HORSE MONEY (2014)

Filmstart: 8.Oktober 2015 Spielfilmfilm; 103min./ Farbe,

Director: Pedro Costa Rating: Not Rated Cast: Ventura, Vitalina Varela, Tito Furtado (in Portuguese & Cape Verdean Creole)

Kurzsynopsis: Ventura, bereits der Held aus COLOSSAL YOUTH, wird in einer Nervenheilanstalt behandelt. In einer atemberauben- den Mischung aus Realem und Halluziniertem, Begreifbarem und Unbegreifbarem, Fiktionalem und Dokumentarischem und mit einer einzigartigen Bildsprache wird die Vergangenheit Venturas beleuchtet. Ein komplexer Kinotrip, der Ventura als Gefangener des eigenen Geistes und der portugiesischen Geschichte zeigt. HORSE MONEY, Costas vierter Film, bei dem das ehemalige Armenviertel Fontainhas, und seine Bewohner im Zentrum stehen, erhielt 2014 den Regiepreis in Locarno und gewann den internationalen Hauptpreis des Filmfest Münchens.

Wandererstraße 80 D-90431 Nürnberg [email protected] www.grandfilm.de +49 (0)911 810 06 671 1/9 ÜBER DEN FILM

’Horse Money’ beginnt leise mit einer Reihe schwarz-weißer Fotografien. Mehrere Männer liegen zusammengesackt auf Tischen in einem niedrigen Raum; Männer und Frauen sitzen auf einem Haufen zusammen; weiße und schwarze Erwachsene und Kinder posieren vor ihren Häusern, ihre Blicke sind in die Kamera gerichtet; Dann setzen Ton und Farbe ein und bald erscheint ein gealterter, halb- bekleideter kapverdischer Mann, der durch die Dunkelheit Stufen hinabsteigt, wie in einem Kerker.

