Plenarprotokoll 19/189

Deutscher

Stenografischer Bericht

189. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- Dr. (AfD) ...... 23762 D neten ...... 23755 A (CDU/CSU) ...... 23763 D Wahl der Abgeordneten Isabel Mackensen als (FDP) ...... 23764 D Schriftführerin ...... 23755 A Erweiterung der Tagesordnung ...... 23755 D Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23765 C -Emre (SPD) ...... 23766 B Zusatzpunkt 12: Hansjörg Durz (CDU/CSU) ...... 23767 A Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU: (SPD) ...... 23768 A Wahl eines Mitglieds des Parlamentari- schen Kontrollgremiums gemäß Artikel 45d (CDU/CSU) ...... 23768 D des Grundgesetzes Drucksache 19/24038 ...... 23755 D Tagesordnungspunkt 9: Wahl ...... 23755 D a) Antrag der Abgeordneten Dr. Gottfried Ergebnis ...... 23796 A Curio, , Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD: Umgehung des Parlaments bei Tagesordnungspunkt 8: Corona-Maßnahmen beenden – Be- schlüsse des Corona-Gipfels vom Beratung der Unterrichtung der Enquete- 28. Oktober 2020 rückgängig machen Kommission Künstliche Intelligenz – Gesell- Drucksache 19/23949 ...... 23769 C schaftliche Verantwortung und wirtschaftli- che, soziale und ökologische Potenziale: Be- c) Beschlussempfehlung und Bericht des richt der Enquete-Kommission Künstliche Ausschusses für Inneres und Heimat zu Intelligenz – Gesellschaftliche Verantwor- dem Antrag der Abgeordneten Beatrix tung und wirtschaftliche, soziale und ökolo- von Storch, , Dr. Gottfried gische Potenziale Curio, weiterer Abgeordneter und der Drucksache 19/23700 ...... 23756 A Fraktion der AfD: Grundrechten trotz Corona wieder Geltung verschaffen – (SPD) ...... 23756 A Versammlungs- und Religionsfreiheit (AfD) ...... 23757 B auch während einer epidemischen Lage Nadine Schön (CDU/CSU) ...... 23758 A sichern Drucksachen 19/18977, 19/23805 ...... 23769 D (Südpfalz) (FDP) ...... 23759 A Dr. (AfD) ...... 23769 D Dr. (DIE LINKE) ...... 23760 A (CDU/CSU) ...... 23771 C Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23761 B Dr. (FDP) ...... 23772 D René Röspel (SPD) ...... 23762 A (SPD) ...... 23773 C II Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Dr. André Hahn (DIE LINKE) ...... 23775 A Tagesordnungspunkt 11: Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ a) Antrag der Abgeordneten Dr. Achim DIE GRÜNEN) ...... 23776 C Kessler, , Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der (CDU/CSU) ...... 23777 D Fraktion DIE LINKE: Beitragsbemes- (FDP) ...... 23778 D sungsgrenze der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung abschaffen und Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD) ...... 23779 D dadurch den Beitragssatz senken Alexander Krauß (CDU/CSU) ...... 23781 A Drucksache 19/23934 ...... 23796 D (CDU/CSU) ...... 23781 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Inneres und Heimat zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. , Susanne Ferschl, Matthias W. Tagesordnungspunkt 10: Birkwald, weiterer Abgeordneter und der a) – Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion DIE LINKE: Beamtinnen und Bundesregierung eingebrachten Ent- Beamten den Weg in die gesetzliche wurfs eines Gesetzes zur Beschleuni- Krankenversicherung erleichtern gung von Investitionen Drucksachen 19/1827, 19/22241 ...... 23796 D Drucksachen 19/22139, 19/22778, 19/23054 Nr. 6, 19/24040 ...... 23783 A c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit – Zweite und dritte Beratung des von den – zu dem Antrag der Abgeordneten Abgeordneten Torsten Herbst, Frank Dr. Achim Kessler, Susanne Ferschl, Sitta, Dr. , weiteren Abge- Matthias W. Birkwald, weiterer Abge- ordneten und der Fraktion der FDP ein- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: gebrachten Entwurfs eines Gesetzes für Ein System für alle – Privatversicher- ein Bundesfernstraßen-Baubeschleu- te in gesetzliche Krankenversiche- nigungsgesetz rung überführen Drucksachen 19/22106, 19/24040 ...... 23783 B – zu dem Antrag der Abgeordneten b) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. Achim Kessler, Susanne Ferschl, Ausschusses für Verkehr und digitale In- Matthias W. Birkwald, weiterer Abge- frastruktur zu dem Antrag der Abgeordne- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: ten Dr. , Leif-Erik Holm, Lebenslangen Bindungszwang an pri- , weiterer Abgeordneter vate Krankenversicherungen ab- und der Fraktion der AfD: Investitionsof- schaffen fensive im Infrastrukturbereich – Das Drucksachen 19/9229, 19/14371, Investitionsbeschleunigungsgesetz sinn- 19/24026 ...... 23797 A voll ergänzen Drucksachen 19/23131, 19/24040 ...... 23783 B Dr. Achim Kessler (DIE LINKE) ...... 23797 B Ulrich Lange (CDU/CSU) ...... 23783 C (CDU/CSU) ...... 23798 C Dr. Dirk Spaniel (AfD) ...... 23784 B (DIE LINKE) ...... 23799 D (SPD) ...... 23785 A Jörg Schneider (AfD) ...... 23800 D Torsten Herbst (FDP) ...... 23786 A (SPD) ...... 23802 A (DIE LINKE) ...... 23787 A Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) ...... 23803 A Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23788 A Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ , Bundesminister BMVI . . . . . 23789 A DIE GRÜNEN) ...... 23804 B Wolfgang Wiehle (AfD) ...... 23790 C (CDU/CSU) ...... 23805 C Detlef Müller (Chemnitz) (SPD) ...... 23791 A (AfD) ...... 23806 C Dr. Christian Jung (FDP) ...... 23792 A Martina Stamm-Fibich (SPD) ...... 23807 A (BÜNDNIS 90/ Dr. (FDP) ...... 23808 A DIE GRÜNEN) ...... 23792 C (CDU/CSU) ...... 23793 B (CDU/CSU) ...... 23808 C Kirsten Lühmann (SPD) ...... 23794 B (SPD) ...... 23809 D (CDU/CSU) ...... 23795 B (CDU/CSU) ...... 23810 D Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 III

Tagesordnungspunkt 36: in Verbindung mit a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zehn- Zusatzpunkt 3: ten Gesetzes zur Änderung des Weinge- setzes Antrag der Abgeordneten Roman Müller- Drucksache 19/23749 ...... 23812 A Böhm, Stephan Thomae, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der b) Erste Beratung des von den Abgeordneten FDP: Mediation stärken Roman Johannes Reusch, Dr. Bernd Drucksache 19/23936 ...... 23812 D Baumann, , weiteren Ab- geordneten und der Fraktion der AfD ein- gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes in Verbindung mit zur Änderung des Asylgesetzes Drucksache 19/23948 ...... 23812 A Tagesordnungspunkt 33: c) Antrag der Abgeordneten Dr. Rainer Kraft, b) Antrag der Abgeordneten Martin Hess, , , weiterer Dr. Bernd Baumann, Dr. Gottfried Curio, Abgeordneter und der Fraktion der AfD: weiterer Abgeordneter und der Fraktion Fukushima und Tschernobyl sachlich der AfD: Rechtsgrundlagen für einen betrachten – Der Atomausstieg war ein Präventivgewahrsam auf Bundesebene Fehler und muss rückgängig gemacht für Gefährder zeitnah schaffen werden Drucksache 19/23951 ...... 23812 D Drucksache 19/23955 ...... 23812 A d) Antrag der Abgeordneten , Marc Bernhard, , Tagesordnungspunkt 37: weiterer Abgeordneter und der Fraktion a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung der AfD: Verpflichtende Veröffentli- des von der Bundesregierung eingebrach- chung und Zuleitung der Ergebnisbe- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro- richte der Externen Qualitätskontrolle tokoll vom 9. Dezember 2019 zur Ände- der Deutschen Gesellschaft für Interna- rung des Abkommens vom 28. Juni 2004 tionale Zusammenarbeit an den Deut- zwischen der Bundesrepublik Deutsch- schen Bundestag land und der Republik Singapur zur Drucksache 19/23954 ...... 23812 B Vermeidung der Doppelbesteuerung e) Antrag der Abgeordneten Lorenz Gösta auf dem Gebiet der Steuern vom Ein- Beutin, , Dr. Gesine Lötzsch, kommen und vom Vermögen weiterer Abgeordneter und der Fraktion Drucksachen 19/22751, 19/23801 ...... 23813 A DIE LINKE: Ökostromausbau zukunfts- b) – Zweite und dritte Beratung des von der fähig gestalten Bundesregierung eingebrachten Ent- Drucksache 19/23933 ...... 23812 B wurfs eines Gesetzes zur Anpassung f) Antrag der Abgeordneten Konstantin der Kostenvorschriften im Bereich Kuhle, , Stephan Thomae, der Entsorgung radioaktiver Abfälle weiterer Abgeordneter und der Fraktion sowie zur Änderung weiterer Vor- der FDP: Liebe ist kein Tourismus – schriften Für eine faire und europaweite Rege- Drucksachen 19/22779, 19/23888 ...... 23813 B lung für binationale Paare – Bericht des Haushaltsausschusses Drucksache 19/23928 ...... 23812 C gemäß § 96 der Geschäftsordnung g) Antrag der Abgeordneten Roman Müller- Drucksache 19/23892 ...... 23813 B Böhm, Dr. (Rhein- c) Zweite und dritte Beratung des von der Neckar), , weiterer Ab- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs geordneter und der Fraktion der FDP: eines Gesetzes über die Umwandlung Wahlrecht ab 16 des Informationstechnikzentrums Bund Drucksache 19/23926 ...... 23812 C in eine nichtrechtsfähige Anstalt des h) Antrag der Abgeordneten Doris öffentlichen Rechts und zur Änderung Achelwilm, Dr. Petra Sitte, Simone weiterer Vorschriften Barrientos, weiterer Abgeordneter und Drucksachen 19/22784, 19/24036 ...... 23813 C der Fraktion DIE LINKE: Den öffent- d) Zweite und dritte Beratung des von der lich-rechtlichen Rundfunk zukunftsge- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs recht entwickeln – Qualität, Regiona- eines Gesetzes zur Verbesserung der lität und Solidarität ausbauen statt Datenübermittlung für Zwecke der abbauen Ernährungsvorsorge Drucksache 19/23937 ...... 23812 C Drucksachen 19/22860, 19/23754 ...... 23813 D IV Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 e) Zweite und dritte Beratung des von der Tagesordnungspunkt 13: Bundesregierung eingebrachten Entwurfs – Zweite und dritte Beratung des von der eines Gesetzes über die Feststellung des Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Wirtschaftsplans des ERP-Sonderver- eines Gesetzes zur Umsetzung der Richt- mögens für das Jahr 2021 – (ERP-Wirt- linien (EU) 2019/878 und (EU) 2019/879 schaftsplangesetz 2021) zur Reduzierung von Risiken und zur Drucksachen 19/22861, 19/24035 ...... 23814 A Stärkung der Proportionalität im Ban- f) Beschlussempfehlung und Bericht des kensektor (Risikoreduzierungsgesetz – Ausschusses für Verkehr und digitale In- RiG) frastruktur zu dem Antrag der Abgeordne- Drucksachen 19/22786, 19/24044 ...... 23831 B ten , , Torsten Herbst, weiterer Abgeordneter und der – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktion der FDP: Keine Diskriminie- Abgeordneten Stephan Brandner, Roman rung von Motorradfahrern Johannes Reusch, , weiteren Drucksachen 19/20778, 19/23981 ...... 23814 B Abgeordneten und der Fraktion der AfD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes g)–s) Beratung der Beschlussempfehlungen zur Änderung des Kreditwesengesetzes des Petitionsausschusses: Sammelüber- (Gesetz zur Sicherstellung der Verbrau- sichten 657, 658, 659, 660, 661, 662, cherrechte bei Sparkassennutzung) 663, 664, 665, 666, 667, 668 und 669 Drucksachen 19/11943, 19/24044 ...... 23831 C zu Petitionen Drucksachen 19/23777, 19/23778, (SPD) ...... 23831 C 19/23779, 19/23780, 19/23781, 19/23782, (FDP) ...... 23832 C 19/23783, 19/23784, 19/23785, 19/23786, 19/23787, 19/23788, 19/23789 ...... 23814 B (CDU/CSU) ...... 23833 B Jörg Cezanne (DIE LINKE) ...... 23834 B

