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Soutines letzte Fahrt

Ralph Dutli: Soutines letzte Fahrt. Roman. – Göt­ gebrochen wird. Bei einem Fotografen in Minsk tingen : Wallstein, 2013. – 270 S. – ISBN 978-3- soll Soutine das Retuschieren lernen. Auch das 8353-1208-1; 19,90 EURO. verwirft er. Einzig interessant ist in Minsk Herr Krüger, der Privatstunden im Zeichnen gibt. Der Roman „Soutines letzte Fahrt“ von Ralph 1910 geht Soutine an die Kunstakademie in Dutli beschreibt das Leben und Sterben des ex- Wilna und schließt sein Studium drei Jahre spä- pressionistischen Malers Chaim Soutine. ter ab. Inzwischen hat er genug Geld für eine Dutli beginnt seine Geschichte über Soutine Zugfahrkarte nach gespart. Überglücklich am 6. August 1943. Der Maler leidet an einem und euphorisch kommt er in der Welthauptstadt schweren Magengeschwür. Er ist sehr krank und der Malerei an. Sein Freund Pinchus Kremegne soll so schnell wie möglich operiert werden. Seine wohnt bereits mit vielen anderen Künstlern in Lebensgefährtin, Marie-Berthe Aurenche, traut dem fast baufälligen Haus „La Ruche“. Hier trifft den Ärzten in dem Provinzstädtchen Chinon die- er , Alexander Archipenko, Fer­ sen Eingriff aber nicht zu und schafft es, Chaim nand Léger, und auch Amedeo Soutine in einem Leichenwagen als „lebendigen Modigliani, der ihm ein echter Freund wird. Toten“ nach Paris transportieren zu lassen. Dort Soutine schlägt sich durchs Leben. Er gibt soll er in einem angesehenen Hospital operiert kaum Geld für Lebensmittel und Kleidung aus, werden. Das Versteck im Leichenwagen und eine sondern nur für seine Farben. Durch sie drückt Route nur über Landstraßen sind notwendig, da er seinen Schmerz, seine Wut, seinen Hass und sich Soutine als Jude im von Deutschen besetz- seine Angst aus. Soutine malt gemarterte Tiere: ten Frankreich bereits der Deportation durch die gekreuzigte Truthähne, aufgehängte Hasen, de- Gestapo entziehen musste. Nun darf er nicht in ren Fell schon abgezogen ist, blutige Tierhälften, einen Kontrollposten der Besatzer geraten. deren Fleisch bereits vergammelt. Auch mit den Die Ärzte in Chinon geben dem Kranken Menschen auf seinen Bildern geht er nicht char- Morphium. Er nimmt die Fahrt im Rausch und manter um. Für ihn gibt es keinen makellosen in einem Dämmerzustand wahr. Klare Momente Körper, nur versehrte, knotige, geschundene Lei- sind selten. Entsprechend den Sinnestäuschun- ber. Wenn er Personen malt, altern die Modelle gen, den Fieberfantasien und dem Ringen mit sichtbar vor seinen Augen. In den wenigen Stun- dem Tod springen die Gedanken in den Kapiteln den, die sie vor ihm sitzen, werden sie zu Greisen. hin und her. Er lässt sein Leben Revue passieren, Durch seinen Freund Modigliani lernt Soutine doch nicht in chronologischer Folge. Erst nach den Kunsthändler Leopold Zborowski kennen. und nach setzt sich die Biografie des Malers aus Zunächst schätzt Zborowski den ungewasche- den verschiedenen Kapiteln für den Leser zusam- nen russischen Maler, der dafür bekannt ist, men: seine Werke nach der Vollendung zu zerstören, Soutine wurde 1893 als zehntes von elf Kindern gar nicht. Das ändert sich jedoch, als der ame- eines jüdischen Flickschneiders in Smilavichy, rikanische Arzt und Kunstsammler Alfred C. einem kleinen Dorf in Weißrussland, geboren. Barnes bei dem Kunsthändler auftaucht und alle Seine Kindheit ist hart und voller Entbehrungen. Gemälde von Soutine aufkauft, die Zborowski in In kleinen Anekdoten erzählt Dutli aus dem Le- seinem Haus hat. Das ist der Durchbruch. ben von Chaim Soutine in einer Zeit, in der Zucht Soutine verbringt die nächsten zwei Jahre und Ordnung herrschten und Liebe und Gebor- hauptsächlich in Cagnes-sur-Mer und führt dort genheit weit hintanstanden. Der Wunsch zu ein Luxusleben. In dieser Zeit trifft er Deborah malen entwickelt sich zum Drang, ja zur Beses- Melnik, die er noch aus seiner Zeit in Wilna senheit. Es scheint, dass Soutine bereits in seiner kennt. Sie bringt eine Tochter zur Welt, doch Jugend nicht anders kann, als zu malen. Weder Soutine bestreitet die Vaterschaft und will mit Brennnesseln im Bett, Ohrfeigen oder Schläge Mutter und Tochter nichts zu tun haben. Dutli mit dem Besenstiel, die auch sichtbare Narben erzählt diesen Teil der Lebensgeschichte erst am hinterlassen, halten ihn davon ab, auf Papier Ende des Buches. Er unterstellt Soutine Schuld- oder Wände mit was immer ihm zur Verfügung gefühle. steht, wie z. B. Holzkohle, zu malen. Um an Geld Am 16. Juli 1942 entgeht der Künstler einer für Stifte zu kommen, stiehlt er ein Messer und Razzia, bei der 13.000 Juden im Vél d’Hiv, der verkauft es. Konflikte mit der Familie, aber auch Radrennbahn von Paris, für fünf Tage zusam- mit seiner Umgebung, sind vorprogrammiert. mengepfercht und anschließend deportiert wer- Sein Vater schickt ihn zur Ausbildung weg. Er den. Das Leid der Gefangenen verfolgt ihn in soll auch Schneider werden. Doch Soutine stellt seinen Träumen. Soutine flüchtet, nach ihm wird sich dermaßen ungeschickt an, dass die Lehre ab- gesucht. Seine Bilder sollen beschlagnahmt und

