gleichkäme. Darum betonen auch heute weiterhin Vertreter der Gedächtnisforschung den enormen Einfluss der popular culture und der Massenmedien auf die Konstruktion unserer Geschichtsbilder. Damit ein Film jedoch überhaupt als Erinnerungsmaterial in Frage kommt, ist neben dem Inhalt bzw. dem Visuellen auch ein sozialer Kontext von Nöten, welcher den Film als Erinnerungsmaterial kennzeichnet. Anders ausgedrückt: Filme müssen gesellschaftliche Relevanz erlangen, um als Erinnerungsfilm eines Kollektivs bezeichnet werden zu können. 58 Dieses Kriterium erwähnt Astrid Erll speziell bei den Filmmedien, jedoch sollte es auf sämtliche Medien und Quellen zutreffen. Medien und Quellen, die innerhalb eines bestimmten Kollektivs irrelevant oder gar unbekannt sind, werden wohl kaum zu Erinnerungsmaterial (oder auch: einem Erinnerungsort) avancieren. Film und Fernsehen gehören wahrscheinlich zu den bedeutendsten Leitmedien der Geschichtsvermittlung des digitalen Zeitalters. Die Menschen werden kontinuierlich mit Geschichtsbildern konfrontiert. Diese Medien zeichnen sich u. a. dadurch aus, dass ihnen nur

56 Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 154 f. 57 Zur Vereinfachung werden Serien nicht explizit erwähnt, diese sollten aber auch dem Oberbegriff „Film“ untergeordnet werden. 58 Ebd., S. 156 ff.

15 eine äußerst begrenzte Zeitspanne zur Vermittlung ihres Inhalts zur Verfügung steht. Für die Darstellung komplexer historischer Prozesse und Fakten bleibt kaum Zeit. Sie sind zumeist auf bewegte Bilder angewiesen, anhand derer sie eine emotionale Anteilnahme beim Zuschauer provozieren.59 Darüber hinaus werden uns die, von scheinbar vertrauenswürdigen Nachrichtensendern, kontemporären Informationen als relevant dargestellt, was wiederum einen prägenden Eindruck hinterlässt und somit gedächtniskonstruierend wirkt. Die gelieferten Informationen sind also äußerst selektiv und intentional. Man darf zudem nicht vergessen, dass das Fernsehen, Filme, Serien usw. stets der Diktatur des Marktes und der Quote unterliegen. Durch Personalisierung, Emotionalisierung und Dramatisierung wird versucht, Zuschauer zu involvieren und an sich zu binden. „Medienereignisse wie […] der 11. September zeigen die Logik der televisuellen Erinnerungsproduktion, wie sie gerade durch Nachrichtensender wie CNN erfolgt: Gleichzeitigkeit, kontinuierliche Präsenz, globale Verbreitung, die Wiederholung von bestimmten Bildern und Sequenzen, was letztlich zu deren Ikonisierung beiträgt.“60 Durch die Ikonisierung werden also bestimmte Bilder oder Videosequenzen in das menschliche Gedächtnis gebrannt und zu einem Kultobjekt modelliert.61 Zum Schluss noch ein paar Worte zur Literatur als Medium der Erinnerungskultur. Erll erklärt, dass literarische Gattungen zu unterschiedlichen Zeiten und Epochen (und somit auch in unterschiedlichen kulturellen Kontexten) erinnerungskulturelle Funktionen erfüllten. So galt beispielsweise das Epos lange als Verständigungsmuster für Kulturgemeinschaften. Der historische Roman galt in England und Deutschland62 im 19. Jahrhundert als eine der dominantesten Gattungen in Bezug auf die Darstellung von Geschichtsverläufen und der nationalen Identitätsbildung. Im Frankreich des 19. Jahrhunderts hingegen nahmen (laut Pierre Nora) Staatsmemoiren eine unverkennbare Rolle in der Vermittlung von Werten und der Bildung einer nationalen Identität ein. 63 Dieser Prämisse folgend, wäre es also nicht undenkbar, dass Manga einen ähnlichen Stellenwert in der japanischen Kultur einnehmen könnten. Äußerst interessant ist auch Aleida Assmanns Unterscheidung zwischen kulturellen und kollektiven Texten. Vereinfacht ausgedrückt sind kulturelle Texte literarische Werke mit

59 Classen, Medien und Erinnerung. 60 Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 159. 61 Ebd., S. 158 ff. 62 Gemeint sind nicht die nationalen Konstrukte des 20. und 21. Jahrhunderts, sondern lediglich das, was man zu dieser Zeit als deutsche und englische Kultur-, Sprach-, und Einflussgebiete bezeichnen konnte. Es ist also die Rede von den nationalen Konstrukten „England“ und „Deutschland“ des 19. Jahrhunderts. 63 Ebd., S. 170.

16 weitreichender Rezeption, denen eine besondere (kulturelle/geschichtliche) Bedeutung beigemessen wird. Die Perspektivität dieser Texte wird bewusst aufgehoben, der Inhalt wird vereinheitlicht und zu einer zeitlosen Wahrheit emporgehoben. Die Werke werden im Grunde kanonisiert und nehmen einen Platz sowohl als Speichermedium als auch als Gegenstand des kulturellen Funktionsgedächtnisses ein. Die kollektiven Texte hingegen gehören oft der Populärliteratur an und sind das Ergebnis der Konsensbildung in Erinnerungsgemeinschaften. Sie nehmen die Funktion als Zirkulationsmedium ein und verbreiten somit verschiedene Vergangenheits- und Gegenwartsversionen, Geschichtsbilder und Identitätskonzepte. Durch die nicht stattfindende Kanonisierung der kollektiven Texte ist deren rezeptive Wirkung auch viel unbewusster, in dem Sinne, dass keine einheitliche übergeordnete Programmierung stattfindet.64

Obwohl Noras Überlegungen nicht gänzlich unumstritten65 sind, lässt sich das Konzept der Erinnerungsorte in dieser Arbeit verwenden. Manga und Anime können als solche Erinnerungsorte, als Kristallisationspunkte der Erinnerung verstanden werden. Es werden jedoch auch Halbwachs´ und die Assmannschen Ansätze mit einfließen. Es wird davon ausgegangen, dass es in Japan ein kollektives Gedächtnis gibt. Erinnerungsorte sollten in diesem Kontext als Träger bestimmter Erinnerungen, als Vermittler von Informationen aus der Vergangenheit, verstanden werden, welche jedoch, laut Noras Konzept, nur einen Bruchteil der tatsächlichen Vergangenheit in sich tragen. In den folgenden Kapiteln wird somit versucht, anhand der hier vorgestellten methodischen Ansätze (Halbwachs, Assmann und Nora) Einblicke in die japanische Erinnerungskultur zu gewinnen. Ausschlaggebend dafür ist die Frage nach der Existenz von Formen eines nationalen identitätsstiftenden Gedächtnisses. Ein weiteres Ziel ist die Identifizierung einiger bedeutender japanischer lieux de mémoire.

4. Charakteristiken japanischer Gesellschaftsstruktur und Kultur

Dieses Kapitel beschäftigt sich mit fundamentalen Aspekten von Gesellschaftsstrukturen. Etliche kulturelle Differenzen und Verhaltensmuster sind auf diese keines Falls zu unterschätzenden Strukturen zurückzuführen. Es soll für mehr Klarheit und einen bewussteren Umgang beim Vergleichen und Verstehen verschiedener Kulturen sorgen, die,

64 Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 180 f. + 185. 65 Kritisiert werden z. B. seine kompromisslose Trennung von Gedächtnis und Geschichte oder die starke Betonung auf der Verfallsgeschichte des Gedächtnisses. Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 21 f.

17 wie sich zeigen wird, von Grund auf verschieden sein können. Dafür werden die Überlegungen des Sozialpsychologen Hofstede Geert herangezogen. Hofstede bezieht sich auf sechs Dimensionen beim Analysieren kultureller Verhaltensmuster (sog. Kulturdimensionen): Individualismus versus Kollektivismus, Risikobereitschaft und Unsicherheitsvermeidung, Machtdistanz, Maskulinität versus Femininität, lang- versus kurzfristige Orientierung und Genuss versus Zurückhaltung. Bevor die einzelnen Konzepte angegangen werden, soll vermerkt werden, dass alle Kulturen und Menschen die beiden jeweils gegensätzlichen Veranlagungen verkörpern, jedoch in einem unterschiedlichen Ausmaß.66 Darüber hinaus wird auch die High- und Low-context-orientation-Theorie des Anthropologen Edward Hall vorgestellt. Anhand dieser können auch Kulturen beschrieben und analysiert werden. Hall zielt dabei besonders auf den Aspekt der Kommunikation ab. Was, wie und wie viel wird kommuniziert? Und wie bedeutend ist das Unausgesprochene in den jeweiligen Kulturen? Worauf wird beim Kommunizieren geachtet und was wird ignoriert?67 Im Anschluss werden einige von Japans Praktiken zur Herstellung von Einheit und Solidarität präsentiert. Diese Ausführungen sollen die Realität des dort bestehenden Zusammenhalts und gegenseitigen, generationenübergreifenden Respekts verdeutlichen. Danach wird auf die visuelle Kultur Japans eingegangen. Abschließend wird ein Teil der Arbeit dem japaneigenen Glauben, dem Shintoismus, gewidmet. Dieses Kapitel soll einige Grundbegriffe des Shintoismus erklären, welcher einen nicht zu unterschätzenden Teil der japanischen Kultur bildet.

4.1. Merkmale individualistischer und kollektivistischer Gesellschaften Die Merkmale individualistischer und kollektivistischer Gesellschaften lassen sich im Grunde leicht zusammenfassen: „Collectivistic cultures emphasize community, collaboration, shared interest, harmony, tradition, the public good, and maintaining face. Individualistic cultures emphasize personal rights and responsibilities, privacy, voicing one´s own opinion, freedom, innovation, and self-expression.“68

Individualistisch ausgelegte Gesellschaften tendieren dazu, dem Individuum in allen gesellschaftlichen Situationen den größten Wert beizumessen. Seine Einzigartigkeit wird betont und individuelle Erfolge werden geschätzt und belohnt. Demzufolge wird

66 Samovar/Porter/McDaniel, Communication, S. 140. 67 Ebd., S. 158. 68 Ebd., S. 141.

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Unabhängigkeit der Gebundenheit vorgezogen. Somit hat die Verwirklichung eigener Ziele vorrangig Priorität gegenüber der Loyalität zu Gruppenkonstellationen wie Familie oder der Arbeit. Tatsächlich ist das Loyalitätsgefühl bei stark individualistisch geprägten Gesellschaften sehr schwach. Die Menschen fühlen sich vielen Gruppen zugehörig und sind imstande ihre Zugehörigkeit zu jedem Zeitpunkt problemlos zu wechseln. So tendieren sie auch dazu, keine zu starken emotionalen Bindungen zu Organisationen und Institutionen aufzubauen und sich somit nicht emotional von diesen abhängig zu machen. Darüber hinaus stehen Wettkampf oder Konkurrenz oft über der Zusammenarbeit, da auch die Erfüllung persönlicher Ziele gegenüber der Erfüllung von Zielen der Gemeinschaft Vorrang hat. Individualistische Kulturen legen großen Wert auf individuelle Initiative und Erfolg; selbstständige Entscheidungsfindung wird gefordert. Treffen stark individualistische und stark kollektivistische Kulturen am Verhandlungstisch zusammen, so können diese unterschiedlichen Haltungen und Prioritäten zu Unverständnis führen, was wiederum ernste Konflikte mit sich bringen kann.69 Im Gegensatz dazu zeichnen sich kollektivistische Gesellschaften durch Innen- und Außengruppen aus. Innengruppen sind in diesem Fall Gruppen, zu denen ein Individuum gehört, in denen es also ein aktives Mitglied ist. Die Außengruppen hingegen repräsentieren sämtliche Gruppen, zu denen diese Person nicht gehört und von denen sie sich abgrenzt. Die Menschen stützen und verlassen sich stark auf diese Innengruppen (z. B. Familie, Arbeit, Organisationen, Clubs). Sie erwarten von den Innengruppen einen gewissen Schutz sowie Sicherheit und Hilfe. Im Gegenzug glauben sie, dass sie diesen Gruppen Loyalität schulden. So kommt es auch, dass die Individuen starke emotionale Bindungen zu den Innengruppen aufbauen. Im Kollektivismus wird ein größerer Wert auf die Bedürfnisse und Ziele der Innengruppen gelegt als auf individuelle. Gemeinsame Überzeugungen und Werte, welche in den Gruppen geteilt und vertreten werden, haben Priorität gegenüber denen, durch die man sich als Individuum von anderen unterscheidet. Eine große Bereitschaft, sich für das Kollektiv und alle Mitglieder der Innengruppen einzusetzen, ist ein weiteres Merkmal kollektivistischer Gesellschaften. Dies führt dazu, dass viel Wert auf Pflichten und soziale Normen gelegt wird, welche von den Innengruppen aufgesetzt werden. Das Verfolgen des eigenen Vergnügens und der Selbstverwirklichung rückt an die zweite Stelle. Anders ausgedrückt: Die Gesellschaft besitzt eine ausgeprägte „Wir-Ausprägung“ und ist demnach nicht so sehr „ich-orientiert“. Diese Bindung an Gruppen hat in kollektivistischen

69 Samovar/Porter/McDaniel, Communication, S. 141 ff.

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Gesellschaftsformen eine stark identitätsstiftende Wirkung. Die persönliche Identität basiert somit auf dem sozialen System, weshalb in solchen Kulturen großer Wert auf die Zugehörigkeit zu einer oder mehreren solcher Gruppen gelegt wird. Diese Gruppendynamik führt jedoch auch dazu, dass die damit verbundenen Pflichten stark in das Privatleben eingreifen können und Gruppenentscheidungen oft auf Kosten individueller Rechte gefällt werden. 70 Harry Hui und Harry Triandis Artikel Individualism-Collectivism: A Study of Cross-Cultural Researchers71 beleucht weitere Eigenschaften des Kollektivismus. Menschen aus kollektivistischen Gesellschaften fühlen sich beispielsweise oft an dem Leben und den Entscheidungen ihrer Mitmenschen beteiligt. Diese Beteiligung beruht auf der Vorstellung, dass persönliche Handlungen auch Konsequenzen für andere Menschen haben können. Alle beschreiten den gleichen Weg, teilen das gleiche Schicksal, ob gewollt oder ungewollt, und beeinflussen sich gegenseitig. So werden auch Erfolge und Fehlschläge geteilt72. Eng damit verbunden ist die Wahrung des Gesichts oder der persönlichen Ehre. Das Fehlverhalten einer Person wird nicht nur als persönliche, sondern auch als Schande für die gesamte Gruppe verstanden.73 Edward Sampson relativiert diesen starken Kontrast zwischen kollektivistischen und individualistischen Gesellschaften in seiner Studie Psychology and the American Ideal74 jedoch etwas. Er schreibt, dass man nicht davon ausgehen sollte, dass kollektivistisch geprägte Menschen aus reiner Herzensgüte zum Wohle der Gruppe agieren. Im Gegenteil: Indem Individuen die Gruppe unterstützten und vorantrieben, profitierten sie auch gleichzeitig von den erarbeiteten Vorzügen. Soziale Verpflichtungen würden also nicht maßgeblich über persönliche Anliegen gestellt, sondern durch soziale Vereinbarungen identisch gemacht.75 Auf Hofstedes Bewertungsskala erlangte Japan Werte, die, nahe am globalen Durchschnitt lagen. Im Vergleich zu anderen asiatischen Nationen scheint es recht individualistisch zu sein, für westliche Standards wirkt es jedoch sehr kollektivistisch. Tatsächlich weist Japan aber diverse kollektivistische Eigenschaften auf. Der Mittelwert ist vor allem auf das recht simple, kaum ausgedehnte Familiensystem zurückzuführen. Darüber

70 Samovar/Porter/McDaniel, Communication, S. 143 f. 71 C. Harry Hui/Harry C. Triandis, Individualism-Collectivism: A Study of Cross-Cultural Researchers, in: Journal of Cross-Cultural Psychology 17 (1986), Ausgabe 2, S. 225–248. 72 Dazu mehr in Kapitel 4.8. 73 Ebd., S. 231 f. 74 Edward E. Sampson, Psychology and the American Ideal, in: Journal of Personality and Social Psychology 35 (1997), S. 767–782. 75 Hui/Triandis, Individualism-Collectivism, S. 227 f.

20 hinaus könnte man die dort stark vertretene Loyalität zu Firmen und dem Arbeitsplatz auch als eine individuelle Entscheidung werten.76

4.2. Risikobereitschaft und Unsicherheitsvermeidung Kulturen mit einem hohen Unsicherheitsvermeidungsgrad versuchen Unsicherheiten und Unklarheiten zu vermeiden, indem sie für Stabilität für ihre Mitglieder sorgen. Diese Stabilität soll durch die Errichtung und das Befolgen etlicher Regeln, die Missbilligung abweichender Ideen und Verhaltensweisen, die ständige Suche nach Übereinstimmung, das Erlangen hoher Kompetenzgrade in sämtlichen Bereichen sowie den Glauben in absolute Wahrheiten gewährleistet werden. Unter diesen Bedingungen fühlen sich jedoch viele Mitglieder aus Kulturen mit hoher Unsicherheitsvermeidung Stress und (Existenz-)Ängsten ausgesetzt. Die Menschen verstehen das Leben zudem oft als eine Ansammlung kontinuierlicher Zufälle. Um dem entgegenzuwirken bzw. um dies so gut wie möglich zu vermeiden oder zu bewältigen, besteht ein hoher Bedarf an Planung, Regeln, Kommunikationsprotokollen sowie Zeremonien und Ritualen. 77 All diese formellen Regelungen verleihen dem Leben eine gewisse Struktur und stellen somit praktisch eine Bedienungsanleitung für das Verhalten in diversen Lebenssituationen dar. Kulturen mit einem hohen Unsicherheitsvermeidungsgrad benötigen darum auch ein hohes Ausmaß an Planung und Zeit, um neue Projekte, Ideen usw. einzuführen, da die Risikobereitschaft und der Wille, sich mit Unvorhergesehenem auseinanderzusetzen, eher gering ist. Von insgesamt 50 untersuchten Staaten wurde Japan der siebte Platz in der Unsicherheitsvermeidungstabelle zugeteilt. Staaten wie die USA hingegen (Rang 43) haben eine größere Risikobereitschaft und gehen „besser“ mit den Unsicherheiten des Lebens um. Diese Kulturen bevorzugen es, nach möglichst wenigen Regeln zu leben, und akzeptieren viel eher das Unbekannte.78

4.3. Machtdistanz Mit Machtdistanz ist die Bereitschaft gemeint, eine ungleiche Machtverteilung innerhalb einer Gesellschaft hinzunehmen. Somit wird v. a. die Bereitschaft der weniger mächtigen Personen gemessen, soziale Ungleichheiten zu akzeptieren und als normal zu empfinden. In Gesellschaften mit hoher Machtdistanz werden Macht und Ungleichheit als Teil der Gesellschaft und des Lebens verstanden. Jeder hat seinen Platz in einer hierarchischen Struktur. So können auch diverse Privilegien bei hierarchisch Höhergestellten hingenommen

76 Hofstede Insights (Hrsg.), Country Comparison. What about Japan?, o. D., [https://www.hofstede- insights.com/country-comparison/japan/], eingesehen 6.2.2019. 77 Samovar/Porter/McDaniel, Communication, S. 145. 78 Ebd., S. 145 f.

21 werden. Eine hohe Machtdistanz bringt oft auch eine höhere Machtkonzentration mit sich. Zudem werden Status und Rang viel Bedeutung beigemessen. In Gesellschaften mit geringer Machtdistanz sehen sich Höhergestellte und Untergebene (beispielsweise in der Arbeitswelt) als gleichwertig. Die Machtunterschiede werden zudem weniger demonstrativ nach außen dargestellt. Hier belegt Japan den 33. Platz, weist aber laut Hofstedes Tabelle dennoch eine größere Machtdistanz auf als die meisten europäischen Nationen oder Industriestaaten. 79

4.4. Maskulinität und Femininität Laut Hofstede vertreten Kulturen maskuline und feminine Werte. In maskulin orientierten Gesellschaften wird über das biologische Geschlecht eine klare Rollenverteilung für Mann und Frau aufgesetzt. In diesen stark über Geschlechterrollen definierten Kulturen wird von Männern erwartet, dass sie bestimmt auftreten, ambitiös, eifrig und kompetitiv sind. Finanzieller und materieller Wohlstand und Karriereerfolge sollen angestrebt werden. Frauen hingegen werden nicht ermutigt, eine eigene Karriere zu verfolgen. Sie sollen vielmehr zu Hause bleiben und sich dort um Familie und Haushalt kümmern. Japan belegt in Hofstedes Bewertungsskala den ersten Platz und gilt somit als maskulinste Gesellschaft. Dies bedeutet, dass dort viel Wert auf die Verteilung und das Einhalten von spezifischen Geschlechterrollen gelegt wird. Feminine Kulturen hingegen fördern fürsorgliche Eigenschaften bei Männern. Darüber hinaus wird sexuelle Gleichheit unterstützt. Hier wird auch von Frauen erwartet, dass sie einer Karriere nachgehen und so ihren (finanziellen) Teil für die Familie beitragen. In feminin ausgelegten Kulturen ist zudem die gelebte Distanz zwischen Mann und Frau weniger strikt als in maskulinen.80

4.5. Lang- und kurzfristige Orientierung Als fünften Punkt nennt Hofstede die Lang- und Kurzzeitorientierung. Gesellschaften und Kulturen mit einer langzeitigen Orientierung verpflichten sich naturgemäß, langfristigen, traditionellen und zukunftsorientierten Werten. Tradition, Hingabe und Loyalität werden hoch geschätzt. Kulturen mit einer kurzzeitigen Orientierung legen wenig Wert auf Status und zielen auf schnelle Resultate sowie die rasche Bedürfnisbefriedigung ab. Wie die meisten ostasiatischen Staaten gehört Japan81 zu den Kulturen mit Langzeitorientierung.82

79 Samovar/Porter/McDaniel, Communication, S. 146 ff. 80 Ebd., S. 148 ff. 81 Japan erzielte einen Wert von 88 von möglichen 100 Punkten und gehört somit zu den langzeitorientiertesten Nationen.

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4.6. Genuss versus Zurückhaltung Diese sechste Kulturdimension wurde erst 2010 zu Hofstedes Ansatz hinzugefügt. Die Bezeichnung ist auf Michael Minkov zurückzuführen. Die sechste Dimension lässt sich zudem mit der sogenannten „happiness research“ in Verbindung bringen. Sie misst wie innerhalb einer Gesellschaft mit dem freien Ausleben eigener Bedürfnisse umgegangen wird. 83 Indikatoren dafür wären beispielsweise das Ausmaß an genussorientierter Freizeitgestaltung, das offene Ausleben der Sexualität und eine eher optimistische oder pessimistische Zukunftsvision. Kulturen mit starken Beschränkungen legen somit viel Wert auf die Erhaltung von Recht und Ordnung, wodurch das Leben der Menschen mehr oder weniger stark eingeschränkt wird. Mit einem Ergebnis von 42 von möglichen 100 Punkten gehört Japan zu den Nationen mit einer Kultur der Zurückhaltung.84

4.7. High- und Low-context-Kulturen Wie bereits oben angedeutet bezieht sich Edward Halls Konzept der High- und Low-context- Orientierung auf die Kommunikationsstruktur der jeweiligen Kulturen. Diese Theorie liefert so auch eine gute Erklärung dafür, warum sich die Kommunikation zwischen verschiedenen westlichen Ländern und Japan oft als problematisch herausstellt und zu Missverständnissen führt. In High-context-Kulturen sind die ausgesprochenen (oder geschriebenen) Worte während einer Unterhaltung lediglich ein Bruchteil der gesamten Botschaft. Die nonverbale Kommunikation ist ein großer und äußerst wichtiger Bestandteil der Unterhaltung. Dies bedeutet, dass der Inhalt der Aussagen nicht unbedingt in den ausgesprochenen Worten, sondern auch oder vor allem in dem Unausgesprochenen liegt. Auch die Pausen sowie die Körperhaltung, die Gestik und Mimik sind ein fester Bestandteil der Kommunikation. Der Sinn (engl. meaning) wird darüber auch über jedermanns Status (Geschlecht, Alter, Titel, Bildung usw.) vermittelt. Die nonverbale Kommunikation funktioniert in High-context- Kulturen deshalb so gut, weil diese zumeist sehr homogen sind. Die Menschen haben beispielsweise ähnliche Erfahrungen gemacht, nutzen die gleichen Informationsnetzwerke und teilen den gleichen kulturellen Hintergrund. Laut Hall sind die meisten High-context- Kulturen sehr traditionsbetont und verändern sich im Laufe der Zeit kaum oder nur sehr

Hofstede Insights, Country Comparison. 82 Samovar/Porter/McDaniel, Communication, S. 150 f. 83 Geert Hofstede, Dimensionalizing Cultures: The Hofstede Model in Context, in: Online Readings in Psychology and Culture. International Association for Cross-Cultural Psychology (2011), Einheit 2 (1), S. 15 f., [https://scholarworks.gvsu.edu/orpc/vol2/iss1/8/], eingesehen 23.3.2019. 84 IKUD Seminare (Hrsg.), Kulturdimensionen – Geert Hofstede, o. D., [https://www.ikud.de/glossar/kulturdimensionen-geert-hofstede.html], eingesehen 6.2.2019.

23 langsam. In solchen Kulturen, in denen einheitliche Botschaften einheitliche Antworten und Reaktionen hervorgerufen haben, in denen das Alltagsleben kaum zusätzliche, über die Norm hinausgehende Hintergrundinformationen verlangt, kann die nonverbale Kommunikation durchaus als effektive Kommunikationsform gedeihen. Besonders Japan, aber auch China und Korea sind perfekte Beispiele solcher Kulturen. Deutschland, Frankreich und die USA hingegen sind als Low-context-Kulturen einzustufen.85 Die Bevölkerung der Low-context-Kulturen ist zumeist weniger homogen und tendiert darum auch dazu, bei zwischenmenschlichen Kontakten Menschen einzustufen und in Kategorien einzuordnen. Bei der zwischenmenschlichen Kommunikation sind die Menschen auf ein größeres Maß an Hintergrundinformationen angewiesen. Darum ist es in diesen Kulturen auch so wichtig, sich richtig verständlich zu machen. Der größte Teil des Inhalts einer Unterhaltung steckt deshalb in den Worten selbst. Low-context-Kulturen legen großen Wert auf eine gute Artikulation und Rhetorik. Menschen sollten imstande sein, sich verbal bemerkbar zu machen und sich verbal durchzusetzen. Es wird erwartet, dass jeder in der Lage ist, das Wort zu ergreifen und zu sagen, was er oder sie denkt.86 Beim Vergleich der asiatischen Art der Kommunikation (high context) mit der Westlichen (low context), lässt sich feststellen, dass die asiatische wesentlich indirekter, impliziter und vager ist. Hall glaubt auch, dass die Art der Kommunikation einen Einfluss auf die wahrgenommene Glaubwürdigkeit hat. In High-context-Kulturen werden Menschen, die sich vor allem auf direkte Kommunikation verlassen müssen, um ihre Nachricht zu überbringen, als weniger glaubwürdig erachtet. Die Stille bzw. das Ungesagte übermittelt verschiedene Botschaften besser als Worte. Es wird davon ausgegangen, dass Menschen, die in High-context-Kulturen in erster Linie durch den Inhalt von Worten kommunizieren, nicht die nötigen Hintergrundinformationen besitzen. Ein weiterer und für diese Arbeit äußerst bedeutender Unterschied ist die ungleiche Handhabung beider Orientierungen von Problemen und Konflikten. High-context-Kulturen sind generell weniger offen und es wird bevorzugt, Konflikte auf diskrete und subtile Weise anzusprechen und zu bewältigen. Dinge werden zumeist nicht direkt angesprochen, ganz anders als in Low-context-Kulturen, in denen Konflikte eher direkt angegangen werden.87

85 Samovar/Porter/McDaniel, Communication, S. 158 f. 86 Ebd., S. 160. 87 Ebd., S. 160.

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4.8. Einheit und Solidarität Diese bisher angedeutete Einheit innerhalb der japanischen Bevölkerung ist jedoch kein Zustand, der einfach ohne Mitwirkung hergestellt wurde, sondern ist ganz im Gegenteil das Resultat einer strikten Erziehung und gesellschaftlicher Normen. Anschließend sollen nun einige Beispiele genannt werden. In der japanischen Gesellschaft existiert eine Unzahl an Formen der Reglementierung, welche die Gedanken und Haltung ihrer Mitglieder standardisieren sollen. Obwohl klar sein sollte, dass es in jeder Gesellschaft bestimmte Formen des Drucks und Zwangs gibt, glaubt der Soziologe Yoshio Sugimoto, dass dieser Druck in Japan als „freundlicherAutoritarismus“ bezeichnet werden kann.88 Ein Faktor dafür ist die Existenz einer ständigen gegenseitigen Kontrolle. Praktisch in sämtlichen Lebensbereichen werden die Menschen in sogenannte han, kleine Gruppierungen, unterteilt, angefangen in den Schulen, jedoch auch in der Arbeitswelt (z. B. in Form von TQC89) oder bei der Organisierung von Wohnvierteln. Der Ursprung der han geht in die Tokugawa-Ära (1603–1868) zurück. Das feudale Regime erstellte ein über die ganze Nation verbreitetes Netzwerk von Einheiten, welche aus fünf Familien einer Nachbarschaft bestanden, die stets nach verdächtigen Aktivitäten Ausschau halten und diese anschließend melden sollten.90 Heute werden Kinder in den Grundschulen in maximal zehnköpfige han unterteilt, welche dann in diversen Aktivitäten im Wettkampf stehen. Die Resultate eines täglichen, wöchentlichen oder monatlichen Wettstreits werden anschließend von den Lehrern oder Schülern selbst verkündet und an den Wänden der Klassenräume für jeden sichtbar gemacht. Bewertet werden nicht nur Prüfungsresultate, sondern auch die Nichterledigung von Hausaufgaben, Sauberkeit und Körperpflege etc. Die han werden als Gruppe für ihre Erfolge gelobt, aber auch für ihre Fehlschläge beschuldigt. Dies erhöht den Druck auf die einzelnen Mitglieder der han, zu jeder Zeit dem Standard zu entsprechen.91 Die Verantwortung für die Taten Einzelner wird oft von der ganzen Gruppe getragen. Dies geht so weit, dass beispielsweise eine ganze Klasse aufgrund des Fehlverhaltens eines Schülers nachsitzen oder ein Sportteam sich aufgrund des Fehlverhaltens eines einzelnen Sportlers gänzlich aus einem

88 Sugimoto, Japanese Society, S. 325 f. 89 TQC steht für total quality control. Vereinfacht dargestellt: In japanischen Firmen werden die Mitarbeiter in Einheiten unterteilt, die stets Vorschläge zur Verbesserung der Firma und deren Produkte hervorbringen sollen. Dies bindet die Angestellten wiederum enger an ihre Firmen. Ebd., S. 327 f. 90 Ebd., S. 330. Dieses System wird go-nin gumi genannt. Im Zweiten Weltkrieg wurde ein ähnliches System, tonari-gumi (Nachbarschaftswache) angewendet. Tonari-gumi sollte Konformität und Solidarität in Bezug auf die Kriegsaktivität gewährleisten und promovieren. 91 Ebd., S. 327.

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Wettbewerb zurückziehen muss. 92 Tatsächlich werden diese han nicht per se als etwas Schlechtes betrachtet. Wie bereits erwähnt gibt es han in Form von Nachbarschaftsvereinigungen93. Die dazugehörigen Haushalte (tatsächlich gehören nur sehr wenige Haushalte nicht einer solchen Vereinigung an) verpflichten sich zur gemeinsamen Organisation und Instandhaltung der Nachbarschaft. Darunter fallen u. a. das Abhalten von verschiedenen Festlichkeiten, das Sammeln von Spenden für die Gemeinschaft, das Reinigen der Abflussrohre oder auch Aktivitäten zur Prävention von Kriminalität sowie Bränden und Drills für den Fall eintretender Katastrophen. 94 Was das Han-Konzept laut Sugimoto so effektiv macht, ist die Tatsache, dass, obwohl es übergeordnete Instanzen gibt, die Kontrolle nicht aus der Vertikalen, sondern aus der Horizontalen erfolgt. Die Kontrolle wird nämlich durch die enge Bindung an eine kleine Gruppe von Gleichgestellten gewährleistet, was das Abweichen von der Norm schwierig macht.95 Neben den han-Gruppen soll noch auf einen weiteren einheitsfördernden Faktor eingegangen werden: die (schulische) Erziehung. Besonders auffallend sind die praktisch militärischen Verhaltensregeln in der Schule, welche es zum Teil auch in Europa gab (und teilweise in den USA weiterhin existieren), mittlerweile aber größtenteils abgeschafft wurden. Zum schulischen Alltag gehört die kollektive Begrüßung des Lehrers durch gemeinsames Aufstehen, Verbeugen und Hinsetzen mit Ansage 96 des Klassensprechers. Zudem sind Schuluniformen in den meisten Schulen und den dazugehörenden Sportclubs üblich.97 Darüber hinaus existiert noch ein besonderes hierarchisches System, welches ab der Mittelschule angewendet wird. Die jüngeren Schüler (kōhai) sind dazu verpflichtet, den Älteren 98 (senpai) Respekt zu erweisen und sogar Gehorsam und Unterwürfigkeit entgegenzubringen. Am striktesten werden diese Kōhai-senpai-Beziehungsregeln innerhalb

92 Sugimoto, Japanese Society, S. 328. 93 Auch chōnaikai, chōkai, burakukai, kukai oder einfach nur han genannt. Die Bezeichnung variiert je nach Region und Art der Vereinigung. Ebd., S. 328. 94 Ebd., S. 328. 95 Ebd., S. 330. 96 In vielen Schulen gibt der Klassensprecher folgende Befehle, wenn der Lehrer den Klassenraum betritt: Kiritsu! (Aufstehen!), Rei! (Verbeugen!) und Chakuseki! (Hinsetzen!). 97 Ebd., S. 143. 98 Hiermit sind vor allem die unterschiedlichen Jahrgänge gemeint. Auf die sechsjährige Grundschulausbildung folgen drei Jahre Junior Highschool und drei Jahre Highschool. Japan Educational Travel (Hrsg.), Japanese Educational System, o. D., [https://education.jnto.go.jp/en/choice/education], eingesehen 19.12.2018.