Tagesordnungspunkt 12: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . 23835 A Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU (Heidelberg) (SPD) ...... 23835 C und SPD: Nachbesetzung eines Mitglieds des Nationalen Begleitgremiums gemäß Sepp Müller (CDU/CSU) ...... 23836 B § 8 Absatz 3 des Standortauswahlgesetzes Drucksache 19/23945 ...... 23815 D

Tagesordnungspunkt 14: Zusatzpunkt 4: Erste Beratung des von den Fraktionen FDP, Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der CDU/CSU und SPD: Islamistischen Ter- NEN eingebrachten Entwurfs eines Grund- ror in Europa entschieden bekämpfen – sätzegesetzes zur Ablösung der Staatsleis- Unsere freie Gesellschaft verteidigen tungen Drucksache 19/19273 ...... 23837 C Horst Seehofer, Bundesminister BMI ...... 23816 A (AfD) ...... 23817 A (FDP) ...... 23837 D Georg Maier, Minister (Thüringen) ...... 23818 A Hermann Gröhe (CDU/CSU) ...... 23838 C Stephan Thomae (FDP) ...... 23819 D Volker Münz (AfD) ...... 23839 B (DIE LINKE) ...... 23820 D Dr. (SPD) ...... 23840 A Dr. (BÜNDNIS 90/ Volker Münz (AfD) ...... 23841 C DIE GRÜNEN) ...... 23821 D Dr. Lars Castellucci (SPD) ...... 23842 A Dr. (CDU/CSU) ...... 23823 A Martin Hess (AfD) ...... 23824 A Benjamin Strasser (FDP) ...... 23842 A (SPD) ...... 23825 A Dr. Lars Castellucci (SPD) ...... 23842 C (CDU/CSU) ...... 23826 B (DIE LINKE) ...... 23842 D Uli Grötsch (SPD) ...... 23827 A Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 23828 A DIE GRÜNEN) ...... 23843 C Aydan Özoğuz (SPD) ...... 23828 D Philipp Amthor (CDU/CSU) ...... 23844 B (CDU/CSU) ...... 23830 A Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 23845 A Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 V

Tagesordnungspunkt 15: – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Witt, Jürgen Pohl, Jörg Schneider, wei- a) – Zweite und dritte Beratung des von der terer Abgeordneter und der Fraktion der Bundesregierung eingebrachten Ent- AfD: Taschengeld für die in Heimen wurfs eines Gesetzes zur Änderung lebenden Bürger des Windenergie-auf-See-Gesetzes und anderer Vorschriften – zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Drucksachen 19/20429, 19/22081, Kipping, Matthias W. Birkwald, 19/22346 Nr. 1.22, 19/24039 ...... 23845 D Susanne Ferschl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rechen- – Bericht des Haushaltsausschusses tricks überwinden – Regelbedarfe gemäß § 96 der Geschäftsordnung sauber berechnen Drucksache 19/24046 ...... 23845 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Sven b) Antrag der Abgeordneten Steffen Kotré, Lehmann, , Markus Kurth, Tino Chrupalla, , weiterer weiterer Abgeordneter und der Fraktion Abgeordneter und der Fraktion der AfD: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Teilhabe Strompreise effektiv senken – Energie- am gesellschaftlichen Leben garantie- versorgung wieder auf marktwirtschaft- ren – Regelbedarfsermittlung refor- liche Basis stellen mieren Drucksache 19/23953 ...... 23845 D Drucksachen 19/23128, 19/23113, c) Beschlussempfehlung und Bericht des 19/23124, 19/24034 ...... 23853 C Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Julia in Verbindung mit Verlinden, Dr. Ingrid Nestle, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zusatzpunkt 5: Ausbau der Offshore-Windenergie zu- Erste Beratung des von den Abgeordneten verlässig, naturverträglich und kosten- , , , günstig absichern weiteren Abgeordneten und der Fraktion der Drucksachen 19/20588, 19/24027 ...... 23846 A FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Elisabeth Winkelmeier-Becker, Parl. zur Änderung des Gesetzes zur Ermittlung Staatssekretärin BMWi ...... 23846 A der Regelbedarfe nach § 28 des Zwölften Steffen Kotré (AfD) ...... 23847 A Buches Sozialgesetzbuch Drucksache 19/23938 ...... 23853 C (SPD) ...... 23848 A (Wetzlar) (SPD) ...... 23853 D (FDP) ...... 23848 D Uwe Witt (AfD) ...... 23854 C Lorenz Gösta Beutin (DIE LINKE) ...... 23849 B Tobias Zech (CDU/CSU) ...... 23855 D Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23850 A Pascal Kober (FDP) ...... 23857 A Dr. (CDU/CSU) ...... 23850 D (DIE LINKE) ...... 23857 D Dr. Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/ Sven Lehmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23851 C DIE GRÜNEN) ...... 23858 C (SPD) ...... 23852 A Daniela Kolbe (SPD) ...... 23859 B Dr. (CDU/CSU) ...... 23860 A Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) ...... 23861 A Tagesordnungspunkt 16: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Tagesordnungspunkt 17: wurfs eines Gesetzes zur Ermittlung Zweite und dritte Beratung des von den Abge- von Regelbedarfen und zur Änderung ordneten Dr. , , des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch , weiteren Abgeordneten und sowie des Asylbewerberleistungsge- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzes eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Drucksachen 19/22750, 19/23549, fortlaufenden Untersuchung der Kriminali- 19/23839 Nr. 6, 19/24034 ...... 23853 B tätslage und ergänzenden Auswertung der – Bericht des Haushaltsausschusses ge- polizeilichen Kriminalitätsstatistik (Krimi- mäß § 96 der Geschäftsordnung nalitätsstatistikgesetz – KStatG) Drucksache 19/24047 ...... 23853 B Drucksachen 19/2000, 19/15259 ...... 23862 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales in Verbindung mit VI Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Zusatzpunkt 6: der FDP: Gemeinsam leben, gemeinsam ler- nen – Eine Bauoffensive für Studierende Antrag der Abgeordneten Martin Hess, und Auszubildende unter einem Dach Dr. Bernd Baumann, Dr. Gottfried Curio, wei- Drucksache 19/23927 ...... 23876 A terer Abgeordneter und der Fraktion der AfD: Mehr Transparenz bei der Analyse und (DIE LINKE) ...... 23876 A öffentlichen Darstellung von Kriminalität Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) ...... 23877 A im Kontext von Migration zur verbesserten Evaluierung der Sicherheits-, Integrations- Dr. Götz Frömming (AfD) ...... 23878 C und Migrationspolitik (SPD) ...... 23879 C Drucksache 19/23952 ...... 23862 D Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar) (FDP) . 23880 D Axel Müller (CDU/CSU) ...... 23862 D (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . 23881 D Martin Hess (AfD) ...... 23863 D Karsten Möring (CDU/CSU) ...... 23882 C (SPD) ...... 23864 C Benjamin Strasser (FDP) ...... 23865 D Tagesordnungspunkt 22: (DIE LINKE) ...... 23866 B a) Zweite und dritte Beratung des von den Dr. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ Fraktionen der CDU/CSU und SPD einge- DIE GRÜNEN) ...... 23866 D brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entfristung von Vorschriften zur Terro- (CDU/CSU) ...... 23867 C rismusbekämpfung (CDU/CSU) ...... 23868 C Drucksachen 19/23706, 19/24008 ...... 23883 D b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Roman Johannes Reusch, Tagesordnungspunkt 20: Stephan Brandner, , weiteren Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Abgeordneten und der Fraktion der AfD desregierung eingebrachten Entwurfs eines eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes Gesetzes zur Modernisierung des Berufs- zur Änderung des Strafgesetzbuchs qualifikationsfeststellungsgesetzes und des Drucksachen 19/22542, 19/23244 ...... 23883 D Fernunterrichtsschutzgesetzes Michael Brand (Fulda) (CDU/CSU) ...... 23884 A Drucksachen 19/21980, 19/22818, 19/23054 Nr. 13, 19/24045 ...... 23869 D Dr. Christian Wirth (AfD) ...... 23885 A Norbert Maria Altenkamp (CDU/CSU) ...... 23869 D Uli Grötsch (SPD) ...... 23886 A Nicole Höchst (AfD) ...... 23871 A Benjamin Strasser (FDP) ...... 23887 A Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 23887 D (SPD) ...... 23871 D Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar) (FDP) . 23873 A DIE GRÜNEN) ...... 23888 C Dr. Birke Bull-Bischoff (DIE LINKE) ...... 23873 C Christoph Bernstiel (CDU/CSU) ...... 23889 C Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/ Benjamin Strasser (FDP) ...... 23890 A DIE GRÜNEN) ...... 23874 B Christoph Bernstiel (CDU/CSU) ...... 23890 C Dr. (CDU/CSU) ...... 23875 A Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23891 A Tagesordnungspunkt 19: Christoph Bernstiel (CDU/CSU) ...... 23891 A Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke, Alexander Hoffmann (CDU/CSU) ...... 23891 C Dr. Petra Sitte, , weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kri- sensichere Unterstützungsangebote zur Tagesordnungspunkt 21: Verbesserung der sozialen Lage der Studie- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- renden schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit Drucksache 19/23931 ...... 23876 A und Entwicklung zu dem Antrag der Abgeord- neten , Lisa Paus, Ottmar von in Verbindung mit Holtz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schuldener- lass statt Schuldenfalle – Überschuldungs- Zusatzpunkt 7: krisen im Globalen Süden mit einem Staa- Antrag der Abgeordneten , teninsolvenzverfahren begegnen Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar), Frank Drucksachen 19/20789, 19/23319 ...... 23892 C Sitta, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (CDU/CSU) ...... 23892 D Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 VII