Dieser Mann, Ventura, ist der Hauptdarsteller von Horse Money. Der Film ist eine Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilm, in der Ventura reale und erdachte Episoden seines Lebens neu erschafft. Die eingeblendeten Fotografien vor seinem Auftritt stammen von Jacob Riis, einem dänischen Einwanderer in den USA, der das Leben der Bewohner New Yorker Mietskasernen am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts porträtierte. Indem er diese Fotografien mit Ventura verbindet – ein verarmter Immigrant, der seit Jahrzehnten in Portugal lebt – bettet Regisseur Pedro Costa seinen achten Spielfilm in eine Geschichte der Darstellung ein. Die Eröffnungsszene des Films verrät, dass Costas Arbeit darin besteht, eine verborgene Unterschicht aufzudecken. Riis’ Fotografien tauchen in der Mitte des Films wie ein Echo erneut auf, in einer Sequenz von Stillleben kapverdischer Einwanderer, nachdenklich in ihren Häusern sitzend oder aus dem Fenster schauend. Den Soundtrack zu dieser Passage liefert die bekannteste Band der Kapverden, Os Tubarões („Die Haie“), die „Alto Cutelo“ singen, ein melancholisches Lied über einen Mann, der zum Arbeiten nach Portugal ging und seine Frau in der Heimat zurückließ. In Horse Money deutet alles darauf hin, dass Ventura eine Version dieses Mannes ist. Dieser hochgewachsene, einzelgängerische Mann mit dem Blick eines Gejagten und aufgeblähtem Bauch verließ sein Land, eine frühere portugiesische Kolonie in Afrika, um als Bauarbeiter während dem Ende des Estado Novo, der Diktatur in Portugal zu arbeiten. Er half dabei, mehrere wichtige noch erhaltene Gebäude in Lissabon zu errichten, bis eine Kopfverletzung ihn dazu zwang, in Frührente zu gehen. Viele Jahre lang lebte er mit anderen Kapverdern in dem heute nicht mehr existieren- dem Lissabonner Slum Fontaínhas. Portugals demokratische Regierung ließ es zu Beginn der 2000er Jahre niederreißen. Der Hauptteil von Horse Money zeigt einen verwirrten Ventura, der durch lange, dunkle Korridore eines namenlosen Gebäudes streift, das teils wie ein Gefängnis, teils wie eine Nervenheilanstalt aussieht. Zu Beginn erzählt er einer anderen Person, dass bei ihm eine Nervenkrankheit diagnostiziert wurde. Venturas linke Hand zittert unentwegt, und manchmal bebt sein ganzer Körper, wenn schmerz- hafte Erinnerungen hochkommen; an anderer Stelle huscht ein Lächeln über sein Gesicht, wenn er sich an seine Frau Zulmira erinnert, die ihm zufolge immer noch auf den Kapverden ist und die er hofft, eines Tages nachholen zu können. Manchmal erscheint er mit einem Stück Papier in seiner Hand, vermutlich ein an sie gerichteter Brief. Wer Pedro Costas Filme kennt, wird sich vermutlich an Ventura erinnern. In den späten 1990er Jahren entschied sich der Regisseur, in Fontaínhas zu filmen, wobei die dortigen Bewohner seine Schauspieler waren. Das erste Produkt dieser Wahl war das verblüffend direkte Drama („Knochen“, 1997), mit wenigen Darstellern, das zweite das eher träge Epos In Vandas Zimmer (2000), das intime Porträts der willensstarken Titelfigur Vanda Duarte und der Leute um sie herum vor dem Hintergrund rollender Bulldozer zeigte. Er traf Ventura während der Dreharbei- ten zu In Vandas Zimmer, als Figur setzte er ihn aber erst in Jugend Voran! (2006) ein. In dem Film läuft Ventura durch ein schrumpfendes Fontaínhas, das nieder- gewalzt wird, um Sozial-wohnungen Platz zu machen. Er sucht nach den vielen Menschen, die er seine Kinder nennt (darunter auch Vanda) und fordert sie auf, mit ihm zusammenzuleben. Costa arbeitet größtenteils ohne Drehbuch, stattdessen schnappt er Stichworte von seinen Hauptdarstellern auf und lässt sie Form und Verlauf seiner Filme bestimmen. Die laute, geschwätzige, häufig sitzende, drogenabhängige Vanda forderte Costa heraus, sie direkt und unbeschönigt zu filmen. Der ruhigere, träumerische Ventura wiederum erlaubte es dem Regisseur, ihm auf seinen Hun- derten von Spaziergängen zu folgen und führte Costas Kamera durch seinen Blick, der seine Erinnerung physischen Orten überzustülpen schien. Ventura and Costa haben bis heute an einer Reihe von Filmen zusam- men-gearbeitet, darunter auch die Kurzfilme Tarrafal (2007), The Rabbit Hunters (2007), O Nosso Homem („Unser Mann“, 2010), und Sweet Exorcist (2012), letzterer bestehend aus Szenen, die mit kleinen Änderungen im Schnitt erneut in Horse Money auftauchen. 2/9 Diese Filme zeigen den Unterschied zwischen Venturas innerer und äu- ßerer Gedankenwelt zunehmend uneindeutig, indem sie Sequenzen auf nichtlineare Weise aneinanderreihen, als würden sie sich alle in einem einzigen, gegenwärtigen Augenblick entfalten.

Während Horse Money, einem traumähnlichen, fragmenthaften Film, arbeitet sich Ventura durch seinen eigenen Platz innerhalb der portugiesischen Geschichte. Er ist, unter anderem (sowohl im Leben als auch im Film), jemand der auf einer Insel geboren wurde, deren erste Bewohner durch den Sklavenhandel der Portugiesen ins Land kamen; ein Opfer ständiger Armut, dessen Situation sich durch Portugals jüngste Finanzkrise nur noch verschlimmert hat; und ein Augen- zeuge der Nelkenrevolution, die den Estado Novo am 25. April 1974 formell beendete. An jenem Tag putschte eine Gruppe junger Soldaten der linksgerichteten MFA (Bewegung der Streitkräfte) Portugals faschistisches Regime mit Unterstützung der Bevölkerung, und machte den Weg frei für eine demokratische Regierung, die im Namen der Ordnung eine Reihe von Unternehmen verstaatlichte, ohne dabei für bessere Bedingungen für die Arbeiter zu sorgen.