26 der Schule und der schulischen Clubaktivitäten angewendet. Eine unterwürfige Persönlichkeit und die Bereitschaft, Befehlen zu gehorchen, werden erwartet und geschätzt.99 Die Einheit und Solidarität der Japaner werden jedoch noch durch weitere Arten der Gruppen- oder Zusammenarbeit anerzogen. Die Schüler müssen täglich nach Schulende ihr Klassenzimmer, die Gänge, die Toiletten, den Schulhof usw. putzen. Dies soll dazu beitragen, sie zu verantwortungsbewussten, hart und zusammenarbeitenden Bürgern zu erziehen. Daneben gibt es noch eine ganze Reihe an gemeinsamen sportlichen Aktivitäten und gemeinsam organisierten Festlichkeiten, kollektives lautes Vorlesen der Schulbücher und das Singen der Schulhymne.100

Bisher wurde in dieser Arbeit eine ganze Reihe an Strukturen und Charakteristiken der japanischen Gesellschaft vorgestellt. Das nun folgende Kapitel betrifft weniger die Form und Regelungen der Gesellschaft, sondern beleuchtet einen wesentlichen inhaltlichen Aspekt, nämlich Japans visueller Kultur.

4.9. Ein Blick auf Japans visuelle Kultur Dieses Kapitel widmet sich den Hauptquellen dieser Arbeit, Manga und Anime. Anime werden in dieser Analyse als eine weitere, serialisierte Form der Mangas des 20. Jahrhunderts verstanden und aus diesem Grund nicht zusätzlich als von Manga unabhängige Quelle expliziert. Die nun wohl dringlichste Frage ist jedoch, was diese Medien als aussagekräftige Quellen qualifiziert. Die Soziologin Ito Kinko schrieb Folgendes zur Beschaffenheit der Mangas:

„Like any other form of visual art, literature, or entertainment, manga does not exist in a vacuum. It is immersed in a particular social environment that includes history, language, culture, politics, economy, family, religion, sex and gender, education, deviance and crime, and demography. Manga thus reflects the reality of Japanese society, along with the myths, beliefs, rituals, tradition, fantasies, and Japanese way of life. Manga also depicts other social phenomena, such as social order and hierarchy, sexism, racism, ageism, classism, and so on.”101

99 Sugimoto, Japanese Society, S. 143 f. 100 Ebd., S. 144 f. 101 Kinko Ito, ‘A history of manga in the context of Japanese culture and society’, in: The Journal of Popular Culture 38:3 (2005), S.456–475, hier. S. 456, zit. n. Roman Rosenbaum, Towards a summation. How do manga represent history?, in: Rosenbaum Roman (Hrsg.), Manga and the Representation of Japanese History, USA- Canada 2014, S. 251–258, hier S. 251.

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Manga haben eine lange Geschichte und spiegeln seit jeher den Zeitgeist der jeweiligen Epochen Japans wider. 102 Um das Konzept „Manga“ jedoch besser zu verstehen, ist es notwendig, einen Blick auf die visuelle Kultur Japans zu werfen und somit auch die Ursprünge der Mangas.

Es ist nicht ganz klar, wann die erste japanische Karikatur angefertigt wurde. Die ältesten Funde gehen jedoch auf das 6. und 7. Jahrhundert zurück. Es wurden diverse Zeichnungen von Menschen, Tieren und Phalli auf den Rückseiten der Holzmauern und Zimmerdecken des Tōshōdaiji 103 - und Hōryūji-Tempels in der Nara-Präfektur gefunden. Bischof Tobas Chōjūgiga gilt als frühestes Meisterwerk und als eines der ältesten narrativen Comic-Kunstwerke. Hierbei handelt es sich um eine fast 25 Meter lange Schriftrolle mit Zeichnungen von Tieren, welche jedoch Menschen verkörperten, also eine Art Fabel in der Toba den buddhistischen Klerus verspottete. Die ersten Rollen enthielten noch Texte, die jedoch allmählich verschwanden, weil ihre Länge (ebenso 25 Meter) und die Stilisierung der Zeichnungen sie überflüssig machten. Die Schriftrollen wurden von rechts nach links aufgerollt. Die Zeichnungen erstrecken sich über die ganze Rolle und wurden, anders als heute, nicht in Form von Panels strukturiert und getrennt. Veränderungen von Stimmung, Ort und Zeit wurden jedoch durch stilistische Mittel wie Nebel, Kirschblüten oder Blätter dargestellt. Ursprünglich stammte diese Kunstform aus China. Die Japaner übernahmen sie und entwickelten im Lauf der Zeit ihren eigenen Stil.104

Abbildung 1: Ein Ausschnitt des Chōjūgiga. Darstellung buddhistischer Priester in Form von Tieren (Bischof Toba, 11./12. Jahrhundert)105

102 Rosenbaum, Manga and the Representation, S. 252. 103 Mit ā, ī, ū, ē und ō werden in der Transkription, aus dem Japanischen, lange Vokale markiert. 104 Frederik L. Schodt, Manga! Manga! The World of Japanese Comics, Tokyo-New York-London 1983, S. 28 f. Vgl. The British Museum (Hrsg.), Manga: a brief history in 12 works, o. D., [https://blog.britishmuseum.org/manga-a-brief-history-in-12-works/?_ga=2.147811135.98201582.1553445214- 155342835.1553445214], eingesehen 24.3.2019. 105 Priests caricatured by Toba Sojo, zwischen 1053 und 1140, [https://upload.wikimedia.org/wikipedia/ commons/a/af/EB1911_Japan_-_Priests_caricatured_by_Toba_Sojo. jpg], eingesehen 24.3.2019.

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Abbildung 2: Ausschnitt der fünfteiligen Schriftrolle „Vernichtung des Bösen“. Das göttliche Insekt Sinchū vertreibt Pestdämonen (Maler unbekannt, 12. Jahrhundert)106

Die meisten frühen Schriftrollen behandelten ernste religiöse Themen, getarnt durch einen einfachen und spöttischen Cartoon-Zeichenstil. Daneben gab es auch humoristische Bilder, auf denen Genitalien dargestellt wurden, z.B. in Form von „Penis-Wettkämpfen“. Im 17. Jahrhundert wurden dann die sogenannten Zenga oder auch Zen-Bilder entwickelt. Auch hierbei handelte es sich um religiöse, oft humoristische Karikaturen, die dem aus China stammenden, Zen-Buddhismus zugeordnet werden können. Das Zeichnen von Zenga sollte den Künstlern dabei helfen, einen bestimmten spirituellen Bewusstseinszustand zu erreichen. Die einfachsten Zenga waren lediglich Kreise, eine Darstellung der Leere. Daneben gab es auch spirituelle Rätsel (kōan), mit denen die Meister ihre Schüler belehren wollten. Zen- Bilder sind sehr vielfältig. Einerseits können sie umfassende Schönheit darstellen, andererseits können sie jedoch auch recht vulgär wirken. Die Zeichnungen an sich waren von geringer Bedeutung, blieben oft unsigniert und wurden weggeworfen. Das Zeichen selbst stand im Vordergrund. Die Schlichtheit der Zenga lässt sich praktisch in der gesamten japanischen Kunst wiederfinden. Charakteristisch ist die Nutzung eines flexiblen Pinsels, wodurch die merkwürdigsten Formen anhand der gezeichneten Linien ohne die Nutzung von Farbe und Schatten erkennbar werden.107

106 Extermination of Evil Shinchū, 12. Jahrhundert, [https://upload.wikimedia.org/wikipedia /commons/d/d3/Extermination_of_Evil_Shinch%C5%AB.jpg], eingesehen 24.3.2019. 107 Schodt, Manga! Manga!, S. 30 f. Vgl. Helwig Schmidt-Glintzer, Der Buddhismus, München 20143, S. 106 f.

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Abbildung 3: Zenga. Darstellung der Leere108

Die gewöhnliche Bevölkerung bekam die Zenga und Schriftrollen-Zeichnungen jedoch kaum zu Gesicht, da diese hauptsächlich im Besitz des Klerus und der Obrigkeit waren. Da das Volk sich nach Unterhaltung (unterhaltender Kunst) sehnte, kam es in der Stadt Ōtsu (nahe Kyoto) Mitte des 17. Jahrhunderts zu einem Boom. Dort wurden Bilder an Reisende verkauft, die anfangs noch die Funktion von Amuletten hatten, sich später aber zu Karikaturen von Kriegern, Dämonen oder schönen Frauen weiterentwickelten. Wirklich populäre Bilder wurden auch seit Beginn des 17. Jahrhunderts mit Hilfe des Holztafeldrucks verbreitet. Der wirtschaftliche Aufschwung der Edo-Periode (1600–1867) begünstigte die Massenproduktion der Holzdrucke (ukiyo-e). Häufige Motive waren beispielsweise Mode, berühmte Reiseziele, historische Geschichten, Kabuki 109 -Theater-Idole oder einfach die Freuden und Zeitvertreibe des Alltags. Waren diese Holzdrucke anfangs noch grob verarbeitet und einfarbig, so wurde diese Kunstform allmählich verfeinert (auch durch die gelegentliche Nutzung von Farbe). Die ukiyo-e waren zweifellos Teil der damaligen popular culture und versuchten Stimmungen, Wesenszüge und Impressionen zu vermitteln, ohne dabei Rücksicht auf die Regeln der Anatomie und Perspektive zu nehmen. Wie die heutigen Comics waren die ukiyo-e billig und unterhaltsam.110

108 Zenga. Darstellung der Leere, 15.11.2011, [https://www.flickr.com/photos/ejdaniel/6454779679], eingesehen 24.3.2019. 109 Das traditionelle bürgerliche Theater Japans der Edo-Periode. 110 Vgl. Frederick Harris, Ukiyo-e. The Art of the Japanese Print, USA 2011, S. 14.

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Abbildung 4: Geisha mit einer Shamisen (Kitagawa Kikumaro, mehrfarbiger Holzdruck, 1815)111 Abbildung 5: Die große Welle vor Kanagawa (Katsushika Hokusai, mehrfarbiger Holzdruck aus der Serie 36 Ansichten des Berges Fuji, 1829–1832)112 Abbildung 6: Hatsuhanas Buße unter dem Tonosawa-Wasserfall (Utagawa Kuniyoshi, mehrfarbiger Holzdruck, 1841/42)113

Der Druck-Künstler Hokusai Katsushika (1760–1849) prägte erstmals den heute in Japan geläufigen und zur Bezeichnung von Comics und Karikaturen genutzten Begriff Manga.114 Viele Künstler experimentierten mit Darstellungen des Grotesken, Makabren, Fantastischen und Erotischen. Erst durch den Einfluss des Christentums begannen die Japaner, um sich in auf internationaler Ebene an übliche Moralvorstellungen anzupassen, ihre erotische Kunst (shunga) zu zensieren. In der Edo-Periode entstanden auch die wahrscheinlich ersten „Comic Bücher“: Handwerker banden 20 oder mehr, zum Teil auch beschriftete, Holzdrucke mit einem Faden zusammen. Eines der frühesten „Comic-Bücher“ schuf Shumboku Ōoka 1702. Es trug den Titel Tobae Sankokushi und löste einen weiteren Verkaufsboom dieses neuen Produkts aus. Im 18. Jahrhundert gewannen die sogenannten kibyōshi an Popularität. Die ursprünglich aus Kindergeschichten entstandenen kibyōshi entwickelten sich zu handlungsorientierten, an Erwachsene gerichtete Comics mit oft humoristischen und autoritätskritischen Inhalten. Um diese Zeit verschwanden nach und nach die traditionelleren Kunstformen und wurden von Manga-Büchern und -Magazinen abgelöst.115

111 A Geisha with a Shamisen, 1815, [https://picryl.com/media/a-geisha-with-a-shamisen-c7f893], eingesehen 24.3.2019. 112 Great Wave off Kanagawa, zwischen 1826 und 1833, [https://upload.wikimedia.org/ wikipedia/commons/0/0d/Great_Wave_off_Kanagawa2.jpg], eingesehen 24.3.2019. 113 Hatsuhana doing penance under the Tonosawa waterfall, 1841–1842, [https://upload.wikimedia. org/ wikipedia /commons/5/59/Hatsuhana_doing_penance_under_the_Tonosawa_waterfall.jpg], eingesehen 24.3.2019. 114 Vgl. The British Museum (Hrsg.), Manga. 115 Schodt, Manga! Manga!, S. 32–37.

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Abbildung 7: Farb-Shunga (Kitagawa Utamaro, 18. Jahrhundert)116

1853 zwangen die USA unter Commodore Matthew Calbraith Perry Japan aus ihrer, seit der Edo-Periode selbst auferlegten Isolation. Die Öffnung Japans wiederum brachte durch externe Einflüsse immense gesellschaftliche Veränderungen mit sich. In Bezug auf die Manga-Kunst sind die Einflüsse des Briten Charles Wirgman (1835–1891) und des Franzosen George Bigot (1860–1927) kaum mehr wegzudenken. Beide importierten den europäischen Stil des Karikierens und machten die Japaner vertraut mit perspektivischem und anatomischem Zeichen sowie dem Schattieren. Darüber hinaus führte Wirgman die heute üblichen Textblasen und Bigot die narrative Erzählung in Form von Sequenzen ein. Durch Rakuten Kitazawa (1876–1955) und Ippei Okamoto (1886–1948) wurden allmählich amerikanische Comics und Comic-Streifen beliebter. Darüber hinaus schuf Kitazawa die erste Manga-Serie mit wiederkehrenden Charakteren: Tagosaku to Mokubē no Tōkyō Kembutsu (Tagosaku and Mokubē Sightseeing in Tokyo). Okamoto wiederum zeichnete jahrelang soziale und politische Karikaturen für die Asahi-Zeitung und half dadurch, den Beruf des Karikaturisten oder des zukünftigen Mangaka117 zu popularisieren.118

Vgl. Adam L. Kern, Manga from the Floating World: Comicbook Culture and the Kibyôshi of Edo Japan, Cambridge 2006. 116 Utamaro Farb-Shunga, 18. Jahrhundert, [https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/33/17XX_ Utamaro_ Shunga_anagoria.JPG], eingesehen 24.3.2019. 117 Autor und Zeichner von Mangas. 118 Schodt, Manga! Manga!, S. 38–43. Vgl. Eva Mertens, Mehr als ‚nurʻ Manga und Anime. Geschichte Verlage, Künstler und Fernsehsender. Die Manga- und Animeszene stellt sich vor, Bd. 2., Hamburg 2012, S. 25 f.

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Abbildung 8: Ausschnitt aus Tagosaku to Mokubē no Tōkyō Kembutsu (Rakuten Kitazawa, Comicstreifen, 1902)119

Trotz des Einflusses der amerikanischen Comics auf die Mangas sollte man diese nicht gleichsetzen. Unter dem amerikanischen Comic versteht man hauptsächlich ein monatlich erscheinendes, an eine männliche Leserschaft gerichtetes mehrfarbiges, etwa 30- seitiges Heft, welches zudem viel Werbung enthalten kann. Im Gegensatz zu den Comics erscheinen Mangas meistens zuerst in wöchentlichen oder monatlichen Manga-Magazinen. Die durchschnittlich 350-seitigen Manga-Magazine umfassen meistens einzelne Kapitel von ca. 15 verschiedenen Geschichten. Diese enthalten vergleichsweise wenig Werbung und die Zeichnungen sind in der Regel monochrom. Die populären Geschichten werden dann erst nachträglich zu Paperbacks zusammengebunden. Die wohl bedeutendsten Unterschiede dürften die Leserschaft und die Themenvielfalt der Mangas sein. Mangas sind in diverse Genres eingeteilt und versuchen somit eine äußerst breite Leserschaft120 anzusprechen.121 Um

119 Tagosaku to Mokube no Tokyo Kenbutsu, 1902, [https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/94/ Tagosaku_to_Mokube_no_Tokyo_Kenbutsu.jpg], eingesehen 24.3.2019. 120 Üblicherweise werden die Zielgruppen in fünf Kategorien unterteilt: - Kodomo oder jido für Kinder beider Geschlechter unter 12 Jahren - Shoujo für Mädchen zwischen 12 und 15 Jahren - Shounen für Jungen zwischen 12 und 15 Jahren - Josei oder young reddisu komikku für Frauen ab 16 Jahren

33 nur einige wenige zu nennen: Action, Comedy, Drama, Historisch, Horror, Musik, Romanze, Sport, Tragödie, Gender Bender (in diesem Genre kann ein Wechsel der Geschlechter oder die Beschäftigung mit Geschlechterzuordnungen thematisiert werden). 122 Diese Erläuterungen sollten verdeutlichen, dass Mangas keinesfalls als reine Bilderbücher für Kinder zu verstehen sind. Sie sind, genauso wie Anime eine durchaus ernstzunehmende Realität und zudem eine wichtige Einnahmequelle Japans.123 Eine Statistik124 von 2011 besagt, dass der Verkaufswert von Manga-Büchern und - Magazinen etwa 22 Prozent aller in Japan publizierten Titel umfasst. Über 968 Millionen Manga-Bücher und -Magazine waren 2011 im Umlauf, was ungefähr einem Drittel des Vertriebs aller Publikationen entsprach. 125 Yoshio Sugimoto erklärt, dass es leider keine verlässlichen Informationen mit exakten Angaben zu Manga-Lesern gibt. Er verweist jedoch auf eine Online-Umfrage der Japan Book Publishers Association (Nihon Shoseki Shuppan Kyōkai), bei der 31,5 Prozent der Teilnehmer angaben, mindestens ein oder mehrere Mangas pro Monat zu lesen. Sugimoto warnt jedoch davor, den Manga-Leser als repräsentative Majorität aller Japaner zu verstehen. 126 Obwohl die Manga-Industrie immer noch ein Geschäft mit Umsätzen in Milliardenhöhe ist, so zeigen Statistiken, dass die Verkaufszahlen seit ihrem Höhepunkt 1996 fast konstant am Sinken sind127.

- Seinen für Männer ab 16 Jahren Sebastian G., Übersicht der Anime Genre und Zielgruppen, 3.5.2016, [https://www.japaniac.de/uebersicht- der-anime-genre-und-zielgruppen-2/], eingesehen 4.2.2019. The University of Arizona (Hrsg.), Fun Reading but Serious Talking: Manga History and Social Practice, 27.10.2017, [https://wowlit.org/blog/2017/10/09/talking-seriously-about-fun-reading-manga-history-social- practice/], eingesehen 24.3.2019. 121 Schodt, Manga! Manga!, S. 12 f. 122 Ebd. 123 Susan J. Napier, Anime - from Akira to Howl's Moving Castle, New York 2001, S. 7 f. 124 Vgl. Takao Nakajin/Akira Kashima/Masaaki Shindoh/Tanio Yokote/Kanae Sato (Hrsg.), Practical Guide to Publishing in Japan 2012–2013, Japan 2012, S. 12 f. 125 Sugimoto, Japanese Society, S. 264. 126 Ebd., S. 2 f. 127 Bei diesen Statistiken muss man jedoch berücksichtigen, dass die Online-Piraterie ein bedeutender Faktor ist und enorme Schäden anrichtet. 2014 wurde der Schaden der Online-Piraterie von Manga auf 50 Milliarden Yen geschätzt, umgerechnet über 390 Millionen Euro (Stand 20.12.2018). Ein Internetportal, welches es ermöglicht illegal hochgeladene Mangas kostenlos zu lesen, wurde im März 2018 174 Millionen Mal aufgesucht und erreichte somit den 25. Platz der meistbesuchten Internetseiten Japans. Des Weiteren geht aus der von Sugimoto genutzten Statistik nicht klar hervor, ob bei diesen Zahlen die Online-Käufe inkludiert sind oder nicht. Tatsächlich berichten japanische Zeitungen, darunter auch die Japan Times, dass 2018 der Verkauf von digitalen Mangas (171,2 Milliarden Yen) erstmals jenen ihrer gedruckten Versionen (166,6 Milliarden Yen) übertraf. Shusuke Murai, Internet piracy taking major bite out of Japan’s famed manga culture, in: , 10.4.2018, [https://www.japantimes.co.jp/news/2018/04/10/reference/internet-piracy-taking-major-bite-japans- famed-manga-culture/#.XBt66s0o-Uk], eingesehen 20.12.2018. Manga book sales falling to a record low: survey, in: The Japan Times, 8.1.2018, [https://www.japantimes.co.jp/life/2018/01/08/language/manga-book-sales-falling-record-low-survey/#. XBtygM0o-Ul], eingesehen 20.12.2018.

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4.10. Shintoismus Maßgeblich für ein besseres Verständnis der japanischen Kultur mitsamt ihren Wertvorstellungen und ihrer Spiritualität bzw. ihrem religiösen Weltbild sind Grundkenntnisse des Shintoismus. Wie das Christentum in der westlichen Hemisphäre ist der Shintoismus einer der konstitutiven Pfeiler der japanischen Kultur. Versucht man also Japan zu verstehen, so kommt man nicht daran vorbei, jene Religion zu studieren, auf der ein Großteil der dort existierenden Werte basiert. Würde man sich dem Thema „Wie und was wird erinnert?“ mit einer rein christlichen Grundeinstellung nähern, so wäre das einerseits kaum angebracht und andererseits würde dies unweigerlich zu gravierenden Missverständnissen und Fehlinterpretationen führen. Mag es auf den ersten Blick auch etwas überbetont wirken, so darf man beim Vergleich zweier (oder mehrerer) grundlegend verschiedener Kulturkonzepte nicht die Macht bewusster und unbewusster kultureller Prägungen unterschätzen. Darum werden in diesem Kapitel kurz die für diese Arbeit wichtigsten, Aspekte des Shintoismus vorgestellt. Allein den Shintoismus in wenigen Worten zu kategorisieren und einzuordnen, fällt schwer. Man könnte ihn sowohl als eine japaneigene Religion als auch eine Ansammlung unzähliger Bräuche, Gewohnheiten und Glaubenskonstrukten nennen. Obwohl der Shintoismus in Japan geboren wurde, wurde er im Laufe der Jahre stark von der chinesischen Kultur beeinflusst, zum Beispiel durch den Buddhismus und den Konfuzianismus. 128 Der Shintoismus und der Buddhismus bilden zusammen die zwei miteinanderarbeitenden und in sich verfließenden Hauptreligionen Japans.129 Der Shinto lässt sich aus dem Grund schwer fassen, da er viele der üblichen Kriterien einer Religion nicht erfüllt. So gibt es dort keine Gottheit im traditionellen Sinn. Darüber hinaus gibt es weder einen bekannten Gründer noch heilige Schriften, eine Doktrin oder richtige Bilder und Objekte der Anbetung. 130 Es existieren zwar durchaus religiöse Schriften (die nicht selten auch politische Ansichten und literarische Ausschmückungen enthalten), jedoch gelten diese nicht als universelle Leitfäden für den gesamten Glauben. Die Auslegung dieser Texte ist eng an ihre Interpretation geknüpft und somit variieren ihr Verständnis und ihre Bedeutung von Individuum zu Individuum. Im Gegensatz zum Christentum legt der Shinto bedeutend weniger Wert auf das geschriebene oder gesprochene Wort. Die Sprache wird nicht als absolut betrachtet, sondern ist im

Sales of digital manga overtake print editions in Japan for first time, in: The Japan Times, 26.2.2018, [https://www.japantimes.co.jp/news/2018/02/26/national/sales-digital-manga-overtake-print-editions-japan-first- time/#.XBtynM0o-Uk], eingesehen 20.12.2018. 128 Motohisa Yamakage, The Essence of Shinto. Japan´s Spiritual Heart, New York 2012, S. 36. 129 Ebd., S. 59. 130 Ebd., S. 32 f.

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Gegenteil ein Ausdruck der Beschränktheit und klein im Vergleich zur Natur. Die Sicht auf das menschliche Wissen und die der Sprache als Absolutum, sozusagen als Krönung der Schöpfung, wird als menschliche Arroganz verstanden. Somit besteht das Ausleben des shintoistischen Glaubens nicht in der Ausübung festgelegter Glaubensvorsätze und festgeschriebener Regeln. Es geht vielmehr darum, einen persönlichen Weg zu finden, sich mit kami131 zu verbinden. Da diese persönliche spirituelle Erfahrung und Selbstfindung im Vordergrund steht, sind die shintoistischen Lehren diverser Meister und Priester eher als Orientierungshilfe zu verstehen und nicht als feste Glaubenssätze. Dem Glauben (und Glaubensformen) wird es ermöglicht, sich frei zu entfalten.132 Ein fundamentaler Unterschied zwischen Christentum und Shintoismus ist das Konzept der Sünde. Laut dem christlichen Glauben wird jeder Mensch bei seiner Geburt mit der Erbsünde behaftet. Zusätzlich begeht der Mensch im Lauf seines Lebens weitere Sünden, die als „böse“ Taten, als Abwendung von Gottes Willen gedeutet werden und für die der Mensch letztendlich vor Gott gerichtet wird und welche von Gott vergeben werden müssen. Ein wesentlicher Bestandteil des christlichen Glaubens ist somit das allgegenwärtige Konzept der Schuld. Im Shinto hingegen gibt es keine Sünde133. Der Mensch wird als grundsätzlich gut verstanden. Die Seelenessenz der Menschen ist ein Ausdruck von kami und so naturgemäß fehlerfrei und perfekt. Jedoch können Menschen in ihrer fleischlichen Gestalt irren und Fehler begehen. Der Ursprung der Fehler ist nicht als Korrumpierung durch das Böse zu verstehen, sondern ist lediglich auf die Unreife der menschlichen Seele zurückzuführen. Diese Fehler und andere Verunreinigungen werden als eine Art semimaterielle Last oder Aura verstanden, die die Menschen umgibt. Diese lassen sich jederzeit durch eine rituelle Reinigung entfernen. Nach der Reinigung ist die Balance zwischen Körper, Geist und Seele widerhergestellt und der Mensch ist wieder rein.134 Somit sind die Gegensätze von Gut und Böse im Shintoismus auch anders zu werten. Das Böse ist nicht eine verführerische Kraft, gegen die der Mensch sich ständig wehren muss. Das Gute, das mit gutem und moralischem Handeln gleichgesetzt wird, ist der Ausdruck einer intakten Balance zwischen Körper, Geist und Seele. Das Böse, also böses, unmoralisches Verhalten, hingegen weist auf eine Unausgeglichenheit dieser drei Punkte hin.135

131 Eine ausführliche Erklärung zu kami wird folgen. Vereinfacht ausgedrückt ist kami die universelle Kraft, der Fluss des Lebens. 132 Yamakage, Shinto, S. 39–42. 133 Es gibt keine Sünde nach christlichem Verständnis. Es gibt jedoch verschiedene Formen des Fehlverhaltens und des „Bösen“, diese werden jedoch anders konnotiert. 134 Ebd., S. 122 ff. 135 Ebd., S. 43–46.

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Wie sich gezeigt hat, existiert im Shinto also weder das Konzept der inhärenten Schuld noch jenes des Seelenheils.136 Doch was passiert gemäß dem shintoistischem Glauben nach dem Tod? Sehr vereinfacht ausgedrückt wird geglaubt, dass ein Teil der Seele des Verstorbenen eine Zeitlang auf der Erde verweilt, wohingegen der andere Teil in das Jenseits übergeht. 137 Dem zurückgebliebenen Körper des Verstorbenen wird kaum Beachtung geschenkt, sondern dieser wird lediglich als leere Hülle verstanden. 138 Anders als im Christentum gilt der Tod nicht als Endstation. Es wird geglaubt, dass die menschliche Seele („child-spirit of kami“) sich auch nach dem physischen Tod weiterentwickeln und entfalten kann. So könnte sie beispielsweise auch als Wegweiser und Beschützer für seine Nachfahren auftreten. Seelen, welche Untaten 139 begingen, müssen sich einer Phase der Sühne unterziehen. Erst nach deren Abschluss kann das spirituelle Wachstum der Seele weiter voranschreiten. 140 Die Gebete für die Toten sind einerseits ein Ausdruck der Trauer der Hinterbliebenen, andererseits erbitten sie den Übergang des Verstorbenen in eine höhere Sphäre.141 Darüber hinaus existiert der Glaube, dass nicht richtig beigesetzte Seelen in einem Zustand der Verwirrung verweilen und ihren Verbliebenen und ehemaligen Feinden schaden. Dieser Zustand wird erst durch eine angemessene rituelle Bestattung aufgehoben.142 Hier ist anzumerken, dass Leben und Tod im Shintoismus nicht unbedingt als zwei voneinander getrennte „Welten“ verstanden werden. Alles ist miteinander verbunden und kommuniziert auch miteinander, die von uns Menschen wahrgenommene Ebene des Alltags und jene der kami.143 Schließlich wenden wir uns dem zentralen und äußerst komplexen Begriff kami zu. Kami steht im Mittelpunkt des Shintoismus und kann auf mehrere Weisen gedeutet und umschrieben werden: „powers of spiritual dimension“ 144 , naohinomitama, „source of nature“145, „source of life“146, etc. Der Anthropologe Michael Ashkeni beschreibt kami wie folgt:

136 Yamakage, Shinto, S. 44. 137 Ebd., S. 142. 138 Ebd., S. 161. 139 Hier wird leider nicht präzisiert, wie gravierend diese Untaten sein müssen, damit dieser Fall eintritt. 140 Ebd., S. 154 f. + 164. Dies ist mag einer der Gründe für den so ausgeprägten Ahnenkult in Japan sein. 141 Ebd., S. 163 f. 142 James Mark Shields, ‘Land of kami, land of the dead’. Paligenesis and the aesthetics of religious revisionism in Kobayashi Yoshinori´s ‘Neo-Gōmanism Manifesto Special: On Yasukuni’, in: Rosenbaum Roman (Hrsg.), Manga and the Representation of Japanese History, USA-Canada 2014, S. 189–216, hier S. 205 f. 143 Michael Ashkenazi, Handbook of Japanese Mythology, New York 2008, S. 27. 144 Yamakage, Shinto, S. 15. 145 Ebd., S. 27. 146 Ebd., S. 170.

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„The term kami used […] is a complex one. For our purposes (and to avoid a lengthy discussion) the term functions as both noun and adjective. As a noun kami means a powerful being with an interest in the lives of humans and the ability to intervene in human affairs, either directly or indirectly, by influencing the activities of other kami, animals, or natural events and features: in short, a deity. As an adjective, the term means something close to ’holy‘: a mysterious and elevating quality that various living beings, including animals and humans, possess to varying degrees. Kami (the noun form) possesses kami (the adjectival form) in very great degrees […].”147

Wie man erkennen kann, bietet Ashkenazi eine leicht abweichende, aber dennoch ähnliche Definition. Der adjektivische Gebrauch von Ashkenazi kommt jenen Umschreibungen von Großmeister Yamakage am nächsten. Der substantivische Gebrauch enthält einen Faktor, dem hier bisher noch keine Beachtung geschenkt wurde, nämlich der Personifizierung von kami. Ein philosophisches Prinzip des Shintoismus besagt, dass die gesamte Schöpfung von kami erzeugt und daraus gestaltet wurde. Somit sind sämtliche Formen des Lebens sogenannte „child-spirits“148 (jap. bunrei) vom ursprünglichen kami. Folglich ist auch der Mensch ein child-spirit von kami. Der Glaube, dass die menschliche Essenz von Natur aus perfekt oder gut ist, macht umso mehr Sinn, da sie ein Ausdruck von kami selbst ist.149 Der Shintoismus wird gerne als polytheistisch bezeichnet, da es dort eine Unzahl an kami150 gibt. Tatsächlich sind auch diese mehr oder weniger entwickelte child-spirits des ursprünglichen kami. Darum kann es problematisch sein, diese kami mit dem Begriff Gottheit zu übersetzen. Der Shinto unterteilt die kami in drei unterschiedliche (jedoch überlappende und miteinander verbundene) Kategorien: himmlische kami (jap. amatsukami), irdische kami (jap. kunitsukami) und eine Myriade anderer kami (jap. yaoyorozu no kami). Die himmlischen kami sind wohl das, was dem westlichen Konzept von Gottheiten am nächsten kommt, wenn der Vergleich auch suboptimal ist. Am einfachsten wäre es wohl zu behalten, dass sämtliche kami Formen spiritueller Kraft sind, welche Ausdrücke des ursprünglichen kami sind.151 Wie bereits mehrmals erwähnt wurde, sind auch Menschen child-spirirts, also Ausdrücke des ursprünglichen kami. Laut dem shintoistischen Glauben ist es das Ziel eines

147 Ashkenazi, Japanese Mythology, S. 29. 148 Hier wird die englische Übersetzung beibehalten, da sich eine Deutsche als problematisch erwies. 149 Yamakage, Shinto, S. 26. 150 Es mag auf den ersten Blick äußerst verwirrend wirken, da beide, sowohl der ursprüngliche kami als auch die von diesem abstammenden Ausdrücke, unter dem gleichen Begriff fungieren. Aber dennoch ergibt dies Sinn, denn das shintoistische Verständnis besagt Folgendes: „One is many – and many is one“. Alles führt zur gleichen Quelle zurück, alles ist eins. Tatsächlich gibt es noch eine große Anzahl an anderen Begriffe,n mit denen die unterschiedlichen Formen von kami bezeichnet werden (mi, hi/bi, chi, tama, mono, mikoto, nushi), dies führt jedoch zu weit und wäre für das Konzept dieser Arbeit irrelevant. Erwähnenswert wäre noch, dass eine Hierarchie unter den kami etabliert wurde, die auf ihre Rolle und Funktion zurückführt werden kann. Yamakage, Shinto, S. 29 + 208–212. 151 Ebd., S. 56 f.

38 jeden Menschen diese Essenz zu nähren, sich spirituell weiterzuentwickeln um schließlich selbst kami zu werden, was im Grunde nichts anderes bedeutet, als wieder eins mit dieser ursprünglichen Schöpfungsenergie zu werden. Obwohl Menschen irren und mit Unreinheit in Verbindung kommen, soll es ihnen möglich sein, diesen Zustand zu erreichen. Voraussetzung dafür ist unter anderem geistige und körperliche Reinheit. 152 Und wie bereits angedeutet wurde, endet dieser Prozess nicht mit dem Tod der Menschen, sondern läuft auch nach dem irdischen Tod weiter.