Markus Frohnmaier (AfD) ...... 23893 D Tagesordnungspunkt 26: (FDP) ...... 23894 C Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Eva-Maria Schreiber (DIE LINKE) ...... 23895 B desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Land- Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 23896 A wirtschaftserzeugnisse-Schulprogrammge- Dr. (CDU/CSU) ...... 23897 A setzes Drucksachen 19/22857, 19/23755 ...... 23910 A

Tagesordnungspunkt 23: in Verbindung mit – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Zusatzpunkt 8: eines Gesetzes zur Verschiebung des Zensus in das Jahr 2022 und zur Ände- Antrag der Abgeordneten , rung des Aufenthaltsgesetzes Frank Sitta, Dr. , weite- Drucksachen 19/22848, 19/23566, rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: 19/23839 Nr. 8, 19/24041 ...... 23897 D Waldschutzoffensive starten – Schädlings- befall stoppen, Schadholz bergen, Wälder – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß retten § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 19/21036 ...... 23910 B Drucksache 19/24048 ...... 23898 A (CDU/CSU) ...... 23910 B Petra Nicolaisen (CDU/CSU) ...... 23898 A Peter Felser (AfD) ...... 23911 B Dr. Christian Wirth (AfD) ...... 23898 D (SPD) ...... 23912 C (SPD) ...... 23899 C Karlheinz Busen (FDP) ...... 23913 B Stephan Thomae (FDP) ...... 23900 D Sabine Leidig (DIE LINKE) ...... 23914 A (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . 23901 C (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 23915 A Alexander Throm (CDU/CSU) ...... 23902 B Isabel Mackensen (SPD) ...... 23915 D

Tagesordnungspunkt 24: Nächste Sitzung ...... 23916 D Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Anlage 1 Gesetzes zur Stärkung der Sicherheit im Pass-, Ausweis- und ausländerrechtlichen Entschuldigte Abgeordnete ...... 23929 A Dokumentenwesen Drucksachen 19/21986, 19/22783, 19/23054 Nr. 8, 19/24007 ...... 23903 C Anlage 2 (CDU/CSU) ...... 23903 D Ergebnis und Namensverzeichnis der Mitglie- Dr. Christian Wirth (AfD) ...... 23904 C der des Deutschen Bundestages, die an der Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Helge Lindh (SPD) ...... 23905 B Kontrollgremiums gemäß Artikel 45d des Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ Grundgesetzes teilgenommen haben DIE GRÜNEN) ...... 23906 D (Zusatzpunkt 12) ...... 23930 A

Tagesordnungspunkt 25: Anlage 3 Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung desregierung eingebrachten Entwurfs eines – des von der Bundesregierung eingebrach- Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes ten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- zur Ausführung des Protokolls über Schad- zung der Richtlinien (EU) 2019/878 und stofffreisetzungs- und -verbringungsregis- (EU) 2019/879 zur Reduzierung von Risi- ter vom 21. Mai 2003 sowie zur Durchfüh- ken und zur Stärkung der Proportionalität rung der Verordnung (EG) Nr. 166/2006 im Bankensektor (Risikoreduzierungsge- Drucksachen 19/22846, 19/24009 ...... 23907 C setz – RiG) , Parl. Staatssekretär BMU . . . 23907 D – des von den Abgeordneten Stephan Brandner, Roman Johannes Reusch, Jens Dr. Rainer Kraft (AfD) ...... 23908 C Maier, weiteren Abgeordneten und der Dr. Bettina Hoffmann (BÜNDNIS 90/ Fraktion der AfD eingebrachten Entwurfs DIE GRÜNEN) ...... 23909 C eines … Gesetzes zur Änderung des Kre- VIII Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

ditwesengesetzes (Gesetz zur Sicherstel- (Tagesordnungspunkt 24) ...... 23935 B lung der Verbraucherrechte bei Sparkas- Hans-Jürgen Irmer (CDU/CSU) ...... 23935 B sennutzung) (Tagesordnungspunkt 13) ...... 23933 A Manuel Höferlin (FDP) ...... 23935 D Dr. (AfD) ...... 23933 A Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 23936 B

Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Anlage 7 Beschlussempfehlung und des Berichts des Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenar- des von der Bundesregierung eingebrachten beit und Entwicklung zu dem Antrag der Ab- Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung geordneten Uwe Kekeritz, Lisa Paus, Ottmar des Gesetzes zur Ausführung des Protokolls von Holtz, weiterer Abgeordneter und der über Schadstofffreisetzungs- und -verbrin- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: gungsregister vom 21. Mai 2003 sowie zur Schuldenerlass statt Schuldenfalle – Über- Durchführung der Verordnung (EG) schuldungskrisen im Globalen Süden mit Nr. 166/2006 einem Staateninsolvenzverfahren begegnen (Tagesordnungspunkt 21) ...... 23933 D (Tagesordnungspunkt 25) ...... 23936 D (SPD) ...... 23933 D Karsten Möring (CDU/CSU) ...... 23936 D (FDP) ...... 23937 B Anlage 5 Ralph Lenkert (DIE LINKE) ...... 23937 D Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung – des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Verschie- Anlage 8 bung des Zensus in das Jahr 2022 und zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung – des Berichts des Haushaltsausschusses – des von der Bundesregierung eingebrach- gemäß § 96 der Geschäftsordnung ten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur (Tagesordnungspunkt 23) ...... 23934 D Änderung des Landwirtschaftserzeugnis- Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 23934 D se-Schulprogrammgesetzes – des Antrags der Abgeordneten Karlheinz Busen, Frank Sitta, Dr. Gero Clemens Anlage 6 Hocker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Waldschutzoffensive Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung starten – Schädlingsbefall stoppen, Schad- des von der Bundesregierung eingebrachten holz bergen, Wälder retten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der (Tagesordnungspunkt 26 und Zusatzpunkt 8) . 23938 B Sicherheit im Pass-, Ausweis- und ausländer- rechtlichen Dokumentenwesen (CDU/CSU) ...... 23938 B Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23755

(A) (C)

189. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: – Herr Kollege Korte, man kann immer etwas sagen, aber Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte man kann vieles auch nicht sagen. nehmen Sie Platz. Die Sitzung ist eröffnet. ( [DIE LINKE]: Das stimmt, ja!) Vor Eintritt in die Tagesordnung gratuliere ich nach- Die Abwägung ist nicht immer ganz eindeutig. träglich dem Kollegen Bernd Riexinger zu seinem 65. Geburtstag. Alle guten Wünsche im Namen des gan- (Jan Korte [DIE LINKE]: Das ist wahr, ja!) zen Hauses! Jetzt fahren wir fort. (Beifall) (Dr. [FDP]: Ich finde es gut, Wir müssen zunächst noch eine Schriftführerin wäh- dass die Linken so hart für unsere Anträge len. Auf Vorschlag der SPD-Fraktion soll die Kollegin streiten!) (B) Isabel Mackensen als Nachfolgerin für den Kollegen Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord- (D) zur Schriftführerin gewählt werden. Sind nung um einen Zusatzpunkt zu erweitern. Es soll der Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU für die Wahl Dann ist die Kollegin Isabel Mackensen zur Schrift- eines Mitglieds des Parlamentarischen Kontrollgremiums führerin gewählt. aufgesetzt werden. Die Wahl soll direkt im Anschluss Die Fraktion der FDP hat fristgerecht gemäß § 20 aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Ich Absatz 2 Satz 3 der Geschäftsordnung beantragt, bei höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Tagesordnungspunkt 36 einen Gesetzentwurf des Bun- Dann rufe ich jetzt den eben aufgesetzten Zusatzpunkt desrates zur Änderung des Tiergesundheitsgesetzes auf 12 auf: Drucksache 19/21731 zur Überweisung ohne Debatte aufzusetzen. Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU für diesen Antrag der FDP-Fraktion? – Die FDP, Die Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Linke, Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Kontrollgremiums gemäß Artikel 45d des Die Koalitionsfraktionen. Wer enthält sich? – Die AfD. Grundgesetzes Dann ist der Antrag mit den Stimmen der Koalitions- Drucksache 19/24038 fraktionen gegen die Stimmen von FDP, Linke, Bünd- nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der AfD abgelehnt. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt auf Drucksache 19/24038 den Abgeordneten vor. (Jan Korte [DIE LINKE]: Teile der Koalition! Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglie- Teile der Koalition!) der des Bundestages auf sich vereint, das heißt, wer min- – Wird gezweifelt? destens 355 Stimmen erhält. Die Wahl erfolgt in der Abgeordnetenlobby. Um größere Ansammlungen zu ver- (Jan Korte [DIE LINKE]: Nein! Bei der Koa- meiden und den notwendigen Abstand voneinander wah- lition haben nur ein paar mitgestimmt!) ren zu können, haben Sie nach Eröffnung der Wahl drei – Wenn Sie das Abstimmungsergebnis anfechten wollen, Stunden Zeit, um Ihre Stimme abzugeben. dann lasse ich die Abstimmung – – Sie benötigen für diese Wahl die gelbe Stimmkarte und (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, Ihren gelben Wahlausweis. Den Wahlausweis entnehmen der SPD und der FDP – Jan Korte [DIE LIN- Sie bitte Ihrem Stimmkartenfach in der Westlobby. Die KE]: Nein, aber man kann es ja mal sagen! – Stimmkarten liegen auf den Ausgabetischen in der Abge- Zuruf von der CDU/CSU: Stoppt die Auszäh- ordnetenlobby aus. Diese Wahl findet offen statt. Die lung!) Stimmkarten können also in der Abgeordnetenlobby 23756 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) offen ausgefüllt werden. Gültig sind nur Stimmkarten mit wir gelernt. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen (C) einem Kreuz bei entweder „ja“, „nein“ oder „enthalte aus den Fachausschüssen: Schauen Sie sich die Unter- mich“. Bitte denken Sie daran, zuerst Ihren gelben Wahl- richtung genau an. Der Bericht hat auch nur 800 Seiten. ausweis abzugeben und dann die gelbe Stimmkarte ein- zuwerfen. Gehen Sie bitte nicht alle gleichzeitig zur Ganz im Ernst, liebe Gesundheitspolitikerinnen und Abstimmung. Denken Sie an die Pflicht zum Tragen der -politiker: Schauen Sie sich den Bericht an. Wir haben Mund-Nase-Bedeckung. Halten Sie bitte den Sicherheits- dort extrem konsensual für den Bereich Gesundheit die abstand ein. Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Chancen von KI-Systemen beschrieben. Wir machen Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – ganz konkrete Vorschläge, wie man zu mehr Gesund- Das ist der Fall. Ich eröffne die Wahl. Die Schließung heitsdaten kommen kann und wie man mit Pandemien der Wahl erfolgt um 12.05 Uhr.1) mithilfe von KI-Systemen besser umgehen kann. Das könnte doch von Interesse sein. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Beratung der Unterrichtung der Enquete-Kom- der CDU/CSU) mission Künstliche Intelligenz – Gesellschaftli- che Verantwortung und wirtschaftliche, soziale Liebe Wirtschaftspolitiker und Wirtschaftspolitikerin- und ökologische Potenziale nen, für euch ist dieser Bericht Pflichtlektüre. Wenn wir wirklich wollen, dass es eine KI „made in Germany“ gibt, Bericht der Enquete-Kommission Künstliche müsst ihr noch viel stärker loslegen. Intelligenz – Gesellschaftliche Verantwortung und wirtschaftliche, soziale und ökologische Und Gleiches gilt für die Forschungs- und Bildungs- Potenziale politikerinnen und -politiker. Wir haben sehr konkret beschrieben, dass und wie wir uns noch mehr For- Drucksache 19/23700 schungs- und Bildungsanstrengungen in diesem Bereich Für die Aussprache wurde eine Dauer von 60 Minuten erhoffen. beschlossen. Ich schätze, die Digitalpolitiker und Digitalpolitiker- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der innen haben den Bericht schon gelesen. Oder etwa noch Kollegin Daniela Kolbe, SPD. nicht? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich will meinen Blick auch mal in Richtung Arbeits- der CDU/CSU) marktpolitikerinnen und Arbeitsmarktpolitiker richten. Das ist nämlich der Punkt, bei dem sich die meisten (B) Menschen in Bezug auf KI-Systeme wirklich Sorgen (D) Daniela Kolbe (SPD): machen: Was für Auswirkungen hat KI auf meinen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und ganz persönlichen, ganz konkreten Arbeitsplatz? Und Kollegen! Wow, Donnerstag, 9 Uhr: Parlaments-Prime- hier macht der Bericht sehr konkrete Vorschläge, insbe- time. sondere auch zur Forschung im Arbeitsmarkt und dazu, ( [CDU/CSU]: Ja!) wie wir durch eine Verbesserung der Mitbestimmung aktiv werden können. Wir diskutieren heute den Abschlussbericht der Enquete- Kommission „Künstliche Intelligenz“. Ich muss sagen: Auch den Verkehrspolitikerinnen und -politikern – Der Zeitpunkt ist genau richtig und angemessen; denn Stichwort: autonomes Fahren –, den Kulturpolitikerinnen KI-Systeme prägen bereits heute einige Lebensbereiche und -politikern – Stichwort: soziale Medien –, den Euro- und einige Wirtschaftsbereiche sehr stark. Es ist davon papolitikerinnen und -politikern – Stichwort: Kartellrecht auszugehen, dass sie Einfluss auf alle Lebensbereiche und Regulierung – und natürlich den Haushaltspolitiker- nehmen werden. Diese Erkenntnis ist bei mir und unseren innen und -politikern und dem ganzen Rest des Hauses Mitgliedern der Enquete-Kommission während der zwei möchte ich eine ganz, ganz starke Leseempfehlung für Jahre Arbeit gewachsen. diesen wunderbaren Bericht geben. Es war richtig, diese Enquete-Kommission einzuset- Wir wollen, dass sich eine KI durchsetzt, die den Men- zen. Es war mir persönlich eine große Ehre, sie zu leiten. schen in den Mittelpunkt stellt. Und wenn das passieren Ich hatte es mit 18 selbstbewussten, wissbegierigen und soll, dann brauchen wir KI-Systeme, die etwas Sinnvol- meinungsstarken Mitgliedern des Bundestages zu tun und les, Sinnstiftendes tun, vielleicht reale Probleme lösen, mit 19 extrem sachverständigen externen Sachverständi- die das gut machen und denen man vertrauen kann. gen. Wir haben uns verschiedene Lebensbereiche in Wenn wir solche KI-Systeme haben, dann kann das Bezug auf künstliche Intelligenz angesehen und sind auch ein Unique Selling Point und eine wirkliche Wirt- zum Teil zu sehr konkreten und sehr spezifischen Hand- schaftsoption sein. lungsempfehlungen gekommen. Ja, man kann und man muss einige allgemeine Feststellungen zum Thema (Beifall bei der SPD) „künstliche Intelligenz“ treffen, aber wirklich spannend Mit welchem positiven Commitment die Leute daran- wird es, wenn man sich die ganz konkreten Auswirkun- gegangen sind, kann man auch daran erkennen, finde ich, gen und Handlungsoptionen anschaut. Auch das haben dass sieben Enquete-Mitglieder während dieser Zeit be- schlossen haben, Kinder in die Welt zu setzen. Allein fünf 1) Ergebnis Seite 23796 A weibliche MdBs haben sich entschieden: Wir probieren Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23757