Im Verlauf des Films fixiert sich Ventura nicht auf Protestzüge, sondern vielmehr auf seine eigene schreckenerregende Flucht vor den Soldaten, die in den Wäldern nach Dissidenten suchten. Er durchlebt erneut eine schlimme Kopfverletzung, die er am 11. März 1975 bei einem Messerkampf erleidet, am selben Tag an dem ein Gegenputsch scheitert, der zu Restriktionen seitens der Regierung führte. Venturas Leben hat sich seitdem nicht verbessert, eine Tatsache die der Film dann unter- streicht, als er einem Arzt sein Alter nennt: Neunzehn Jahre und drei Monate. Er ist in der Zeit gefangen. In Horse Money tauchen auch einige seiner Mitgefangenen auf, zwei von ihnen stechen dabei hervor. Die erste Person ist eine Kapverderin namens Vitalina Varela, die in der Einrichtung vor Venturas Augen wie ein Geist auftaucht, langsam wandelnd und mit rauer Stimme flüsternd. Sie erzählt ihm, dass sie vor kurzem zum ersten Mal in Portugal angekommen ist, nachdem ihr Mann gestorben ist, und berichtet über die Zerstörung von Venturas Eigentums auf den Kapverden (darunter auch das titelgebende Pferd, das ihr zufolge von Aasgeiern in Stücke gerissen wurde). Es wird von wechselnder Seite angedeutet, dass Ventura Vitalinas Ehemann umgebracht hat; dass er ein noch lebender Mitinsasse ist, der die bedrohlichen Räume des Gebäudes durchstreift; und dass dieses andere Paar die Projektion seiner Schuld darstellt, nicht zu Hause zu sein; Die zweite Figur ist die lebende Statue eines Soldaten der Nelkenrevolution (gespielt von Antonio Santos), mit dem zusammen sich Ventura, im Schlafanzug, in der langen Endsequenz des Films plötzlich in einem Aufzug wiederfindet. Dieser wirft Ventura vor, ein nutzloses Leben geführt zu haben und stellt all seine Leistungen in Frage, darauf beharrend, dass man sie bald vergessen haben wird. „Wo bist du jetzt, Ventura?“ fragt er immer wieder, anklagend. Dieses Aufeinandertreffen zwingt Horse Moneys zitternde Hauptfigur dazu, sich selbst zu erklären, und Wege zu finden, gegen das Vergessen anzukämpfen.

3/9 Interview mit Pedro Costa

Interview Aaron Cutler in: Cineaste Magazin April 27, 2015 Übersetzung: Johannes Reiß