Dieses Kapitel sollte dem Leser einige Fundamente des Shintoismus näher bringen, welche essentiell für das Verständnis der japanischen Kultur und für die Argumentation dieser Analyse sind. Das möglicherweise recht lang wirkende Kapitel 4 legt großen Wert auf die Sensibilisierung des Lesers für kulturelle Unterschiede zwischen Japan und den westlichen Nationen. Dies ist aus dem Grund wichtig, dass diese Masterarbeit die divergierende Entwicklung Japans und beispielsweise Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg auf die verschiedenartigen Kulturen und gesellschaftliche Strukturen zurückführt, was wiederum bedeutet, dass Japans angebliche „Geschichtsamnesie“ 153 als Resultat kultureller und gesellschaftlicher Begebenheiten verstanden werden kann. Das folgende Kapitel geht genauer auf die japanische Historiographie des Pazifikkriegs ein, in der das Massaker von Nanjing symbolisch für den gesamten wissenschaftlichen Diskurs steht.

5. Nanjing und Japans Kriegsanteil im Diskurs 5.1. Das Massaker von Nanjing Nanjing, oft auch Nanking genannt, ist eine sehr alte Stadt in China und sorgt heute immer noch für Gesprächsstoff aufgrund der dort begangenen Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkriegs. Das sogenannte Massaker von Nanjing (1937) wird weiterhin kontrovers diskutiert. Eines der bekanntesten Werke zu diesem Thema ist Iris Changs The Rape of Nanking (1997). Es war letztlich Changs Werk, durch das Interesse an den in Nanjing begangenen Verbrechen auf internationaler Ebene, außerhalb Ostasiens, wiedererweckt wurde 154 . Dieses Buch wird zur Bearbeitung einiger weniger Stellen in diesem Kapitel herangezogen. Dafür ist jedoch eine äußerst vorsichtige und kritische Auseinandersetzung

152 Yamakage, Shinto, S. 124 f. 153 Frederick R. Dickinson, Die Einheit 731 in der Nachkriegspolitik nationalen »Vergessens«, in: Gernot Böhme/William R. LaFleur/Susumu Shimazono (Hrsg.), Fragwürdige Medizin. Unmoralische Forschung in Deutschland, Japan und den USA im 20. Jahrhundert (Kultur der Medizin. Geschichte – Theorie – Ethik 23), Frankfurt-New York 2008, S. 139–166, hier S. 139. 154 Frank Jacob, Japanese War crimes during World War II. Atrocity and the Psychology of collective violence, Santa Barbara-Denver 2018, S. 2.

39 mit dem Buch notwendig, da es nicht gänzlich unumstritten ist und nachweisbare Ungenauigkeiten und Fehler aufweist. Darum wird der Gebrauch von Changs Recherchen auf ein nötiges Minimum reduziert. Takashi Yoshidas The Making of the “Rape of Nanking” hingegen ist äußerst aufschlussreich und sollte als Pflichtlektüre für die Debatten um das Nanjing-Massaker und die japanische Schuldfrage angesehen werden. Er erzählt die Geschichte der Nanjing-Forschung aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln: aus japanischer, chinesischer und amerikanischer Sicht. Dieses Kapitel verschafft zuerst eine grobe Zusammenfassung des Massakers und geht dann im Anschluss auf die damit verbundenen Diskussionen und Verstrickungen innerhalb Japans ein. Nanjing hat eine lange und reiche Geschichte. Im Lauf der Zeit wurde es immer wieder zur Hauptstadt verschiedener Dynastien ernannt, so zum Beispiel der Ming (1368– 1644). Zudem war Nanjing ab 1927 Hauptstadt unter dem Regime von Tschiang Kai Schek, dem politischen Gegenspieler Mao Zedongs. Tschiang Kai Schek regierte von Nanjing aus, bis er 1937, aufgrund des Vormarsches der Japaner, gezwungen war, die Stadt zu verlassen.155 Nachdem die kaiserliche Armee mehr Zeit als zuvor angenommen, benötigte, um Shanghai einzunehmen (August bis November 1937), und dies mit großen Verlusten, richtete sie sich nach Nanjing. Im Dezember 1937 kreisten die japanischen Truppen Nanjing ein und bombardierten die Stadt mit Flugzeugen und Artillerie. Am 13. Dezember marschierten die Japaner dann in die gefallene Stadt ein.156 Der zuständige General Matsui Iwane war bei der Einnahme Nanjings nicht anwesend, angeblich aufgrund eines gesundheitlichen Zwischenfalls. So übertrug Kaiser Hirohito seinem Onkel, Prinz Asaka Yashuhito, die Befehlsgewalt über die um Nanjing stationierte Armee. Als Mitglied der kaiserlichen Familie hatte dieser zugleich auch die allerhöchste Befehlsgewalt inne. Asaka war 1936 an einem militärischen Coup gegen den Kaiser beteiligt und somit war die Eroberung Nanjings eine perfekte Möglichkeit, um sich zu rehabilitieren und die Gunst des Kaisers zurückzugewinnen. Iris Chang schreibt, dass angeblich ein Befehl Asakas lautete, alle Gefangenen zu töten. Es bleibt jedoch weiterhin ungeklärt, ob dieser Befehl echt oder nur eine Fälschung war, und vor allem, von wem er tatsächlich stammte. Die Aufklärung erweist sich zum Teil als schwierig, weil vor der Kapitulation der Japaner schätzungsweise siebzig Prozent der belastenden Dokumente vom Militär vernichtet wurden157. Somit ist es auch

155 Sheldon H. Harris, Factories of Death. Japanese Biological Warfare, 1932–1945, and the American Cover- up, New York-London 2002, S. 135 f. 156 Jacob, Japanese War crimes, S. 45 f. 157 Ebd., S. 4.

40 schwierig einen Hauptverantwortlichen für das Massaker zu nennen. War es nun Prinz Asaka Yashuhito, General Matsui Iwane oder sogar Kaiser Hirohito selbst158?159 Nach dem Sieg der japanischen Truppen über die Verteidiger Nanjings legten die übriggebliebenen chinesischen Soldaten ihre Waffen nieder und wurden anschließend zusammengetrieben und hingerichtet. Dort dezimierte die kaiserliche Armee willkürlich große Teile der Zivilbevölkerung.160 Die Frage um die Opferzahlen verbleibt bis heute ein extrem großer Streitpunkt. Die Schätzungen der chinesischen Forscher sind zumeist sehr hoch angesetzt, jene der japanischen Revisionisten 161 hingegen äußerst niedrig. Darüber hinaus werden oft unterschiedlich lange Zeiträume für die Dauer des Massakers angegeben, der räumliche Schauplatz des Massakers wird unterschiedlich verstanden (Bsp.: manche Studien beinhalten nur jene Opfer innerhalb der Stadtgrenzen, andere weiten das Ausmaß des Massakers auf die umliegenden Landkreise aus), und manche Schätzungen beinhalten die Zahlen der Soldaten, die auf dem Schlachtfeld bei der Verteidigung der Stadt gefallen sind. All dies kann zu stark abweichenden Zahlen führen. Das Militärtribunal in Nanjing162 hielt am 10. März 1947 fest, dass zwischen dem 12. und 21. Dezember 1937 ca. 340.000 Menschen getötet wurden.163 Die offizielle Stellungnahme der Tokioter Prozesse von 1946 bis 1948 (IMTFE) lautet, dass während der sechswöchigen Besetzung der Stadt etwa 200.000 Menschen getötet und 20.000 Frauen vergewaltigt wurden.164 Der japanische Historiker Hata Ikuhiko hingegen geht von „nur“ 38.000 bis 42.000 Opfern aus.165 Darüber hinaus gibt es noch eine ganze Reihe anderer Schätzungen 166, deren Aufzählung jedoch kaum dienlich wäre. Neben den oben bereits erwähnten Faktoren dürfen auch die politischen Implikationen, die einen Einfluss auf die Forscher und ihre Schätzungen gehabt haben könnten, nicht außer

158 Diese drei hier aufgezählten Individuen werden in der Forschung nicht als einzige Verantwortliche für das Massaker und als Urheber dieses Tötungsbefehls gesehen. Iris Chang nennt beispielsweise noch einen Stabsoffizier namens Tasai Isamo, welcher den Tötungsbefehl auf eigene Initiative gefälscht haben soll. Andere Quellen sprechen von dem ultranationalistischen Generalleutnant Chō Isamu als Urheber des Befehls. Chang, Die Vergewaltigung von Nanking, S. 45. Cho Isamu (1894-1945), In: Pacific War Online Encyclopedia, o. D., [https://pwencycl.kgbudge.com/C/h/Cho_Isamu.htm], eingesehen 18.1.2019. 159 Chang, Die Vergewaltigung von Nanking, S. 43–46. 160 Ebd., S. 47-51. 161 Ausführlichere Erläuterungen dazu in Kapitel 5.2. 162 Über Klasse-A-Kriegsverbrecher wurde in Tokyo beim IMTFE gerichtet. Klasse B und C Kriegsverbrecher hingegen hatten sich bei verschiedenen kleineren Tribunalen der alliierten Nationen, darunter das Militärtribunal von Nanjing, zu verantworten. Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 64. 163 Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 64 f. 164 Ebd., S. 51. 165 Ebd., S. 100. 166 Bsp.: Lewis Smyths Bericht War damage und die Forschungen der japanischen Historiker Tomio Hora und Tokushi Takahara.

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Acht gelassen werden. So stehen zum Beispiel japanischer Nationalismus und Nationalstolz einem Schuldeingeständnis und der Eigenwahrnehmung als Täter deutlich im Weg. Andererseits werfen japanische Nationalisten China häufig vor, das Massaker von Nanjing sei ein politisches Werkzeug, oder fremde Propaganda. Obwohl sich das Massaker, aufgrund der erdrückenden Beweislast, kaum mehr leugnen lässt, bleibt dessen politische Ausschlachtung dennoch zu hinterfragen167.

5.2. Über die Einigung Japans nationaler Geschichte Der nun folgende Teil geht auf die japanische Nanjing-Historiographie ein und integriert somit zugleich die dort andauernde Schulbuchkontroverse. Aufgrund der unerwarteten Quantität an Publikationen können jedoch nur einige wenige aufgearbeitet werden. Dies bedeutet, dass lediglich die Hauptakteure der wissenschaftlichen Diskurse namentlich erwähnt werden können, diese jedoch keinesfalls nur auf die genannten Akteure beschränkt bleiben. Durch diverse Zeugenberichte wurde bekannt, dass die kaiserliche Armee in Nanjing die besiegten Soldaten und eine enorme Anzahl an Zivilisten auf grausamste Weise tötete. Eine Variante davon ist besonders hervorzuheben: die Tötungswettbewerbe. Hierbei handelt es sich um einen Wettstreit zwischen zwei japanischen Offizieren, Tsuyoshi Noda und Toshiaki Mukai168, bei dem beide versuchten, als Erster 100169 Gefangene hinzurichten. Über den Verlauf der Tötungswettbewerbe wurde sogar mehrmals in der Tageszeitung Tokyo nichi nichi shimbun berichtet. 170 Aufgrund der strengen Zensur und Kontrolle von Seiten der Regierung und der Verfolgung politisch Andersdenkender dürfte die japanische Zivilbevölkerung jedoch nicht sonderlich viel von den (anderen) Gräueltaten ihrer kaiserlichen Armee in China mitbekommen haben.171 Jegliche Schriften, die ein schlechtes Licht auf Japan warfen, wurden verbannt. Eines der frühesten literarischen Zeugnisse über das Massaker von Nanjing ist Ishikawa Tatsuzōs Ikiteiru heitai (Living soldiers) von 1938. Das Monatsmagazin Chūō kōron schickte Ishikawa zum Ort des Geschehens, um dort Nachforschungen anzustellen und ein Buch zu verfassen. Ikiteiru heitai behandelt die mentale

167 In weiterführenden Forschungen könnte man diese Vorwürfe in den Kontext des chinesischen Bürgerkriegs, des Kalten Kriegs oder von Fällen der Massentötung von Zivilisten durch die alliierten Kräfte (Brand- und Atombombenabwurf über Städten) setzen. 168 Trial International, 25.5.2016, [https://trialinternational.org/latest-post/toshiaki-mukai/], eingesehen 25.3.2019. 169 Die Anzahl der Hinrichtungen wurde im Nachhinein auf 150 erhöht, weil man sich nicht sicher war wer von den beiden Offizieren die 100 zuerst erreicht hatte. Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 187 f. 170 Ebd., S. 16. 171 Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 18 f.

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Zersetzung der Soldaten und nimmt bei der Beschreibung der in Nanjing begangenen Gräueltaten kein Blatt vor den Mund. Darum ist es kaum verwunderlich, dass die Veröffentlichung des Buches gleich verhindert wurde. Ishikawa wurde anschließend zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und Chūō kōron erhielt eine Geldstrafe von 100 Yen. Ikiteiru heitai wurde schließlich erst nach Kriegsende (mehrmals) publiziert.172 Erst zur Zeit der amerikanischen Okkupation wurde das Thema Nanjing durch die Alliierten in die Öffentlichkeit getragen und in das Gedächtnis der japanischen Bevölkerung gebrannt. In dieser Zeit, die keinesfalls frei von Zensur war und in der die Medieninhalte und nationale Bildung hauptsächlich der Besatzungsmacht oblagen, wurde Nanjing immer wieder angesprochen. So wurde es zum Beispiel bei den Tokioter Prozessen, aber auch in Zeitungen, im Radio und erstmals in einem Schulbuch hervorgebracht.173 Obwohl das Lehrbuch The Course of the Nation nur für kurze Zeit genutzt wurde, enthielt es (hier zweiter Band) dennoch seit langem erstmals japankritische Aussagen: „Then, [the army] took Qingdao and Shanghai as well as ravaging Nanjing.“174 Geschichtsbücher der Junior Highschool und der Highschool sagten aus, dass „Atrocities in Nanjing, committed by our military when it occupied the city in December, served to stiffen the resistance of the Chinese people.”175 Derartige Aussagen wären unter dem zuvor militaristischen Regime wohl kaum möglich gewesen. Ein gutes Beispiel dafür, dass die Verbreitung des Wissens um das Nanjing Massaker zwar gefördert wurde, jedoch nicht alle Meinungen von der Verwaltung des Supreme Commander for the Allied Powers (SCAP) Douglas MacArthur erwünscht waren, ist der Fall des indischen Richters Dr. Radhabinod Pal. Pal war einer von elf vorsitzenden Richtern beim IMTFE, welcher durch das Anfechten des Urteils des Tribunals besonders hervorstach.176 Obwohl er von dem Stattfinden des Massakers überzeugt war, zweifelte er dennoch an der Glaubwürdigkeit einiger Zeugenaussagen und an der Rechtmäßigkeit des IMTFE an sich. Pal verfasste eine 1.235-seitige abweichende Meinung zu den schlussendlich gefällten Urteilen. Er wollte keinesfalls die Taten der Japaner rechtfertigen oder gar gutheißen, aber dennoch untergrub seine Kritik die Autorität der Alliierten Kräfte in Japan. Die Verteidigung forderte

172 Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 20 f. + 190. 173 Ebd., S. 45. 174 Monbushō (Bildungsministerium), Kuni no Ayumi (The Course of the Nation), Tokiomi Kaigo, nachgedruckt in: Nihon kyōkakasho taikei kindai hen (The Systematic Study of School Textboks in Japan), Bd.20, Tokyo 1962, S. 461, zit. n. ebd., S. 47. 175 Tawara Yoshifumi, Kyōkakasho kōgeki no shinsō (The Intensity of Attacks on School Textbooks), Tokyo 1997, S. 169, zit. n. ebd., S. 48. 176Adam Jones Genocide. A Comprehensive Introduction, Oxon-New York 22006, S. 534.

43 nämlich die Verlesung dieses Manuskripts vor Gericht an; dem wurde jedoch nicht stattgegeben. Auch die Publikation von Pals Manuskript wurde vom SCAP untersagt. Die japanischen Zeitungen berichteten nur sehr knapp von den schlussendlich sogar vier abweichenden Standpunkten der Richter. Es hat sich also gezeigt, dass während der amerikanischen Besatzungszeit divergierende Meinungen zu dem vom SCAP angegebenen Kurs nicht erwünscht waren. Die zum Schweigen gebrachten Stimmen erklangen jedoch erneut mit der 1952 wiedererlangten Unabhängigkeit.177 1955 veröffentlichte die Demokratische Partei einen Bericht (jp. Ureubeki kyōkasho no mondai; engl. The Problem of Deplorable Textbooks), in welchem die gängigen Lehrbücher als „rot” angeprangert wurden und den Autoren dieser Bücher, nämlich überwiegend Mitglieder der Japan Teachers Union (Nikkyōso), vorgeworfen wurde, sie würden die jungen Schüler mit linkem Gedankengut indoktrinieren. Mit dem wieder steigenden Einfluss der Konservativen in den politischen Rängen wurden die Lehrbücher erneut überarbeitet. Die Rolle von Japan als Aggressor im Zweiten Weltkrieg kam fortan weniger zur Geltung und das Massaker von Nanjing wurde komplett aus den Büchern entfernt.178 Trotz allem gab es politische Gegenstimmen, die sich für die Anerkennung der eigenen Schuld sowie jener des Kaisers einsetzten. Dazu gehörten u. a. der Anwalt Masaki Hiroshi, der marxistische Historiker Hani Gorō und eine ganze Reihe an Pädagogen, die sich für ihre Rolle bei der Beeinflussung der Heranwachsenden schuldig fühlte. 1949 wurde so die Association for History Educators (Rekishi kyōikusha kyōgikai) gegründet, die an dem Grundsatz festhielt, dass die historische Ausbildung sich ausschließlich nach der Wahrheit richten und von nichts anderem beeinflusst werden sollte. Dennoch konnte sich die Auffassung von Japan als Täter nicht wirklich durchsetzen. Sie war weiterhin durch die Opferrolle geprägt, die in erster Linie auf die Bombenabwürfe der Alliierten über Japans Städten zurückzuführen ist. Das Festhalten an der Opferrolle wurde 1954 zusätzlich durch einen Vorfall um das Bikini-Atoll verstärkt. 179 Dort testeten die USA eine ihrer Wasserstoffbomben (Bravo). Der Test führte zur Verstrahlung der Mannschaft eines japanischen Fischerbootes und anschließend zum Tod einiger dieser Fischer als Folge der Verstrahlung. Diese Vorfälle verstärkten die Vorbehalte der Japaner gegen die Nutzung

177 Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 50 f. 178 Ebd., S. 53 f. 179 Ebd., S. 54 f.

44 nuklearer Waffen. 180 Darüber hinaus wuchsen die Antikriegsbewegungen innerhalb der Bevölkerung.181 1956 kam es zur Freilassung von ca. 1.000 japanischen Kriegsgefangenen aus dem chinesischen Gefängnis in Fushun. Einige der Heimkehrenden haben es sich zur Aufgabe gemacht, über ihre begangenen Gräueltaten zu schreiben, die Menschen über den Verlauf des Krieges zu informieren und so zu verhindern, dass solche Ereignisse sich in Zukunft wiederholen würden. Trotz des Widerstands, vonseiten rechter Extremisten und Anschuldigungen, einer kommunistischen Gehirnwäsche unterzogen worden zu sein, schaffte die Gruppe von ehemaligen Kriegsgefangenen es ihr Sammelwerk Shinryaku: Chōgoku ni okeru Nihon senpan no kokuhaku (Invasion: Confessions of Japanese War Crimes in China) zu veröffentlichen.182 1965 wagte der Geschichtsprofessor Ienaga Saburō einen weiteren bedeutenden Schritt. Er arbeitete an einem Highschool-Geschichtsbuch (jp. Shin Nihonshi; engl. New Japanese History). Nach einer Überprüfung des Buches 1964 wurde Ienaga von der Regierung dazu angewiesen 323 Punkte zu überarbeiten, ansonsten dürfte es nicht veröffentlicht werden. Der Regierung, die seit dem Abzug der USA wieder nationalistische Tendenzen entwickelte und die Jugend auch dementsprechend erziehen wollte, missfielen (unter anderem) Ienagas Erläuterungen zum Pazifikkrieg. So dürfe er zum Beispiel den Krieg nicht als „unverantwortlich“ bezeichnen. Daraufhin verklagte Ienaga den Staat. Als Ienagas Fall Aufmerksamkeit durch die Medien gewann, erhielt er regelmäßig anonyme Geldspenden und es wurden in ganz Japan Organisationen gegründet, die ihm bei seinem Kampf beistehen sollten. 1967 reichte Ienaga mit Hilfe seiner Unterstützer eine zweite Klage ein. Dieses Mal schränkte er das Ausmaß seiner Forderungen deutlich ein und er beschränkte sich nur auf die sechs wichtigsten Streitpunkte des Buches. 1970 entschied das Bezirksgericht Tokyo zu Gunsten von Ienaga.183 Er gab sich jedoch nicht mit diesem Sieg zufrieden. Er lehnte sich weiterhin gegen den Revisionismus des Bildungsministeriums auf und führte seine „Odyssee“ bis in das Jahr 1997 fort.184 In einem Interview nannte er folgenden Beweggrund für seine Klage:

180 Mari Yamaguchi, Japanische Fischer starben wie Aussätzige, in: Spiegel online, 1.3.2004, [http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/50-jahre-wasserstoffbombe-japanische-fischer-starben-wie- aussaetzige-a-288625.html], eingesehen 23.1.2019. 181 Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 56. 182 Ebd., S. 56 f. 183 Ebd., S. 58. 184 Victor Fic, Japan´s Past, Japan´s Future: One Historian´s Odyssey, in: Asia Times Online, 3.8.2019, [http://www.atimes.com/atimes/Japan/DH03Dh01.html], eingesehen 25.1.2019.

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„In the prewar period, although I disagreed with the war, I never spoke up and could not prevent that idiotic [bakageta] war. As a result, I was forced to see the motherland ruined. I was teaching at Niigata High School from 1941 till 1943 and at Tokyo Teachers College from 1944. I sent my students off for the battlefront. I regret this deeply. I feel a certain responsibility for the war. I will not let it happen again. The basis of my motive is this feeling of responsibility for the war. [The inspectors] claimed that illustrations and descriptions of the war were too negative, and this outraged me. I can no longer bear it.”185

Obwohl Ienagas Klagen ein bedeutender Schritt für die Bewusstwerdung der eigenen Verantwortung im Krieg waren, zählte Nanjing nicht zu seinen Streitpunkten. Takashi Yoshida ist jedoch davon überzeugt, dass es nicht im Sinne Ienagas war, das Massaker zu verheimlichen, sondern, dass möglicherweise nicht genügend Seiten zur Verfügung standen und dass es Ienaga in erster Linie darum ging, den ganzen Krieg von 1931 bis 1945 als solchen zu denunzieren und nicht nur ein einzelnes Ereignis, das zu diesem Zeitpunkt noch kaum erforscht war.186 Tatsächlich kann man die späten 1960er Jahre als wahren Beginn der japanischen Nanjing-Forschung bezeichnen. Die erste wissenschaftliche Studie wurde 1967 von dem Geschichtsprofessor Hora Tomio publiziert: Kindai senshi no nazo (Riddles of Modern War History). 187 Fortan war das Interesse der Wissenschaftler geweckt (angespornt von den Berichten über die Grausamkeit des -Kriegs von 1955 bis 1975). Erst in den 70er- und 80er-Jahren wurde das Thema durch Berichterstattungen in den Medien bekannter. Das Massaker von Nanjing wurde 1971 erstmals durch die Berichte aus Honda Katsuichis Reihe Chūgoku no tabi (Travels in China) in der Asahi shinbun, eine der größten Tageszeitungen Japans, in großem Maße in die Öffentlichkeit getragen. Honda schrieb über seine Forschungsreise in China, wo er die Verbrechen der kaiserlichen Armee untersuchte und über 100 Interviews mit chinesischen Überlebenden durchführte. So schrieb er beispielsweise auch über die Tötungswettbewerbe, die vor allem in den 70er-Jahren wieder großes Interesse weckten. Entgegen seiner Erwartungen erhielt Honda fast überwiegend positive Rückmeldungen (ca. 80 %, darunter auch Kriegsveteranen und Highschool-Schüler). In den Kommentaren wurde geschrieben, dass Hondas Berichte durch ihre Aufklärungsarbeit, dazu beitragen könne, die politischen Relationen zu China wieder zu verbessern, indem Japan Verantwortung übernehme und sich seiner Rolle als Täter stelle. Die restlichen zwanzig

185 Kyōkasho kentei soshō shien zenkoku renrakukai, (The National Alliance for Supporting Lawsuit against Textbook Auzhorization), Ienaga kyōkasho saiban (Ienaga Textbook Trial), Tokyo 1967, zit. n. Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 58. 186 Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 59. 187 Ebd., S. 60.

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Prozent reagierten jedoch mit Ungläubigkeit und Vorwürfen auf Hondas Beiträge. Die gängigsten Meinungen besagten, dass es niemandem nütze, alte Wunden wieder zu öffnen, und dass Krieg doch immer grausam sei und Japan darum auch nicht besonders heraussteche. Auf solche Kritiken antwortete Honda, dass die Verbrechen der kaiserlichen Armee nicht mit dem einfachen Fakt, dass Krieg geherrscht habe, entschuldigt werden dürften. Die Japaner sollten ihre Taten anerkennen und versuchen die Sicht der Chinesen zu verstehen. Nur so sei die Herstellung eines einvernehmlichen Verständnisses zwischen beiden Nationen möglich.188 Als Folge der Veröffentlichung von Chūgoku no tabi erschienen dann, kaum verwunderlich, weitere Arbeiten, die Hondas Forschungen anfochten. Einer von Hondas Gegenspielern war Yamamoto Shichihei, der unter dem Decknamen Isaiah Ben-Dasan publizierte. Yamamoto warf Honda vor, dass ein paar kritische Zeitungsartikel und eine Entschuldigung die Vergangenheit nicht bereinigen könnten. Diese entstünden aus reinem Eigennutz, um die eigenen Schuldgefühle zu betäuben, würden den Opfern aber dennoch nicht weiterhelfen. In einem offenen, an Isaiah Ben-Dasan gerichteten Brief konterte Honda wie folgt: „During the massacre I was still a little boy. As you said, I was not directly responsible for this crime as a member of ,the general public‘ because I was probably too young. In essence, I believe that ordinary Japanese people were victims like ordinary Chinese people. The crime was committed by Japanese. Nonetheless, I do not think my verbal apology would mean much to you. What is important is the present rather than the past. Even more than twenty years after the defeat, the Japanese public was not informed of what Japan did in China during the war. This time, though, if we do nothing and become bystanders, we would be directly responsible [for the act of the state]. Apologizing for Japan´s wartime militarism is meaningless. I believe that my report of Japan´s wartime militarism and its consequences can contribute to preventing the nation from reverting to militarism in the future. I greatly appreciate your help.”189

Honda und Yamamotos andauernde öffentliche Debatte ermutigte weitere Stimmen dazu, sich in die mittlerweile nationale Diskussion einzuklinken, eigene Forschungsarbeit zu betreiben und Theorien aufzustellen; darunter einerseits Honda unterstützend Hora Tomio und andererseits Suzuki Akira als „Mitstreiter“ Yamamotos.190

188 Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 81 ff. 189 Katsuichi Honda, „Izaya Bendasan shi e no kōkaijō“ (An Open Letter to Mr. Isaiah Ben-Dasan), in: Shokun! 4 (Februar 1972), Nr. 2, S. 211 + 217, zit. n. ebd., S. 84. 190 Ebd., S. 86 ff.

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Gewiss wurde seit 1971 ein kleiner Mentalitätswandel der japanischen Bevölkerung erkennbar. Allmählich wurde auch die Täterrolle mit in das kollektive Gedächtnis aufgenommen. Viele Lehrer unterrichteten ihre Schüler über das von Japan heraufbeschworene Unheil während des Kriegs. Außerdem fand Nanjing auch wieder Einzug in wenigstens vier Junior-Highschool- und vier Highschool-Lehrbücher. Obwohl das Massaker zumeist nur sehr vage in den Fußnoten dieser Bücher erwähnt wurde (die Angaben der Opferzahlen wurden auf Geheiß des Bildungsministeriums sehr niedrig gehalten oder einfach mit „eine große Anzahl“ umschrieben), kann man dies dennoch als einen kleinen Fortschritt werten.191 1982 war diesbezüglich ein weiteres ereignisreiches Jahr. Nationale Zeitungen kritisierten das Bildungsministerium aufgrund der Verharmlosung der Schuld und Verantwortung der Japaner bezüglich der Kriegsaggressionen und Gräueltaten. Es wurde außerdem behauptet, dass die Lehrbuchexaminatoren von den Autoren verlangen würden, in Bezug auf Japans Aktivität in China in den 1930er-Jahren den Begriff „advance“ (shinshutsu) anstelle von „invade“ (shinryaku) zu nutzen. Erst nachträglich hat es sich erwiesen, dass diese Behauptungen nicht gänzlich der Wahrheit entsprachen. Bevor diese Halbwahrheiten jedoch korrigiert wurden, reagierten einige asiatische Staaten, nämlich China, Südkorea und Taiwan, auf die ursprünglichen Presseberichte und äußerten starke Kritik an Japans schulischen Praktiken und Zuständen, was schlussendlich eine international sichtbare Schulbuchkontroverse mit diplomatischen Konsequenzen herbeiführte. Die internationale Kritik löste viele Reaktionen und ein Überdenken der eigenen Geschichte aus. Hierbei ging es also nicht nur darum, welcher Begriff, sei es nun „advance“ oder „invade“, schlussendlich in Lehrbüchern benutzen werden sollte, sondern wie Japan zur eigenen Vergangenheit stand und welches Bild es nach außen vermitteln wollte. Es wurden diverse Fragen aufgeworfen, wie zum Beispiel, ob andere Staaten das Recht hätten in die nationale Schulbildung einzugreifen und ob Patriotismus als Wert vermittelt werden sollte. Wie groß war die Gefahr einer Wiederbelebung des Militarismus, insbesondere, wenn man in Betracht zog, dass weiterhin Nachfolger ehemaliger japanischer Kolonialisten zur politischen Führungsspitze gehörten? Sollte das zugefügte Leid als Teil der nationalen Geschichte akzeptiert werden? War nicht eines der größten Probleme, dass die Majorität der japanischen Bevölkerung ihre Vergangenheit als Aggressor und Kolonialherr schlichtweg als belanglos erachtete?192

191 Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 88 f. 192 Ebd., S. 89–94.

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Schlussendlich hat die Schulbuchkontroverse von 1982 der Nanjing-Forschung einen weiteren Anstoß gegeben. Sie veranlasste weitaus mehr Menschen als je zuvor dazu, sich an der Diskussion zu beteiligen, und brachte somit neue Akteure ins Spiel.193 Für gewöhnlich wird in der Forschung von drei unterschiedlichen ideologischen Lagern gesprochen: Da wären erstens jene, die das Massaker (mit den Schlussfolgerungen des IMTFE) als historischen Fakt hinnehmen (Massacre School); zweitens gibt es das Lager der Moderaten, die zwar das Massaker als Fakt akzeptieren, jedoch die Opferzahlen als zu hoch einschätzen (Centrist School); und drittens gibt es das Lager der Revisionisten, die das Massaker leugnen (Illusion School).194 Die Schulbuchkontroverse brachte noch weitere Fortschritte mit sich: Es war den Lehrbuchautoren nun gestattet, den Begriff „invade“ (shinryaku) frei zu nutzen. Seit 1983 sind zudem detailliertere Angaben und höhere Opferzahlen in den Schulbüchern zu finden: „Within a few weeks after the occupation of Nanjing the Japanese Military killed many Chinese in and around the city. It is said that 70,000–80,000 residents alone were killed, including women and children. If surrendered soldiers are included, it is said that more than 200,000 Chinese were killed. By contrast, China claims that the number of victims, including those killed in combat, exceeded 300,000. This incident was known as the , and foreign countries blamed Japan for it. Nonetheless, the ordinary people in Japan were not informed of the facts.”195

Doch auf diesem Gebiet findet wahrlich keine Entwicklung ohne Gegenreaktion statt. So verklagten sieben Kriegsveteranen, darunter auch Tanaka Masaki 196 , das Bildungsministerium mit der Behauptung, dieses würde Lehrbücher gutheißen, deren Informationen auf Hörensagen und unglaubwürdigen Quellen basiere, wodurch Fehlinterpretationen entstünden. Die Kläger forderten sieben Millionen Yen Entschädigung und die Entfernung jeglicher Anspielungen bezüglich des Massakers von Nanjing. Darüber hinaus publizierte Tanaka sein Werk „Nankin gyakusatsu“ no kyokō (The Illusion of „the Nanjing Massacre“). Seine Arbeit sorgte für Aufsehen in der Forschungswelt. Im Nachwort seines Buches prangerte er die Tokioter Prozesse an, bei denen die Sieger des Krieges seines Erachtens das besiegte Japan bestraften und jegliche Verantwortung für den Krieg aufluden. Darüber hinaus behauptete er, das Massaker von Nanjing seie eine Erfindung der Alliierten,

193 Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 94. 194 Jacob, Japanese War crimes, S. 42. 195 Mitsuyuki Kagami / Himeta Mitsuyoshi, Shōgen Nankin daigyakusatsu (Testimonies on the Nanjing Massacre), Tokyo 1984, S. 228 f., zit. n. Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 95. 196 Masaaki war an der Publikation von Dr. Radhabinod Pals Manuskript beteiligt, verzerrte dieses jedoch anschließend, um seine eigenen Argumente zu untermauern. Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 50 ff.