Daniela Kolbe (A) das mal mit der Vereinbarkeit von Mandat und Familie. nicht viel übrig bleiben, liebe Kollegen, wenn es uns (C) Auch wenn ich nicht glaube, dass KI-Systeme da abseh- Europäern nicht gelingt, den Status einer digitalen Kolo- bar helfen werden, aber es zeigt den positiven Blick. nie abzustreifen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei der AfD) CDU/CSU) Die AfD hat in der Kommission vier inhaltliche Ich möchte an dieser Stelle herzlich Schwerpunkte eingebracht: grüßen, Obfrau der Union, die gerade in den Mutter- schutz gegangen ist, und bedanke mich für die Zusam- Erstens: digitale Souveränität und Sicherheit als menarbeit. Grundvoraussetzung des Einsatzes vertrauenswürdiger digitaler Technologien. Wir meinen, dass eine werteba- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie sierte, menschenzentrierte europäische KI, wie sie von bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE uns im Bericht wörtlich gefordert wird, nur mit eigener GRÜNEN) konkurrenzfähiger Hardware und eigener Software funk- Ebenso bedanke ich mich bei meinem Stellvertreter, tionieren kann. Eigene Netzwerkinfrastrukturen sind für Stefan Sauer, bei meinem Obmann, René Röspel, und einen eigenen europäischen Weg ebenfalls erforderlich. ganz, ganz besonders bei den externen Sachverständigen, Zweitens: die bedingungslose Garantie der Bürger- die uns bereichert haben. rechte und der Meinungsfreiheit als Grundpfeiler unserer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Demokratie. Die Meinungsfreiheit und der Austausch der CDU/CSU) konträrer Standpunkte im Internet werden bedroht: be- droht durch KI-Verfahren, die unerwünschte Äußerungen Mein letzter Dank gilt mit Blick auf die Besuchertri- unterdrücken; bedroht, wenn unliebsame Autoren von büne unserem wundervollen Sekretariat. Ohne die wäre der Mitwirkung an der gesellschaftlichen Debatte ausge- das nicht so gut geworden. schlossen werden – ausgeschlossen durch Algorithmen, (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) ausgeschlossen durch lernende Systeme. Ich sage ganz klar: Dieser Bericht ist gut geworden. Wie stark und mächtig die großen Konzerne sind, Deswegen: Die Arbeit fängt heute erst an. Wir übergeben haben wir alle gestern gesehen, als Twitter den amtie- den Bericht heute an den Bundestag mit einem guten renden US-Präsidenten zeitweise blockierte, und zwar Gefühl, aber auch mit der klaren Erwartung: Lesen Sie am Wahltag. den Bericht! Und lassen Sie ihn uns gemeinsam umset- (Zuruf von der SPD: Zu Recht!) zen, und zwar zügig! (B) Solch eine gefährliche Waffe, solch ein giftiges Instru- (D) Vielen Dank. ment gegen die Meinungsfreiheit wollen wir nicht in den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Händen ausländischer Konzerne, der CDU/CSU) (Beifall bei der AfD)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: und wir wollen sie auch nicht in den Händen dieser Nächster Redner ist der Kollege Peter Felser, AfD. Regierung wissen, meine Damen und Herren. (Beifall bei der AfD) Drittens. Deutsche Wissenschaftler, unsere Techniker, unsere Ingenieure sind der einzige Rohstoff, den unser Land fördern kann. Bildung ist deshalb für eine zukunfts- Peter Felser (AfD): fähige KI unabdingbar. Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kollegen! Unse- re Notebooks kommen von amerikanischen Firmen, das (Beifall bei der AfD) Internet durchsuchen wir mit Google, Onlineshopping Viertens. Der deutsche Mittelstand erwirtschaftet den erledigen wir über Amazon, unsere politischen Diskus- Wohlstand für unser Volk. Es ist der deutsche Mittel- sionen führen wir zunehmend auf Social-Media-Plattfor- stand! Er muss effektiv vor den großen internationalen men amerikanischer Anbieter, und übertragen werden all Tech-Konzernen geschützt werden. Er muss fit gemacht diese Daten in chinesischen Netzwerken. werden für den Einsatz und für die Nutzung von KI. Das war die Ausgangslage vor zwei Jahren, und das ist Wir haben letztendlich dem Abschlussbericht der auch heute, am Ende der Arbeit unserer Enquete-Kom- Kommission zugestimmt; wir haben mehrere Zusatzvo- mission „Künstliche Intelligenz“, die Ausgangslage. Lie- ten angefügt. Der Bericht ist aber nur der kleinste be Kollegen, Europa hat ein Problem, ein Souveränität- gemeinsame Nenner aller Fraktionen. Er ist eine Basis, sproblem. Im digitalen Zeitalter vollständig von ein erster Schritt auf einem langen Weg. Jetzt gilt es, das außereuropäischen Tech-Giganten abhängig zu sein, ist auch wirklich umzusetzen und voranzubringen. eine Katastrophe. Lassen Sie mich am Ende dem Sekretariat danken, das (Beifall bei der AfD) wirklich eine zuverlässige, hervorragende Arbeit geleis- In der Enquete-Kommission haben wir uns zwei Jahre tet hat. sehr intensiv mit den Chancen, aber auch den Risiken Vielen Dank. künstlicher Intelligenz beschäftigt. Von all den Chancen, die wir in der Kommission gesehen haben, wird aber (Beifall bei der AfD) 23758 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Ein herzliches Dankeschön natürlich auch an die Kol- (C) Nächste Rednerin ist die Kollegin Nadine Schön, leginnen und Kollegen; denn auch sie haben das neben CDU/CSU. ihrer tagtäglichen parlamentarischen Arbeit gemacht. Wir alle wissen, wie schwierig es ist, sich wirklich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- zurückzunehmen, Sachen grundsätzlich zu betrachten, ordneten der SPD) sich Zeit zu nehmen, Themen wirklich zu durchdringen – und das über zwei Jahre hinweg in sehr intensiven Debat- Nadine Schön (CDU/CSU): ten. Ein herzliches Dankeschön an alle MdB, die das in Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und den letzten zwei Jahren geleistet haben! Kollegen! Eine aktuelle Studie zeigt: Die Menschen in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Deutschland sehen Anwendungen der künstlichen Intelli- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE genz heute sehr viel positiver als zu dem Zeitpunkt, als GRÜNEN) wir die Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“ vor zwei Jahren ins Leben gerufen haben. Damals hat Besonders will ich mich natürlich bei unserer Obfrau etwa die Hälfte der Befragten gesagt, sie seien optimis- Ronja Kemmer bedanken, die wirklich Großartiges tisch, und etwa die andere Hälfte war sehr skeptisch. geleistet hat und mittlerweile von unserem Fraktionsvor- Heute ist es so, dass zwei von drei Befragten sagen: sitzenden zur KI-Beauftragten der Unionsfraktion er- Wir wollen die Chancen von künstlicher Intelligenz nut- nannt worden ist: ein deutliches Zeichen, dass für unsere zen: für uns, für bessere Mobilität, für bessere Gesund- Fraktion die Beschäftigung mit künstlicher Intelligenz heit, in der Verwaltung, in den Behörden, in vielen ande- nicht am heutigen Tag beendet ist, sondern dass wir das ren Bereichen. Das ist eine gute Entwicklung. zum Schwerpunkt unserer Fraktionsarbeit, unserer Zukunftsarbeit und unserer Innovationsarbeit für die Es wäre jetzt wahrscheinlich vermessen, zu sagen: Nur nächsten Jahre machen werden. die Enquete-Kommission ist daran „schuld“, dass das Bild von künstlicher Intelligenz heute positiver ist als (Beifall bei der CDU/CSU) vor zwei Jahren. Aber ich glaube schon, dass die Aus- Ein herzlicher Dank geht natürlich an die Mitarbeiter- einandersetzung im Parlament, im Herzen der Demokra- innen und Mitarbeiter. Das Ausschusssekretariat ist tie, mit der Technologie künstlicher Intelligenz und ihren erwähnt worden; die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Auswirkungen in Gesellschaft, Wirtschaft, Ökologie in den Fraktionen haben ebenfalls Enormes geleistet: einen ganz maßgeblichen Punkt in der Debatte darstellt, 800 Seiten Text stehen da, ein Fundus von guten Vor- ob die Menschen in Deutschland die Technologie als schlägen, von differenzierter Auseinandersetzung mit Chance oder als Bedrohung empfinden. diesem Thema. Daran haben eben auch die Mitarbeiter- (B) innen und Mitarbeiter einen riesigen Anteil – für uns Julia (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Dunker –: Ein herzliches Dankeschön! ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Deshalb will ich mich bei all denjenigen ganz herzlich bedanken, die in den letzten zwei Jahren diese Arbeit Uns als Unionsfraktion ist wichtig – das spiegelt sich geleistet haben: 38 Mitglieder hatte die Enquete-Kom- im Abschlussbericht und auch in den Sondervoten wider, mission, zur Hälfte Abgeordnete, zur Hälfte Sachverstän- wo durchaus auch Unterschiede in der Analyse deutlich dige. Dieses spezielle Format der Enquete-Kommission geworden sind –, dass wir einen chancenorientierten ist eben ganz besonders geeignet, politische Diskussio- Ansatz wollen. nen zu führen und sie breit anzulegen: mit politischen Die Europäische Union macht den Vorschlag eines Aspekten, mit ethischen Aspekten, mit wirtschaftlichen Ökosystems der Exzellenz und eines Ökosystems des Aspekten. Wir haben damals, als wir die Kommission Vertrauens. Wir sagen: Wir wollen auch ein Ökosystem zusammengesetzt haben, sehr gut darauf geachtet, dass der Agilität. Wir wollen Experimentierräume schaffen. die Sachverständigen dieses breite Themenspektrum Wir wollen, dass wir eine innovationsoffene Datenpolitik auch abdecken. machen: weg von Datensparsamkeit hin zu Datensorgfalt, Ganz besonders will ich den Sachverständigen danken; mit Datenpools, mit Datentreuhändern, die es überhaupt denn das waren viele, viele Stunden harter Arbeit: für die ermöglichen, den Fundus zu legen, um KI aufzubauen, Demokratie, für die demokratische Debatte. Das haben um KI-Systeme zu nutzen. Wir wollen einen innovations- sie alle nebenher gemacht, neben ihrer eigenen Tätigkeit offenen Umgang mit Daten, der die Persönlichkeitsrechte als Professoren, als Forscher, als Start-up-Gründerinnen, der Menschen schützt, aber gleichzeitig unserem wirt- als Theologen, als Professorinnen, in Universitäten und schaftlichen und gesellschaftlichen Bedürfnis nach Nut- Stiftungen. Sie alle haben dazu beigetragen, dass dieses zung von künstlicher Intelligenz gerecht wird. Das ist ein Bild der künstlichen Intelligenz heute positiver, realitäts- innovationsoffener Ansatz. Dafür haben wir auch in näher und konstruktiver ist als vor zwei Jahren. Ein herz- unserem Sondervotum plädiert. liches Dankeschön an diese Sachverständigen für die (Beifall bei der CDU/CSU) Power, die sie eingebracht haben! Und wir plädieren für eine Regulierung, die nicht ganz (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie klein nach Risikoklassen differenziert, sondern die den bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE konkreten Anwendungskontext in den Mittelpunkt stellt. GRÜNEN und des Abg. Mario Brandenburg Nicht jede KI ist gleich. Es kommt sehr darauf an, wo sie [Südpfalz] [FDP]) eingesetzt wird. Und deshalb müssen wir KI auch so Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23759