72 AKMB-news 1/2014, Jahrgang 20 Ohne Zugang snummer nach Berlin verschickt werden. Unklar ist, ob Leid. Dem entspricht Dutlis Stil: Nicht nur mit sie dort als entartete Kunst verbrannt oder nach seiner Wortwahl, sondern auch durch die bizarre Amerika verkauft werden sollen, um die Kriegs- Schilderung mancher Episoden, teils sogar gan- kasse zu füllen. zer verwirrend erscheinender Kapitel, fühlt man Soutine versteckt sich auf dem Land. Doch das sich mit Soutine im Morphiumdelirium. Magengeschwür, das er schon seit Jahren hat, ist Es scheint, dass Dutli in seinem Schreibstil nun so schlimm, dass es operiert werden muss. Er Soutines Malstil nachempfindet. So wird, wie selbst ist nicht mehr in der Lage, Entscheidungen beim Expressionismus, die traditionelle Pers- zu treffen. Seine Lebensgefährtin Marie-Berthe pektive aufgelöst, indem Dutli keine klassisch Aurenche möchte für ihn nur das Beste: eine lineare Darstellung des Lebens mit einer chrono- Operation in einem angesehenen Pariser Hos- logischen Abfolge verwendet. Vielmehr gelingt pital. Am 9. August 1943 stirbt Chaim Soutine es ihm, Soutines Leben durch die scheinbar un- während der Operation. Nur wenige Menschen strukturierte Aneinanderreihung von Episoden sind bei der Beisetzung am 11. August 1943 auf zu einem facettenreichen Gesamtbild zusammen- dem Friedhof dabei. Unter ihnen zuführen. Wie das expressionistische Kunstwerk sind Pablo Picasso, Jean Cocteau und Max Jacob. dient der Roman nicht unbedingt dem leichten Ralph Dutli kennt sich mit der Materie, über Genuss. Vielmehr soll Soutines Leben in völlig die er schreibt, aus. 1954 in Schaffhausen gebo- neuer Weise zum Ausdruck gebracht werden. ren, studierte er in Zürich und Paris Romanistik Diese Herangehensweise ist sicherlich nicht und Russistik und promovierte 1984 zum Dr. für alle Leser gleichermaßen eingängig: Manche phil. In „Soutines letzte Fahrt“ schafft er es, den lieben den Expressionismus, manche können Leser mitzunehmen auf die Fahrt im Leichenwa- dieser Stilrichtung nur wenig abgewinnen. Aber gen und halb historisch, halb fiktiv das bisherige dass es sich bei dem Werk „Soutines letzte Fahrt“ Leben des Künstlers zu beschreiben. Dies gelingt um besondere Literatur handelt, wird nicht zu- ihm mit sehr sanften, poetischen Sätzen, die dem letzt durch die Nominierung sowohl für den oft harten, rohen und gewalttätigen Leben kaum Deutschen als auch für den Schweizer Buchpreis gerecht zu werden scheinen. Doch vor dem Hin- 2013 deutlich. tergrund der gefährlichen und lebensbedrohli- chen Situation des Protagonisten im Leichen­ Antje Gegenmantel – wagen relativiert sich rückblickend das erlebte (Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main)

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