49 die dazu diene, Japan zu dämonisieren und einen Gegenpart zu Auschwitz zu kreieren. Aus diesem Grund müsse man die Tokioter Prozesse mitsamt all ihrer Fehler und Lügen revidieren. 197 Auch Frank Jacob, der sich an den Angaben des IMTFE orientiert, glaubt, dass China dazu neigt, bei günstigen Gelegenheiten die Opfer-Täter-Rolle überzubetonen, was zur Bildung einer Opfer- und Täter-Kultur führe.198 So sei Nanjing zur Zeit des Koreakriegs (1950–1953) von China gerne zu Propagandazwecken genutzt worden, um patriotische Gefühle bei den Landsleuten zu wecken und anti-japanische sowie anti-amerikanische Gefühle hervorzurufen.199 Aber dennoch ist es kaum verwunderlich, dass Tanakas Aussagen diverse Gegenreaktionen auslösten, darunter die Gründung des Nankin jiken chōsa kenkyūkai, also des Research Committe on the Nanjing Incident. Das Komitee publizierte kontinuierlich Artikel und Bücher und wirkte den Revisionisten entgegen.200 Gegen Ende der Shōwa-Ära (1926–1989) und mit dem Tod Kaiser Hirohitos wurde die Frage nach dessen Kriegsverantwortung wieder verstärkt aufgegriffen (in den Medien, an Universitäten, in öffentlichen Diskussionen etc.). Auch bei dieser Diskussion bildeten sich praktisch die gleichen ideologisch verfeindeten Lager wie bei der Nanjing-Frage: jene, die fest hinter den Entscheidungen des militaristischen Japans standen und die Schuld des Kaisers abstritten, und jene, die die ehemalige politische Führung kritisierten. Der damalige Bürgermeister von Nagasaki, Motoshima Hitoshi, sagte Folgendes zu diesem Thema: „Forty-three years after the war, I believe [I have] reflected enough on the war. Based on the readings of various foreign accounts, Japanese accounts by historians, and my own experience in the military as a teacher [of military science at the military academy], I think that Hirohito was responsible for the war. However, it was the will of the majority of Japanese, as well as the choice of the Allied Powers, to evade [the issue of Hirohito´s war responsibility], and [Hirohito] became a symbol of the new Constitution. Therefore, I understand that we must accept this choice.”201

„[We] must not see Japanese only as victims. [Japanese were] perpetrators; therefore, they suffered. Men in power forced Japanese to bear the burdens of victim and victimizer.”202

Darüber hinaus gab Motoshima dem Kaiser die Schuld an den Opfern der Schlacht um Okinawa und jenen beider Atombomben, da dieser die Kapitulation so lange hinausgezögert

197 Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 94 ff. 198 Jacob, Japanese War crimes, S. 11 f. 199 Ebd., S. 40. 200 Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 59. 201 Hitoshi Motoshima, Nagasaki shichō no kotoba (Statement of Mayor of Nagasaki), Iwanami bukuretto Nr. 146, Tokyo 1989, S. 4 f., zit. n. ebd., S. 130. 202 Motoshima, Nagasaki shichō no kotoba, S. 59 f., zit. n. ebd. S. 131.

50 habe. Nach diesen Aussagen unterschrieben über 380.000 Japaner eine öffentliche Erklärung, um Motoshimas Ansichten zu unterstützen. Dennoch wurde er aufgrund seiner Äußerungen Opfer von Schikanen und Drohungen und wurde sogar angeschossen (er überlebte das Attentat jedoch).203 1993 wurde Hosokawa Morihiro zum ersten Premierminister, der, seit 1955, nicht der LDP 204 angehörte. In den 1990er-Jahren, einer Zeit, in der das Wirtschaftswunder Japan durch das Platzen seiner Wirtschaftsblase stark angeschlagen war205, erkannte erstmals eine Regierung den Krieg als einen Akt der Aggression vonseiten Japans an. Außerdem wurde in einer Gedenkfeier von 1993 zum ersten Mal aller Opfer des Krieges gedacht, nicht nur der Japaner: „I believe it is important at this juncture that we state clearly before all the world our remorse about our past history and our renewed determination to do better. I would thus like to take this opportunity to express anew our profound remorse and apologies for the fact that past Japanese actions, including aggression and colonial rule, caused unbearable suffering and sorrow for so many people and to state that we will demonstrate our new determination by contributing more than ever before to world peace.”206

Die Angelegenheit, ob der Krieg nun ein Akt der Aggression gewesen sei, wurde anschließend im Parlament diskutiert. Dabei wurde besonders Hosokawa wegen seiner Aussagen von LDP-Politikern kritisiert. Anschließend wurde Hosokawa der Korruption beschuldigt und verlor so seine Glaubwürdigkeit sowie sein Ansehen bei seinen Wählern. Kurz darauf resignierte er und legte sein politisches Amt nieder.207 Die 90er-Jahre können jedoch in vielerlei Hinsicht als Fortschritt verstanden werden. Die politische Unbeständigkeit erschuf ein günstiges Klima für die Nanjing-Forschung. Zudem eröffnete eine Reihe an privaten und öffentlichen Museen208, die aller Opfer des Kriegs gedachten, und es wurden diverse Ausstellungen zu japanischen Kriegsverbrechen ausgerichtet. Darüber hinaus gab es etliche Fälle, in denen der japanische Staat auf die Wiedergutmachung vergangener Verbrechen verklagt wurde (für Sklavenarbeit,

203 Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 129 ff. 204 LDP – Liberaldemokratische Partei. Seit 2012 ist der Parteivorsitzende Shinzō Abe durchgehend Premierminister Japans. 205 Manfred Pohl, Geschichte Japans, München 20145, S. 89. 206 Hosokawa Morihiro, The Time to Act Is Now, Tokyo 1993, S. 118 f., zit. n. Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 132. 207 Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 132 f. 208 Darunter: 1991 – Osaka International Peace Centre; 1992 – Kyoto Museum for World Peace, Ritsumeikan University; 1992 – Kawasaki Peace Museum; 1993 – Peace Museum of Saitama Zudem wurden das Hiroshima Peace Memorial und das Nagasaki Atomic Bomb Museum renoviert und deren Ausstellungen erweitert (welche japanische Kriegsverbrechen enthielten).

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Sexsklaverei, medizinische Experimente, willkürliche Bombardierung u. a.). Um diese Klagen zu unterstützen, wurde die Chūgokujin sensō higaisha no yōkyū o sasaeru kai (Society to Support the Demands of Chinese War Victims) gegründet. Die Organisation umfasste über 3.000 Mitglieder und wurde zusätzlich von 200 Firmen, Unionen und NGOs unterstützt. Sämtliche der über 200 Anwälte waren freiwillige und viele betrieben persönliche Nachforschungen zu den Kriegsverbrechen. Des Weiteren erkannten immer mehr Schulbücher das Massaker von Nanjing an und erwähnten dieses in irgendeiner Form. Ein weiteres großes Ereignis war 1997 die Veröffentlichung von John Rabes 209 Tagebuch, welches fortan als wichtige Quelle herangezogen wurde.210 Trotz all dieser (langsamen) Veränderungen beharren Revisionisten weiterhin auf ihren Ansichten und führen ihren Kampf hartnäckig fort. So spielten sie beispielsweise die Berichte aus Rabes Tagebuch herunter oder diskreditierten ganze Forschungsarbeiten aufgrund (manchmal kleiner) Recherchefehler. Das beste Beispiel hierfür wäre Iris Changs Die Vergewaltigung von Nanking. 211 2001 publizierte die Japanese Society for History Textbook Reform ihr ideales Geschichtslehrbuch für die Junior Highschool: Atarashii rekishi kyōkasho (New History Textbook). Obwohl das Buch finanziell ein kompletter Fehlschlag war (es erreichte nicht einmal ein Prozent des gesamten Marktanteils), schaffte es dennoch durch die Unterstützung einer Kampagne, die sich gegen liberale Schulbücher richtete, diese mittlerweile populäreren Schulbücher zu beeinflussen. Die anschließenden Editionen von 2002 verringerten ihre Beschreibungen zum Massaker von Nanjing. Nur zwei Verlage behielten ihre Opferzahlen bei, die anderen fünf ruderten Jahrzehnte zurück und verwendeten wieder Begriffe wie „viele“. Als Gegenmaßnahme wurde eine Kooperationsarbeit zwischen insgesamt über 50 japanischen, chinesischen und südkoreanischen Wissenschaftlern aufgenommen. Die Mitarbeitenden bemühten sich um eine unparteiische Geschichtsschreibung, die von allen beteiligten Nationen angenommen werden könnte. Der Gebrauch des 2005 veröffentlichten Lehrbuches Mirai o hiraku rekishi: higashi Ajia sangoku no kingendaishi (History That Opens the Future: The Modern History of Three Asian Nations) wurde jedoch in japanischen Schulen nicht erlaubt.212

209 John Rabe (1882–1950) lebte seit 1911 in Nanjing und wurde 1931 Geschäftsführer der dortigen Siemens- Zweigstelle. 1934 trat er der NSDAP bei. Rabe half bei der Errichtung der Sicherheitszone in Nanjing und nutzte seinen Status als deutscher Staatsbürger und Mitglied der NSDAP, um die chinesische Bevölkerung so gut wie möglich vor den japanischen Soldaten zu schützen. Heute wird John Rabe gerne mit Oskar Schindler verglichen. Jacob, Japanese War crimes, S. 52. 210 Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 134–141. 211 Ebd., S. 141–147. 212 Ebd., S. 151 ff.

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Die BBC-Journalistin Mariko Oi führt die heutzutage immer noch schlechten Beziehungen zwischen Japan und China oder Korea zum Teil auf die mangelhafte Aufklärung in den Schulen zurück. Sie erinnert sich zwar daran, dass die japanischen Kriegsverbrechen in ihrer Schulzeit flüchtig angesprochen wurden, jedoch werde in den meisten Fällen kaum Wert darauf gelegt, da die Schüler sich zu diesem Zeitpunkt voll und ganz auf die Universitäts-Aufnahmeprüfungen vorbereiteten und dieses Thema somit neben den Herausforderungen des Alltags untergehe. Auch in ihrem Artikel sticht eine gegen die Revisionisten und das Bildungsministerium gerichtete Kritik klar heraus. Junge Japaner reagierten oft mit Unverständnis auf die einschlagenden Vorwürfe, da sie aufgrund mangelnder Informationen und Aufklärung nicht richtig verstünden, wofür Japan eigentlich kritisiert werde. Dies führe dazu, dass einige Interessierte sich auf eigene Faust zu informieren versuchten und Gefahr liefen, bei den Erklärungen der Nationalisten steckenzubleiben und zu glauben, nichts sei passiert.213 Obwohl es, wie gezeigt wurde, vereinzelt immer wieder Entschuldigungen für Japans Verhalten während des Krieges gegeben hat, hat sich die japanische Regierung bis heute nicht offiziell für die begangenen Kriegsverbrechen entschuldigt. Darüber hinaus standen etliche Verbrechen nie vor Gericht und einigen Kriegsverbrechern wurde erlaubt hohe politische Ämter zu bekleiden. Zu diesen zählten drei Premierminister der Nachkriegszeit, Hatoyama Ichirō, Ikeda Hayato und Kishi Nobusuke. Auch der Außenminister Shigemitsu Mamoru durfte 1954 sein ehemaliges Amt wieder antreten. Dieses Kapitel hat außerdem gezeigt, wie einflussreich die Lobby der Leugner ist, da sie fast ständig von der Regierung unterstützt zu werden scheint. 214 Auch heute noch sind Politiker an der Spitze Japans, nämlich die Fraktion von Premierminister Shinzō Abe, die zu der Gruppe der Revisionisten gezählt wird. Die Gruppe um Abe erregte bereits mehrmals internationales Aufsehen aufgrund ihrer Verleumdung der „Trostfrauen“ („comfort women“) oder der Leugnung des Massakers von Nanjing. Wie sich herausstellte, ist die Fraktion der Revisionisten weiterhin so einflussreich, dass aufgrund ihrer ständigen Einwirkung die Fortschritte anderer Historiker behindert werden können.215

Wie sich unschwer erkennen lässt, ist die Frage um Japans Rolle während des Zweiten Weltkriegs äußerst prekär. Seit über einem halben Jahrhundert streiten sich zwei über alle

213 Mariko Oi, What Japanese history lessons leave out, in: BBC, 14.3.2013, [https://www.bbc.com/news/magazine-21226068], eingesehen 11.2.2019. 214 Jacob, Japanese War crimes, S. 3. 215 Ebd., S. 7.

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Maßen ideologisch verfeindete Lager über Japans Vergangenheit. Ein zukünftiges Entgegenkommen oder gar eine Einigung steht wohl kaum in Aussicht. Dieses Kapitel hat gezeigt, dass es in Japan bezüglich der eigenen Verantwortung im Krieg, jener Kaiser Hirohitos und auch für die Kriegsverbrechen eine intensive Debatte gegeben hat. Die Fortschritte an sich bleiben jedoch überschaubar, schreiten nur sehr langsam voran und werden kontinuierlich von herben Rückschlägen ausgebremst. Viele Initiativen zur Anerkennung der verbrecherischen Vergangenheit scheinen von Privatpersonen auszugehen. Die fast dauerhaft von der LPD dominierte Politik trägt sicherlich zu den langsamen Veränderungen bei. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass all die verwirrenden Debatten und der andauernde Streit nicht nur Schulbücher, Nanjing oder die Frage nach Schuld oder Unschuld betreffen. Die Japaner ringen intern um ihre nationale Identität 216 (welche im Grunde auch zugleich der persönlichen Identität gleichkommt; siehe Kapitel 4.1.). Wird sich Japan nun dem Druck anderer Nationen widersetzen indem es seine Gefallenen ehrt, die für die Befreiung Asiens von den westlichen Mächten und das Vorankommen kämpften? Oder wird es seine Vergangenheit mitsamt den begangenen Kriegsverbrechen akzeptieren, Demut zeigen und sich entschuldigen? Beide Wege verkörpern einen gewissen Stolz: Größe durch Unnachgiebigkeit oder Größe durch Selbstkritik beweisen?

6. Was erinnert Japan? In diesem werden diverse Quellen(gattungen) herangezogen, welche als praktische Beispiele für Japans Erinnerungskultur dienen. Dabei ist zu beachten, dass diese Kristallisationspunkte der Erinnerung nicht nur als Aufbewahrungsort von Vergangenem zu verstehen sind, sondern auch Bestandteil der japanischen Identität sind. Die Quellen sind selektiv und sollen ein breites Spektrum an Erinnerungsmaterial vermitteln. Dabei wurde vor allem, jedoch nicht ausschließlich, versucht, Material zu finden, das sich gegen die weit verbreitete Auffassung richtet, Japan stelle sich nicht seiner Vergangenheit. Darum sind sämtliche Quellen japanischen Ursprungs oder in japanischer Zusammenarbeit entstanden. Die meisten der hier verwendeten Manga und Anime genießen in Japan (und auch außerhalb) einen hohen Bekanntheitsgrad, was ihren repräsentativen Wert innerhalb der popular culture festigt. Doch zuerst wird auf den wohl bekanntesten und berüchtigtsten Shinto-Schrein eingegangen.

216 Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 129.

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6.1. Yasukuni-Schrein „Yasukuni Shrine is the final stronghold in defence of the history, spirit and culture of Japan.“217

Dieses Kapitel behandelt den äußerst kontrovers diskutierten Yasukuni-Schrein und das Yūshūkan-Museum auf seinem Gelände. Der Schrein und die dazu gehörenden Anlagen bilden das größte Kriegerdenkmal Japans. Der Yasukuni-Schrein ist in erster Linie, wie alle shintoistischen Schreine218, ein Gebetsort. Man muss dabei James Mark Shields zustimmen, dass dieses „Detail“ jedoch, sowohl in eher volkstümlichen als auch akademischen Erläuterungen, meistens übergangen wird. Der Schrein wurde 1869 auf Wunsch von Kaiser Meji unter dem Namen Tokyo Shōkonsha (wörtl.: Tokyo-Schrein für die Anrufung der Toten) gegründet. 1879 wurde der Schrein umbenannt und unter dem heute üblichen Namen Yasukuni Jinja geführt. Der Schrein ist der Geburtsort des sogenannten Staats-Shinto, was sehr vereinfacht ausgedrückt eine religiös-nationalistische Staatsideologie war. 219 Der Yasukuni Jinja ist speziell dafür ausgelegt, um der Gefallenen vergangener Kriege zu gedenken und für ihre Seelen zu beten. Dies beschränkt sich also nicht nur auf die gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkriegs. Der revisionistische Mangaka Yoshinori Kobayashi erläutert, dass der Schrein hauptsächlich der Beschwichtigung der Seelen (spirits) der im Krieg Gefallenen dient, was wiederum dem nationalen Körper, dem kokutai, Ruhe und Schutz bringe220. Im Yasukuni Jinja wurden die Seelen von insgesamt über 2.460.000221 Kriegsgefallenen aus vergangenen Kriegen als Heiligtum aufbewahrt und für sie gebetet. Es ist jedoch erstaunlich, dass nicht nur gefallener Soldaten oder gar Zivilisten und Kindern, sondern sogar sämtlicher getöteter Tiere gedacht wird. Auf dem Schreingelände sind neben einem Denkmal für Kriegswitwen und Kinder (Abb.9) drei Denkmäler in Form einer Taube, eines Hundes und eines Pferdes (Abb. 10–14) vorzufinden.

217 Yoshinori Kobayashi, Shin gōmanizumu sengen special: Yasukuniron (Neo-Gōmanism Manifesto Special: On Yasukuni), Tokyo 2005, S. 68, zit. n. Shields, ‘Land of kami, land of the dead’, S. 189. 218 Japan verfügt über zwei dominante Religionen, den Buddhismus und den Shintoismus. Die religiösen Gebetseinrichtungen des Buddhismus werden Tempel (tera, jiin, -ji, -in) genannt, jene des Shintoismus hingegen Schreine (jinja). 219 Shields, ‘Land of kami, land of the dead’, S. 190 f. 220 Ebd., S. 190. 221 Yasukuni Jinja, Record in pictures of Yasukuni Jinja. Yūshūkan, Katalog zur Dauerausstellung des Yūshūkan Museums, Tokyo 22017, S. 3.

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Abbildung 9: Denkmal, Kriegswitwe, Yasukuni-Gelände222

Abbildung 10: Tierdenkmal, Taube, Yasukuni-Gelände 223 Abbildung 11: Tierdenkmal, Hund, Yasukuni-Gelände 224 Abbildung 12: Tierdenkmal, Pferd, Yasukuni-Gelände 225

222 Foto von R. Wilmes, erstellt während eines Besuchs des Yasukuni-Schreins am 30.6.2018. 223 Foto von R. Wilmes, erstellt während eines Besuchs des Yasukuni Schreins am 30.6.2018. 224 Foto von R. Wilmes, erstellt während eines Besuchs des Yasukuni-Schreins am 30.6.2018. 225 Foto von R. Wilmes, erstellt während eines Besuchs des Yasukuni-Schreins am 30.6.2018.

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Abbildung 13: Gedenktafel für gefallene Tiere, Yasukuni-Gelände226

Abbildung 14: Gedenktafel für Tiere (Nahaufnahme), Yasukuni-Gelände227

Darüber hinaus wurde ein Denkmal für den indischen Richter des IMTFE, Dr. Radhabinod Pal, errichtet. Dazu gehört außerdem ein Glaskasten mit einer Abschrift von Pals Manuskript (Abb. 15–16). Obwohl im Yasukuni-Schrein und dem Yūshūkan-Museum im Vergleich zu anderen japanischen Kultorten und Ausstellungen verhältnismäßig viele englische Beschriftungen und Erklärungen vorhanden sind, wurden bedauerlicherweise nicht alle hier genannten Denkmäler zu Genüge mit Übersetzungen versehen. Es liegt jedoch auf der Hand, dass das Radhabinod-Pal-Denkmal als eine Danksagung und als Erinnerung zu sehen ist, da dieser Richter des IMTFE vor allen anderen den Fall der Japaner in gewisser Weise verteidigte.

Abbildung 15: Dr. Radhabinod Pal Denkmal, Yasukuni-Gelände228 Abbildung 16: Dr. Radhabinod Pals IMTFE-Urteil in Glaskasten, Yasukuni-Gelände229

226 Foto von R. Wilmes, erstellt während eines Besuchs des Yasukuni-Schreins am 30.6.2018. 227 Foto von R. Wilmes, erstellt während eines Besuchs des Yasukuni-Schreins am 30.6.2018. 228 Foto von R. Wilmes, erstellt während eines Besuchs des Yasukuni-Schreins am 30.6.2018. 229 Foto von R. Wilmes, erstellt während eines Besuchs des Yasukuni-Schreins am 30.6.2018.

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Einige Schritte vom Hauptschrein entfernt gibt es außerdem noch die shanshuden (Versammlungshalle), die ausschließlich für Gedenkzeremonien in privatem Rahmen vorgesehen ist und nicht zur Besichtigung frei zugänglich ist. Der Schrein oder vielmehr das Museum geriet zunehmend in die Kritik der internationalen Gemeinschaft. Seit Jahrzehnten war es üblich, dass die japanischen Premierminister alljährlich zu dem Schrein pilgerten und der Kriegsgefallenen gedachten und ihnen Respekt zollten. Die Kritik erreichte ihren Höhepunkt zur Amtszeit des japanischen Premierministers Junichirō Koizumi (2001–2006). Der Ursprung dieser Kontroverse ist auf das Jahr 1959 zurückzuführen. Damals wurden nämlich neben den regulären Gefallenen des Zweiten Weltkrieges auch die Namen von mehr als 1.000 verurteilten und exekutierten Kriegsverbrechern im Schrein verewigt. 1978 wurden zusätzlich 14230 Kriegsverbrecher der Klasse A (darunter z.B. der damalige Premierminister Hideki Tōjō) im Schrein beigesetzt. Premierminister Shinzo Abe (seit 2012), dessen politische Ausrichtung als nationalistisch und konservativ zu bezeichnen ist, bricht mit dieser Tradition und zeigt laut Adam Jones Reue über die Taten seiner Vorfahren. 231 Das Vermeiden weiterer internationaler und nationaler Kritik sowie das Gefährden der nationalen Einigkeit und Harmonie war dabei vermutlich der wesentliche Punkt für diese Entscheidung. Ein Artikel aus The Japan Times besagt tatsächlich, dass Abe und sein Kabinett, überwiegend um nicht in das Feuer der Kritik zu geraten, davon ablassen, den Schrein persönlich zu besuchen. Darum schicken etliche Politiker Vertreter, welche in ihrem Namen die Toten ehren und Spenden für den Schrein hinterlassen.232 Die beiden tennō (Kaiser), Hirohito und sein Nachfolger Akihito, die auch das Amt eines Shinto-Hohepriesters verkörpern, weigern sich seit 1978, den Schrein zu besuchen.233 Für ein besseres Verständnis der Sachlage lohnt sich ein genauerer Blick auf die Dauerausstellung des Museums. Vorerst sollen jedoch die Atmosphäre und Eindrücke, die beim Eintreten und Durchlaufen des Museums gewonnen werden können, in einigen Worten beschrieben werden. Das Gebäude ist relativ groß und die Räume vermitteln eine helle, freundliche und angenehme Atmosphäre. Die Schaukästen sind nicht überladen und recht

230 Jones sowie diverse Internetseiten sprechen von 14 verewigten Kriegsverbrechern, die japanische Tageszeitung Japan Times hingegen spricht von 12. Tomohiro Osaki, Abe and his Cabinet steer clear of war-linked Yasukuni Shrine on anniversary of World War II surrender, in: The Japan Times, 15.8.2017, [https://www.japantimes.co.jp/news/2017/08/15/national/politics- diplomacy/abe-cabinet-steer-clear-war-linked-yasukuni-shrine-anniversary-world-war-ii- surrender/#.W92WLeIo-Uk], eingesehen 3.11.2018. 231 Jones, Genocide, S. 506 ff. 232 Osaki, Abe and his Cabinet. 233 Yasukuni chief priest resigns over criticism of Emperor Akihito, in: The Asahi Shimbun, 11.10.2018, [http://www.asahi.com/ajw/articles/AJ201810110053.html], eingesehen 27.3.2019.

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übersichtlich. Die Exponate sind in Japanisch und Englisch beschriftet, die Beschreibungen sind jedoch zumeist ausschließlich auf Japanisch. Die Exponate bestehen größten Teils aus persönlichen Gegenständen von Soldaten und fokussieren somit auf den Soldaten als Mensch. Zudem stammen sämtliche Exponate von Japanern, es gibt keine ausländischen Ausstellungsobjekte. An den Wänden hingegen sind Panels in japanischer und englischer Sprache angebracht, die Auskünfte über den historischen Verlauf geben. Die Ausstellung ist in drei größere Themenbereiche unterteilt, wobei der dritte Teil bei Weitem der größte ist. Der erste Abschnitt wurde mit „From the Meji Restoration to the Seinan War“, der zweite mit „Sino-Japanese War to China Incident“ und der dritte mit „The Greater East Asia War“ betitelt. Eine genaue Besichtigung der gesamten Ausstellung nimmt problemlos mehrere Stunden in Anspruch. Eine sich nun aufdrängende Frage ist, ob diese positive optische Darstellung wirklich angebracht ist. Gleich zu Beginn der Ausstellung verkündet das Museum, dass es sich als Ziel gesetzt hat, für den Erhalt des Friedens einzutreten und diesen zu verbreiten. Im Grunde lässt sich festhalten, dass das Yūshūkan weder Krieg noch Gewalt direkt und aktiv verherrlicht oder unüberlegt propagiert. Die ausgestellten Fotos und Bilder zeigen nur selten das Frontgeschehen oder grausame Kriegshandlungen. Es ist außerdem auffallend, dass abgesehen von ein paar Schwertern und schweren Kriegsmaschinen (Kaiten Torpedo, Zero Kampfflugzeug etc.) kaum Waffen oder Bomben ausgestellt werden. Auch im Souvenirshop sind keine Feuerwaffen234 in irgendeiner Form zu erwerben. Ob das Museum jedoch so für den Frieden bzw. gegen den Krieg ist wie es zu vermitteln versucht, ist eine andere Sache. Man sieht keine Anzeichen für Reue und Bedauern, sondern nur Lob, Bewunderung und Dankbarkeit für die gefallenen japanischen Soldaten. Das Yūshūkan erfüllt absolut den Zweck, die eigenen Kriegsgefallenen zu ehren und ihnen zu gedenken. In diesem Sinne ist auch keinerlei Selbstkritik und keine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte vorzufinden. Die schwierige Frage ist nun jedoch, ob es angebracht wäre, die eigenen Soldaten an solch einem geweihten und in erster Linie religiösen Ort einer Ruhestätte, die immer noch regelmäßig von Familien besucht wird, anzuklagen. Auf den wenigsten Soldatenfriedhöfen oder in anderen Gedenkstätten der Alliierten wird man eine Darlegung der möglichen Verbrechen und Vergehen dieser Soldaten finden oder deren detaillierte historische Darlegung. Dies soll keineswegs die Politik des Yūshūkan

234 Es sind lediglich Kopien von japanischen Schwertern zu erwerben. Diese verkörpern jedoch ideologische und kulturelle Werte und sollten darum nicht mit einfachen Schusswaffen, die lediglich auf das Töten ausgelegt sind, gleichgestellt werden.

59 entschuldigen. Es ist jedoch notwendig, die Umstände in einen Kontext zu setzen und vor diesem Hintergrund, statt isolierte Fakten vorschnell zu verurteilen. Es lässt sich allerdings nicht bestreiten, dass das Museum eine äußerst nationalistische und patriotische Ausrichtung vertritt. In einer der ersten Hallen des Yūshūkan, der „samurai spirit hall“, werden bekannte Waka235-Gedichte ausgestellt, die somit gleich zu Beginn den ideologischen Verlauf der Ausstellung ankündigen:

„We shall die in the sea, We shall die in the mountains. In whatever way, We shall die beside the Emperor, Never turn back. Otomo no Yakamochi”236

Da die eigentliche Forschungsfrage dieser Arbeit sich damit beschäftigt, was erinnert wird, und nicht, ob das propagierte Erinnerungsmaterial gerechtfertigt und politisch vertretbar ist, wird nun in Folge wieder mehr Fokus auf den tatsächlichen Inhalt der Ausstellung gesetzt. Hierfür werden einige für diese Arbeit interessante Beobachtungen ausgelegt. Zum einen ist der äußerst defensive Sprachgebrauch der (englischsprachigen) Panels sehr auffallend. Keines der Panels benutzt Wörter wie „invade“, „attack“ oder „conquer“, Wörter, die eine Art Aggression ausdrücken würden. Stattdessen werden deutlich neutralere und abstraktere Begriffe wie „arrive“ und „win“ angewendet. Dieser Gebrauch der Sprache änderte sich erst mit einem Panel, welches den „Imperial Rescript for opening war“ vom 8. Dezember 1941 darstellt. Erst seit diesem Punkt wird eine offensivere Sprache verwendet, so zum Beispiel bei einer Infotafel über den Angriff auf Pearl Harbor: „The offensive campaigns began with air assaults upon the U.S. Pacific fleet in Hawai […].“237 Weiterhin ist zu beobachten, dass verschiedene weniger glorreiche bzw. grausame Handlungen und Abscheulichkeiten mit Euphemismen umschrieben oder einfach ganz ausgelassen werden. So wird beispielsweise kein Wort über das Ishii Netzwerk verloren. Der „Manchurian Incident“ wird wie folgt beschrieben:

235 Ein Sammelbegriff für aus Japan stammende Gedichte bzw. Gedichtformen. Die wohl bekannteste Form außerhalb von Japan dürfte das Haiku sein, ein dreizeiliges Gedicht bestehend aus jeweils fünf, sieben und fünf Silben. Waka Poetry (Hrsg.), Introduction, 2001, [https://www.wakapoetry.net/sample-page/introduction/], eingesehen 3.11.2018. 236 Mitschrift von R. Wilmes während eines Besuchs des Yūshūkan-Museums am 30.6.2018. 237 Mitschrift von R. Wilmes während eines Besuchs des Yūshūkan-Museums am 30.6.2018.

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„The Manchurian Incident was triggered by a bomb ripping the Japanese railway near Mukden on September 18, 1931. […] The incident ended on May 31, 1933, with the signing of the Tangku Truce Agreement. Japan had acquired special interests in Manchuria through its victory in the russo-Japanese War. But Chinese nationalism developed into a campaign for the removal of foreign interests, in violation of the existing treaties. The campaign spread to Manchuria, where anti-Japanese harassment and terrorism erupted. Under such circumstances the Kwantung Army resorted to armed action. As a result Manchukuo was established […]”238

In diesem kurzen Abschnitt ist deutlich herauszulesen, wie abstrakt und zurückhaltend die an sich äußerst aggressive japanische Expansionspolitik umschrieben wird. Hinzu kommt, dass im Grunde auch nicht direkt genannt wird, wer schlussendlich die Bombe gelegt hat. Es wird lediglich impliziert, dass es in den Augen der Japaner chinesische nationalistische Terroristen waren. Sprachlich geht es ähnlich weiter. Wie bereits erwähnt wurde, wurde bis zu dem Panel mit dem „Imperial Rescript for opening war“ nie wirklich von offensiver Expansionspolitik gesprochen. Es war stattdessen immer die Rede von der Verteidigung japanischer Interessen und Staatsbürger. Das Museum zeigt auch Tendenzen, Japan als Befreier Asiens von fremden westlichen Kolonisatoren darzustellen. Bis zu einem gewissen Maß könnte man dieser Aussage auch zustimmen. Die eigenen Grausamkeiten und die Unterdrückung anderer asiatischer Völker von Seiten der Japaner werden jedoch nicht erwähnt. Die Umschreibung des Nanjing-Massakers, hier als „Nanking Incident“ betitelt, ist äußerst problematisch: „After the Japanese surrounded Nanking in December 1937, Gen. Matsui Iwane distributed maps to his men with foreign settlements and the Safety Zone marked in red ink. Matsui told them that they were to maintain strict military disciplines and that anyone committing unlawful acts would be severely punished. The defeated Chinese rushed to Xiaguan, and they were completely destroyed. Chinese soldiers disguised in civilian clothes were severely prosecuted.”239

Wieder ist eine sehr defensive Haltung zu beobachten. Es fällt kein Wort über das tatsächliche Massaker. Das Abschlachten von tausenden oder gar hunderttausenden Zivilisten wird als Bestrafung verkleideter Soldaten verkauft. Und das Yūshūkan spricht von strikten Verhaltensregeln innerhalb der Armee, die jedoch kaum etwas an den bekannten Vergehen geändert haben dürften. Am Ende der Ausstellung werden noch zwei ganze Vitrinen den Kamikaze-Piloten gewidmet und ihrem Opfer für Japan gedankt. Auch die Abwürfe der beiden Atombomben

238 Yasukuni Jinja, S. 35. 239 Ebd., S. 40.

61 und der Brandbomben über verschiedenen japanischen Städten haben ihren Platz im Yūshūkan. Schlussendlich werden nun jene Ausstellungsräume behandelt, die für die strenge Kritik des Yūshūkan vonseiten der Internationalen Gemeinschaft verantwortlich sind. Die sogenannte „Noble spirits´ sentiments zone“ besteht aus vier Räumen, die mit der Beschriftung „Memories of War Heroes enshrined at Yasukuni Jinja“ betitelt sind. Die Räume sind mit insgesamt 86 Panels mit jeweils 120 Namen dekoriert. Hinzu kommen etliche Abschiedsbriefe und -gedichte. Die meisten dieser Namen gehören zu gefallenen Soldaten. Es lassen sich jedoch auch vereinzelt Frauennamen finden. Das Yūshūkan stellt mehrere Register bereit, in denen man nach den Namen der Gefallenen suchen kann, um dann auf das dazu passende Panel verwiesen zu werden. Laut Adam Jones240 wurden dort 1978 auch 14 Klasse-A-Kriegsverbrecher verewigt und somit zu kami erhoben. Bei den Recherchen vor Ort war es jedoch nicht möglich, alle dort angeblich verewigten Namen zu finden. Von drei ausgewählten Namen, Hirota Kōki, Matsui Iwane und Hideki Tōjō, war tatsächlich nur jener von Tōjō auffindbar. Leider ist das Fotografieren in japanischen Museen nicht gestattet, weshalb es nicht möglich ist, hier ein Beispiel solch eines Panels abzubilden. Im Ausstellungskatalog des Museums befinden sich des Weiteren zwei Seiten, die eine kurze Beschreibung sowie die letzten Worte einiger der 14 Klasse-A-Kriegsverbrecher wiedergeben. Auch hier werden Hirota Kōki und Matsui Iwane nicht angeführt. Die kurze Einführung zu diesem Kapitel besagt Folgendes: „[…] Yasukuni Jinja calls those who were executed as war criminals or who killed themselves to take responsibility for the Greater East Asia War the ’Shōwa Era Martyrs‘. Those who killed themselves on August 15, 1945, to take responsibility for the war include Anami Korechika Mikoto, war minister, and Ōnishi Takijirō Mikoto […]. As specified above, Japan had been at war with each of the Allied Powers until April 27, 1952. Thus Japan considers the deaths of those who were executed by judgment of tribunals in enemy nations to be the same as death at the hands of the enemy during war. Japan refers to the death of those people as ’Judiciary Death‘”241

Auch wenn es Menschen aus nicht japanischen Kulturen äußerst bizarr und extrem erscheinen mag, so ist das Erheben sämtlicher Gefallener, ohne Ausnahme, in einen gottähnlichen Status (zu kami) nichts Ungewöhnliches. Die Recherchen zum Shintoismus haben gezeigt, dass es erhebliche (ideologische) Unterschiede zwischen den westlichen monotheistischen Religionen und dem Shintoismus gibt. Darum ist hier äußerste Vorsicht

240 Jones, Genocide, S. 507. 241 Yasukuni Jinja, S. 84.

62 geboten. Eine vorschnelle Verurteilung diverser Praktiken wäre äußerst problematisch und sollte unbedingt vermieden werden. Zum einen ist, wie bereits erklärt wurde, kami nicht eins zu eins mit dem Konzept von Gott, Allah oder Jahwe gleichzusetzen. In diesem Sinn werden die gefallenen Krieger nicht direkt zu einem Gott erhoben, sondern es wird lediglich ihrer Seele als Abkömmling, als Ausdrucksform des ursprünglichen kami gedacht. Versucht man sich der Thematik aus einer rein spirituellen Perspektive zu nähern, so wäre es eher verwunderlich gewesen, wenn die verurteilten Kriegsverbrecher nicht im Schrein verewigt worden wären, denn gerade weil sie „Sünder“ und Kriegsverbrecher waren, war ihre rituelle Beisetzung im Schrein notwendig. Der shintoistische Glaube besagt, dass sich Seelen von Verstorbenen auch noch nach ihrem irdischen Tod weiterentwickeln können, dafür ist jedoch eine Läuterung von jeglichen Unreinheiten und „Sünden“ notwendig. Diese Reinigung wird mithilfe eines Rituals bei der Bestattung durchgeführt und nach Ablauf der Trauerphase wird die Urne des Verstorbenen in einem Tempel oder Schrein aufbewahrt242. Demnach käme eine Verweigerung dieser Rituale einerseits der bewussten Belassung einer Seele in einer unreinen Form gleich. Andererseits würde dies die Weiterentwicklung dieser Seele verhindern und diese immer auf einer bestimmten (niedrigen) spirituellen Ebene festhalten. Auch wenn dies ein schwacher Vergleich ist, wäre die Verweigerung dieser Rituale in etwa mit der Verweigerung der Taufe eines Menschen vergleichbar; die willentliche Erhaltung der anhaftenden Erbsünde käme praktisch einer bewussten Trennung von Gott gleich243. Diese Beisetzung im Schrein aus politischen Gründen zu rechtfertigen, wäre jedoch problematischer. Nun noch einige letzte Überlegungen zum Yūshūkan: Die zusätzliche Ernennung der 14 Klasse-A-Kriegsverbrecher zu Märtyrern 244 ist allerdings sehr anzuzweifeln, wirkt

242 Die Bestattungsrituale werden in Japan oft, jedoch nicht ausschließlich, vom Buddhismus übernommen. Wie bereits erklärt wurde, ist eine eindeutige Trennung zwischen dem shintoistischen und buddhistischen Glauben kaum mehr machbar, da diese in vielerlei Hinsicht verschmolzen sind. Im Grunde bestimmt die Ursache die jeweilige religiöse Zuwendung der Japaner. Oft liest man Aussagen wie „Bei Geburt shintoistisch, beim Tod buddhistisch“. Patrick Zoll/Koya, Bei Geburt shintoistisch, beim Tod buddhistisch, in: Neue Zürcher Zeitung, 20.1.2016, [https://www.nzz.ch/international/asien-und-pazifik/bei-geburt-shintoistisch-beim-tod-buddhistisch- 1.18680026], eingesehen 17.12.2018. 243 Religion.ORF.at (Hrsg.), Erbsünde. Christliches Konzept von der Schwäche des Menschen, 26.4.2014, [https://religion.orf.at/lexikon/stories/2568993/], eingesehen 17.12.2018. 244 Die Ernennung zu Märtyrern hat höchstwahrscheinlich keinen shintoistischen Hintergrund, da es im Shinto allem Anschein nach keinen Märtyrerkult gibt. Die Bezeichnung ist eine Anspielung auf die Ansei-Säuberung von 1858/57, bei der daimyō (Fürst) Ii Naosuke über 100 Nationalisten exilieren, degradieren und hinrichten ließ, um seine Politik durchzusetzen. Yasukuni Jinja, S. 84. Gopal Kshetry, Foreigners in Japan. A Historical Perspective. Foreigners in The Land of the Rising Sun, USA 2008, S. 102.