Cineaste: Wie wollten Sie die Nelkenrevolution in Horse Money darstellen? Pedro Costa: Zu Anfang möchte ich gerne betonen, dass Sie mich eigent- lich gar nicht brauchen, um irgendwas über den Film zu sagen. Ich hoffe, dass dieser Film für sich selbst denken, sehen, hören kann. Vielleicht ärgert das einige Leute, aber es gibt da keine Geheimnisse oder künst- lerischen Tricks, die es zu enthüllen gäbe. Alles was ich sagen kann, ist alles was auf der Leinwand zu sehen ist. Die Dreharbeiten waren ver- heerend. Wir haben viel gezittert. Ventura versucht sich verzweifelt zu erinnern, aber das ist nicht unbedingt das Beste. Ich denke, wir haben diesen Film gemacht um zu vergessen, wirklich zu vergessen, und damit abzuschließen. Die Nelkenrevolution war nicht so idiotisch, wie der Name vermuten lässt. Diese jungen Hauptmänner, die sie angeführt haben, der Grund aus dem sie es taten – abgesehen von der Beendigung eines 48 Jahre andauern- dem faschistischen Regimes in Portugal – war es, mehrere Kriege zu beenden, die von portugiesischen Streitkräften in den Kolonien in Afrika geführt wurden. Die Arbeit beginnt immer mit Geschichten und Rückblicken auf Venturas Wahrheit, oder auf seine Erinnerung an die Wahrheit. Er und ich waren am selben Ort, als die Nelkenrevolution am 25. April 1974 ihren Lauf nahm. Ich nahm als junger Mann an der Revolution teil, ich konnte Politik, Musik, Filme und Mädchen entdecken und erleben, alles zur gleichen Zeit. Ich rief auf der Straße. Ich war bei der Besetzung von Schulen und Fabriken dabei. Ich war 15, und es war die Zeit meines Lebens. Erst 30 Jahre später fand ich heraus, dass Ventura zur gleichen Zeit an densel- ben Orten wie ich gewesen war, völlig verängstigt und im Versteck bei seinen Kameraden. Er erzählte mir seine Erinnerungen an eine Zeit, die er, wie er es nennt, in seinem „Gefängnis“ verbrachte, wo er in einen langen, tiefen Schlaf fiel. Natürlich geht es bei unserer Arbeit auch um das Erinnern. Ventura und ich haben versucht, die Vergangenheit nachzuzeichnen, als würden wir eine Grafik auf eine Tafel zeichnen: Wo warst du am 25. April um 17 Uhr? Wo war ich? Wo warst du, als die Soldaten die Innenstadt stürmten? Als es ernst wurde am 11. März, wo warst du? Hast du deine Frau vergessen? Habe ich meiner Freundin einen Brief geschrieben? Hast du ein Gebäu- de gebaut, eine Bank? Während ich das Mittelalter studierte, baute Ventura die Bank von Portugal, Stein für Stein, so wie es Maurer Jahr- hunderte vor ihm getan hatten. Diese Bank ist vor zwei Jahren beinahe eingestürzt. Wie steht die Idee einer ewigen Gegenwart im Zusammenhang zu der Art und Weise, wie sie die Charaktere des Films präsentieren? Freunde von mir sagen, dass ich mit Ventura und Vitalina an einem Punkt ohne Wiederkehr angelangt bin. Der Soldat im Aufzug fragt ständig, „Wo bist du jetzt, Ventura?“ Mein Gefühl ist, dass Ventura und alle seine Brüder und Schwestern in diesen Zeit- und Raumintervallen gefangen sind, wo ihnen nichts mehr gehört. Raum und Zeit gehören ihnen nicht. Sie erkennen nichts mehr. Der ganze Film entfaltet sich in einer Art Kapsel, die viel mehr als ein Krankenhaus ist. Es ist eine Art Gefängnis, oder eine Irrenanstalt. Dieser Ort machte einen wichtigen Teil seines Lebens aus, und des derer um ihn herum. Leben wie unter Betäubung oder in Vergessenheit. Dieser Film ist jedoch keine Sciene Fiction. Es ist nicht „Der Tag an dem die Erde stillstand“ (1951). Es geht eher um Menschen, die dazu ver- dammt sind, zu verlieren. Erst verloren sie ihr Land, dann ihre Integrität, ihren Frieden und ihre Freude, und ihre Traditionen. Die Häuser, die sie mit ihren eigenen Händen in Fontaínhas gebaut hatten, wurden nieder- gerissen. Sie werden schon seit über 500 Jahren von unbarmherzigen Regierungen und der Polizei betrogen, ausgebeutet, geschlagen und umgebracht. Und Vitalina Varela ist nicht Madame X. Sie ist kein Geist. Sie ist eine 50-jährige Kapverderin, die immer noch nicht ihre portugiesischen Papiere hat. Sie ist jemand, der immer noch nicht seine 4/9 miserable Witwenrente bekommen hat. Vitalina verkörpert all die Frauen die zurückblieben, die vergessen wurden, oder die zu spät kamen. Aber Vitalina ist auch Jugend und das Versprechen der Liebe. Das Setting im Aufzug ist die Bühne für eine Art Gerichtsverhandlung. Gerechtigkeit steht dem Kino sehr nah. Bei einigen der besten Filme geht es um Rache, nicht wahr? Die meisten Geschichten der Menschheit – ich meine die Geschichten des einfachen Volkes – wurden entweder falsch oder überhaupt nicht erzählt, also muss das Kino sie aufgreifen. Es ist die Aufgabe von Leuten wie Chaplin, Renoir, Straub und Strohheim, Ungerechtigkeit zu rächen. Während der Zeit die man mit ihren Filmen verbringt, stellen sie dieses Rächen nicht nur da, sie tun es. Für mich ist die wichtigste Aufgabe des Kinos, uns das Gefühl zu geben, dass etwas nicht stimmt. Ich zitiere Buñuel und denke auch an Ozu, ein Mensch