Nadine Schön (A) regulieren, dass wir die Chancen nutzen können, dass wir Wir können aber eben auch nicht verhehlen, dass wir (C) je nach Anwendungskontext die Risiken minimieren. Das uns an der einen oder anderen Stelle ein bisschen mehr ist unser Vorschlag, auch im Rahmen dieser Enquete- gewünscht hätten: ein Mehr an Zukunftsoptimismus, ein Kommission, und danach wollen wir die deutsche, aber bisschen mehr Technologieneutralität. Es gab immer wie- eben auch die europäische Politik gestalten. der den Versuch, bestimmte gesellschaftliche Probleme oder politische Wünsche auf eine Technologie outzusour- (Beifall bei der CDU/CSU) cen. Das mag politisch verständlich sein, ist aber tech- Lassen Sie uns die Chance von künstlicher Intelligenz nisch, fachlich falsch; denn bei allem Zauber, der der KI in den unterschiedlichsten Bereichen nutzen: beim The- in Hollywood und in manchen Medienberichten inne- ma Nachhaltigkeit, beim Thema Ökologie, bei gesell- wohnt: Wir sprechen immer noch über ein Werkzeug, schaftlichen Themen, wirtschaftlichen Themen. Wir und das kann nicht die Probleme, die wir als Menschheit haben die Chance, KI „made in Europe“ zum Alleinstel- über Tausende von Jahren aufgebaut haben, auf einmal lungsmerkmal Europas werden zu lassen, zur echten für uns lösen. Da braucht es mehr Rationalität, und das Chance wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art. Die war uns auch immer wichtig. 800 Seiten der Enquete-Kommission sind eine gute Grundlage. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Herzlichen Dank für die tolle Arbeit der letzten zwei der CDU/CSU) Jahre. Wir werden sie als Fundus für künftige Politikge- Wir haben das Mittel der Sondervoten mit Bedacht staltung betrachten. eingesetzt; denn wir glauben: Es macht einfach keinen Herzlichen Dank. Sinn, zwei Jahre lang gemeinsam einen Kompromiss zu suchen und dann eine Abhandlung zu schreiben, wie wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- alles viel besser gemacht hätten. – Wir haben es deswe- ordneten der SPD) gen nur an den Stellen genutzt, wo es uns auf der Meta- ebene einfach nicht gefallen oder wirklich unseren Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Ansichten widersprochen hat. Ich möchte als Beispiel Mario Brandenburg, FDP, ist der nächste Redner. die Diskussion um die sogenannte Ex-ante-Regulierung, (Beifall bei der FDP) also Regulierung im vorauseilenden Gehorsam, anspre- chen. Zum einen ist die KI in Deutschland in der Breite noch nicht in dem Ausmaß angekommen, dass die Bür- Mario Brandenburg (Südpfalz) (FDP): gerinnen und Bürger sich selbst ein Urteil bilden können – Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, liebe und nur durch Nutzung entsteht letzten Endes Mündig- (B) Kolleginnen und Kollegen! Werte künstliche Intelligen- keit –; zum anderen sind wir in vielen Bereichen eben (D) zen da draußen! Auch die FDP-Fraktion ist froh, dass der auch nicht führend. Das ist ein bisschen so, als wenn Abschlussbericht nun endlich das Licht des Parlaments Sie im Wettrennen Letzter sind, aber für die anderen ein bzw. der Welt erblickt hat. Wir haben gemeinsam zwei Tempolimit fordern. Das kann nicht das Ziel von Jahre in vielen Sitzungen verbracht. Das hat auch nicht Deutschland sein, und das ist nicht die Haltung der Freien immer nur Spaß gemacht. Nur, mit Verweis auf eine Demokraten. Wahl, die aktuell woanders stattfindet: Der Kompromiss und der Konsens, das ist in einer Demokratie eben auch (Beifall bei der FDP – Michael Grosse-Brömer ein Wert an sich. [CDU/CSU]: Das gilt besonders in der Ver- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kehrspolitik!) der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zum Schluss. Wenn man im Leben vorwärtskommen will, soll man sich ja auch immer selbst hinterfragen. Was Der Ball liegt jetzt bei Ihnen. Liebe Große Koalition, hätte ich persönlich anders gemacht, wenn ich noch mal liebe Regierung, lesen Sie sich die über 230 Vorschläge die Chance hätte, von Beginn an mitzumachen? Ich glau- durch, beginnen Sie, diese umzusetzen! Ende nächsten be, wir haben beim Einsetzungsbeschluss eine Chance im Jahres übernehmen dann wir in einem Digitalministe- Prinzip fallen gelassen. Dieser Bericht ist designt auf die rium, und dann läuft das Ding. Innenwirkung, als Handreichung für das Parlament. Wir (Heiterkeit und Beifall bei der FDP – René haben zwei Jahre lang über Hightech diskutiert, haben Röspel [SPD]: Der Witz war gut!) letzten Endes 800 Seiten Lowtech, nämlich Papier, pro- duziert. Wäre ich eine KI, könnte ich es nicht mal lesen. Lassen Sie uns zu den Inhalten kommen. Natürlich trägt die FDP-Fraktion diesen Bericht mit. Da stehen (Heiterkeit des Abg. Dr. Gero Clemens Hocker viele gute Punkte drin. Wir haben uns gerade im Wirt- [FDP]) schaftsteil für mehr Beinfreiheit und für eine bessere Finanzierung unserer Start-ups eingesetzt, für For- Insofern hätten wir uns im Sinne der Wissenschaftskom- schungsfreiheit durch sogenannte regulatorische Freiräu- munikation mehr anstrengen müssen. Mehr Beteiligung me. Da steht viel Richtiges. Aber auch im gesellschafts- wäre gut gewesen. politischen Teil – PG „Gesundheit“, ein wirklich toller Bericht – und im Teil „Mobilität“ steht viel Gutes drin. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Insofern gibt es an dieser Stelle von uns breite Zustim- der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- mung. NISSES 90/DIE GRÜNEN) 23760 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Mario Brandenburg (Südpfalz) (A) Liebe Regierung, lesen Sie es, nehmen Sie es auf! Mehrheiten der Kommission haben das aber tapfer ver- (C) Wenn ich noch mal eine solche Kommission einsetzen schleppt, mindestens über anderthalb Jahre. Öffentlich- dürfte, würde ich darauf achten, die externe Wirkung zu keit wurde erst zugelassen, als Ergebnisse vorlagen, und erhöhen, und darauf, dass die Darbietungsform eine das, meine Damen und Herren, darf einer Enquete-Kom- aktuellere ist. mission des Bundestages nie wieder passieren. Die letzten zehn Sekunden meiner Redezeit möchte ich (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- dafür nutzen, den Menschen, die im Hintergrund gewirkt neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN haben, in unserem Namen zu danken. Das Sekretariat und des Abg. Mario Brandenburg [Südpfalz] wurde genannt: Super Arbeit! Danke auch an alle Sach- [FDP]) verständigen! Ich würde mir ganz oft wünschen – ich Was war uns Linken besonders wichtig? Erstens: eine habe es an anderer Stelle schon gesagt –, bei bestimmten Balance zwischen Gemeinwohlorientierung und ökono- Diskussionen auch 50 Prozent der Beteiligten gegen ent- mischen Interessen. Unbestritten war, dass KI gesell- sprechende Experten austauschen zu dürfen. Das macht schaftsverändernden Charakter hat; auch deshalb muss vieles leichter. Uns viel Spaß mit der KI, und der KI viel Öffentlichkeit möglichst früh beteiligt werden. Leider Spaß mit uns! war diese Gemeinwohlorientierung – als Gewinn oder Danke schön. eben auch Gefährdung des Wohls der Allgemeinheit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten oder einzelner Menschen – in der Kommission bei Gott der CDU/CSU) kein Selbstläufer. Immer wieder mussten wir darauf drän- gen. Die Mehrheiten folgten schließlich dann doch einer Standortlogik; immerhin ist KI ein Milliardenmarkt. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Daher, meine Damen und Herren, werden sich die Kon- Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Petra Sitte, flikte, die wir schon vor der Digitalisierung und vor KI Die Linke. hatten, nicht einfach durch KI lösen, sondern sie werden (Beifall bei der LINKEN) sich erneut vertiefen, und das betrachten wir als vertane Chance. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Künstliche Zweitens. Zwar mag es die eine oder andere KI- Intelligenz oder – besser – maschinelles Lernen ist in der Anwendung „made in Germany“ geben, keinesfalls aber Tat eine epochale Technologie; insofern ist es allemal werden KI-Einzellösungen gegen die Machtkonzentra- gerechtfertigt, dass der Bundestag eine Enquete-Kom- tion in der Datenökonomie konkurrieren können. Zuge- (B) mission eingesetzt hat. spitzt will ich hier mal fragen: Wollen wir eine KI nach (D) Für die Zuhörer will ich vielleicht noch Folgendes vor- chinesischen Vorstellungen, eine hochentwickelte Tech- her sagen: Von künstlicher Intelligenz wird gesprochen, nologie, die in ungekanntem Ausmaß über Menschen wenn Computer Probleme lösen, die bisher nur mensch- Daten sammelt, jede Facette des öffentlichen und Ar- liche Intelligenz bewältigen konnte. Dafür werden diese beitslebens unter politischer Totalüberwachung? Oder mit Algorithmen, also Handlungsvorschriften, program- wollen wir vielleicht eine KI nach US-Vorbild, eine hoch- miert, und je mehr sie dann trainieren, je mehr Erfah- entwickelte Technologie, die in ungekanntem Ausmaß rungen bzw. Daten sie sammeln und auswerten, desto Daten über Menschen sammelt, jede Facette privaten genauer werden die Ergebnisse – denkt man. Aber: Men- und öffentlichen Lebens in der ökonomischen Totalver- schen irren aus vielen Gründen, Menschen verfolgen wertung und Überwachung von Beschäftigten? Interessen, insbesondere auch, wenn sie KI programmie- Wir Linke haben da eine andere Vorstellung. Es muss ren und einsetzen. Liefern nun Programmierer fehlerhafte ein europäischer Weg der Kooperation, aber auch der Algorithmen oder liegen einseitige Basisdaten zugrunde, Regulierung dieses intransparenten, oligopolen Platt- dann irren künstliche Intelligenzen zwar immer noch formmarktes eingeschlagen werden, und zwar hier und nicht, aber das, was rauskommt, erscheint uns als höchst heute mit mutigen, konsequenten und schnellen Entschei- fragwürdig, und demzufolge gibt es dann ein Akzeptanz- dungen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. problem. (Beifall bei der LINKEN) Wenn wir unser künftiges Entscheiden und Handeln nachhaltig von KI beeinflussen lassen, dann ist es not- Drittens. KI soll einen Beitrag zur sozioökonomischen wendig, dass wir unsere Souveränität erhalten, insbeson- und sozioökologischen Umwälzung leisten und den Kli- dere indem wir uns auch den Zugriff auf Algorithmen mawandel quasi als zivilisatorische Herausforderung erhalten. berücksichtigen. Auch hier ist die Kommission unter den Erfordernissen und ihren Möglichkeiten geblieben. (Beifall bei der LINKEN) Soziale Spaltung, national oder global, soziale Kontexte Das heißt, wir wollen, dass KI-Systeme auch gesell- dürfen bei KI-Anwendungen nie ausgeblendet werden, schaftlich und politisch kontrolliert werden können. sonst bewirkt die Logik bisherigen Wirtschaftens, also Kurzum: Da künstliche Intelligenz, wie schon angedeu- die ungebremste Wachstumsideologie, dass sich Unge- tet, positive und negative Erwartungen auslöst, muss eine rechtigkeiten an Macht und an Wohlstand weiter vertie- interessierte Öffentlichkeit, wie eben gesagt, möglichst fen. Insofern kann es natürlich niemanden überraschen, früh an solchen Diskussionen beteiligt werden und an dass in den Projektgruppen „Arbeit“ und „Wirtschaft“ den Schlussfolgerungen zu KI-Systemen teilhaben. Die das Konfliktpotenzial besonders groß war. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23761