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überzogen und bietet zweifellos Stoff für internationale Kritik. Tatsächlich wurde der Staats- Shinto als Ideologie nach Ende des Zweiten Weltkriegs offiziell abgeschafft. Der Shinto per se überdauerte jedoch. Der Shintoismus ist nicht nur als Religion zu verstehen, sondern als Grundpfeiler der japanischen Kultur, des „Japanisch-Seins“, und enthält somit auch eine kulturelle und ethnische Komponente. 245 Das Christentum hat sicherlich eine ähnliche Bedeutung für europäische Kulturen und der Islam für arabische. In dem Zitat auf Seite 62 wird auch die Übernahme von Verantwortung durch Selbstmord angesprochen. Diese Aussage sollte nicht vorschnell beiseitegeschoben werden. Seppuku246, der jahrhundertealte Brauch des rituellen Suizids (oft mit Unterstützung beim Enthaupten) ist einzigartig und besitzt einen besonderen Stellenwert in der japanischen Kultur. Wenn ein Samurai nicht länger stolz und ehrenvoll leben konnte, dann galt seppuku als Methode, zumindest ehrenvoll in den Tod zu gehen. Das Ritual wurde jedoch nicht ausschließlich von Samurai vollzogen: Menschen aus sämtlichen Gesellschaftsschichten und Alterskategorien wählten diese Art zu sterben. In Japan galt seppuku als eine idealisierte Form des Sterbens, als ästhetisches Ideal.247 Darum darf der Suizid dieser Kriegsverbrecher nicht aus einer rein christlichen Perspektive, in der Selbstmord eher als Sünde verstanden wird, bewertet werden. Aus japanischer Sicht ist der Suizid dieser verurteilten Verbrecher keine feige Flucht vor sämtlicher Verantwortung und einem Urteil des Gerichts, ganz im Gegenteil, es ist ein Zeichen der Übernahme von Verantwortung und das demütige Akzeptieren der Niederlage.

Die nationalistische, defensive Haltung des Yūshūkan passt absolut in das politische Schema Japans. Japan versucht um jeden Preis sein Gesicht zu wahren. Im Nachhinein alle bestatteten Kriegsverbrecher aus dem Schrein zu entfernen oder eine nachträgliche Korrektur historischer Fakten käme einem enormen Schuldeingeständnis, auf nationaler und internationaler Ebene gleich, einem Schuldeingeständnis das trotz erdrückender Beweislast seit Jahrzehnten nicht möglich war, da es die nationale Ehre und die aller Beteiligten oder gar aller Japaner beflecken würde.

245 Shields, ‘Land of kami, land of the dead’, S. 209. 246 Oft auch harakiri genannt. 247 Andrew Rankin, Seppuku. A History of Samurai Suicide, New York 2018, S. 10 + 18.

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6.2. Filme In diesem Kapitel wird die Kategorie „Film“ als nächster Erinnerungsort beleuchtet. Dafür wurden der Spielfilm Best Wishes for Tomorrow 248 und die Mini-Serie Tokyo Trial 249 ausgewählt. Beide behandeln die Nachkriegsprozesse, wobei die Werke sich dem Thema auf komplett unterschiedliche Weise nähern. Best Wishes for Tomorrow legt den Fokus auf den Angeklagten und die Handlung im Gericht selbst, Tokyo Trial hingegen geht auf die rechtliche Basis der Prozesse ein und zeigt die Schwierigkeiten auf, mit denen die Richter des IMTFE zu kämpfen hatten. Die Nachkriegsprozesse sind ein wichtiger Baustein in der japanischen Erinnerungskultur. Sie bleiben weiterhin ein traumatisches Ereignis und werden heute immer noch kritisiert. Da dieses Thema bisher (in dieser Arbeit) immer nur beiläufig erwähnt wurde, wird es nun anhand der beiden Quellen aufgearbeitet.

Tokyo Trial Eine mögliche Form der Erinnerung und Aufarbeitung, die hier angesprochen werden soll, ist die über Filmmedien. In Europa ist die Filmauswahl bezüglich Japans Rolle im Zweiten Weltkrieg ziemlich beschränkt. Dennoch gibt es einige nennenswerte Projekte, darunter z. B. die japanisch-kanadisch-niederländische Produktion zu den Tokioter Prozessen, Tokyo Trial. Diese Miniserie (vier Folgen) wurde erstmals 2016 in Japan von der einzigen dort öffentlich- rechtlich organisierten Rundfunkgesellschaft NHK (Nippon Hoso Kyokai/ engl. Japan Broadcasting Corporation) mitproduziert und ausgestrahlt.250 Darüber hinaus ist die Serie bei dem Streaming-Dienst Netflix praktisch weltweit251 verfügbar. Die Serie verwendet zwar zum Teil (nachgefärbte) Originalaufnahmen aus den Prozessen, aber dennoch wäre es falsch, sie als regelrechten Dokumentarfilm kategorisieren zu wollen; Historiendrama wäre wohl ein passenderer Begriff.252 Die Serie beleuchtet im Grunde weniger den Prozess im Gerichtssaal selbst, sondern vielmehr die Sitzungen, denen die Richter aus elf verschiedenen Nationen beiwohnten. Die Serie schafft es zu verdeutlichen, mit welchen Schwierigkeiten das IMTFE, vor allem aus der Sicht der Richter, zu kämpfen hatte. Ein äußerst wichtiger Punkt waren Diskussionen über die Anwendung rückwirkender Gesetze. Zur Zeit der Nürnberger Prozesse und des IMTFE gab es noch kein international anerkanntes Gesetz, also keine rechtliche Grundlage, die gegen

248 Takashi Koizumi, 明日への遺言 (Ashita he no yuigon/Best Wishes for Tomorrow), DVD, 110 min., Tokyo 2007. 249 Pieter Verhoeff /Rob W. King, Tokyo Trial, Netflix-Serie, 189 min, 2016 weltweit ausgestrahlt. 250NHKonline, o.D., [http://www.nhk.or.jp/corporateinfo/index.html], eingesehen 28.7.2017. 251 Mittlerweile in über 190 Ländern (Stand: Januar 2016). 252 IMDb (Hrsg.), Tokyo Trial, o. D., [http://www.imdb.com/title/tt4040530/], eingesehen 28.7.2017.

65 das Einleiten eines „aggressive war“ oder auch gegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgehen und diese verurteilen konnte. Weitere Aspekte, die in der Serie Erwähnung finden, sind richterliche Parteilichkeit, das enorme Ausmaß der Prozesse sowie die Uneinigkeit der Richter, die z. T. auf ihren unterschiedlichen Rechtsvorstellungen und -systemen basieren. Diese Uneinigkeit ging so weit, dass schließlich einige Richter, unabhängig von dem im Gerichtssaal verkündeten Urteil, zusätzlich noch Sondervoten verfassten, darunter der indische Richter Radhabinod Pal, der niederländische Richter Bert Röling sowie der philippinische Richter Delfin Jaranilla, der damit jenes des Inders zu „kontern“ versuchte. Tatsächlich wird die Unzufriedenheit von Radhabinod Pal gut hervorgehoben. Darüber hinaus kommt die Schuldfrage von Kaiser Hirohito zwar zur Sprache, hätte aber durchaus ausführlicher sein können. Es kommt jedoch zum Ausdruck, dass sowohl General McArthur als auch die elf Richter sich der Verantwortung Hirohitos bewusst waren und diesen zum Wohle von McArthurs angestrebtem Reformprogramm unversehrt ließen. Das strikte Festhalten an den Vorgaben der Nürnberger Prozesse wird gut thematisiert. Der Fokus der Serie wird somit eindeutig auf die fehlende legale Basis der Prozessführung gelegt. Auffallend ist jedoch, dass in dieser von Japan mitproduzierten Serie kaum die Stimme Japans zu hören ist. Es wird im Grunde überhaupt nicht auf die Taten der einzelnen Angeklagten und die begangenen Verbrechen eingegangen. Zudem wurden bei der Übersetzung (im Untertitel, aus dem Englischen ins Deutsche) und der Verwendung verschiedener Begriffe Fehler begangen. Mehrmals werden „crimes against peace“ 253 , „crimes of aggression“254 und „Angriffskrieg“255 synonym verwendet. Obgleich diese drei

253 In der Encyclopedia of Global Justice werden „Crimes against Peace“ (dt. Verbrechen gegen den Frieden) wie folgt definiert: „(i) Planning, preparation, initiation, or waging a war of aggression or a war in violation of international treaties, agreements, or assurances (ii) Participation in a common plan or conspiracy for the accomplishment of any of the acts mentioned under (i)“ Crimes against Peace, in: Encyclopedia of Global Justice, 2011, [https://doi.org/10.1007/978-1-4020-9160- 5_244], eingesehen 27.3.2019. 254 Obwohl die Definition von „crimes of aggression“ (dt. Verbrechen der Aggression) praktisch identisch mit jener von „Crimes against Peace“ ist, ist diese jedoch etwas umfangreicher. Sie wurden zuletzt 2010 in Artikel 8bis des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs definiert: „1. For the purpose of this Statute, “crime of aggression” means the planning, preparation, initiation or execution, by a person in a position effectively to exercise control over or to direct the political or military action of a State, of an act of aggression which, by its character, gravity and scale, constitutes a manifest violation of the Charter of the United Nations. 2. For the purpose of paragraph 1, “act of aggression” means the use of armed force by a State against the sovereignty, territorial integrity or political independence of another State, or in any other manner inconsistent with the Charter of the United Nations.[…]“ Darunter folgen sieben kleine Paragraphen mit spezifischen Beispielen eines „act of aggression“. The Global Institute for the Prevention of Aggression, o. D., [https://crimeofaggression.info/role-of-the- icc/definition-of-the-crime-of-aggression/], eingesehen 27.3.2019.

66 genannten Begriffe eine ähnliche Bedeutung haben, wäre es doch wichtig gewesen in einer Serie über einen historischen Gerichtsprozess richtig zu nuancieren.

Best Wishes for Tomorrow Als Nächstes soll der im Oktober 2007 erschienene Film Best Wishes for Tomorrow/ 明日へ の遺言 (Ashita he no yuigon) analysiert werden. Über den Regisseur Takashi Koizumi (geb. 1944) ließen sich auf deutsch-, englisch- und französischsprachigen Internetseiten leider keine nennenswerten Informationen finden. Der Film soll einerseits auf Daten aus Prozessakten basieren und sich andererseits an den Roman Nagai Tabi (The Long Journey) von dem renommierten japanischen Schriftsteller Shohei Ooka anlehnen256. Bevor der Inhalt des Films zu Sprache kommt, vorerst aber noch eine Bemerkung zur Sprache. Für diese Arbeit wurde die japanische Originalversion herangezogen. Der Film an sich war größtenteils auf Japanisch mit einer Reihe von Passagen, in denen Englisch gesprochen wurde. Eine englische Vollversion gab es auf dieser DVD nicht, jedoch englische Untertitel. Auffallend ist, dass das Japanische in den Untertiteln nicht eins zu eins ins Englische übersetzt wurde. Dies ist zwar keine Ausnahmeerscheinung, aber dennoch auffällig. So wurden z.B. um Minute drei die Namen von einigen zerstörten, japanischen Städten von einem Sprecher genannt, im Untertitel fehlten diese komplett. Durch die Weglassung der Namen klingen die Erläuterungen vager und abstrakter, was sie weniger anklagend erscheinen lässt als im japanischen Original. Ashita he no yuigon beginnt mit dem Bild von Picassos Gemälde Guernica (1937), welches als Reaktion auf die Bombardierung der spanischen Stadt Guernica durch die deutsche Legion Condor entstand. Gleich darauf werden die Haager Luftkriegsregeln von 1923 erwähnt, bei denen u. a. von einer internationalen Juristenkommission besprochen wurde, dass nur das Bombardieren militärischer Ziele rechtmäßig sei, das Bombardieren und Terrorisieren von Zivilisten jedoch nicht. Tatsächlich wurden diese nie ratifiziert. Dennoch

255 Die Definition aus Fußnote 254 besagt, dass die Planung, Vorbereitung, Einleitung und Ausführung eines „act of aggression“, also beispielsweise eines Angriffskriegs (engl.„war of aggression“), als „crime of aggression“ gewertet werden. Demnach wäre lediglich die Planung eines Angriffskriegs kein „act of aggression“. Bei den Begriffen „Crimes against Peace“, „crimes of aggression“ und „war of aggression“ bestehen also kleine Nuancen, die in der Übersetzung der Serie hätten berücksichtigt werden müssen. Ein Angriffskrieg ist zwar ein Verbrechen gegen den Frieden oder ein Verbrechen der Aggression, die drei Begriffe können aber nicht synonym verwendet werden, da der Begriff „Angriffskrieg“ sozusagen die Handlung (der Kriegsführung) umschreibt, nicht aber die Gesetzwidrigkeit dieser Handlung. Ein Staatsoberhaupt kann also für das Führen eines Angriffskriegs wegen Verbrechen gegen den Frieden oder Verbrechen der Aggression angeklagt werden. 256 Roger Pulvers, An exemplar of where the war-crimes buck stops, in: The Japan Times, 20.5.2007, [https://www.japantimes.co.jp/opinion/2007/05/20/commentary/an-exemplar-of-where-the-war-crimes-buck- stops/#.WjpdDzciGUl], eingesehen 20.12.2017.

67 hatte sich die deutsche Luftwaffe nicht an diese nur vorgeschlagenen, aber nicht rechtkräftigen Regeln gehalten. Danach wird noch eine ganze Reihe anderer Bombardierungen angeführt: London 1940, Pearl Harbor 1941 und Nagoya257. Der Abwurf einer Atombombe bleibt unkommentiert, wird aber in der Videosequenz gezeigt. Das Augenmerk wird dann vorwiegend auf die Bombardierung Tokyos gelenkt. Bei diesem einen hier gezeigten Angriff wurde die komplette Innenstadt in nur einer Nacht zerstört. Auffallend ist zudem, dass in dieser Videosequenz erstmals Bilder von Menschenopfern 258 gezeigt werden, davor wurde immer nur die zerstörte Infrastruktur präsentiert. Dabei fällt noch ein Zitat des verantwortlichen US-Luftwaffengenerals Curtis LeMay: „Bomb everything“259. Die Japaner stellen sich jedoch nicht als komplette Unschuldslämmer dar. Es werden auch eigene Luftangriffe auf Nanjing, Hankou und Chongqing erwähnt. Ein weiteres schlagfertiges Zitat stammt aus einer Rede von US-Präsident Roosevelt vom 18. September 1939: “It is my earnest hope that bombing of civilians will not take place”260. Dieses Zitat lässt Roosevelt bestenfalls als naiven Optimisten dastehen, wenn nicht sogar als Lügner, woraufhin ein offensichtlicher Legitimierungsversuch der eigenen Gräueltaten mit folgenden Worten zu hören ist: „Those guilty of bombardment can hardly expect mercy themselves.“261 Den ersten Eindruck, den man in diesem Prolog des Films gewinnt, bzw. eine sich aufdrängende Frage betrifft die Notwendigkeit, den Nutzen oder die Ursache dieses Kurzberichts über Luftangriffe, welcher einen besonderen Fokus auf jene der Amerikaner legt, wo man doch den Gerichtsprozess einer Gruppe japanischer Kriegsverbrecher erwartet. Nach dieser Einführung taucht der Film dann in medias res in das Thema des Kriegsverbrecherprozesses von Lt. Gen. Okada Tasuku und seiner Untergebenen in

257 Laut den Angaben im Film wurden im Lauf des Kriegs von den United States Army Air Forces 38-mal Bomben über Nagoya abgeworfen. Keine andere japanische Stadt, abgesehen von Tokyo, war in diesem Ausmaß Bombenangriffen ausgesetzt. 258 Dieser hier erwähnte Angriff fand am 9. März 1945 unter der Leitung von US-Luftwaffengeneral Curtis LeMay statt. Die Bombardierung ging als größter konventioneller Luftangriff in die Geschichte ein. Die Amerikaner warfen Brandbomben, Napalm und Benzin als Brandbeschleuniger über Tokio ab. Das Feuer erwies sich als besonders effektiv gegen die vorwiegend aus Holz gebauten japanischen Städte. Bei dem Angriff vom 9. März 1945 verloren ca. 100.000 Menschen ihr Leben und eine weitere Million verlor ihr Dach über dem Kopf. Berthold Seewald, Der größte konventionelle Luftangriff aller Zeiten, in: WeltN24, 9.3.2015, [https://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article138213890/Der-groesste-konventionelle-Luftangriff- aller-Zeiten.html], eingesehen 21.12.2017. 259 Koizumi, 明日への遺言, 0:04:11. 260 Ebd., 0:02:39–0:02:47. 261 Ebd., 0:04:59–0:05:05.

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Yokohama262 ein. Gleich zu Beginn werden anhand eines Mitschnitts von Originalaussagen Okadas der weitere Verlauf und die Schwerpunktsetzung des Films angekündigt: „Why should the losing side be held solely responsible for crimes committed? Those who abandon the samurai spirit and think solely of their own survival fill me with an intense grief.“263

Die Verhandlungen um Okada begannen am 8. März 1948. Der Film zeichnet ein Bild von Okada als selbstlosen, aufopferungsvollen und hilfsbereiten Menschen, der seine Verhandlung vielmehr dazu nutzte (mit Hilfe seines Verteidigers Dr. Joseph Featherstone), die Bombardierungen der Amerikaner anzuklagen als sich selbst von der Schuld seiner Vergehen reinzuwaschen. Okada wurde angeklagt, weil er die Hinrichtung (durch Enthauptung) von 38 in Gefangenschaft geratener Mitglieder der US Air Force befahl, ohne diesen davor ein faires Verfahren zu gewährleisten. Der Film wirft das allgemein bekannte Problem der zuständigen und legitimen Gerichtsbarkeit auf. Waren die Mitglieder dieser gefangenen air crew klassische Kriegsgefangene und unterlagen sie somit dem internationalen Recht oder sollte man auf eine andere Art und Weise mit ihnen Verfahren, da sie selbst mit dem Angriff auf Zivilisten gegen ebendieses Recht verstießen? Der Film zeigt eine äußerst dramatische Szene, in der eine japanische Zeugin aus ihrer Sicht von dem Angriff berichtet. Sie erzählt von toten Kindern und Babys und ihrer Hilflosigkeit und bricht dabei in Tränen aus. Das Ganze wird zudem von einer äußerst theatralischen Musik begleitet. Ihren Aussagen könnte man entnehmen, dass sie den Amerikanern böswilliges Handeln unterstellt, da der Angriff einem bestimmten Stadtteil galt, obwohl sich keine militärischen Ziele in näherer Umgebung befanden. Wegen dieser Szene könnte man dem Regisseur durchaus den Vorwurf oder die Kritik entgegenbringen, dass er versuche, Japan mit der Opferrolle zu versehen. Dieser Einwand ist aus dem Grund berechtigt, dass nicht wirklich ein verhältnismäßig gleichwertiges oder ähnlich schwerwiegendes Beispiel für die Misshandlung oder das Töten von Amerikanern genannt wird. Die Japaner werden insgesamt sehr menschlich, respektvoll und verständnisvoll dargestellt, vor allem Okada, der selbstverständlich im Mittelpunkt steht. Er wird als liebevoller Familienvater264 geschildert und nimmt darüber hinaus eine Vaterrolle für seine Mithäftlinge und Ex-Untergebenen ein. Der Film zeigt einen Okada, der stets bemüht ist,

262 In Yokohama wurde über eine Reihe von Kriegsverbrechern der Klasse B und C gerichtet. Die hier verhandelten Verbrechen wurden vorwiegend auf japanischem Boden begangen. 263 Koizumi, 明日への遺言, 0:07:21–0:07:46. 264 Okadas Umgang mit seiner Ehefrau, seinen Kindern und Enkeln wird gezeigt. Diese sind mehrmals im Gerichtssaal anwesend und besuchen ihn nach seiner Verurteilung im Gefängnis.

69 seine Mithäftlinge zu beruhigen, sie zu trösten und ihnen die bevorstehende Hinrichtung so leicht wie möglich zu machen. Darüber hinaus übernimmt er offenkundig die volle Verantwortung für die Hinrichtung der amerikanischen air crew und stellt sich somit schützend vor seine ehemaligen Untergebenen. Okada sagt vor Gericht aus, dass seiner Meinung nach die Verantwortung im Krieg immer bei den Kommandeuren liegt. Diese Aussage steht jedoch zum Teil im Konflikt mit seinem eigenen Handeln. Er wollte verkürzte bzw. vereinfachte Prozesse für die amerikanischen Gefangenen, da er von ihrer Schuld überzeugt war: „[…] the fliers who bombed us know their actions were inhuman“ 265 . Einerseits kritisiert er die Amerikaner, da sie mit ihren Bomben Zivilisten anzielten, was u. a. gegen die nicht ratifizierten Haager Luftkriegsregeln von 1923 verstieß. Andererseits ordnete er aber die verkürzten Prozesse für die air crew an und kommentierte das Übergehen fairer Gerichtsprozesse wie folgt: „[…] military regualtions are not laws. They are a factor of strategy deemed suitable by a commander. To execute a strategy well decisions must not be altered […]”266. Zeitweise gewinnt man auch den Eindruck, dass der Regisseur versucht, Okada als Märtyrer darzustellen. Dazu merkte seine Ehefrau an: „It was clear that my husband had decided to die.“267 Ob das über ihn verhängte Todesurteil ausschließlich auf sein „Opfer” zurückzuführen ist, bleibt zu hinterfragen. All jene Szenen, die den Vollzug von Okadas bevorstehender Todesstrafe thematisieren, werden zudem von einer fast melodramatischen Musik begleitet. Hier ist jedoch zu beachten, dass sich japanische Filmproduktionen in Bezug auf die Inszenierung von Romantik, Dramatik und Theatralik deutlich von den uns geläufigen Hollywoodproduktionen unterscheiden können und auf den Westen gerne „übertrieben“ wirken. Lediglich beim Thema der US-Luftangriffe wird ein deutlich negatives Bild von den Amerikanern und ihren Taten gezeichnet. Im Gerichtssaal hingegen wird ein sehr respektvoller und menschlicher Umgang zwischen Amerikanern und Japanern gezeigt. Sehr markant ist die beinahe freundschaftliche Beziehung zwischen Okada und seinem Verteidiger Dr. Featherstone (Händeschütteln, Begrüßung usw.). Der Umgang zwischen Okada und Staatsanwalt Burnett, obwohl sie vor Gericht Gegner sind, kann zudem nicht wirklich als feindselig bezeichnet werden. Auch einer der Richter scheint Sympathie für den Angeklagten zu empfinden. So wird Okada im Gerichtssaal auch erlaubt, sein neugeborenes Enkelkind zu halten. Eine weitere sehr markante Szene um 0:51:03 bis 0:51:46 zeigt, wie Okada sich bei

265 Koizumi, 明日への遺言, 0:57:09–0:57:16. 266 Ebd., 1:07:51–1:08:11. 267 Ebd., 1:20:32-1:20:37.

70 seinem Verteidiger bedankt, wohlwissend, was ihm bevorsteht, und anschließend eine Verbeugung von Okadas gesamter versammelter Familie vor Dr. Featherstone. Gegen Ende des Films erhält Okada die Erlaubnis, offen zu reden. Er nutzt diese Gelegenheit, um sich bei der Gerichtskommission zu bedanken und ein Lob auszusprechen. Tatsächlich soll sein Prozess in Yokohama eine Ausnahme gewesen sein, da nur dort die Japaner die Gelegenheit bekamen, über die amerikanischen Bombenabwürfe zu reden. Okada bezeichnet schließlich die japanischen Methoden im Krieg als fragwürdig, aber relativiert diese Aussage gleich wieder. Die Japaner hätten das Beste getan, um Tag für Tag zu überleben. Abschließend spricht er von einer zukünftigen Bruderschaft zwischen Japan und den USA und bezeichnet an dieser Stelle seinen ehemaligen Feind als älteren Bruder268. Es fällt jedoch schwer, diese überaus positive Darstellung von Okada und seiner Wirkung auf die Amerikaner nicht als Vermenschlichung eines Verbrechers zu Propagandazwecken zu sehen. Es lässt sich nicht leugnen, dass der Film ein möglicherweise unrealistisch positives Bild von Okada und seinen Gefolgsleuten zeichnet. Die Exekution der air crew wird durch die schweren Vorwürfe gegen die amerikanischen Bombardierungen beinahe zur Nebensache. Es liegt nahe, den Film ohne Umschweife als japanischen Propagandafilm einstufen. Bei genauerer Recherche bezüglich des Entstehungshintergrunds und der (angeblichen?) Intentionen des Regisseurs scheint diese Einstufung jedoch etwas überstürzt. Okada hat ohne Zweifel von Anfang an die Verantwortung für seine Verbrechen übernommen (was nicht bedeuten soll, dass er sein Handeln folglich tatsächlich auch als Verbrechen und Unrecht verstand) und versuchte, seine Untergebenen so gut wie möglich zu schützen und zu unterstützen. Auch sein respektvoller Umgang wird immer wieder hervorgehoben. So auch Okadas bereits oben erwähnte, abschließende Worte kurz vor dem Prozessende:

„This trial has been very generous in its proceedings. […]“

“I firmly believe that my feelings of gratitude will be the basis of a spiritual bond between the elder brother, America, and the younger brother, Japan, uniting our two countries in the future.”269

Was den Fall Okada schlussendlich zur Ausnahme macht und den Film in ein anderes Licht rückt, ist die Tatsache, dass nach der Urteilsverkündung sogar ein Gnadengesuch zu seinen Gunsten eingereicht wurde. Am erstaunlichsten ist die Beteiligung einer der drei Richter, aber

268 Koizumi, 明日への遺言, 1:19:38–1:19:51. 269 Pulvers, An exemplar.

71 vor allem jene des Chefanklägers, des Oberstaatsanwalts Burnett, dessen Aufgabe es war, vor Gericht gegen Okada zu arbeiten. Das Gnadengesuch wurde schließlich jedoch von McArthur abgelehnt und die Todesstrafe vollstreckt.270

Ashita he no yuigon spricht auch einige Probleme an, die nicht nur die Kriegsverbrecherprozesse von Yokohama, sondern im Grunde sämtliche Nachkriegsprozesse betrafen. Eines dieser Probleme sind beispielsweise die großen kulturellen Differenzen zwischen den Alliierten und den Japanern. In einer weiteren Szene zeigt das amerikanische Gericht große Empörung, als zur Sprache kommt, dass die Exekution der air crew in Form einer Enthauptung durch das japanische Schwert, das Katana, durchgeführt wurde. Was die Amerikaner als äußerst barbarischen und demütigenden Akt verstanden, war bei den Japanern seit Jahrhunderten ein fest verankerter Teil der Kultur. Die Enthauptung durch das Schwert war ein fester Bestandteil des japanischen rituellen Suizids, des seppuku oder auch harakiri. Was bei den Amerikanern also als barbarischer Akt verstanden wurde, wurde von den Japanern als ehrenvoller Tod betrachtet, den sie auch noch zu dieser Zeit für sich selbst wählten. Ein weiteres Problem, das immer wieder anklingt und hervorgebracht wird, ist jenes der angewandten Siegerjustiz. Diese Vorwürfe werden in dem Film anhand der Figur Okadas sehr gut unterstrichen. Auf der einen Seite werden Okada und seine Gefolgsleute für die Exekution von 38 amerikanischen Militärangehörigen verurteilt. Auf der anderen Seite werden die USA nicht von einem offiziellen Gericht für die Bombenabwürfe über Hiroshima, Nagasaki, Tokyo, Nagoya usw., welche weit mehr als 100.000 zivile Opfer zur Folge hatten, angeklagt. Der Film hielt diesbezüglich folgende Aussage Okadas fest: „I will win this fight! The court´s judgment is arbitrary. It is just suiting itself.“271 Die Vorwürfe dieser illegalen Bombardierungen wurden vor Gericht tatsächlich angehört, aber schlussendlich, und wie zu erwarten war, doch von dem SCAP McArthur zurückgewiesen. Die beiden für diese Unterkapitel verwendeten Zeitungsartikel272 aus der Japan Times stammen vom gleichen Autor, dem Australier (jedoch in den USA geborenen) Roger Pulvers. Pulvers war beteiligt an der Schaffung von Ashita he no yuigon. Er arbeitete zusammen mit dem Regisseur an dem Drehbuch. Bei der Berücksichtigung dieses Hintergrunds und der Lektüre seiner Artikel wird überaus deutlich, dass Pulvers Artikel äußerst subjektiv sind. Er

270 John W. Dower, Cultures of War: Pearl Harbor /Hiroshima /9-11/Iraq, New York 2010, S. 534. 271 Koizumi, 明日への遺言, 1:00:16–1:00:24. 272 Roger Pulvers, Maj. Gen. Okada: a rare leader who took the blame, in: The Japan Times, 24.6.2007, [https://www.japantimes.co.jp/opinion/2007/06/24/commentary/maj-gen-okada-a-rare-leader-who-took-the- blame/#.WljgcDciGUl], eingesehen 12.1.2018.

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überlegt sogar, ob er Okada als Helden bezeichnen könnte273. Dennoch bleiben Okada und sein Prozess ein Sonderfall in der Geschichte der japanischen Nachkriegsprozesse. Zudem gilt es festzuhalten, dass diese Bewunderung für Okada von einem Amerikaner in einer japanischen Zeitung ausgesprochen wird, nicht von einem Japaner, was dem Ganzen einen durchaus negativen Beigeschmack (aus internationaler Sicht) verliehen hätte.