der sich niemals die Blöße gegeben hat. In jeder Einstellung jedes seiner Filme kann man diese Unruhe sehen. Sie steckt in den kleinen Dingen. Sie ist kaum sichtbar. Es kann einfach eine zitternde Hand sein, die einen Apfel hält. Es kann ein leerer Raum sein, der von einem geliebten Menschen verlassen wurde. Filme, die den Blick für Ungerechtigkeit und Gebrechlichkeit verlieren, sind nutzlos. Warum haben Sie sich entschieden, Horse Money mit Fotografien von Jacob Riis beginnen zu lassen? Das war eine der am schwierigsten zu schneidenden Sequenzen meines ganzen Lebens. Es ist sehr schwierig, etwas ohne Bewegung zu schnei- den, etwas das weder Anfang noch Ende hat. Ich wollte die Intention oder die Versuchung, eine Geschichte oder einen dramatischen Verlauf daraus zu machen, vermeiden, denn die Funktion dieses Vorspanns ist ein anderer: Es soll uns helfen, abzuheben, die Reise zu beginnen, und uns die Stufen hinunterführen, durch die Gänge und Räume die uns beständig zurückführen zum Ausgangspunkt einer immerwährenden Gegenwart. Wie die Gebrüder Lumière ist auch Jacob Riis ein Pionier. Er erfand eine bestimmte Art und Weise, Dinge zu betrachten, mit einer gewissen Entscheidungsfreiheit bei der Betrachtung. Wie die Lumières begann auch er mit dem Fotografieren und Dokumentieren, verstand aber recht schnell, dass irgendetwas mit der Realität nicht ganz stimmte. So begann er zu wiederholen, zu proben, zu inszenieren. Man sieht in seinen Fotografien einen Haufen Betrunkener an einer Straßenecke, oder einen Mann der ausgeraubt wird, aber wenn man genauer hinschaut, erkennt man, dass einer von ihnen lächelt und so den Schwindel aufdeckt. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich in Riis Welt gehöre. Auch wenn seine Bilder Szenen des Elends porträtieren, ergeben sie sich nie der Demagogie. Sie sind keine so genannten „Candid shots“ (Ungestellte Aufnahmen). Sie geben uns die Freiheit, das zu sehen was wir wollen. Jacob Riis hat eine bewegende Lebensgeschichte, fast wie bei Charlie Caplin. Eine Zeitlang streifte er durch die Straßen ohne einen Cent in der Tasche, ständig begleitet von einem kleinen streunenden Hund. Er schrieb viel. Die Fotografien waren eine Art Ergänzung zu den Notizen, die er über die Mietskasernen von New York machte. Die Bilder waren ihm nicht genug. Er musste all sein Material benutzen, um dem Machtgefüge zu begegnen. Er besaß einen noblen Geist. Der Geist und die Arbeit solcher „Bürger- Fotografen“ hat mich beeinflusst. Bücher wie Riis’ How the Other Half Lives: Studies Among the Tenements of New York (1890) und Let Us Now Praise Famous Men (1941) von James Agee und Walker Evans waren mir immer genau so wichtig wie die besten Filme. Horse Money ist der jüngste einer Reihe von Filmen, die Sie zusammen mit Ventura gemacht haben. Wie hat sich Ihre Zusammenarbeit mit der Zeit entwickelt? Es ist mehr und mehr offensichtlich, dass er aufrecht dastehen muss. Er muss über seinen Zustand nachdenken und Dinge sagen, die ich selbst nicht wüsste, wie ich sie sagen sollen. Er ist mein Orakel, und er hat zwei Gesichter. Er ist der Pionier, der Abenteurer, der Einwanderer, der die ganze Gewalt dieser verkommenden Gesellschaft überlebt hat. Gleichzeitig ist er auch der Dummkopf, der gefallene Held. Für mich verkörpert er beides, absolute Wahrheit und unvermeidliches Versagen. Die Leute sehen ihn im Film zittern und denken gleich an Parkinson oder so etwas. Das ist traurig. Haben diese Leute keine Augen? Ich muss dann daran denken, wie viel wir und das Kino durch diesen Verlust verloren 5/9 haben. Denken Sie an all die zerbrechlichen, verängstigten Menschen in den Filmen von Griffith, Murnau, Borzage und Mizoguchi. Was sie hat- ten, nannten wir „die menschliche Natur“ oder „die Dämonen unseres Inneren“. Faulkner sprach über „die Trauer und Unmenschlichkeit der Menschheit“. Zum Glück ist Venturas starke Seite immer noch sehr präsent. Er ist immer noch beeindruckend, und wenn ich das sage, meine ich es im fotografischen Sinn: Gary Cooper, Dana Andrews, Robert Ryan, Jimmy Stewart. Ich denke, er ist der letzte in einer Reihe großartiger Studio- schauspieler. Diese Art von Figur sehe ich in Filmen nur noch selten – bei Straub (auch wenn es eine Landschaft ist), manchmal bei Godard, manchmal bei Wang Bing, aber sonst bei kaum jemandem. Ich brauche ihn also. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich auch braucht Er sagt es mir nie, aber ich weiß dass ihn unsere Arbeit interessiert. Ich glaube, es hilft ihm, seinen vielen Alpträumen zu entfliehen. DerFilm hilft ihm, seine Beine in Bewegung zu halten, und manchmal auch seinen Verstand. Wir laufen. Wir wiederholen viele Einstellungen. Wir arbeiten viel. Filme zu machen ist immer noch ein körperlich sehr anstrengender Beruf. Naja, vielleicht nicht so anstrengend wie einen Stein auf den anderen zu legen (wie er zu sagen pflegt), aber es beschäftigt ihn doch und lenkt ihn ab.