Dr. Petra Sitte (A) Viertens. Verbindliche ethische Standards für KI-Sys- Es gilt: KI für Klimaschutz und KI gegen Corona. Wir (C) teme sind dringend notwendig. Die Nutzungsszenarien Grüne haben uns daher dafür eingesetzt, dass es dazu können individuelle Rechte schützen; aber sie können eigene Kapitel in dem vorliegenden Bericht gibt. So ist sie eben auch beschneiden. Ungleichheiten können sich es auch gekommen, und das ist gut so; denn künstliche vertiefen. Für hochsensible Bereiche, wie beispielsweise Intelligenz kann Windkraft produktiver machen, und ver- das Gesundheitswesen, die Finanzwelt, staatliche und netzte Mobilität kann Emissionen senken. soziale Institutionen, sind bereits Risikoklassemodelle entwickelt worden. Wir müssen hier anfangen, uns poli- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Brau- tisch zu entscheiden. Wir sagen: Je höher die Risiken chen wir endlich keine Fahrverbote mehr!) sind, desto konsequenter muss auch im Sinne der Men- KI ist aber auch selbst energiehungrig. Das heißt, wir schen reguliert werden. – Das hätte die Kommission müssen auch dafür sorgen, dass Rechenzentren effizient intensiver bearbeiten müssen. laufen und mit grünem Strom versorgt werden. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Besonders deutlich zeigt das die Empfehlung zum Ein- Im Gesundheitsbereich kann KI beispielsweise erken- satz von KI bei Waffensystemen. Man hat hier einen viel nen, ob jemand an Covid-19 erkrankt ist. Wie geht das? zu schwammigen Begriff aufgenommen, der zwar in der KI kann am Geräusch des Hustens den Unterschied er- internationalen Aushandlung üblich ist, nämlich den kennen, ob es Coronahusten ist oder nicht. Hierin stecken Begriff „Ächtung“, aber wir als Linke sagen: Hier und enorme Chancen für neue Teststrategien. Auch in der heute ist es notwendig, von der Bundesregierung ein Modellierung der Pandemie, die uns bei der Entwicklung sofortiges Verbot solcher Waffensysteme klar zu fordern der richtigen Strategien zu ihrer Überwindung hilft, lie- und das zum Ausgangspunkt von Verhandlungen zu gen enorme Chancen, die wir jetzt nutzen müssen. machen. Wir wollen keine autonomen Terminator-Syste- me. In der Onlinebeteiligung, die leider tatsächlich viel zu spät kam, wurde auch deutlich: Gerade im Medizinbe- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- reich sehen die Menschen positive Effekte von KI. Dafür neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) brauchen wir dann aber entsprechende Datenpools, die im Gesundheitskapitel auch sehr genau beschrieben wer- Meine Damen und Herren, jetzt werden die Weichen den. Unsere europäischen Standards für Datenschutz und gestellt. Die Linke wird sich daher beim Einsatz von KI- Grundrechte bieten hier eine Chance, vertrauenswürdige Systemen für Transparenz, Diskriminierungs- und Bar- und transparente KI-Lösungen gegen Corona und im rierefreiheit, hohe soziale und ethische Standards, für Medizinbereich allgemein zu schaffen. (B) gestärkte soziale Sicherungssysteme und schließlich (D) natürlich für die konsequente Einhaltung von Grund- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Menschenrechten einsetzen. Bei all den Chancen müssen wir natürlich auch sicher- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. stellen, dass KI nicht selbst zu Krisen beiträgt. Die aktuel- le Lage in den USA zeigt uns, wie fragil Demokratie sein (Beifall bei der LINKEN) kann. Soziale Medien spielen dabei eine enorme Rolle. KI kann dafür sorgen, welche Information oder auch Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: welche Desinformation wer wie zu sehen bekommt. Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Anna Hier braucht es klare Regeln, und die haben wir auch in Christmann, Bündnis 90/Die Grünen. einem Sondervotum als Grüne eingefordert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Damit wir aber über all diese Dinge entscheiden kön- Dr. Anna Christmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen – Chancen nutzen, Risiken minimieren –, brauchen NEN): wir die Expertise in Europa. Wir brauchen die klugen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Köpfe, die KI bei uns entwickeln und uns ermöglichen, Kollegen! Wir befinden uns mitten in den großen Krisen mitzuentscheiden, statt nur auf der Zuschauerbank zu des 21. Jahrhunderts; die Wälder brennen längst nicht sitzen. Deswegen war uns besonders wichtig, dass dieser mehr nur in Kalifornien oder Australien, sie brennen Bericht auch einen europäischen Geist atmet. Hier sind auch hier bei uns. Ein Hitzesommer jagt den nächsten. wir weiter als die national ausgerichtete KI-Strategie der Zudem stecken wir in einer Pandemie, obwohl wir doch Bundesregierung, und ich hoffe, dass sich die Bundesre- gedacht hätten: Ein Hochtechnologieland wie uns kann gierung an diesem europäischen Geist einer „künstlichen das doch gar nicht mehr erwischen. – Anders ist es ge- Intelligenz made in Europe“, der uns als Grünen beson- kommen. Corona hat auch uns fest im Griff. ders wichtig ist, orientieren wird. Diese Krisen des 21. Jahrhunderts müssen wir auch mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den Mitteln des 21. Jahrhunderts bekämpfen. Dazu ge- hört die Nutzung von künstlicher Intelligenz. Wir müssen Damit komme ich hier zum Schluss, insgesamt ist es diese zum Wohl von Mensch und Umwelt einsetzen, und aber natürlich der Anfang: Jetzt kommt es auf die Um- dafür stehen wir als Grüne. setzung an. Auch ich möchte natürlich allen Beteiligten für die gute Zusammenarbeit danken und freue mich, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) diese Schritte jetzt hoffentlich auch gehen zu können. 23762 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Dr. Anna Christmann (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Teilhabe geschaffen werden kann. Das bedeutet, dass wir (C) sowie der Abg. Daniela Kolbe [SPD]) betriebliche Mitbestimmung ausbauen und stärken wol- len. Mitbestimmung der Arbeitnehmer in diesem Bereich Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: der künstlichen Intelligenz ist wesentliche Voraussetzung dafür, dass künstliche Intelligenz in Deutschland arbeits- Nächster Redner ist der Kollege René Röspel, SPD. und sozialverträglich eingeführt werden kann. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) René Röspel (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Auf die Frage „Wird eine Maschine, ein Algorithmus Herren! Tatsächlich: Künstliche Intelligenz birgt große über mich entscheiden?“ haben wir als SPD eine deut- Potenziale und hat die Chance, das Leben von Menschen liche Antwort: Nein, für uns steht der Mensch im Mittel- und Gesellschaften besser zu machen – wenn wir es rich- punkt und nicht Markt oder Staat. – Wir sind deswegen tig begleiten und anfassen, denke ich. der Auffassung, dass es an wichtigen Stellen – unter dem Stichwort „Vorsorgeprinzip“ übrigens – ein abgestuftes Wir haben gerade schon gehört: Die Chancen im Be- Risikomanagement, eine Einschätzung von Risiken reich von Gesundheit und Medizin sind groß, Medizin- geben muss und eben auch da, wo es sinnvoll ist, Regula- erinnen und Mediziner durch künstliche Intelligenz bei tionsmechanismen; das, glaube ich, ist der einzige Weg, besseren Diagnosen und besseren Therapien zu unterstüt- dass künstliche Intelligenz eine positive Wirkung in zen, Therapien durchzusetzen und das Leben besser zu Deutschland und Europa entfalten darf. machen. Wir haben mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz die Möglichkeiten, effizienter und schonender Zum Schluss darf ich mich ganz herzlich bei unseren mit Ressourcen und Energie umzugehen. Sachverständigen Lena-Sophie Müller, Jan Kuhlen, Sami Haddadin und Lothar Schröder bedanken. Wir haben Aber es kann eben auch genau andersherum laufen, richtig viel gelernt, toll diskutiert. Ich hoffe, dass sie wenn wir die Entwicklung von künstlicher Intelligenz – uns auf dem Weg der Umsetzung von KI zu einer das ist unsere Auffassung als SPD – nicht begleiten und menschengerechten, sozialverträglichen Technologie in wenn wir nicht an den richtigen Stellen auch Regulations- Deutschland weiter unterstützen. mechanismen einbauen. Wenn ich auf der Straße oder in Veranstaltungen mit Vielen Dank. Menschen rede, die sich vielleicht mit dem Thema nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten intensiv befasst haben, äußern diese auf die Frage „Was der LINKEN und des Abg. Stefan Sauer [CDU/ (B) haben Sie für einen Eindruck von künstlicher Intelligenz? CSU]) (D) Was wird passieren?“ eigentlich zuerst die Befürchtung und die Sorge: Wird eine Maschine mal einen Arbeits- platz übernehmen? Die zweite Befürchtung ist in der Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Regel: Wird ein Algorithmus künftig über mich entschei- Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Marc den? Jongen, AfD. Tatsächlich wissen wir relativ wenig darüber, wie viele (Beifall bei der AfD) Arbeitsplätze, wie viele Tätigkeiten sich verändern, wie viele wegfallen und wie viele neu entstehen werden. Wir Dr. Marc Jongen (AfD): brauchen dazu definitiv mehr Forschung. Ich bin froh, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! KI, künst- dass sich das Bundesarbeitsministerium schon auf den liche Intelligenz, lässt Autos autonom fahren, spielt Weg gemacht hat, um mit der Denkfabrik Digitale Schach und schlägt jeden Großmeister, übersetzt Texte, Arbeitsgesellschaft genau in diesen Bereich hineinzu- erkennt Sprache und Gesichter, entwickelt Therapien für schauen. Kranke und steuert ganze industrielle Fertigungsanlagen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) KI ist der wesentliche Treiber der digitalen Revolution, die die gesamte menschliche Zivilisation erfasst hat und Aber es geht ja auch nicht nur darum, zu identifizieren, in hohem Tempo umgestaltet. Man könnte auch sagen: KI ob 10 Gabelstaplerfahrer in einem Unternehmen künftig ist das Schicksal. Und wie schon Seneca wusste: Den möglicherweise durch Roboter ersetzt und an anderer Willigen führt das Schicksal, den Unwilligen treibt es. Stelle 20 neue Arbeitsplätze entstehen werden. Es geht nicht ums Saldieren, sondern am Ende ist uns als Sozial- Darum, meine Damen und Herren, ist es eminent wich- demokratie wichtig, was mit den 10 Menschen, die ihren tig, dass wir in Deutschland und Europa auf den Kamm Arbeitsplatz verlieren, passiert. Die wichtigsten Punkte der immer höher ansteigenden KI-Welle gelangen und dabei sind Qualifizierung und Begleitung. Wir wollen uns wenigstens eine gewisse Steuerungskompetenz diese Menschen nicht alleinlassen, sondern sie darin un- erhalten in diesem unausweichlichen Geschehen und terstützen, diesen technologischen, diesen digitalen Wan- nicht nur getrieben oder gar überrollt werden von den del auch gut überstehen zu können. führenden KI-Mächten China und USA. Das setzt an vielen Punkten an. Wir sind sehr überzeugt Dass Millionen Arbeitsplätze durch KI wegfallen wer- davon, dass die Betriebe, gerade die Mittelständler, im den, ist nicht zu verhindern. Es geht darum, sicherzu- Umgang mit künstlicher Intelligenz unterstützt werden stellen, dass ebenso viele neue entstehen und dass sie müssen. Aber wir glauben auch, dass Vertrauen nur durch vor allem bei uns entstehen. Wir brauchen Steuererleich- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23763