In Japan erschien Best Wishes for Tomorrow im März, um so der Bombenangriffe vom 9./10. März auf Tokyo zu gedenken. Anschließend wurde der Film 2008 auf dem Santa Barbara International Film Festival vorgestellt.274 Der Regisseur gestand, dass er nervös war und nicht wusste, wie die amerikanische Audienz auf seine Produktion reagieren würde275. Leider lassen sich im Internet kaum englischsprachige Kritiken finden. Die einzigen auffindbaren Berichte sind das kurze Interview mit dem Regisseur Takashi Koizumi aus der Asahi Shimbun und Charles Donelans der Bericht über Bobby Lessers hervorragende Performance als Dr. Featherstone. Darüber hinaus gibt es noch drei weitere Nutzerkommentare in der Internet Movie Database (IMDb), zwei negative und eine positive Kritik. 276 Die positive Kritik Nutzers toro-tanabe lobt die Leistung der Schauspieler, die Musik sowie die Fähigkeit, den Zuschauer emotionell anzusprechen und zu erreichen.277 Die Kritik von CountZero313 geht etwas detaillierter auf den Film ein und bringt auch einige der bereits oben angeklungenen Vorwürfe: „Koizumi's ham-fisted treatment of the subject matter borders on apologist propaganda.“278

„In terms of direction, Koizumi opts for sentimental outpourings that detract from the historical gravitas of events.”279

CountZero313 begrüßt die Idee und erkennt den Wert dieses Historiendramas an, jedoch wünscht er sich eine „bessere“ und vor allem neutralere Auseinandersetzung mit dem Thema.

273 Pulvers, An exemplar. 274 Charles Donelan, Bobby Lesser’s Film Role Puts America on Trial. Wars of Honor and Humility, in: The Santa Barbara Independent, 3.4.2008, [https://www.independent.com/news/2008/apr/03/bobby-lessers-film- role-puts-america-trial], eingesehen 13.1.2018. 275 Noriko Nakamura, 【INTERVIEW】Court Drama Shows Human Side of Tragic WWII Order. B級戦犯が のこした『明日への遺言』 , in: The Asahi Shimbun Weekly, 16.3.2008, [http://www.asahi.com/english/weekly/0316/02.html], eingesehen 12.1.2018. 276 IMDb (Hrsg.), Ashita e no yuigon (2007).User Reviews, 2008, [http://www.imdb.com/title/tt1052343/reviews?ref_=tt_urv], eingesehen 13.1.2018. 277 toro-tanabe, Contemplative viewing, in: IMDb, 2.2.2008, [http://www.imdb.com/title/tt1052343/reviews?ref_=tt_urv], eingesehen 13.1.2018. 278 CountZero313, a tale worth telling gets poor treatment, in: IMDb, 21.3.2008, [http://www.imdb.com/title/tt1052343/reviews?ref_=tt_urv], eingesehen 13.1.2018. 279 CountZero313, a tale worth telling.

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Der letzte Kommentierende, ralphrepo_01, bemängelt vor allem die Beschönigung und Verharmlosung der japanischen Taten einerseits und andererseits die Verteufelung der Amerikaner.280

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Film durchaus zum Nachdenken anregt. Die Kritik der Amerikaner während eines Nachkriegsprozesses ist recht ungewöhnlich. Dabei gilt auch zu beachten, dass ein Amerikaner, Roger Pulvers, einen großen Einfluss bei der Erstellung des Drehbuchs hatte. Dennoch bleibt der Film sehr ambivalent. Laut den Aussagen der Mitwirkenden (darunter Japaner und Amerikaner) soll Ashita he no yuigon eine friedensstiftende, versöhnende Funktion erfüllen. Beide Seiten der gleichen Medaille sollen gezeigt werden. Bei genauerer Betrachtung sind diese Ansätze durchaus auch erkennbar. Jedoch sticht vorerst vor allem eine fast revisionistische, pro-japanische und anti- amerikanische Haltung ins Auge. Die Tendenz der Japaner, sich als Opfer des Krieges darzustellen und zu erinnern, ist deutlich erkennbar.

6.3. Manga In diesem Kapitel wird eine Reihe unterschiedlicher japanischer Comics, Manga, beleuchtet, doch vorweg noch ein paar Anmerkungen zu den Manga (und Anime) als Quellen an sich. Da Manga im Westen erst in den 90er-Jahren bekannter wurden und sich bisher kaum (westliche) Wissenschaftler mit diesen als Quelle auseinandergesetzt haben, besteht auf diesem Gebiet eindeutig noch Nachholbedarf. Zu den bedeutendsten Autoren gehören wohl Sharon Kinsella und Susan Napier.281 Wie im Grunde jede historische Darstellung ist die in Manga eine subjektive.282 Jedoch anders als bei Büchern, anhand deren Texten man versucht, selbst ein Bild des Beschriebenen zu visualisieren, nehmen Manga dem Leser diese Arbeit ab und beeinflussen somit direkt dessen visuelle Wahrnehmung. Dadurch ist der Mangaka dazu imstande, gewollt oder ungewollt, die Wahrnehmung seiner Leser zu steuern und sie irrezuführen, was tatsächlich zu erheblichen Fehlinterpretationen der „wahren“ Geschichte führen kann. Manga-Zeichnungen können zwar als realitätsähnliche Abbilder von Ereignissen herangezogen werden, es sind aber dennoch nur subjektive Abbilder, die nie die

280 ralphrepo_01, Pro Japan film that seeks to deflect war crime taint by victim blaming, in: IMDb, 5.9.2008, [http://www.imdb.com/title/tt1052343/reviews?ref_=tt_urv], eingesehen 13.1.2018. 281 Roman Rosenbaum, Introduction: the representation of Japanese history in manga, in: Rosenbaum Roman (Hrsg.), Manga and the Representation of Japanese History, USA-Canada 2014, S. 1–17, hier S. 4 f. 282 Rosenbaum, Introduction, S. 1.

74 ganze Realität widerzuspiegeln vermögen. 283 Aufgrund ihrer Beschaffenheit, ihres sowohl visuellen als auch narrativen Charakters, sind Manga als artistische Ausdrucksform, aber auch als Anregung historischer Debatten zu verstehen.284 Manga als Werkzeug der popular culture sind imstande, kulturelle Stereotypen und Eigenschaften, Philosophien und historische Elemente auf einzigartige Weise zu vermitteln und somit Geschichte aus neuen Perspektiven zu interpretieren.285 Sämtliche in diesem Kapitel eingebrachten Manga sind mediale Quellen japanischen Ursprungs der Nachkriegszeit. Jedoch bilden die vorgestellten Manga lediglich einen äußerst kleinen Bestandteil sämtlicher Nachkriegs-Manga. Aufgrund des Platzmangels können bedauerlicherweise nur einige wenige Werke herangezogen und analysiert werden. Tatsächlich ist die Auswahl an Kriegs-Manga so umfangreich, dass man zu diesem Thema mit Leichtigkeit eine eigene Arbeit schreiben könnte. In dieser Analyse werden Werke von vier Mangaka vorgestellt, was die Vielfalt des Genres unterstreicht. Tsubasa286 ist ein recht kurzer und wenig bekannter Manga, enthält aber verhältnismäßig viele politische Botschaften. Showa: A History of Japan hingegen stammt von einem der renommiertesten Mangakas Japans und hat somit eine sehr große Reichweite. Kuni ga moeru wurde aufgrund des Aufsehens, den es in den Medien erlangte, in diese Arbeit aufgenommen. Die Geschichte dieses Mangas zeigt, wie viel Wert diesen Comics in Japan beigemessen wird. Die drei hier angeführten Beispiele vermitteln alle eine eher japankritische Botschaft. Darum wird als letztes der äußerst bekannte und erfolgreiche revisionistische Mangaka Kobayashi Yoshinori als Gegenpol vorgestellt, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass die Reihen der einflussreichen Mangakas ausschließlich aus Liberalen bestehen würden. Zurzeit betreibt die Anthropologin Mary Reisel diesbezüglich Forschungen an der Rikkyo Universität in Tokyo. Aus den oben genannten Gründen muss mit Nachdruck verdeutlicht werden, dass die Resultate dieser Analyse nicht als umfassende strukturelle und inhaltliche Richtlinie für politische Botschaften und Kritik in japanischen Nachkriegsmedien verstanden werden kann. Die hier angebrachten Manga sollen lediglich zeigen, dass in dieser oftmals unterschätzten Quellengattung politische Botschaften enthalten sein können und dass sie gleichzeitig ein Zeugnis dafür sind, welche Bilder, Auffassungen und Erinnerungen in einer Kultur weiterhin tradiert und immer wieder recycelt werden.

283 Erik Ropers, Representations of gendered violence in manga: the case of enforced military prostitution, in: Rosenbaum Roman (Hrsg.), Manga and the Representation of Japanese History, USA-Canada 2014, S. 60–80, hier S. 60 f. 284 Ropers, Representations of gendered violence, S. 74. 285 Rosenbaum, Introduction, S. 7. 286 Ayumi Tachihara, Tsubasa, 1997.

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Tsubasa Zuerst soll ein kleineres und weniger bekanntes Werk vorgestellt werden. Für einen guten Einstieg sorgt der Titel Tsubasa. Tsubasa wurde 1997 von Tachihara Ayumi (*1947) veröffentlicht und besteht aus nur drei Kapiteln. Der Manga schildert flüchtig die letzten Tage einer Gruppe japanischer Kamikaze-Piloten. Tachihara versucht dabei, die emotionalen sowie die sozialen Motivationshintergründe dieser Piloten festzuhalten, die freiwillig ihr Leben für ihre Nation opferten. Obwohl der Manga sehr kurz ist, enthält er einige interessante und kritische Aussagen. Die Protagonisten erforschen die eigenen Beweggründe, wofür sie bereit sind, ihr Leben zu geben, und was sie hoffen, mit ihrem Tod zu erreichen. Ein Pilot meint: „You can´t die without a reason”287. Ein Krieg und die damit verbundenen Opfer müssen gerechtfertigt werden, um den Kampfgeist aufrechtzuerhalten, genauso mit dem Glauben, dass die Menschen für eine gerechte Sache kämpfen. Der gleiche Pilot verkündet: „I will die for Keiko [seine Freundin], I will be a shield and not allow the enemy to rape her.”288 Gleich im nächsten Comic-Panel289 gibt er jedoch an, dass er „certainly will not die for this country.”290 Aus nur zwei Panels lässt sich schließen, dass die Überzeugung, seine Familie zu beschützen, ein geläufiger Grund gewesen sein muss, in den Krieg zu ziehen und dafür sein Leben zu geben. Oder vielleicht wäre es besser zu sagen, der Glaube, seine Familie zu beschützen, ein häufiger Grund war. So erkennt man, dass, obwohl der oben erwähnte Pilot Japan gegenüber nicht äußerst wohlwollend eingestellt ist und er behauptet, zu kämpfen, um seine Freundin und nicht sein Land zu beschützen, dennoch nicht zu realisieren scheint, dass ihm seine augenscheinlichen Gründe (indirekt) vom japanischen Militär aufgedrängt wurden. Schlussendlich sind seine wirklichen Gründe bedeutungslos, da er wie jeder andere Soldat die Befehle des Militärs befolgt und somit in einem von Japan geführten Krieg kämpft und für eine japanische Sache stirbt. In diesem Sinn klagt Tsubasa die manipulativen Praktiken der Kriegspropaganda an. Die Kritik des Krieges und Japans Einstellung während des Krieges bleibt jedoch nicht auf diese beiden Panels beschränkt. Im ersten Kapitel überbedenkt ein weiterer Pilot die Gründe für seinen Beitritt bei dem Kamikaze-Kommando und kommt zu folgenden Schlüssen:

287 Tachihara, Tsubasa, S. 26. 288 Ebd., S. 26. 289 Die Seiten eines Comics werden anhand von rechteckigen Kästen aufgeteilt. Die Texte und Zeichnungen befinden sich innerhalb dieser Kästen, welche aufeinanderfolgende Sequenzen darstellen. 290 Ebd., S. 26.

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„Mother I was thinking about that step291. Naturally, I took it to protect you. But it doesn´t seem like a decision I made. I had this feeling I did it like a robot. Because my mates were next to me, I think I did it just because everyone else was.”292

Auch in diesem Beispiel klingt der Wunsch des Piloten an, seine Familie bzw. seine Mutter davor zu schützen, von den angeblich wilden Amerikanern vergewaltigt oder schlecht behandelt zu werden. Jedoch gehen die Überlegungen dieses Piloten noch weiter. Er erklärt, dass der Beitritt beim Kamikaze-Kommando nicht wirklich eine eigenständige Entscheidung war, sondern er wie ein Roboter gehandelt hat. Seine (militärische) Erziehung und der Gruppenzwang (oder der Zusammenhalt der Gruppe) brachten ihn zu diesem Schritt. Diese Opferbereitschaft für die Gemeinschaft wird zu einem Automatismus, wo kein Platz zum Reflektieren bleibt. Die japanischen Soldaten wurden scheinbar dazu konditioniert, jeden Befehl ohne zu Überlegen oder Hinterfragen zu befolgen. Zum Schluss soll noch auf eine letzte Kritik hingewiesen werden. Kamikaze-Piloten werden oft als tapfere Kriegshelden dargestellt, denen aufgrund ihres Opfers für Japan viel Dankbarkeit und Respekt entgegengebracht wird. Das beste Beispiel dafür sind der Yasukuni-Schrein und das Yūshūkan-Museum, in denen diese Verehrung heute noch stattfindet. Aus diesem Grund ist es äußerst interessant zu beobachten, dass das zweite Kapitel des Mangas „A useless death“ betitelt wurde. Hier bezieht der Mangaka eindeutig Stellung zu der Zweckmäßigkeit der Kamikaze-Piloten. Im dritten Kapitel wird dann sogar die Existenzberechtigung des Kamikaze-Kommandos selbst hinterfragt: „What is the purpose of our squadron?“293 Tachihara geht aber noch weiter und kritisiert den Krieg an sich oder zumindest dessen letzte Phase: „Is there any sense in this war if we know we´re going to lose?“294 Die Protagonisten des Mangas geben keine Antworten auf all diese Fragen, sondern werfen sie lediglich auf. Die Titel der einzelnen Kapitel verraten die tatsächlichen Ansichten Tachiharas. Er bezeichnet den Tod der Kamikaze-Piloten als sinnlos. Dies wird noch deutlicher in dem Titel des 3. Kapitels „Important“. In diesem Kapitel wird ein neuer Charakter vorgestellt, welcher aussagt, dass das Leben eines Piloten wichtiger sei als eine Bombe oder sogar das idealistische Konstrukt einer Nation.295

291 Um dem Kamikaze-Kommando beizutreten, mussten die in Reih und Glied stehenden Piloten einen Schritt nach vorne machen, um dadurch ihre Bereitschaft zu signalisieren. 292 Tachihara, Tsubasa, S. 36 f. 293 Ebd., S. 70. 294 Ebd., S. 70. 295 Ebd., S. 85.

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Showa: A History of Japan Als Nächstes wird ein Werk des äußerst renommierten Mangakas Shigeru Mizuki (1922– 2015) thematisiert. Das hier vorgestellte vierbändige296 Werk Showa: A history of Japan wurde mit dem in Japan äußerst renommierten Kodansha Manga Award (jap. Edition) und dem Eisner Award297 (engl. Edition), ausgezeichnet und sticht aus mehreren Gründen aus der Masse hervor: Die Manga-Reihe behandelt auf über 2.000 Seiten, wie der Titel unschwer erkennen lässt, die gesamte Showa-Ära298, also die Jahre 1926 bis 1989, welche der Autor selbst durchlebte. In dem Werk schildert Mizuki den geschichtlichen und politischen Verlauf dieser Ära. Eine Unzahl an Endnoten mit kurzen Zusatzinformationen zu diversen Personen, Ereignissen usw. sorgt für ein besseres Verständnis. Es kommt vor, dass Mangas Fußnoten besitzen, diese treten aber nur vereinzelt auf und sollen Nichtjapanern Erklärungen zu kulturellen Eigenheiten oder japanischen Schriftzeichen geben. Die Showa-Reihe ist jedoch mit verhältnismäßig vielen ausgestattet. Hinzu kommt dass die Originalausgabe eine Liste mit Referenzliteratur besitzt, die englische Übersetzung jedoch nicht. Somit wird eine wissenschaftliche Herangehensweise bei der Erschaffung das Mangas erkennbar. Neben der politischen Geschichte der Showa-Ära erzählt Mizuki zusätzlich seine eigene. Er hält fest, wie er diese Periode überlebte und mit welchen Schwierigkeiten er und seine Familie zu kämpfen hatten. Dies ist jedoch nicht alles. Mizuki schafft es auch noch, gelegentlich die Stimme des Volkes mit einzubringen. Und schließlich kommentiert er diverse Ereignisse retrospektiv, was diesen Manga zu einer äußerst interessanten Quelle für diese Arbeit macht. Aufgrund der vielen verschiedenen Perspektiven könnte man annehmen, dass das Werk sich äußerst konfus gestaltet und die Objektivität komplett verloren geht. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die vier hier angewendeten Perspektiven werden deutlich getrennt, was vor allem visuell, aber auch sprachlich erkennbar ist. Der auf reinen Fakten basierende geschichtliche und politische Teil wurde stets in einer wissenschaftlichen Sprache und einem ernsten Zeichenstil gestaltet.

296 Die japanische Originalausgabe besteht aus acht Bänden. Die englische und scheinbar einzige Übersetzung besteht aus vier Bänden. 297 In Nordamerika, für Comics, das Äquivalent der Oscars. Showa: A history of Japan gewinnt in der Kategorie „Best U.S. Edition of International Material—Asia“. Scott Green, "Showa, 1953–1989: A History of Japan" Wins Eisner Award. Prize taken in manga-nominated Best U.S. Edition of International Material—Asia, 24.7.2016, [https://www.crunchyroll.com/de/anime- news/2016/07/23/showa-19531989-a-history-of-japan-wins-eisner-award], eingesehen 29.3.2019. 298 Die Japaner benutzen (heute) neben der christlichen Zeitrechnung eine eigene Zeitrechnung. Diese richtet sich nach dem Amtsantritt der Kaiser. Mit jedem neuen Kaiser beginnt eine neue Ära. Als Beispiel: Taisho-Ära 1912–1926, unter Kaiser Yoshihito Showa-Ära 1926–1989, unter Kaiser Hirohito Heisei-Ära 1989–2019, unter Kaiser Akihito

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Mizukis eigene Geschichte sowie die Stimme des Volkes sind durch einen viel kindischeren Zeichenstil und eine oft ironische Ausdrucksweise erkennbar. Mizukis niedergeschriebene Gedanken bei der Erschaffung des Mangas werden immer von einem bestimmten Charakter, Nezumi Otoko, wiedergegeben. Dieser übernimmt die Rolle eines Kommentators. Ohne jedoch weiter abzuschweifen, soll nun auf spezifische Beispiele eingegangen werden, welche der ehemalige Soldat des Zweiten Weltkriegs Mizuki in seinem Werk festhielt. Dieser Abschnitt thematisiert die Beeinflussung und Manipulation der Massen. Die gedankliche Programmierung prägte und definierte weitläufig die Sichtweise und das Geschichtsverständnis der Menschen. Sehr eingängig sind Mizukis Erwähnungen von seiner Kindheitserinnerungen an das Shonen-Club-Magazin. Dies ist ein Magazin, dessen Inhalt hauptsächlich für männliche Jugendliche bestimmt war und diese somit gezielt adressierte. Das Magazin enthielt vor allem Manga, Romane und andere Zusätze wie Fotos. Mizuki erzählt, dass dieses populäre Magazin die Kriegsbegeisterung der jungen Männer förderte und unterstützte. So wurden z.B. in einer Ausgabe Portraits in Übergröße von General Nogi und Admiral Tōgō beigelegt.299 Kinder und die Bevölkerung mögen Kriegshelden und lassen sich gerne von solchen und ihrem Heldentum mitreißen.300 So kam es, dass das Shonen- Club-Magazin auch das Kriegsgeschehen an der Front auf idealisierte Weise, oftmals jenseits der Realität, darstellte und dies unter seinem leicht zu beeinflussenden Zielpublikum verbreitete.301 Darüber hinaus wurden die Leser zusätzlich mit fiktiven Kriegsgeschichten oder Kriegshelden konfrontiert, so zum Beispiel mit Geschichten des Hundesoldaten Norakuro.302 Diese Indoktrinierung fand jedoch nicht nur über Zeitschriften statt. In der Schule sorgten Bildungsoffiziere für die Verbreitung dieses Heldenkults und förderten die Opferbereitschaft der Jugend für ihre Heimat.303 Zudem mussten die Studenten sich ständigen militärischen Drills unterziehen. 304 Es liegt jedoch auf der Hand, dass nicht nur die Jugendlichen dieser „Programmierung“ unterlagen. Ein erster Schritt in Richtung totalitärer Staat war die Einführung politischer Verfolgung und der Zensur durch das Gesetz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit von 1925. 305 Mizuki beschreibt, dass die

299 Shigeru Mizuki, Showa: A history of Japan 1926–1939, USA-Canada-GB 2013, S. 168. 300 Ebd., S. 244. 301 Ebd., S. 294. 302 Ebd., S. 347 f. 303 Shigeru Mizuki, Showa: A history of Japan 1939–1944, USA-Canada-GB 2013, S. 209. 304 Ebd., S. 165 f. 305 Mizuki, Showa: 1926–1939, S. 91–94.

79 japanischen Zeitungen unbegründete Fakten veröffentlichten. 306 Zudem wird an diversen Stellen gesagt, dass die Kriegsberichte in den Zeitungen selten die realen Tatsachen wiedergaben. Siege wurden zusätzlich ausgeschmückt und Niederlagen wurden verschwiegen oder deutlich verharmlost. Mizuki behauptet z.B., dass die japanische Bevölkerung erst nach Kriegsende über den wahren Verlauf der Midway Schlacht informiert worden sei. 307 Die Zeitungen und das Radio verbreiteten regelmäßig Kriegspropaganda über diverse Helden des Krieges.308 Ein weiteres Beispiel hierfür wäre die „Legend of the human Bullets“, die in den Kämpfen um Shanghai 1932 entstand. Zwei Teams, bestehend aus jeweils drei Soldaten, sollten mit einer Rohrbombe309 die gegnerischen Barrikaden unschädlich machen. Jedoch war das Rohr eines Teams kürzer als vorgesehen und die drei Soldaten 310 verloren bei dem Angriff ihr Leben. Laut Mizuki war dieser Angriff nicht als Selbstmordmission vorgesehen. Beide Teams sollten den Angriff unversehrt überleben. Der „noble“ Tod dieser Soldaten wurde im Anschluss für Propagandazwecke ausgenutzt. Ihre Geschichte wurde in den Zeitungen sowie dem Radio glorifiziert, ein Denkmal wurde ihnen zu Ehren errichtet und ihr Mut wurde von den Japanern besungen.311 Im Anschluss werden Mizukis Darstellung und Umgang mit den japanischen Kriegsverbrechen thematisiert. Es soll analysiert werden, ob Mizuki die begangenen Verbrechen als Teil der japanischen Geschichte festhielt oder ob er diese bewusst wegließ oder verharmloste. Darüber hinaus soll beobachtet werden, wem Mizuki die Schuld oder die Verantwortung für diese Taten zuwies. Zu diesen Vergehen gehören Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit.312 Mizuki illustriert, wie Japan mehrmals versuchte, sich die Mandschurei einzuverleiben. Hier wäre beispielsweise der Huanggutun-Vorfall von 1928 zu erwähnen, bei dem die Kwantung-Armee versuchte, mit einer in einem Zug platzierten Bombe den Warlord Zhang Zuolin zu töten. Nach Zhang Zuolins Tod hätte Japan einen loyalen Vertreter an seine Stelle gesetzt. Der Anschlag sollte auf Saboteure der Nanjing-Regierung abgewälzt werden. Der Coup schlug jedoch fehl. Hier versucht Mizuki

306 Mizuki, Showa: 1926–1939, S. 291 f. 307 Mizuki, Showa: 1939–1944, S. 326. 308 Mizuki, Showa: 1926–1939, S. 209. 309 Ein mit Sprengstoff gefülltes Bambusrohr. 310 Kitagawa Susumu, Eshita Takeji und Sakue Inosuke. 311 Ebd., S. 325–332. 312 United Nations, Affirmation of the Principles of International Law recognized by the Charter of the Nürnberg Tribunal. General Assembly resolution 95 (I). New York, 11 December 1946, 2018, [http://legal.un.org/avl/ha/ga_95-I/ga_95-I.html], eingesehen 12.11.2018.

80 keineswegs das Handeln der Kwantung-Armee zu rechtfertigen, sondern weist Japan ganz im Gegenteil jegliche Verantwortung für dieses Ereignis zu.313 Das Gleiche gilt für den bereits in der Einführung erwähnten Mukden-Vorfall von 1931. Wieder platzierte die Kwantung-Armee eine Bombe in einem Zug, dieses Mal jedoch in einem Zug der eigenen Eisenbahngesellschaft, der Südmandschurischen Eisenbahn. Die Kwantung-Armee beschuldigte die Chinesen und hatte somit einen Vorwand, um anzugreifen und die Mandschurei zu besetzen.314 Um die Augen der internationalen Gemeinschaft von der Mandschurei abzuwenden, heuerte die japanische Armee im Januar 1932, laut Mizuki, Unruhestifter in Shanghai an, die sich gezielt an japanischen Staatsbürgern vergreifen sollten. Dies lieferte der Armee erneut einen Grund für die Invasion.315 Es gibt allerdings noch andere starke, an Japan gerichtete Vorwürfe, so zum Beispiel jener, dass Japan nach langen Kämpfen in China und Ostasien auch noch die USA und Großbritannien in einen umfassenden Weltkrieg hineinzog.316 Wie zu erwarten war, verheimlicht Mizuki auch nicht das Massaker von Nanjing. Er schreibt: „Triumph is swiftly followed by tragedy. The Japanese Soldiers are drunk on their own success. They round up tens of thousands of surrendering Chinese troops and mercilessly slaughter them. History remembers these atrocities as ‘The Nanjing Massacre’. While accurate figures may never be known, victims number in the hundreds of thousands.”317 Man erkennt also, dass Mizuki das Thema Nanjing direkt und ohne blumige Worte anspricht und es nicht nur als japanischen Sieg, sondern auch als Gräueltat beschreibt (und zeichnet). Auffallend ist jedoch, dass es Mizuki, aus welchem Grund auch immer, versäumt, die explizit an den Zivilisten ausgeübten Verbrechen zu erwähnen 318 . Er spricht nur die getöteten Soldaten direkt an. Wenn man jedoch seine Angaben über die jeweiligen Truppenstärken mit einbezieht und mit den Opferzahlen vergleicht, kann man zu dem Schluss kommen, dass nicht nur Soldaten zu den Opfern gezählt haben. Aufgrund Mizukis allgemein kritischer Haltung gegenüber der Politik und den Taten der damaligen Militärregierung ist die fehlende Erwähnung der Zivilisten wohl eher als Versäumnis und nicht als bewusste Weglassung zu sehen. 319 Diese Annahme wird zudem durch die Erwähnung der „Säuberung der

313 Mizuki, Showa: 1926–1939, S. 100–104. 314 Ebd., S. 247–252. 315 Ebd., S. 320–323. 316 Mizuki, Showa: 1939–1944, S. 82. 317 Mizuki, Showa: 1926–1939, S. 484 f. 318 Diese Feststellung betrifft zumindest die englische Übersetzung. 319 Ebd., S. 383 ff.

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Bevölkerung“ 320 in Singapur bekräftigt. Nachdem die japanische Armee in Singapur einmarschiert war, wurde dort jeder, den man mit einer anti-japanischen Haltung in Verbindung brachte, „beseitigt“. So wurden über 5.000 Menschen getötet. In diesem Fall ist zweifellos die Rede von Zivilisten. 321 Gleich darauf bemerkt Mizuki: „The Nanking Massacre. The Sook Ching Massacre. There seem to be a lot of massacres in this war.“322 Trotz dieser Einsicht werden die Taten oder gar die Existenz des Ishii-Netzwerks mit keinem Wort in diesem doch relativ umfassenden Werk erwähnt. Äußerst interessant sind außerdem Mizukis Gedanken zum Todesmarsch von Bataan323. Während der Historiker und Japanspezialist Frank Jacob den Todesmarsch zu den übelsten Kriegsverbrechen Japans zählt, erkennt man in diesem Fall eine weitaus zurückhaltendere und defensivere Haltung Mizukis. Er zweifelt nicht das Leiden der Kriegsgefangenen oder gar die Existenz des Todesmarsches an, versucht jedoch die Umstände etwas zu relativieren und das Verbrechen aus einer japanischen Perspektive zu verstehen. Er behauptet zum einen, dass die japanische Armee durch die Kapitulation der Gegner überrascht wurde und nicht auf die enorme Anzahl an Gefangenen vorbereitet war. Des Weiteren kommt er auf die extreme Unterernährung und die Erkrankung an Malaria zu sprechen. Mizuki behauptet hier, dass die japanische Armee nicht einmal genug Vorräte gehabt habe um die eigenen Soldaten zu versorgen, weshalb es kaum möglich gewesen sei zusätzliche 75.000 Kriegsgefangene zu versorgen. Tatsächlich sind Hunger und Malaria Themen, auf die er in den vier Bänden immer wieder zu sprechen kommt. Mehrmals versucht er den Lesern zu vermitteln, wie schlecht die Versorgung der japanischen Truppen tatsächlich war und wie sehr jeder unter den Bedingungen gelitten hatte und dass weder Amerikaner noch Japaner von diesem Übel unversehrt blieben.

320 Dieser Vorfall ereignete sich vom 21. Februar bis zum 5. März 1942. Er wird auch Sook Ching genannt, was übersetzt „purge through cleansing“ bedeutet. Die hier angegebene Opferzahl von 5.000 basiert auf japanischen Aufzeichnungen. Schätzungen aus Singapur geben weitaus höhere Opferzahlen an, zwischen 50.000 und 70.000. Sally Ma, Deaths in Syonan: The Sook Ching Massacre, Pacific Atrocities Education, 11.7.2017, [http://www.pacificatrocities.org/blog/deaths-in-syonan-the-sook-ching-massacre], eingesehen 12.11.2018. Vgl. History SG, Operation Sook Ching is carried out. 18th Feb 1942, o. D., [http://eresources.nlb.gov.sg/history/events/d0523464-3a43-4520-a864-f195a8aef418], eingesehen 12.11.2018. 321 Mizuki, Showa: 1939–1944, S. 164 f. 322 Ebd., S. 165. 323 Nachdem sich eine Armee von 75.000 Mann (bestehend aus US-Amerikanern und Philippinos) den Japanern im April 1942 auf der Halbinsel Bataan ergeben hatte, wurden die Kriegsgefangenen gezwungen, einen Marsch von ca. 100 Kilometern durch die Hitze anzutreten, bis sie dann schließlich in einem Kriegsgefangenenlager untergebracht wurden. Allein beim Todesmarsch starben etwa 650 amerikanische Soldaten. In den Gefangenenlagern stieg die Zahl der Opfer noch einmal drastisch an. Jacob, Japanese War crimes, S. 94.

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Darüber hinaus spricht Mizuki die Verurteilung von Generalleutnant Honma als Klasse-A- Kriegsverbrecher beim IMTFE an. Hier nimmt er diesen deutlich in Schutz: „If you ever go to the Philippines, you´ll see for yourself how hot it is. To say that´s Honma´s fault strikes me as strange”324. Mizuki spricht jedoch lediglich Honmas Schuld bezüglich der Hitze an und nicht seine Verantwortung für die ausreichende Versorgung aller Soldaten sowie des Stattfindens des tödlichen Marsches. Auch wenn die Umstände alles andere als ideal gewesen sein dürften, ist Mizukis hier wahrscheinlich zu versöhnliche Haltung gegenüber der militärischen Führung zu kritisieren. Er spielt das „Wegsterben“ der Gefangenen herunter, weil er sich sicherlich auf seine eigene Fronterfahrung bezieht und seine selbst durchlebte Vergangenheit mit der Situation der Kriegsgefangenen vergleicht.325 Auch die Tokioter Prozesse finden Einzug in Mizukis Werk, alle anderen Kriegsverbrecherprozesse jedoch nicht. Diese kurze Passage wird von der Kommentator- Figur vorgestellt und beinhaltet somit Mizukis persönliche Meinung. Man kann herauslesen, dass er nicht vollends zufrieden mit dem Ablauf der Prozesse war; es klingen, ob berechtigt oder nicht, Vorwürfe an die Siegerjustiz an: „Class-A war criminals are Top-level offenders, charged with the oblique term ’crimes against peace‘. The winning country gets to determine what is and isn´t a war crime. For the most part, only the leaders are held responsible…”326 Er erwähnt zudem, dass der Kaiser unangetastet blieb und nicht vor Gericht zitiert wurde. Außerdem wird auch hier der indische Richter Radhabinod Pal als Verteidiger der Japaner und als Kritiker der Legitimität des IMTFE genannt.327 Der folgende Teil enthält weitere Aussagen und Kritiken Mizukis. Diese sind zwar nicht unbedingt direkt in Verbindung mit den Kriegsverbrechen zu bringen, aber dennoch wichtige (meinungsbildende) Zeugnisse, die nicht leichtfertig übergangen werden dürfen. Er beschreibt in seinem ersten Band, dass die Kwantung Armee, aber im Grunde das gesamte Militär, langsam immer eigenständiger arbeitete und die Regierung die Kontrolle über dieses allmählich verlor. So soll die Kwantung Armee 1931 ohne ausdrückliche Erlaubnis der Regierung in der Mandschurei einmarschiert sein. Die Gründung des Marionettenstaats Mandschukuo sei naturgemäß ein Akt der Aggression gewesen und ein großer Schritt bei der Gründung des modernen Japans. Das ehemals isolationistische Japan rang seit seiner forcierten Öffnung mit den westlichen Mächten. Japan präsentierte sich gerne als höchste asiatische „Rasse“ und zugleich als wohlwollender Beschützer der asiatischen Völker.

324 Mizuki, Showa: 1939–1944, S. 187. 325 Ebd., S. 186 f. 326 Shigeru Mizuki, Showa: A history of Japan 1944–1953, USA-Canada-GB 2014, S. 367. 327 Ebd., S. 367.