6/9 The people‘s carpet is deepest red von VOLKO KAMENSKY

Pedro Costa ist auf Abwege geraten. Noch 1997 realisierte er seinen Film OSSOS mit großem Team, also 50 Leuten, und 35mm-Aufnahmetechnik. Völlig zu Recht wurde dieser düstere Film, in dem jedes einzelne Bild der Nacht abgetrotzt zu sein scheint, international gefeiert und erhielt auf den Filmfestspielen in Venedig den Osella-Preis für die beste Kamera. Es ist kaum zu übersehen, dass auch mit den Bildern Emmanuel Machuels, der bereits für Robert Bresson als Kameramann gearbeitet hatte, an eine europäische Tradition des Filmschaffens angeknüpft wurde, die sich selbst einiges abverlangt. Karge aber nicht minder präzise Dialoge erklingen in nur ausschnitthaft erfassten, von nichtprofessionellen Darstellern voll trauriger Würde durchschrittenen Spielräumen. Nichts ist hier zufällig, alles von brutaler und zugleich berauschender Notwendigkeit. Die kleinste Handbewegung, ein Wimpernschlag, der Blick auf eine Türklinke, das Geräusch eines sich drehenden Schließzylinders – all das ist keineswegs gefälliges Beiwerk eines wirkmächtigen Plots, sondern vielmehr die Substanz einer schaurig-schönen Hölle, in der dem Schicksal nichts entgegensetzbar scheint, da Freiheit und Selbstbestimmung ihren Weg einfach nicht hierher finden. Hier, damit ist Fontainhas gemeint. Ein wild gebauter, mitunter als Slum bezeichneter Lissabonner Vorort, von dem aus man im Morgengrauen aufbrechen kann, um in der Stadt Geschäfte, Praxen und Wohnungen zu reinigen. Oder man ist Mauerer, dann baut man dieselben. So oder so verdient man wenig, denn das übernehmen andere, und hat man keine Anstellung, wird es schwierig, es sei denn man weiß sich zu helfen. Dass die Polizei kommt, um das klandestine, informelle Gewerbe zu überprüfen, wird vermieden so gut es geht. In Fontainhas wird man geduldet und kein bisschen mehr, das wissen jedenfalls alle, die hier wohnen, ganz besonders aber jene, deren aufenthaltsrechtlicher Status ungeklärt ist. Denn wer hier lebt entstammt mit hoher Wahrscheinlichkeit entweder der ersten Generation an Siedlern, die in den 1950er und 1960er Jahren aus den bitterarmen ländlichen Provinzen kommend am Rande der Hauptstadt strandeten oder aber einer zweiten, Anfang der 1970er Jahre eintreffenden, mehrheitlich von den kolonialen Territorien Angola, Guinea-Bissau und den Kapverden ausgehenden Welle an Zuwanderern. Costa hatte Fontainhas für sich entdeckt, nachdem er auf den Kapverden gedreht und von den dortigen Mitarbeitern Geschenke für deren Freunde und Familienmitglieder in Lissabon anvertraut bekommen hatte. Bald nach dem ersten Besuch in Fontainhas sei der Wunsch entstanden, diesen von seinen Bewohnern selbst erbauten Ort in all seinen optischen und akustischen Besonderheiten, die sich aus der engen Verschränkung der Wohn- und Arbeitsbereiche und der nahezu vollständigen Abwesenheit von Kraftfahrzeugen ergeben, abzubilden.1 Insbesondere aber den Ausdruck der Bewohner einzufangen, denen es gelingt unter härtesten Bedingungen ihr Leben zu organisieren. Betrachtet man das Resultat in OSSOS, so möchte man meinen, diese Übertragung einer harschen Lebensrealität in das Medium Film sei auf umwerfende Art gelungen. Doch Costa war unzufrieden. Der Dreh sei ein Albtraum gewesen, die Arbeit mit dem zu großen Team und der teuren und trägen Filmtechnik in den ver- winkelten Gassen bei Nacht für alle Beteiligten, aber insbesondere für die Bewohner, eine blanke Zumutung. Das Filmteam habe nichts anderes gemacht als für gewöhnlich die Polizei, nämlich das Viertel abriegeln, mit Scheinwerfern den letzten Winkel durchleuchten und alle Bewegungen und Tätigkeiten der Bewohner unterbinden. Das was das Leben im Viertel ausmache, habe als Störung einer übergestülpten, rein von Außen kommenden Vision unterbunden werden müssen. Schon während des Drehs habe ihn die junge, widerborstige Darstellerin Vanda Duarte damit kon- frontiert, dass seine Kunst und der mit ihr verbundene Apparat gerade jene Realität vernichte, die sie zu finden und einzufangen vorgebe. Dass unter derartigen Bedin- gungen alles blind zerstört würde, um anschließend erst wieder für die Kamera und das Mikrofon unter größter Mühe neu erzeugt und als kleines Wunder inszeniert zu werden. Dass die bemühte Maschinerie so träge sei, dass sie nie imstande wäre wirkliche, zufällige Besonderheiten einer Situation festzuhalten und schließlich, dass er als Autor und Urheber dieses wirklichkeitsfernen Spektakels eine lächerliche Figur abgebe. 7/9 Eines ist sicher: Pedro Costa wusste diese vernichtende Kritik als Ge- 1 schenk anzunehmen und sein Folgeprojekt, in dem eben jene Vanda Duarte nicht Alle in diesem Text wiedergege- nur die Hauptrolle spielt, sondern zu dessen Titel sie auch ihren Vornamen beisteu- benen Äußerungen Pedro Costas erte, zeugt davon. IN VANDA´S ROOM (2001), ist das radikale und beunruhigend gehen auf in Hamburg zwischen dem schöne Resultat, einer sich über zwei Jahre erstreckenden Drehphase, in der die 28.06.15 und 01.07.15 geführte heroinabhängige Gemüsehändlerin Vanda und ihre Freunde gemeinsam mit Costa Gespräche zurück. einen Film erarbeiten, der auf jegliche Form von Drehbuch verzichtet und über das Fabulieren der Protagonisten zu seiner polyphonen Erzählung findet. Woher Costas 2 Vertrauen stammt, diesen Film auf dem Amateurstandard DV verwirklichen zu kön- Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. nen, bleibt auch rückblickend ein wenig rätselhaft. Er selbst sagt, er habe ein paar Kino 2, Frankfurt am Main 1991, Versuche gemacht und den Eindruck gewonnen, es könne vielleicht möglich sein, S. 198. unter Zuhilfenahme einiger Spiegel ein taugliches Bild zu erlangen. Es sei aber nicht Übersetzt von Klaus Englert. künstlerische Sicherheit gewesen, die ihn dabei angetrieben habe, sondern vielmehr der Wunsch dem Monster der Spielfilmproduktion mit großem Team zu entkommen und somit von der Konfusion zur Konzentration zu finden. Des Weiteren, endlich die Produktionsmittel wieder selbst in der Hand zu haben und der blinden Wachstum- sideologie, die nach immer größeren Produktionen verlange, zu widerstehen. Die Freiheit, die sich in der Folge durch Costas Abkehr von der klassischen Spielfilmproduktion eröffnet und der Mut ihrer Erfindung wirken, auch in den Folge- produktionen COLOSSAL YOUTH (2006) und HORSE MONEY (2014), trotz aller in ihnen formulierten sozialen Misere, ansteckend. Auffällig ist, dass mit der Vertrei- bung der Bewohner aus Fontainhas und mit der Vernichtung ihres Lebensraums (heute befindet sich an der Stelle des ehemaligen Slums ein Autobahnkreuz; die Protagonisten leben fortan in weit von der Stadt entfernten Sozialbauten) die phantastische Kraft der Erzählungen in den Filmen zunimmt und mit ihr der Stolz ihrer Urheber. Es ist schwer auszumachen, ob Pedro Costas ästhetische und produkti- onstechnische Filmkonzeption eher als Neuerfindung oder Wiederentdeckung einer (verschütteten) Praxis zu verstehen ist. Auch die Tragkraft seiner widerständigen Entscheidungen lässt sich heute, das heißt in einer Zeit, in der die Behauptung von Alternativlosigkeit alle Lebensbereiche dominiert, und die Mehrheit der Filme unter streng hierarchischen und antiquiert anmutenden Bedingungen entstehen, kaum ermessen. Der schlaue Gilles Deleuze hat einmal über einen ganz anderen Film, in dem die abgebildeten Personen ebenfalls ihre Geschichte aus dem Stegreif erarbeiten, das Potenzial einer solch mutigen Konstellation reflektiert. Er kommt dabei zu einem gegenwärtig wohl nahezu ungeheuerlich anmutenden Schluss: „Die Person (…) selbst wird zu einer anderen, wenn sie sich ans Fabulieren macht, ohne jemals fiktiv zu sein. Auch der Filmautor wird zu einem anderen, wenn er sich über reale Personen ‚vermittelt‘, die durch ihr eigenes Fabulieren seine Fiktionen en bloc ersetzen. Beide kommunizieren in der Erfindung eines Volkes.“2