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Mizuki bezeichnet dieses scheinbar noble Selbstbild geradlinig als reinen Despotismus.328 Hinter diesen Vorwänden verbarg sich tatsächlich nur Japans Wunsch einer totalen Dominanz.329 Er beschreibt die politischen Unruhen der ersten Hälfte des 19. Jh. als eine Zeit, die unter anderem durch eine Reihe an Selbstmorden, versuchten Staatsstreichen und politischen Morden in Erinnerung blieb. Er gelangt zu folgendem Schluss: „But the incident330 reflected Japan´s mental state: fanatical and impulsive.” 331 Eine Person, die für ihren Fanatismus bekannt war, war Hideki Tōjō, Führer der Einheitspartei Taisei Yokusankai (dt. Kaiserliche Unterstützungspartei) und eine Zeit lang zugleich Premier- und Kriegsminister (1941–1944) Japans. Mizuki verwendet die ganze letzte Seite des ersten Bandes für Tōjō. Er verliert folgende Worte über jenen Mann, der in vielen Quellen als Hauptverantwortlicher für Japans politische Entscheidungen und den Verlauf des Krieges gesehen wird332: „Tojo is a man who never smiles, and because of this, he takes away the smiles of the Japanese people. He loves slogans like ‘a man who doesn´t want is a man who wins’ and ‘luxury is the enemy’. His time in command is a siege on the Japanese nation. We would soon learn what it meant to truly suffer.”333 Dies sind harte Worte für das so obrigkeitshörige und folgsame japanische Volk. Es ist eine klare Schuldzuschreibung für das Leiden der Nation erkennbar. Wäre solch eine Aussage in der damaligen Zeit getätigt worden, hätte dies zu einer Verhaftung führen können. Gleich auf den ersten Seiten des dritten Bandes kritisiert Mizuki Methoden und Entscheidungen der Politiker und militärischen Führung: „According to propaganda, Japan is fighting to liberate Asian colonies from the western powers, including Burma and India from Britain. But propaganda and reality rarely have anything in common. Especially when the military is involved. In pursuit

328 Mizuki, Showa: 1926–1939, S. 253–258. 329 Mizuki, Showa: 1939–1944, S. 18. 330 Gemeint ist hier der Mord des Premierministers Tsuyoshi Inukai am 15.5.1932 durch eine Gruppe junger Marineoffiziere. 331 Mizuki, Showa: 1926–1939, S. 386. 332 Vgl. Richard Cavendish, Tojo Hideki Executed. The head of Japan's Second World War government was executed on Dec 23rd, 1948, in: History Today (December 2008), Bd. 58 Nr. 12, [https://www.historytoday.com/richard-cavendish/tojo-hideki-executed], eingesehen 13.11.2018. Vgl. Spiegel.TV, Tojo Hideki - Japans Minister des Schreckens, o. D. [http://www.spiegel.tv/videos/175051- tojo-hideki-japans-minister-des-schreckens], eingesehen 13.11.2018. Dokumentation auch verfügbar unter: ZeitgeschichteDE, YouTube, Tojo Hideki Doku – Japans Minister des Schreckens (Dokumentation/Deutsch), 21.5.2018, [https://www.youtube.com/watch?v=WG0i8Thiv9Q&t =994s], eingesehen 13.11.2018. 333 Mizuki, Showa: 1926–1939, S. 514.

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of personal honor, Japan´s commanders neglect supply lines and wantonly waste soldiers´ and civilians´ lives.”334

In diesem Band gibt es längere Passagen, in denen Mizuki seinen Frust über die militärische Führung auslässt, unter deren Entscheidungen er selbst litt. In praktisch allen (westlichen) Quellen und in der Literatur liest man nur von der enormen Brutalität der Japaner gegenüber ihren Gegnern. Mizuki hingegen berichtet auch von der Brutalität der Japaner gegenüber den eigenen Landsleuten und Kriegskameraden. Er erzählt, wie er nahezu jeden Tag von höherrangigen Soldaten schikaniert und verprügelt wurde. Die Führungskräfte unterstützten dieses Verhalten. Er zeigt zudem einige sehr bedenkliche Einsichten auf. Auf Geheiß ihres Befehlshabers beteiligte sich Mizukis Gruppe nicht an einem Banzai-Angriff 335 . Diese Entscheidung wurde jedoch von anderen Befehlshabern angezweifelt und rückte Mizukis Gruppe in ein schlechtes Licht. Diese schienen nicht erfreut über das Überleben ihrer eigenen Soldaten zu sein, denn ihrer Ansicht nach hätten sie in dem Banzai-Angriff mit ihren Kameraden einen ehrenvollen Tod finden sollen. Dies bedeutet, dass Soldaten sich an einem Punkt des Krieges tatsächlich für ihr Überleben rechtfertigen mussten bzw. schämen sollten. Aus dem Text geht hervor, dass immer noch kampfwillige Soldaten sich fragten, warum die eigene Heeresführung ihren Tod wollte, statt sie klug und zweckdienlich einzusetzen.

„I still don´t see why our own army wants to kill us.”336

„Alive, we´re just a burden. Get us killed and we´re the ‘noble dead.’”337

„Is that really the best plan the general staff has? Killing all its soldiers? Not a winning strategy?338

Eine letzte Aussage betrifft den Wert der eigenen Soldaten in den Augen der Heeresführung. Diese soll zeigen, wie radikal und erbarmungslos diese empfunden wurde und wie wertgeschätzt sich die Soldaten gefühlt haben müssen:

„Human life is the least valuable resource in the Japanese army. Any suggestion that soldiers´ lives has meaning is tantamount to cowardice and treason. Soldiers are tools

334 Mizuki, Showa: 1939–1944, S. 17. 335 Der Banzai-Angriff (Gyokusai) ist das Pendant der Infanterie zu dem Kamikaze-Angriff der Piloten, also faktisch eine Selbstmordmission bei der die Soldaten auf die Gegner zustürmten und versuchten, so viele wie möglich in den Tod mitzureißen. 336 Mizuki, Showa: 1939–1944, S. 236. 337 Ebd., S. 242. 338 Ebd., S. 239.

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to be used. And the command´s greatest fear is that soldiers will flee from the enemy – or worse, surrender. They need them more afraid of dishonour than death.”339

Gegen Ende des vierten und letzten Bandes fragt Mizuki sich, wozu das Ganze überhaupt gut war. Warum sollten tausende Individuen bereitwillig und voller Stolz ihr Leben für ein Land opfern, das sich im nicht im Geringsten für sie interessiert?340 Neben Mizukis Darstellung von Japan als Aggressor gibt es jedoch auch jene von Japan in einer Position der Schwäche. Mizuki ging jedoch nicht so weit, dass er Japan demonstrativ als Opfer darstellte. Er beschreibt es vielmehr als Verlierer des Krieges, der sich nun an die neue, zum Teil absurde Situation anzupassen hatte. Er berichtet kurz von dem Brandbombenangriffen des 10. März 1945 auf Tokyo, jedoch ohne jegliche sprachliche Wertung. Die Zeichnungen zeigen hier auch lediglich die über die Stadt fliegenden B-29- Bomber und den Rauch der brennenden Stadt (welche nicht zu sehen ist). Das hier zugefügte Leid wird also nicht gezeigt. Hier reiht sich Mizuki also nicht in die Ränge der so geläufigen Darstellung von Japan als Kriegsopfer ein. 341 Auch der Abwurf der beiden Atombomben wird relativ kurz gehalten. Dem Atompilz über Hiroshima wird ein ganzes einseitiges Panel gewidmet, den Opfern des Abwurfs ein weiteres halbseitiges Panel.342 Die Nagasaki-Bombe (gen. Fat Man) hingegen wird nicht mehr bildlich dargestellt, sondern lediglich im Gespräch der Charaktere erwähnt. 343 So wird auch der Abwurf der beiden Atombomben nicht übermäßig dramatisiert. Der letzte Teil dieses Kapitels beschäftigt sich mit McArthur und dem GHQ. Im dritten Band befindet sich eine Nachzeichnung des berühmten Fotos von Kaiser Hirohito und McArthurs erstem offiziellem Treffen (27.9.1945). Beide Männer stehen aufrecht nebeneinander. Viele Japaner waren jedoch sehr empört über die Veröffentlichung dieses Fotos. Es zeigt nämlich einerseits den deutlichen Größenunterschied beider Männer und andererseits McArthurs, aus den Augen der Japaner, respektlose Körperhaltung gegenüber dem bisher als gottgleich verehrten Kaiser. Der Amerikaner versetzt den Japaner in eine unterlegene Position, was auch die realen politischen Verhältnisse widerspiegelt. 344 Des Weiteren schreibt Mizuki wie das GHQ die Rede- und Meinungsfreiheit wiederherstellte. Mizuki beschreibt, dass diese Freiheit jedoch nur bedingt war. Relikte des alten militärischen Regimes wurden verbannt. Dazu zählten laut Mizuki beispielsweise auch das historische

339 Mizuki, Showa: 1939–1944, S. 248. 340 Mizuki, Shigeru, Showa: A history of Japan 1953–1989, USA-Canada-GB 2015, S. 524. 341 Ebd., S. 220 f. 342 Ebd., S. 326 f. 343 Ebd., S. 331–334. 344 Mizuki, Showa: 1944–1953, S. 362 f.

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Drama der 47 Rōnin und das Betreiben von Judo und Kendo an den Schulen. Zudem musste der Kaiser öffentlich auf seinen Status als Gottheit verzichten (welcher seit Jahrhunderten Bestandteil der japanischen Kultur war). Anschließend machte Hirohito eine Tour durch Japan, wodurch der Großteil der Bevölkerung erstmals die Gelegenheit hatte, seinen Kaiser zu sehen.345 Im Anschluss kommentiert Mizuki noch die Absurdität einiger Verordnungen des GHQ, so zum Beispiel die neuen Schulprogramme. Unter McArthur fand die Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg Einzug in Japan. Um eine Rückkehr des Militarismus zu verhindern, wurden jedoch unerwünschte politische Anwärter von den Wahlen ausgeschlossen. In den Schulen wurde das Lehren von Patriotismus und Loyalität mit Vorsicht betrieben und Anspielungen dieser Art geschwärzt. Geographie, nationale Geschichte und Ethikunterricht wurden teilweise ganz gestrichen.346 In diesem Kontext merkt Mizuki auf ironische Weise an: „Their [the kids´] first lessons in democracy and freedom of speech are from blacked-out textbooks.“347

Kuni ga moeru Nun soll ein Werk des in der Manga-Branche äußerst bekannten und erfolgreichen Autors Hiroshi Motomiya vorgestellt werden. Der neunbändige Manga trägt den Titel Kuni ga moeru (jap. 国が燃える; dt. Das Land brennt). Er wurde erstmal im November 2002 in Japan, vom Verlag Shueisha Inc. in dem populären Weekly-Young-Jump-Magazin veröffentlicht und knapp zwei Jahre später, am 28. Oktober 2004, wieder eingestellt.348 Bei den Recherchen zum Manga stellte sich heraus, dass es einerseits keine Übersetzung des Mangas zu geben scheint, und andererseits, dass der Originaltitel fast ausschließlich über japanische Zweithändler erhältlich ist und die Anschaffung dieser Reihe darum mit großen Kosten verbunden wäre. Im Internet gibt es jedoch diverse Auseinandersetzungen mit dem Thema. Zudem widmeten sich auch einige Wissenschaftlicher dem Manga Kuni ga moeru. Darum stützt sich dieses Kapitel auf die Publikationen der Forscher Roman Rosenbaum und Philip J. Cunningham. Inhaltlich behandelt der Manga ein Liebesdreieck, bestehend aus drei fiktiven Personen, die zudem Mitglieder traditioneller wohlhabender japanischer Familien (Klans) sind. Darüber hinaus porträtiert der Manga jedoch reale historische Kulissen, nämlich die

345 Mizuki, Showa: 1944–1953, S. 365 f. 346 Ebd., S. 386 f. 347 Ebd., S. 387. 348 Sharalyn Orbaugh, Japanese Fiction of the Allied Occupation. Vision, Embodiment, Identity, Leiden-Boston 2007, S. 6.

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Shōwa-Periode, oder genauer die Kolonisierung der Mandschurei und das Massaker von Nanjing von 1931. Zudem werden einige historische Figuren erwähnt, die mit den damaligen Ereignissen in Verbindung zu bringen sind, so zum Beispiel, der chinesische Anführer Chiang Kai-shek, sowie der Generalleutnant Ishiwara Kanji und General und Heeresminister Itagaki Seishiro.349 Doch nun mehr zu den politischen Umständen des Mangas. Wie bereits in Kapitel 5 angesprochen wurde, besteht weiterhin die Kontroverse um das Nanjing-Massaker. Zumeist rechte Revisionisten Japans zweifeln immer noch die Existenz des Massakers an oder verleugnen es konsequent. Der Manga Kuni ga moeru genoss eine große Popularität, das Blatt wendete sich jedoch mit Ausgabe 43 vom 22. September 2004. In dieser Ausgabe wurden einige von der Kaiserlichen Armee an der chinesischen Zivilbevölkerung ausgeübte Grausamkeiten nachgezeichnet. Es wurden unter anderem die bereits erwähnten Tötungswettbewerbe (hyakuninkiri kyōsō), mit Leichen gefüllte Massengräber 350 und ein Erinnerungsfoto einer Vergewaltigung dargestellt. Es war jedoch nicht die Abbildung dieser immensen Gewalt oder der Vergewaltigung an sich, die für große Aufregung sorgte. Tatsächlich gehören Gewalt und Sex in der Manga-Branche zum Alltag. Jedoch lag es laut Rosenbaum daran, dass dieses kontroverse und immer noch sensible Thema graphisch in diesem Massenmedium dargestellt wurde, und das in einer nie zuvor dagewesenen Weise.351 Das eben erwähnte Foto 352 ist eine Nachzeichnung aus Iris Changs The Rape of Nanking, welches ihr von einer Familie Fitch zur Verfügung gestellt wurde. Das Foto mit der Beschreibung „Japanische Soldaten zwangen ihre Opfer manchmal, für pornographische Bilder zu posieren, die sie dann als Andenken an die Vergewaltigung aufbewahrten“353 von Chang wurde bereits häufig Ziel der Kritik und von japanischen Professoren354 als Fake bezeichnet. Professor Hata Ikuhiko führte dieses und einige andere von Changs verwendete Fotos auf eine Fotosammlung aus Taiwan zurück. Das Foto wurde wahrscheinlich bei einer

349 Rosenbaum, Motomiya Hiroshi's The Country Is Burning, S. 592 f. 350 Philip J. Cunningham, Jumping to the Right, in: Japan Focus: The Asia-Pacific Journal 3 (2005), Nr. 2, S. 1. 351 Rosenbaum, Motomiya Hiroshi, S. 593 f. 352 Chang, Die Vergewaltigung von Nanking, Fotoanhang zwischen S. 150 und 151. 353 Ebd, Fotoanhang zwischen S. 150 und 151. 354 Hata Ikuhiko denunzierte das Foto in seinem Artikel Nankin daigyakusatsu ‘Reipu kōka’ o sokutei suru (Mesuring the “Rape Effect” of the Great Nanking Massacre), auch unter dem Titel Iris Chang´s ‘The Rape of Nanking’ Is the Height of Grotesquerie Full of Countless Fake Photos bekannt. Auch Fujioka Nobukatsu zweifelt in seiner Arbeit ‘Za Reipu obu Nankin’ no Kenkyu; chūkoku ni okeru jōhōsen no teguchi to senryaku (Study of ‘The Rape of Nanking’: Method and Strategy in the Chinese War on Information). Rosenbaum, Motomiya Hiroshi, S. 595.

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Inspektion in einem taiwanesischen Bordell 355 gemacht (Taiwan war von Japan besetzt). Solche Fehler werden von japanischen Nationalisten ausgenutzt, um das Massaker zu leugnen und es als eine Erfindung von Japankritikern zu titulieren.356 Der Mangaka Hiroshi Motomiya benutzte das Foto jedoch auch als Vorlage für die Abscheulichkeiten in Nanjing und fügte seiner Zeichnung zusätzliche Details hinzu, nämlich die Epauletten357 an der Uniform eines Soldaten sowie seine Kappe, wodurch der Soldat eindeutig als Japaner dargestellt wurde (was zuvor nicht ganz eindeutig aus dem Foto hervorging).358 Nach der Veröffentlichung von Ausgabe 43 von Kuni ga moeru gingen 37 Gruppen- und über 200 Einzelbeschwerden bei dem Verleger Shueisha ein. Daraufhin wurde der Manga vorerst aus dem Programm des Weekly-Young-Jump-Magazins gestrichen.359 Darüber hinaus verkündete Shueisha, dass der Titel aus ihrer Anthologie entfernt werden würde und dass insgesamt 21 „unangebrachte“360 Seiten bei der Veröffentlichung als Paperback zum Teil editiert oder gar komplett entfernt werden würden.361 Hier ist also klar die Rede von Selbstzensur. Shueisha sah sich gezwungen, dem Druck derjenigen, die Beschwerde einlegten, nachzugeben. Die Beschwerden umfassten folgende Punkte: Erstens sei das Nanking Massaker immer noch ein Streitpunkt in der Forschung und darum sei weitere Forschungsarbeit von Nöten, um Gewissheit zu schaffen. Zweitens sei der Ursprung der im Manga genutzten Fotos zum Teil unklar oder diese seien nicht im Zuge des Massakers von Nanjing entstanden. All dies führe zu einer Verfälschung der Geschichte. Drittens werde durch diesen Missbrauch von Fotographien die leicht zu beeinflussende Jugend geschädigt. Viertens würden, aufgrund der mangelhaften Recherche, Familien und Individuen, die in den

355 Das in Iris Changs Buch verwendete Foto ist allem Anschein nach auch zugeschnitten worden. Laut Hata Ikuhiko war es im Besitz eines amerikanischen Captain Fitch, der in Nanjing zuständig war, und Teil eines Fotoalbums, das hauptsächlich Fotos zum Massaker von Nanjing umfasste. Angeblich hat Ikuhiko das gleiche Bild in einer ungeschnittenen und weniger wässrigen Fassung aus einer Fotosammlung aus Taiwan gefunden. Dort sind der Arm, ein Teil des Gesichtes eines Mannes in traditionell chinesischer Kleidung und der Hintergrund zu erkennen, welcher ein Bordell sein könnte. 郁彦 秦 (Hata Ikuhiko), 「南 京虐殺 」 "証拠 写真 "を 鑑定 する, in: 文 藝春秋 「諸 君! (1998), [http://www.history.gr.jp/nanking/chang01.html], eingesehen 8.1.2019. 356 Cunningham, Jumping to the Right, S. 2. 357 Epauletten sind Schulterstücke, anhand derer man den Dienstgrad von Militärangehörigen erkennen kann. 358 Rosenbaum, Motomiya Hiroshi, S. 595. 359 George Phillips, Politically-charged Manga Suspended in Japan, 14.10.2004, [https://www.anime newsnetwork.com/news/2004-10-14/politically-charged-manga-suspended-in-japan], eingesehen 8.1.2019. 360 National 'Manga' account of Nanjing Massacre axed amid protests, in: The Japan Times, 24.11.2004, [https://www.japantimes.co.jp/news/2004/11/12/national/manga-account-of-nanjing-massacre-axed-amid- protests/#.XDhY_80o8uV], eingesehen 11.1.2019. 361 Christopher Macdonald, Shueisha to Censor The Country Burns, 13.11.2004, [https://www. animenewsnetwork.com/news/2004-11-13/shueisha-to-censor-the-country-burns], eingesehen 8.1.2019.

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Krieg verwickelt gewesen seien, aber auch der japanische Stolz, verletzt. Trotz der Kennzeichnung des Mangas als Fiktion sei dies nicht zu entschuldigen.362 Shueisha hatte Präventivmaßnahmen getroffen, um genau solche Kritiken zu entkräften. Bei der Veröffentlichung von Ausgabe 43 wurde diese mit folgender Aussage versehen: „This is a work of fiction and there is no relationship to actual events, groups and persona.“363 Beeinflusst durch die Kritiker verkündete Shueisha jedoch: „The lack of prudence in selecting and verifying the materials for the comic has caused misunderstanding among readers.”364

An anderer Stelle wurde das Foto als Fälschung angeprangert:

„It has come to our attention that the photograph used is a falsification."365

Auch in der Japan Times wurde die Angelegenheit mit den Worten kommentiert:

„Some people say the photo used for reference in the drawing cannot be authenticated. It was inappropriate to use such material.”366

Es gilt also festzuhalten, dass ein Manga die Aufmerksamkeit von (Ultra- )Nationalisten erregte und durch den Gebrauch von falschen Informationen dem historischen Revisionismus zum Opfer fiel. Dies bedeutet demnach auch, dass die Nationalisten Manga als Medium als einflussreich und meinungsbildend genug erachten, um ihre Position der Verleugnung der Existenz des Massakers zu schwächen und zu beeinflussen. Es ist jedoch nicht ganz schlüssig, warum Shueisha sich so schnell den Forderungen der rechten Kritiker beugte. Tatsächlich entsprachen die 200 Einzelkritiken nur in etwa einem von zehntausend Lesern367. Im Grunde wirft dieses Kapitel mehr Fragen auf als, es zu beantworten vermag. Ist Shueishas schnelles Handeln ein Akt der Selbsterhaltung, zur Vermeidung eines Skandals auf nationaler und internationaler Ebene oder das Eingestehen eines Fehlers? Auch die Hintergründe des Mangakas sind nicht ganz klar. Wusste Motomiya nicht, welchen Stein er durch das Ansprechen eines noch immer so heiklen Themas ins Rollen brachte? Oder war

362 George Phillips, Update: The Nanking Atrocities and Kuni ga Moeru, 17.10.2004, [https://www.animenewsnetwork.com/news/2004-10-17/update-the-nanking-atrocities-and-kuni-ga-moeru], eingesehen 8.1.2019. Shuichi Inukashi, 本宮ひろし先輩、史実を曲げちゃダメ!(Hiroshi Motomiya, do not bend the historical facts!), in: いぬぶし秀一の激辛活動日誌 (Shuichi's hot spiritual activity diary), Eintrag vom 4.10.2004, [http://www.enpitu.ne.jp/usr9/bin/day?id=98044&pg=20041004], eingesehen 8.1.2019. 363 Rosenbaum, Motomiya Hiroshi, S. 597. 364 National 'Manga' account of Nanjing Massacre. 365 George Phillips, Update. 366 Politicians block comic over 'fake' Nanjing Massacre tale, in: The Japan Times, 14.10.2004, [https://www.japantimes.co.jp/news/2004/10/14/national/politicians-block-comic-over-fake-nanjing-massacre- tale/#.XDhZEM0o8uV], eingesehen 11.1.2019. 367 Cunningham, Jumping to the Right, S. 3.

90 gerade die Wiederauflegung dieses Themas in der Öffentlichkeit sein Ziel? Wusste er von den Kontroversen um Iris Changs Buch, das er offensichtlich als primäre Informationsquelle heranzog? 368 Allem Anschein nach versuchte Motomiya, irgendwelche Reaktionen zu provozieren. Kurz bevor Kuni ga moeru eingestellt wurde, legte er einem seiner Charaktere folgende Worte in den Mund: „What Japan´s army did in Nanjing cannot be covered up, no matter how hard you try.“ 369 Diese Aussage wirkt wie eine Herausforderung oder eine Kampfansage. Obwohl Shueisha letztendlich dem Druck der Revisionisten nachgab, schaffte Motomiya es dennoch, das Thema des Nanjing-Massakers mit seinem Manga wieder in die Öffentlichkeit zu tragen und mit seiner Reichweite Leser für das Thema zu sensibilisieren.

Kobayashi Yoshinori Bedauerlicherweise war es auch nicht möglich, Zugriff auf eine Übersetzung der Werke des Mangaka Kobayashi Yoshinori zu erhalten. Aber dennoch ist Kobayashi zu wichtig, um übergangen zu werden. Er ist das Paradebeispiel für den revisionistischen Mangaka. Er ist dafür bekannt, die japanischen Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs zu leugnen, so zum Beispiel das Massaker von Nanjing. In den 1990er- und frühen 2000er-Jahren unterstützte er tatkräftig Kampagnen der Atarashii Rekishi Kyōkasho wo Tsukurukai (Japanese Society for History Textbook Reform) und warb für einen patriotisch ausgerichteten Geschichtsunterricht. Kobayashi ist wohl der einflussreichste rechtsorientierte Protagonist in den Kriegsdebatten um die Jahrtausendwende.370 Darum bleibt er auch in keinem Artikel unerwähnt. Kobayashi musste die Grauen des Krieges selbst nicht am eigenen Leib erfahren (1953 geb.), wurde aber stark von seinem Großvater, der in Neuguinea diente, beeinflusst. Er idealisiert die Opfer, die sein Großvater und die anderen japanischen Soldaten für ihre Nation brachten. Man kann Kobayashi jedoch nicht als akademischen Autor bezeichnen. Er verwendet autobiographisches Material für seine Werke, formuliert eindeutig persönliche Meinungen, die nicht auf Fakten basieren, und hebt Zeugenaussagen, die seine Argumentation stützen, hervor und diskreditiert gleichzeitig jene, die ihm widersprechen.371 Aufgrund seiner sehr populären und mittlerweile über dreißigbändigen Manga-Serien Gōmamism und Neo-Gōmamism stand Kobayashi des Öfteren im Mittelpunkt von politisch-

368 Rosenbaum, Motomiya Hiroshi, S. 597 + 602. 369 Hiroshi Motomiya, 国が燃える(Kuni ga moeru), zit. n. Cunningham, Jumping to the Right, S. 4. 370 Philip Seaton, Historiography and Japanese War Nationalism: Testimony in Sensōron, Sensōron as Testimony 歴史編纂と日本の戦争国家主 義−−戦争論における証言、証言としての戦争論, Japan Focus: The Asia-Pacific Journal 8 (2010), Ausg. 32 Nr. 1, S. 1f. 371 Seaton, Historiography and Japanese War Nationalism, Nr. 1, S. 2 f.

91 historischen Diskussionen und internationaler Kritik. Das bekannteste seiner Werke trägt den Titel Shin gōmanizumu sengen special: Sensōron (Neo-Gōmamism Manifesto Special: On War; 1998). 372 Insgesamt hat er bereits mehrere Millionen Exemplare seiner Bücher verkauft. 373 In seinen Werken gab er beispielsweise seine Auffassung zu den „comfort women“, dem Yasukuni Schrein, der Korruption und dem moralischen Verfall der gegenwärtigen Gesellschaft aufgrund der Fehlinterpretation von Japans Heldentum während des Krieges preis.374 Kobayashis Mangas scheinen relativ textlastig375 zu sein und zeichnen sich durch seine sarkastisch-wütende Art aus.376 Er sticht jedoch noch aus weiteren Gründen hervor: So baut sein Werk besonders auf Zeugenaussagen auf, was in der Regel eher von den Nationalisten kritisiert und angefochten wird. Darüber hinaus glänzt Kobayashi mit seinen rhetorischen Fertigkeiten und schafft es immer wieder, Anhänger durch seine (scheinbar) überzeugende Argumentation für sich zu gewinnen. Er vermag es gekonnt, die feinen Linien zwischen persönlichen Aussagen und historischen Fakten zu verwischen.377 Die Tatsache, dass viele „comfort women“ sich erst nach mehreren Jahrzehnten der Welt öffneten und über ihr Leid redeten, kommentiert Kobayashi mit folgenden Worten: „There was no testimony then, but there is now. People are wrapped up by testimony tainted with today’s values of human rights, feminism and anti-war principles […] People who want to be good people don’t have the guts to distance themselves from testimony“378

Dieses Kapitel hat vier sehr unterschiedliche Manga bzw. Mangaka vorgestellt. Alle leisten auf ihre Art ihren Beitrag zur japanischen Erinnerungskultur. Tsubasa hat gezeigt, dass in kurzen, eher unbekannten Manga dennoch wichtige, reflektierte Kritik enthalten sein kann. Auch Showa: A History of Japan setzt sich kritisch mit der japanischen Vergangenheit auseinander. Dieser Manga erhielt sowohl eine nationale als auch eine internationale Auszeichnung, was wiederum ein Verweis auf seine enorme Reichweite und Qualität sein dürfte. Shigeru Mizuki beweist, dass dieses zu Unrecht oft nur mit Kindern in Verbindung

372 Shields, ‘Land of kami, land of the dead’, S. 189 f. 373 Philip Seaton, Historiography and Japanese War Nationalism: Testimony in Sensōron, Sensōron as Testimony 歴史編纂と日本の戦争国家主 義−−戦争論における証言、証言としての戦争論, Japan Focus: The Asia-Pacific Journal 8 (2010), Ausg. 32 Nr. 3, S. 1. 374 Peter C. Luebke/Rachel DiNitto, Maruo Suehiro´s Planet of the Jap. Revanchist fantasy or war critique?, in: Rosenbaum Roman (Hrsg.), Manga and the Representation of Japanese History, USA-Canada 2014, S. 81–11, hier S. 81. 375 Ebd. S. 82. 376 Shields, ‘Land of kami, land of the dead’, S. 190. 377 Seaton, Historiography and Japanese War Nationalism, Nr. 3, S. 4–13. 378 Yoshinori Kobayashi, Shin gōmanizumu sengen special: Sensōron (Neo-Gōmamism Manifesto Special: On War), Tokyo 1998, S. 182, zit. n. Seaton, Historiography and Japanese War Nationalism, Nr. 3, S. 6.

92 gebrachte Genre eine Unmenge an Recherchearbeit voraussetzen und wissenschaftliche Züge annehmen kann. Auch der Fall des Mangas Kuni ga moeru hat gezeigt, dass die Quellen in Manga ernst genommen und hinterfragt werden. Zudem hat Kuni ga moeru belegt, dass Manga Stoff für öffentliche Debatten liefen können. Die Zensur dieses Mangas und der enorme Erfolg von Kobayashi Yoshinori veranschaulichen abermals den weiterhin großen Einfluss der Revisionisten in Japan. Abschließend lässt sich festhalten, dass Manga großes Potential bergen und äußerst interessante Einblicke in die japanische popular culture und Erinnerungskultur ermöglichen.

6.4 Anime Obwohl es zweifellos noch eine Unmenge an Kriegs-Manga gegeben hätte, stellt dieses Kapitel einen anderen, aber bereits angekündigten Erinnerungsort vor: Anime379. Zu den bekanntesten Dramen des Zweiten Weltkriegs gehören zweifellos Grave of the Fireflies380 und Barefoot Gen381. Da diese Arbeit wichtige Zeugnisse der popular culture verwendet, um Einflüsse und politische Aussagen in Manga und Anime zu analysieren, gibt es wohl keine Anime, die sich besser eignen würden als Grave of the Fireflies und Barefoot Gen. Einerseits aufgrund ihres enormen Bekanntheitsgrads, wobei Barefoot Gen sogar in Schulen gezeigt wird382, sind sie ernstzunehmende Kristallisationspunkte der Erinnerung. Roger Ebert, einer der bedeutendsten Filmkritiker der USA, lobt Grave of the Fireflies mit folgenden Worten: „Yes, it’s a cartoon, and the kids have eyes like saucers, but it belongs on any list of the greatest war films ever made.”383 Wie in den vorherigen Quellen schon herausgearbeitet wurde, wird auch in diesen beiden Anime die Auffassung von Japan als Opfer des Krieges, mit starken emotionsgeladenen Bildern dargestellt, was diese Erzählung somit abermals als Teil des japanischen kollektiven Gedächtnisses fördert. Wie bereits erwähnt wird Barefoot Gen aufgrund der inkludierten Anti-Kriegsbotschaft tatsächlich regelmäßig in Grundschulklassen gezeigt. Beide Anime werden aus den Augen von Kindern erzählt. Ihre Handlung basiert zum Teil auf autobiografischem Material der jeweiligen Autoren Akiyuki Nosaka und Keiji

379 Animationsserie, deren Geschichte oft auf einem Manga basiert. Wie Manga dürfen auch Anime keinesfalls als reine Kinderserien verstanden werden. 380 dt. Die letzten Glühwürmchen, jp. 火垂るの墓, Hotaru no Haka Isao Takahata, Grave of the Fireflies, Blu-ray Disc, 85, 1988. 381 jp. はだしのゲン/ Hadashi no Gen Mori Masaki, Barefoot Gen, Fernsehprogramm, 85 min., 1983. 382 Napier, Anime, S. 229, 383 Roger Ebert, Grave of the Fireflies, 19.3.2000, [https://www.rogerebert.com/reviews/great-movie-grave-of- the-fireflies-1988], eingesehen 30.3.2019.

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Nakazawa. Die Japanologin Susan J. Napier schreibt, dass die genannten Anime versuchen, ausgehend von Einzelschicksalen durch beeindruckende Bilder der Zerstörung und des Leidens die Zuschauer so zu erreichen, dass aus dieser anfangs persönlichen Erzählung eine kollektive wird384. Anschließend werden beide Anime kurz resümiert und in Folge werden die für diese Arbeit wichtigen Aspekte analysiert und interpretiert. Grave of the Fireflies, eine Produktion des äußerst renommierten Studio Ghibli, handelt von zwei Kriegswaisen, die gegen Ende des Krieges verzweifelt um ihr Überleben kämpfen. Der vierzehnjährige Saita und die vierjährige Setsuko sind nach dem Tod ihrer Eltern und Streitereien mit ihrer Tante auf sich gestellt und versuchen, sich allein zu versorgen. Die Kinder lassen sich in einer Art Höhle etwas außerhalb der Stadt Kobe, nieder. Ihre größte Herausforderung besteht daraus, Nahrung zu finden. Trotz aller Bemühungen schafft Saita es nicht, ausreichend Essen zu stehlen und Geld durch den Verkauf von gestohlenen Waren zu verdienen. Als Setsuko schlussendlich an den Folgen der Unterernährung stirbt, verliert auch Saita jeglichen Lebensmut, bis auch er schließlich stirbt. Wie man erkennen kann, ist die Handlung dieses Animes in wenigen Worten zusammenfasst. Dies macht ihn jedoch nicht weniger interessant oder bedeutend. Im Gegenteil, der Anime operiert hauptsächlich auf symbolischer, metaphorischer Ebene.

Barefoot Gen (1983) basiert auf dem 1973 erschienen gleichnamigen Manga von Nakazwa Keiji, einem Überlebenden des Atombombenabwurfs über Hiroshima. Der Autor litt an lebenslangen Traumata. Das Niederschreiben seiner Erinnerungen half ihm dabei, seine Erfahrungen zu verarbeiten.385 Der Anime zeigt zu Beginn das Leben der Familie des sechsjährigen Gen Nakaoka im militaristischen Japan gegen Kriegsende. Hunger und Angst vor der radikalen Regierung kennzeichneten diese Periode. Gens Leben ändert sich schlagartig mit dem Abwurf der Atombombe über Hiroshima, seiner Heimatstadt. Der Anime zeigt in einer besonders eindrucksvollen Szene die gewaltige Zerstörungskraft und den Schrecken der Atombombe. Gen und seine Mutter überleben die Bombe, der Rest der Familie, seine zwei Geschwister sowie sein Vater hingegen nicht. Der weitere Verlauf des Films zeigt die Reaktionen der Menschen auf diese ihnen bisher unbekannte Waffe. Das Überleben wird fortan noch schwieriger. Hinzu kommen auch noch die den Menschen

384 Napier, Anime, S. 217 f. + 229. 385 Stefan Pannor, Zeichnen, um zu überleben, in: Spiegel online, 12/27/2012, [http://www.spiegel.de/kultur/literatur/nachruf-zum-tod-des-manga-zeichners-keiji-nakazawa-a-874872.html], eingesehen 3.11.2018.

94 unerklärlichen Nachwirkungen der Bombe sowie die unzulängliche Hilfe und Versorgung der japanischen Regierung.

Beide Anime haben ihre eigenen Stärken und Charakteristiken. Grave of the Fireflies scheint dabei jedoch auf einer viel symbolischeren Ebene zu wirken als Barefoot Gen. Das kleine Mädchen, Seitas Schwester Setsuko, ist dermaßen mit Symbolik ausgestattet, dass es schon eigenartig erscheint, dass Napier diese kaum anspricht. Seita fungiert als Symbol der Hartnäckigkeit, welches den unbedingten Willen zu überleben verkörpert, und versucht, das Beste aus seiner Lage zu machen. Der Film zeigt jedoch, dass der gute Wille allein nicht ausreicht, um Erfolg zu garantieren. Demungeachtet ist Saita aber nicht frei von jeglicher Schuld. Aufgrund des Beharrens auf seinem Stolz (ob gerechtfertigt oder nicht) verlassen beide Kinder das Haus ihrer Tante und versuchen, allein zu überleben. Diese Entscheidung leitet schlussendlich ihren endgültigen Untergang ein. Obwohl Saita kaum als böse Person oder als Antagonist der Geschichte verstanden werden kann, sind trotzdem einige Gemeinsamkeiten zwischen ihm und Japans damaliger Führung zu erkennen. Beide verkörpern den Willen, auszuharren, und den Stolz. Und beide sind gewissermaßen in die Tötung von Japans Unschuld verwickelt. Dies führt zum nächsten Punkt. Wie vorhin schon angedeutet wurde, kann Setsuko problemlos zur wichtigsten Figur des Animes erkoren werden. Zweifellos personifiziert das junge, sorglose Mädchen die Unschuld Japans (angenommen, diese existierte) bevor es den Krieg einleitete. Ihr Lachen wird derart oft gezeigt und betont, dass die Zuschauer sich unweigerlich fragen, was es bedeutet. Ihr Lachen vermittelt den Eindruck von Reinheit und Unschuld. Mit dem weiteren Verlauf des Films wird Setsuko immer schwächer und schwächer, während Japan mehr und mehr Verbrechen gegenüber seinen Feinden und der eigenen Bevölkerung begeht. Das Bild von Japans weißer Weste schwindet somit progressiv. Zum Zeitpunkt von Setuskos Tod sagt Saita: „And she never woke up“386. Diese Feststellung trifft auch auf Japans für immer verlorene, nicht widerherstellbare Unschuld zu. Was bleibt, sind nutzlose Überreste und Erinnerungen an den einstigen Zustand, wie einige von Setukos Knochen, aufbewahrt in einem Süßigkeitenbehälter. Dieser Behälter wird zu Beginn des Films, wie auch die japanische Unschuld, sorglos weggeschmissen. Kurz nach Setsukos Tod wird eine ganze Reihe von Retrospektiven mit bedeutender symbolischer Aussagekraft eingeblendet. An einem Punkt ist zu erkennen, wie das Mädchen mit einem weißen Tuch herumläuft. Wie in westlichen Zivilisationen wird die Farbe Weiß in

386 Takahata, Grave of the Fireflies, 1:19:06.

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Japan oft mit Reinheit und Wahrheit assoziiert. Hinzu kommt jedoch, dass sie in Japan zusätzlich auch mit dem Tod und Trauer assoziiert wird. Es leuchtet ein, dass diese Metapher nicht grundlos gegen Ende des Animes verwendet wird. Eine andere Szene schildert die als Soldatin verkleidete Setsuko. Ihr Helm fällt von ihrem Kopf, womit symbolisch das Ende von Japans faschistischer, militaristischer Ära eingeleitet wird. Danach wird gezeigt wie sich Setsuko beim Nähen sticht und wie die bisherige Unschuld nun mit Blut befleckt und korrumpiert wird. Nun noch eine letzte Interpretation einer Rückblende. In dieser Szene wird Setsuko gezeigt, wie sie Stein-Papier-Schere neben einem kleinen Teich spielt. Ihre Spiegelung im Wasser ist deutlich zu erkennen und da sonst niemand anwesend ist, wird klar, dass sie das Spiel gegen sich selbst bzw. mit ihrer Spiegelung spielt. Dies impliziert jedoch, dass sie niemals gewinnen oder verlieren wird. Es wird jedes Mal in einem Unentschieden enden. Festhaltend an vorherigen Interpretationen könnte Setsuko auch hier Japan verkörpern, welches sich nach dem Krieg mit sich selbst und seinen Taten konfrontieren muss. Wie es scheint, wird diese Konfrontation sehr hart, wird lange dauern und hat ein offenes Ende. Es ist, als würde man Japan einen Spiegel vorhalten. Und tatsächlich hat Japan derzeit immer noch Schwierigkeiten mit der Selbstkonfrontation bezüglich des Zweiten Weltkrieges. Was Grave of the Fireflies betrifft, so scheint Napier den rebellischen und anklagenden Charakter des Animes absolut zu unterschätzten oder nicht zu erkennen. Die allgegenwärtige Darstellung von Japan als Opfer des Krieges ist natürlich nicht zu übersehen. Die oberflächliche Handlung des Films zeigt im Grunde nur das. Durch eine intensivere Beschäftigung mit den diversen Metaphern und der vielschichtigen Symbolik des Animes wird erkennbar, dass er tatsächlich auf den ersten Blick eine nicht sichtbare, jedoch tiefgreifende Selbstkritik enthält. Aus diesem Grund dürften wohl kaum nur Kinder als Zielpublikum vorgesehen sein. Grave of the Fireflies richtet sich vielmehr an jede Alterskategorie. Kinder werden über die Schrecken des Kriegs (an der Heimatfront) aufgeklärt, Jugendliche werden mit dem Konzept der Verantwortung und den Konsequenzen von eigenen Handlungen und Entscheidungen konfrontiert. Ein erwachseneres Publikum hingegen wird auch auf die Symbolik dieser vorerst harmlos erscheinenden Szenen aufmerksam und versucht diese zu interpretieren.

Napiers Anmerkungen und Kritik zu Barefoot Gen scheinen fundierte zu sein. Hier werden Kritik und rebellische Tendenzen viel direkter dargestellt und sind leichter erkennbar.

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So ist es z. B. auffallend, dass Gen und seine Brüder387 im Anime gleich mehrere Male Soldat spielen und dabei auf eine militärische Sprache anwenden. Dies zeigt, wie Jungen von Kindesbeinen an in militaristischen Systemen erzogen, ausgebildet und in eine bestimmte Richtung gelenkt werden, nämlich die eines starken, disziplinierten Soldaten, der imstande ist, Befehle zu befolgen. Dies kommt praktisch einer Gehirnwäsche bzw. einer Programmierung gleich. Ein Thema, das Napier ebenfalls anspricht und dessen Wichtigkeit nicht unterschätzt werden darf, ist jenes der Maskulinität. Die männlichen Figuren (in beiden hier vorgestellten Anime) werden als treibende Kraft, als Entscheidungsträger und als klare Familienoberhäupter dargestellt. In beiden Filmen stirbt der Vater der Kinder, ein wichtiges symbolisches Zeichen und Merkmal für die japanische Nachkriegskultur. Der Krieg kostete unzähligen Männern das Leben, wodurch viele Familien vaterlos auskommen mussten. Hinzu kommt der verlorene Kaiserkult, welcher als Vater der Nation galt. Aus diesem Grund wird die japanische Kultur heute auch gerne von Wissenschaftlern als demaskulinisiert, als feminisiert beschreiben. Optisch lässt sich diese Behauptung schwer anfechten; überall wo man hinsieht, findet man Zeugnisse von femininer Niedlichkeit388. Diese Niedlichkeit, auch „kawaii“ genannt, wurde in den letzten Jahrzehnten sogar zu einem wünschenswerten und respektierten Wesenszug und vor allem einem äußerlichen Merkmal in Japan389. Dennoch bekleiden weibliche Figuren auch wichtige Rollen in Bezug auf traditionelle japanische Kultur. Diese werden praktisch als Begründer 390 und Bewahrer der japanischen Kultur betrachtet. So glaubt Napier, dass man diese schwächelnden, hilflosen und sterbenden weiblichen Charaktere in beiden Animes als eine fundamentale Unsicherheit bezüglich des Überlebens der traditionellen Kultur verstehen kann. Wo das Herumspringen vor Aufregung und Hoffnung von Gen und seinem Adoptivbruder gegen Ende des Films als unerschrockener Versuch, das Beste aus jeder Situation zu machen, sogar das Überleben unter schwersten Umständen, gelesen werden kann, deutet die Abwesenheit einer weiblichen Figur auf eine durchaus pessimistischere Sicht für das Überleben der traditionellen japanischen Kultur hin.391

387 Gemeint sind hier sein biologischer Bruder und sein adoptierter Bruder, der erst nach dem Abwurf der Atombombe zur Familie stieß. 388 Selbst bei Männern, wenn man diese beispielsweise mit Männern aus westlichen oder Kulturen aus dem Mittleren Osten vergleichen würde. 389 Sharon Kinsella, Cuties in Japan, in: Skov Lise/Morean Brian (Hrsg.), Women, Media and Consumption in Japan, Hawaii 1995, S. 220–254, hier S. 245. 390 Für weitere Informationen: Siehe shintoistische Göttin Amaterasu. 391 Napier, Anime, S. 226–229.

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Des Weiteren ist der wechselnde Animationsstil interessant. Zu Beginn des Animes wirken die Bilder recht kindisch. Dies ändert sich jedoch schlagartig mit dem Abwurf der Atombombe, welcher wie bereits erwähnt äußerst eindrucksvoll animiert wird. Auf einmal scheinen zwei verschiedene Stile parallel nebeneinander zu existieren: zum einen die immer noch etwas kindisch und verspielt wirkende Animation von Gen und seinem Adoptivbruder, also jene von unschuldigen Kindern. Die völlig zerstörte Umwelt und die überall verstreuten, verbrannten Leichen unterscheiden sich jedoch deutlich von dem zuvor genannten Stil. Man erkennt also einen infantilen Protagonisten inmitten einer sehr düsteren und bedrückenden Atmosphäre. Auch hier wir deutlich, dass Japan als Opfer des Krieges dargestellt wird. Dennoch gibt es eine bedeutende Passage, in der offen Kritik gegen die japanische Regierung geäußert wird, welche somit auch keinen Raum für Interpretation lässt. Der Autor Nakazawa, beziehungsweise Gens Vater sieht die führenden Personen der japanischen Regierung als Verantwortliche für einen andauernden, jedoch bereits verlorenen Krieg. Darüber hinaus äußert er seine Enttäuschung und zugleich seinen Frust, dass es nicht genug Menschen gibt, die es wagen, die Autorität der Regierung (offen) in Frage zu stellen: “[…] our government is run by madmen. Yes. They are just stupid. Crazy. All of them! […] This war can´t be right. But it´s only the cowards like me who dare to say it. If there were only a few more like us. You know sometimes it takes a lot more courage not fight than to fight, to not to kill when all around you are calling for blood. That´s real courage in my book!”392

Erwähnenswert ist auch, dass abgesehen von der eben genannten scharfen Kritik gegen die eigene Regierung keine direkte Schuldzuweisung gegenüber dem direkten Verantwortlichen für das heraufbeschworene Leid durch die Atombombe stattzufinden scheint (das Gleiche gilt für Grave of the Fireflies). Die US-Amerikaner existieren in beiden Erzählungen fast nicht. Die Gesichter der amerikanischen Piloten bleiben eher abstrakt und werden nur kurz eingespielt. Der Gegner und die von ihnen ausgeübte Bedrohung werden somit hauptsächlich durch die über Japan fliegenden B-29-Bomber (welche zum Abwurf der Atombombe und der Brandbomben eingesetzt wurden) verbildlicht. Dies macht deutlich, dass der Autor nicht versucht, die US-Amerikaner zu dämonisieren und sie allein verantwortlich für das über Japan gebrachte Leid zu machen.

Schlussfolgernd lässt sich festhalten, dass die Symbolik in Barefoot Gen auf einem viel direkteren und offensichtlicheren Level operiert als jene in Grave of the Fireflies. Darum

392 Mori Masaki, Barefoot Gen (English Dub), YouTube-Video, 83 min., 20.2.2018, [https://www.youtube.com/watch?v=c8XT5kRlDrU], eingesehen 3.11.2018.

98 wird die offene Kritik gegen die japanische Regierung auch viel deutlicher und wirkt anklagender. In Grave of the Fireflies hingegen ist die Kritik hinter etlichen Schichten von Metaphern versteckt, welche die Japanologin Susan J. Napier übersehen zu haben scheint. Trotz der hervorgebrachten Kritik halten beide Anime an der Meistererzählung von Japan als Opfer des Krieges fest.

6.5. Die Monster der Shōwa-Periode Dieser kurze und abschließende Abschnitt behandelt eine überraschende, aber nicht unwichtige zufällige Entdeckung. Die bisher gezeigten Quellenbeispiele erlauben den Schluss, dass Japan sich zwar mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt, dies jedoch auf eine manchmal zögerliche und oft eher subtile Weise tut. Direkte Schuldzuweisungen sind eher selten, verglichen mit der deutschen Geschichts- und Erinnerungskultur. Diese Praxis ist zum Teil wahrscheinlich auf die kulturelle Beschaffenheit der japanischen Gesellschaft und Politik zurückzuführen. Umso verwunderlicher erscheint die auf Abbildung 17 festgehaltene Werbung. Das Foto wurde am 24. Juli 2018 in der Ginza-Zuglinie Tokyos (eine der Hauptlinien) geschossen. Es zeigt eine Werbung für ein Buch des Autors Masayoshi Hosaka, das knapp eine Woche zuvor erschienen war. Der Titel des Buchs lautet 昭和の怪物七つの 謎 (Shōwa no kaibutsu nanatsu no nazo), was so viel wie The Monsters of Shōwa Seven Mysteries bedeutet. Wie es scheint, gibt es derzeit keine englische oder deutsche Übersetzung, was eine inhaltliche Analyse des Buchs leider ausschließt. Aus dem Kontext und den Amazon-Kritiken393 lässt sich jedoch schlussfolgern, dass der Autor in dem Buch seine persönlichen Eindrücke bezüglich der Shōwa-Ära und einiger der damaligen Hauptakteure394 festhält. Wie der Titel schon vermuten lässt, handelt es sich nicht um eine rein objektive, wissenschaftliche Arbeit. Offensichtlich ist jedoch, dass Japans Führung der Shōwa-Periode kritisiert wird.

393 Die Kritiken fallen zudem hauptsächlich positiv aus. Auf Amazon.jp wird das Buch derzeit mit vier von fünf Sternen versehen (42 eingegangene Kritiken, Stand 3.1.2019). 394 Hideki Tōjō, Kanji Ishihara, Kiyoshi Inugami, Kazuko Watanabe, Ryuzo Sega und Shigeru Yoshida. スカラベ (Scarab), Masayoshi Hosaka „Excavate Showa History”, 31.7.2018, [https://www.amazon.co.jp/gp/customer- reviews/R2NMRP8F4XWV3V/ref=cm_cr_dp_d_rvw_ttl?ie=UTF8&ASIN=4065123399], eingesehen 3.1.2019.

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Abbildung 17: Werbetafel für das Buch 昭和の怪物七つの謎 in Ginza-Zuglinie (Tokyo, 24.7.2018)395

Hier soll also festgehalten werden, dass in der Millionenmetropole Tokyo in einer der Hauptzuglinien offen und unübersehbar Werbung für ein Buch gemacht wird, das sich kritisch mit Japans Vergangenheit auseinandersetzt. Auffallend ist auch, dass das Buch gerade gegen Ende der Heisei-Ära (Kaiser Akihito ist 2019 zurückgetreten, was wiederum die neue Reiwa-Ära396 eingeleitet hat) erschien. Man könnte nun spekulieren und behaupten, dass durch das Einleiten der neuen Ära gleichzeitig auch die mentale verbleibende Verbindung zur Shōwa-Periode Stück für Stück aufgelöst wird, was wiederum einen offeneren Umgang mit der Vergangenheit ermöglicht. Darum lohnt es sich, in Zukunft nach solch einem möglichen Wandel Ausschau zu halten. Es wäre jedoch anmaßend, diese auf der Werbetafel für ein Buches basierende Vermutung als Fakt darzustellen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass, wie in Kapitel 4.7. über High- und Low-context-Kulturen erläutert wurde, soziale und kulturelle Veränderungen in High-context-Kulturen wesentlich länger brauchen als in Low-context-Kulturen. Die in dieser Arbeit präsentierten Quellen haben gezeigt, dass in den letzten Jahrzehnten immer wieder Versuche unternommen wurden, kritisch mit der Vergangenheit der Shōwa-Ära umzugehen.

395 Foto von R. Wilmes, erstellt während einer Zugfahrt mit der Ginza-Linie in Tokyo am 24.7.2018. 396 Osaki Tomohiro, Reiwa: Japan reveals name of new era ahead of Emperor's abdication, in: The Japan Times, 1.4.2019, [https://www.japantimes.co.jp/news/2019/04/01/national/japan-readies-announce-name-new- era/#.XKG_Z6TgqUk], eingesehen 1.4.2019.

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7. Fazit Zu Beginn dieser Arbeit wurden verschiedene Konzepte des Erinnerns vorgestellt. Dazu wurden die Ansätze von Maurice Halbwachs, Aleida Assmann und Pierre Nora herangezogen. Und obwohl deren Ansätze in einigen Punkten divergieren, so sollte es doch gelungen sein, sie auf diese Arbeit anzuwenden und ein verständliches und kohärentes Bild der japanischen Erinnerungskultur zu präsentieren. Es wird davon ausgegangen, dass Erinnerungen nicht ohne Kontext entstehen. Dafür ist zum einen ein Ereignis oder eine Person usw. von Nöten, an die man sich erinnern kann. Neben der persönlichen Erinnerung spielt auch die Kollektive, die Erinnerung einer Gruppe, die diese untereinander teilt, nährt und auch weitergibt, eine Rolle. Ein nationales Aus solch einer Erinnerungsgruppe, einer Nation, entsteht auch ein nationales Gedächtnis. Es wurde erklärt, dass in stark kollektivistischen Gesellschaften, wie Japan, das Wohl der Gruppe über dem des Individuums steht. Zudem besteht eine starke Identifikation mit der Gruppe. Somit hängt das Selbstwertgefühl, die Ehre oder die Identifikation der Japaner weit stärker mit dem Image ihrer Nation zusammen als bei Menschen aus weniger kollektivistischen Gesellschaften. Der Japaner ist die Nation. Dies bedeutet, wenn die Nation kritisiert wird, wird auch der einzelne Japaner kritisiert. Die offizielle Version der Geschichte wird also quasi zur persönlichen Geschichte, alle Helden-, aber auch Gräueltaten mitinbegriffen. Mit diesem Hintergrundwissen wird verständlicher, warum sich nach mittlerweile fast einem Jahrhundert einige Japaner immer noch weigern, die Schandtaten der kaiserlichen Armee oder die Schuld von Hirohito anzuerkennen. Der Druck der internationalen Gemeinschaft ist sicherlich gerechtfertigt und auch wichtig, um vielen Japanern zu zeigen, dass es nicht nur die eine von ihrem Bildungsministerium genehmigte Version der Geschichte gibt. Die internationale Kritik und nichtasiatische Quellen (aufgrund der immer noch kühlen chinesisch-japanischen Beziehungen), wie beispielsweise John Rabes Tagebuch, geben der Forschung einen guten Anstoß. So wertvoll die Kritik auch sein mag, muss man leider auch anmerken, dass es dieser meist an jeglichem kulturellem Feingefühl und Verständnis mangelt. Westliche Nationen scheinen oft nicht zu begreifen, dass Vorgänge, die in europäischen Kulturen funktioniert haben, nicht zwangsläufig auch in Japan angebracht sind. Ein Beispiel wäre das kontroverse Yūshūkan-Museum des Yasukuni-Schreins. Zweifellos betreibt das Yūshūkan eine revisionistische Politik und die Bezeichnung der dort bestatteten Kriegsverbrechen als Märtyrer ist zu verurteilen. Was aber gerne übersehen wird ist, dass an diesem Ort aller Gefallenen des Kriegs gedacht wird, sogar der Tiere, und vor allem, dass der Yasukuni-

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Schrein in erster Linie ein religiöser Ort ist, an dem immer noch aktiv praktiziert wird. Haben außenstehende Nationen wirklich das Recht, derart in den Glauben einer anderen Nation einzugreifen? Und würde man den Revisionisten durch solche Forderungen nicht zusätzliches Zündholz liefern, wo diese doch behaupten, viele westliche Nationen würden Japan ihre Kultur und ihren Glauben aufzwingen und somit (auch) imperialistische Tendenzen aufweisen? Darüber hinaus hat das Kapitel über den Shintoismus gezeigt, dass nach lokalem Glauben gerade durch die Entfernung der Kriegsverbrecher aus dem Schrein ihre „Seelen“ keine Wiedergutmachung leisten können. Hier treffen also unvereinbar unterschiedliche Glaubenskonstrukte aufeinander, was ein gegenseitiges Verständnis zusätzlich erschwert. Obwohl in dem Fall des Yasukuni-Schreins definitiv Politik mitspielt, müsste doch die Entscheidung und die Bereitschaft, die 14 Kriegsverbrecher zu entfernen, von Japan selbst kommen, ohne durch internationale Kritik unter Zugzwang zu geraten, was die Situation möglicherweise noch verschlimmern könnte. Darüber hinaus wurde erläutert, dass der Shintoismus ein japaneigener Glaube ist, was den Vergleich mit größeren, flächenmäßig weiter verbreiteten Weltreligionen erschwert. Dieses Problem zeigt sich somit auch bei der Bezeichnung der 14 Kriegsverbrecher als Gottheiten. Im Japanischen werden diese, wie auch alle anderen dort Bestatteten, als kami bezeichnet. Kami wird in der Regel mit „Gott“ oder „Gottheit“ übersetzt, da keine bessere oder einfachere Lösung gefunden werden konnte. Es wurde jedoch gezeigt, dass kami nicht mit dem Konzept des christlichen oder des muslimischen Gottes oder sogar antiker polytheistischer Religionen zu vergleichen ist. Somit ist die Bezeichnung der 14 Kriegsverbrecher mit äußerster Vorsicht zu genießen und die Kritik sollte eher dem linguistischen Defizit als der Praxis gelten. Auch Behauptungen, Japan stelle sich nicht seiner Vergangenheit, müssen revidiert werden. Diese Arbeit hat einige Quellen genannt (und noch weitaus mehr existieren, konnten aber leider nicht mehr aufgenommen werden), die das Gegenteil beweisen. Hinzu kommt, dass Quellen wie die Anime-Filme Grave of the Fireflies und Barefoot Gen oder die Shōwa- Manga-Reihe von Shigeru Mizuki keine Randerscheinungen, sondern äußerst bekannte Werkzeuge der japanischen popular culture sind. Das Dilemma der japanischen Erinnerungskultur liegt also nicht darin, dass niemand bereit ist, auch die Gräueltaten des Krieges zu erinnern, sondern vielmehr, dass in Japan seit der wiedererlangten Unabhängigkeit 1952, wie Takashi Yoshida es sehr passend formulierte, ein „Krieg über

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Geschichte und Erinnerung“397 wütet. Die starke Lobby der Revisionisten wird von einer seit fast 70 Jahren (mit einer kurzen Ausnahme in den 90er-Jahren) ununterbrochen nationalistischen Regierung unterstützt. Es gibt jedoch eine ganze Reihe an Historikern (darunter Honda Katsuichi), die sich für die Aufklärung der Bevölkerung und eine Berichtigung der offiziellen Version der Geschichte bemühen. Es hat sich gezeigt, dass in den 90er-Jahren, einer Zeit der politischen Schwäche nach dem Platzen der sogenannten japanischen Ökonomieblase, Fortschritte gemacht wurden. Es gab diverse Ausstellungen, Museumseröffnungen und -renovierungen und auch die Forschung erhielt weiteren Antrieb. Dennoch müssen diese Historiker immer wieder Rückschläge vonseiten der Revisionisten einstecken. Dies zeigt sich vor allem anhand der japanischen Schulbücher. Hier sind die Beschreibungen des Massakers von Nanjing von Interesse. Man kann ein ständiges Hin- und Herrudern bei den Erklärungen und vor allem den Angaben der Opferzahlen beobachten. Somit kann man die Diskussion um das Massaker von Nanjing als Stellvertreter für die nationale Geschichtsdiskussion betrachten. Diese Arbeit hat auch Ausschnitte aus der visuellen Kultur Japans aufgezeigt und somit versucht, den Ursprung der Manga- und Anime-Kultur zu erklären. Darüber hinaus wurde, trotz rückgängiger Zahlen, die enorme Popularität und Verbreitung von Manga in Japan aufgezeigt, was sie für diese Arbeit als Zeugnis der popular culture als brauchbare Quellen qualifiziert. Dabei wurde auf die Eigenarten der Manga als Quelle aufmerksam gemacht, von denen vor allem ihre Subjektivität und ihr großes Potential, die Leser aufgrund ihres sowohl narrativen als auch visuellen Charakters zu beeinflussen, herausstechen. Die verschiedenen Quellen haben gezeigt, dass auch vielfältige Erinnerungen in der japanischen Gesellschaft kursieren. Die Filme Ashita he no yuigon, Grave of the Fireflies und Barefoot Gen haben verdeutlicht, dass das Bild von Japan als Opfer des Krieges sehr geläufig und verbreitet ist. Dieses lässt sich hauptsächlich auf die über den japanischen Städten abgeworfenen Brand- und Atombomben zurückführen, aber auch auf die Nachkriegsprozesse, die die Japaner allem Augenschein nach noch nicht überwunden haben. Wie die Serie Tokyo Trial und der Film Ashita he no yuigon gezeigt haben, beschäftigt Japan immer noch die fehlende legale Basis der Nachkriegsprozesse sowie die dort angewandte Siegerjustiz. Bei genauerer Betrachtung ließen sich jedoch noch andere Erinnerungen herausschälen. So kann man beispielsweise die Geschwister aus Grave of the Fireflies als Sinnbild für Japans Kriegsverlauf und seine schwindende Unschuld interpretieren. In

397 Yoshida, The Making of the “Rape of Nanking”, S. 129.

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Barefoot Gen äußert der Familienvater zudem eine eindeutige, gegen die Regierung gerichtete Kritik. Ähnliche Kritiken findet man auch durchgehend in Shigeru Mizukis Werk über die Shōwa-Periode. Mizuki kritisierte nicht nur die Unbarmherzigkeit der Führungselite gegenüber dem eigenen Volk und vor allem des Militärs gegenüber den eigenen Soldaten, sondern auch die effektive Propaganda des imperialistischen Japans. Auch diese Propaganda und die Zensur sind Grund dafür, dass Japan angeblich an einer Geschichtsamnesie leidet. Aufgrund der starken Zensur wurde die isolierte japanische Bevölkerung praktisch nur über die scheinbar glorreichen Siege ihrer Truppen informiert. Niederlagen wie die Midway- Seeschlacht oder Gräueltaten wie das Massaker von Nanjing wurden bis Kriegsende verheimlicht. In Mizukis Werk wird Japan sowohl als Opfer als auch als Täter dargestellt. Der Manga Tsubasa hingegen konzentriert sich auf die gegen Kriegsende durchgeführten Kamikaze-Angriffe. Tachihara Ayumi reflektiert dort über die Motivation und letzten Gedanken dieser Piloten. Tachihara führt die Bereitschaft der Piloten, ihr Leben zu opfern, einerseits auf ein starkes Pflichtgefühl gegenüber dem Kollektiv, andererseits auch auf die Überzeugung der Piloten zurück, sie müssten so ihre Familie vor den scheinbar grausamen Amerikanern beschützen. Tachihara kritisiert jedoch auch die Sinnlosigkeit dieser Tode. Ein weiteres Beispiel dafür, dass die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit kein unüberwindbares Tabu ist, ist die Werbetafel in der viel befahrenen Ginza-Zuglinie Tokyos für Masayoshi Hosakas Buch Shōwa no kaibutsu nanatsu no nazo (The Monsters of Shōwa Seven Mysteries). Wie bereits anhand der Schulbuchkontroverse demonstriert wurde, werden japankritische Aussagen oft von den Revisionisten untergraben. Der Manga Kuni ga moeru hat gezeigt, dass manche Verlage und Autoren der, wenn zahlenmäßig auch geringen, Kritik der revisionistischen Fraktion nachgeben und sogar teilweise ihre Werke zensieren. Daneben lässt sich beobachten, dass sogar die Werke des Kobayashi Yoshinori immense Popularität genießen. Man muss also die ernüchternde Schlussfolgerung ziehen, dass nur ein Teil der japanischen Gesellschaft dazu bereit ist, sich – nach westlichen Vorstellungen – seiner dunklen Vergangenheit zu stellen und diese zu akzeptieren. Der andere Teil bekämpft jeglichen Fortschritt aufs Heftigste. Ein nahes Ende dieses Erinnerungskrieges steht höchstwahrscheinlich nicht in Aussicht. Die Wahl einer liberaleren Regierung und die Schwächung der Revisionisten-Fraktion könnten die Bedingungen für eine effektivere Aufklärungsarbeit verbessern. Bis dahin muss eine (relativ) einheitliche, japankritische Version der nationalen Geschichte weiterhin sehr zeitintensiv und mühsam erkämpft werden.

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8. Abkürzungsverzeichnis GHQ – General Headquarters IMDb – Internet Movie Database IMTFE – International Military Tribunal for the Far East (Tokioter Prozesse) LDP – Liberaldemokratische Partei (Japan) NSDAP – Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei SCAP – Supreme Commander for the Allied Powers TQC – Total Quality Controll

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9. Literaturliste

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10. Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Priests caricatured by Toba Sojo, zwischen 1053 und 1140, [https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/af/EB1911_Japan_- _Priests_caricatured_by_Toba_Sojo. jpg], eingesehen 24.3.2019.

Abbildung 2: Extermination of Evil Shinchū, 12. Jahrhundert, [https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d3/Extermination_of_Evil_Shinch%C5 %AB.jpg], eingesehen 24.3.2019.

Abbildung 3: Zenga. Darstellung der Leere, 15.11.2011, [https://www.flickr.com/photos/ejdaniel/6454779679], eingesehen 24.3.2019.

Abbildung 4: A Geisha with a Shamisen, 1815, [https://picryl.com/media/a-geisha-with-a- shamisen-c7f893], eingesehen 24.3.2019.

Abbildung 5: Great Wave off Kanagawa, zwischen 1826 und 1833, [https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/0d/Great_Wave_off_Kanagawa2.jpg], eingesehen 24.3.2019.

Abbildung 6: Hatsuhana doing penance under the Tonosawa waterfall, 1841–1842, [https://upload.wikimedia. org/wikipedia/commons/5/59/Hatsuhana_doing_penance_under_the_Tonosawa_waterfall.jpg ], eingesehen 24.3.2019.

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Abbildung 7: Utamaro Farb-Shunga, 18. Jahrhundert, [https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/33/17XX_Utamaro_ Shunga_anagoria.JPG], eingesehen 24.3.2019.

Abbildung 8: Tagosaku to Mokube no Tokyo Kenbutsu, 1902, [https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/94/Tagosaku_to_Mokube_no_Tokyo_K enbutsu.jpg], eingesehen 24.3.2019.

Abbildung 9: Denkmal, Kriegswitwe, Yasukuni-Gelände, Foto von R. Wilmes, erstellt während eines Besuchs des Yasukuni-Schreins am 30.6.2018.

Abbildung 10: Tierdenkmal, Taube, Yasukuni-Gelände, Foto von R. Wilmes, erstellt während eines Besuchs des Yasukuni-Schreins am 30.6.2018.

Abbildung 11: Tierdenkmal, Hund, Yasukuni-Gelände, Foto von R. Wilmes, erstellt während eines Besuchs des Yasukuni-Schreins am 30.6.2018.

Abbildung 12: Tierdenkmal, Pferd, Yasukuni-Gelände, Foto von R. Wilmes, erstellt während eines Besuchs des Yasukuni-Schreins am 30.6.2018.

Abbildung 13: Gedenktafel für gefallene Tiere, Yasukuni-Gelände, Foto von R. Wilmes, erstellt während eines Besuchs des Yasukuni-Schreins am 30.6.2018.

Abbildung 14: Gedenktafel für Tiere (Nahaufnahme), Yasukuni-Gelände, Foto von R. Wilmes, erstellt während eines Besuchs des Yasukuni-Schreins am 30.6.2018.

Abbildung 15: Dr. Radhabinod Pal Denkmal, Yasukuni-Gelände, Foto von R. Wilmes, erstellt während eines Besuchs des Yasukuni-Schreins am 30.6.2018.

Abbildung 16: Dr. Radhabinod Pals IMTFE-Urteil in Glaskasten, Yasukuni-Gelände, Foto von R. Wilmes, erstellt während eines Besuchs des Yasukuni-Schreins am 30.6.2018.

Abbildung 17: Werbetafel für das Buch 昭和の怪物七つの謎, Foto von R. Wilmes, erstellt während einer Zugfahrt mit der Ginza-Linie in Tokyo am 24.7.2018.

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