Volko Kamensky ist Filmemacher und bildender Künstler, seit 2013 auch künstlerischer Mitarbeiter an der Kunsthochschule Kassel. Neben den experimentellen Dokumentarfilmen DIVINA OBSESIÓN (1999), ALLES WAS WIR HABEN (2004) und ORAL HISTORY (2009), zeichnet er sich verantwortlich für die Herausgabe des Sammelbandes TON. TEXTE ZUR AKUSTIK IM DOKU- MENTARFILM (Berlin 2013, gemeinsam mit Julian Rohrhuber).

8/9 Die Fontainhas-Tetralogie In ausgewählten Kinos sind neben HORSE MONEY auch die drei anderen Filme von Costas Fontainhas Tetralogie zu sehen.

OSSOS (HAUT UND KNOCHEN)

Portugal 1997 | R+B: Pedro Costa | K: Emmanuel Machuel | M: Wire, Os Sabura | D: Vanda Duarte, Nuno Vaz, Maria Lipkina, Isabel Ruth, Iñes de Medeiros | 94 min | OmeU |

»Tina, ein stilles Mädchen, ist abgestumpft durch die Armut und Enge ihrer Existenz und kämpft mit psychischen Problemen. Auch ihre neue Rolle als Mutter überfordert sie: Sie dreht den Gashahn auf. Für das Baby ist diese Kurz- schlussreaktion nur die erste von vielen Gefahren, denen es ausgesetzt ist. Der Film erzählt nicht nur vonmaterieller Not und Armut, sondern auch von der Armut der Gefühle, von der Unfähigkeit zu kommunizieren, zu lieben und Liebe anzu- nehmen. Dabei kommentiert, wertet oder moralisiert er nicht: In schonungslosen und zugleich poetischen Bildern beobachtet er seine Figuren, die ihrer Einsamkeit nicht entkommenund die weder ihre innere noch die äußere Enge ihrer Herkunft überwinden können.« (Birgit Kohler)

NO QUARTO DA VANDA (IN VANDAS ZIMMER)

Portugal 2000 | R+B+K: Pedro Costa | M: György Kurtág | D: Vanda Duarte, Zita Duarte, Lena Duarte, António Semedo Moreno, Paulo Nunes | 178 min | OmeU |

»Costa drehte mit einer Digitalkamera, die es ihm ermöglichte, Vanda allein zu begegnen. In Abwesenheit eines Filmteams entstand zwischen den bei- den eine gleichgültigvertraute Atmosphäre, die daran zweifeln lässt, ob sich Vanda der Gegenwart der Kamera überhaupt bewusst war. Ob sie dealt, ihre Freunde empfängt oder Erdbeeren putzt, es vergehen nie zehn Minuten, ohne dass sich Vanda einen Schuss setzt, ein minutiöses Ritual, das ihren Alltag prägt.« (Frédéric Mermoud)

JUVENTUDE EM MARCHA (JUGEND VORAN!)

Portugal 2006 | R+B: Pedro Costa | K: Pedro Costa, Leonardo Simões | M: Os Tubarões, György Kurtág | D: Ventura, Vanda Duarte, Beatriz Duarte, Gustavo Sumpta, Cila Cardoso | 154 min | OmeU |

»Costa begleitet Ventura bei seinen Wegen durch einen Slum und ein Neubauquartier am Rande von Lissabon. Der Slum wird abgerissen, die Bewohner werden umgesiedelt, was der Film jedoch nicht zeigt, sondern über die Erzählun- gen der Figuren einfängt. Mit großer Geduld hört Costa diesen Geschichten zu. Wenn etwa die einst heroinabhängige Vanda davon erzählt, wie sie ihre Tochter zur Welt brachte, dann weiß man genau, warum kein Schnitt das Mäandern ihrer Sätze unterbricht: Die Dauer der Einstellung ist das Einzige, was Vandas Schmerzen ge- recht werden kann.« (Cristina Nord)

9/9