Dr. Marc Jongen (A) terungen und Abbau bürokratischer Hürden für kreative Im schlimmsten Fall werden sich die Menschen in (C) KI-Start-ups, und wir müssen die KI-Forschungskompe- 50 Jahren daran erinnern, dass im Jahr 2020 mit tenz in Deutschland massiv ausbauen. Hilfe der Digitalisierung die allgegenwärtige Über- wachung durch den Staat begann. (Beifall bei der AfD) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Über Auch wenn Sie unsere Forderung nach einem zentralen die Coronapandemie hat er aber nichts gesagt! – KI-Campus abgelehnt haben: Wir von der AfD sind wei- Zuruf des Abg. Dr. Danyal Bayaz [BÜND- terhin überzeugt, dass ein solches deutsches MIT notwen- NIS 90/DIE GRÜNEN]) dig ist für echte Spitzenforschung, und werden uns wei- terhin dafür einsetzen. Das darf auf keinen Fall Wirklichkeit werden, meine Damen und Herren! In der Enquete-Kommission KI des Bundestages war es Konsens – den auch die AfD-Fraktion mitträgt –, dass (Beifall bei der AfD) wir uns am Leitbild einer menschenzentrierten KI orien- Die Enquete-Kommission „KI“ hat ihre Arbeit nach tieren wollen, gerade auch im Unterschied zu China, teils zweieinhalb Jahren mit einem 800-Seiten-Bericht abge- auch zu den USA: Im Abschlussbericht heißt es: schlossen. Ich bin dankbar, dass ich ein klein wenig dazu beisteuern konnte, gemeinsam mit den Kollegen Joana Das bedeutet, dass KI-Anwendungen vorrangig auf Cotar und Peter Felser, und auch von den Experten eini- das Wohl und die Würde der Menschen ausgerichtet ges lernen konnte. sein und einen gesellschaftlichen Nutzen bringen sollten. Die eigentliche Herausforderung der Politik durch KI beginnt aber erst. Die AfD-Fraktion wird jede Erweite- Ja. Wer will das nicht? Aber wir müssen sehr genau rung unserer Handlungsmöglichkeiten durch KI begrü- hinsehen, wie wir diesen Nutzen definieren, meine ßen, unsere Freiheit und Demokratie aber ebenso ent- Damen und Herren. Die Kommunistische Partei Chinas schlossen gegen die neuen Gefahren verteidigen. hat bereits 2014 ein Sozialkreditsystem eingeführt, das jetzt dank KI schrittweise auf alle Bürger, Behörden Vielen Dank. und Firmen ausgedehnt wird – ein umfassender Versuch (Beifall bei der AfD) digitaler Sozialkontrolle: Wer sich nicht benimmt, der bekommt Strafpunkte, dessen Aktionsradius wird immer mehr eingeschränkt, von der Reiseeinschränkung bis zur Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Beendigung der Karriere. KI und Big Data eröffnen Mög- Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Stefan Sauer, lichkeiten zu einer Diktatur 2.0, von der die totalitären CDU/CSU. (B) (D) Systeme des 20. Jahrhunderts nur träumen konnten. (Beifall bei der CDU/CSU) Wer glaubt, wir seien in Deutschland gegen Derartiges gefeit, der höre beispielsweise dem Bremer CDU-Abge- Stefan Sauer (CDU/CSU): ordneten Thomas Röwekamp zu, der vor Kurzem in der Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Bremischen Bürgerschaft sagte, die Corona-Warn-App Kollegen! Zwei Jahre durfte ich mich sehr intensiv mit bleibe weit unter ihren Möglichkeiten, sie müsse buß- dem Thema „künstliche Intelligenz“ beschäftigen, und es geldbewehrt zur Pflicht werden. ist mir einmal mehr vor Augen geführt worden, wie weit die Spanne ist zwischen der Innovation und der Chance (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist auf der einen Seite, aber auch Misstrauen und Angst und ziemlich weit weg von plus und minus!) Sorge auf der anderen Seite. Wenn ich Misstrauen anspre- Die digitalen Möglichkeiten wecken auch hierzulande che: Das wurde eben in den Beiträgen schon zum Aus- offenbar den totalitären Appetit bei den Regierenden. druck gebracht, von Frau Dr. Sitte für die Linken und von Schon jetzt werden Bürgerrechte außer Kraft gesetzt, Herrn Dr. Jongen für die AfD. bald soll offenbar die Überwachung dank KI greifen – Ich glaube, das ist die falsche Grundlage, wenn man alles zum Wohl des Menschen und zum gesellschaftli- mit der Zukunft umgehen möchte. Wir haben ein Tech- chen Nutzen natürlich. nologiewerkzeug vor uns, das uns große Chancen bietet, (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Irrer wo wir viel erreichen können, wenn wir es gut integrie- Vergleich!) ren, wenn wir die Welt als digital vernetzte Welt akzep- tieren und darunter auch KI als ein Instrument betrachten, – Ein irrer Vergleich, meinen Sie? das uns hierbei unterstützt. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Finde Es waren auch für mich zwei intensive Jahre, zeitweise ich!) sehr intensiv – man hätte auf manche Momente verzich- ten können. Ich zitiere Ihnen den israelischen Historiker und Star- intellektuellen Yuval Noah Harari, (Jan Korte [DIE LINKE]: Das glaube ich bei Ihrem Beitrag auch!) (Zuruf des Abg. Dr. [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Abstimmung, die Debatte helfen aber, ja, das tut uns wirklich gut. Und es war lehrreich dank der Ergänzungen der kürzlich, auf die Coronakrise angesprochen, sagte – durch Sachverständige, die uns dauerhaft begleitet haben, ich zitiere –: im kleinen Zirkel, aber auch im großen. Ich darf deshalb 23764 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Stefan Sauer (A) Danke sagen allen, die mitgewirkt haben; denn es waren ( [DIE LINKE]: Wir sind doch (C) in der Summe 270 Personen, die dem Werk direkt oder nicht verpflichtet, Ihnen überall zuzustimmen!) indirekt eine Qualität geschenkt haben. Das mächtige Werkzeug KI verdient Verantwortung. Ich bin der Meinung, wir haben zum einen den breiten Wir haben diese als CDU/CSU-Fraktion übernommen. Konsens hergestellt, dass KI eine für uns wichtige, Wir haben in einer realistischen, innovationsfreundlichen zukunftsfähige Technologie ist; es ist in allen Lebensbe- und chancenorientierten Debatte dazu beigetragen, dass reichen so, dass KI uns bewegt. Zum Zweiten – das ist in wir einen wesentlichen Schritt nach vorne kommen. allen Beiträgen schon zum Ausdruck gekommen –: Der Mensch muss hierbei im Mittelpunkt stehen, KI ist euro- Zur Regulierung kann man sagen: Es braucht die kon- päisch zu denken und zu entwickeln; wir brauchen dies krete KI in den Anwendungen. Es geht darum, zu be- auf einer gemeinsamen Wertebasis. Ich blicke deshalb trachten, wo KI wie wirkt. Wir müssen aufpassen, dass auf eine vertrauenswürdige Marke der KI und sage: Wir wir nicht überregulieren, dass wir die Wettbewerbsfähig- sollten nicht die ganze Zeit in die USA und nach China keit und die Innovationskraft nicht schwächen. Deshalb schauen und nur darüber sprechen, was wir nicht wollen, freut es mich, dass wir die bereits angesprochene KI- sondern wir sollten die Zeit nutzen, um unsere eigene KI Beauftragte, Ronja Kemmer, in unserer Fraktion haben, aufzubauen, im Rahmen der europäischen Gemeinschaft. die das Thema vorantreiben will. Und da sind ja schon gute Akzente gesetzt worden in der Für uns ist der Bericht kein Papier für die Schublade. Zusammenarbeit mit Frankreich. Für uns ist er ein Impulsgeber für das Parlament. Ich sage (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) deshalb Danke all jenen, die an der Erstellung mitgewirkt Als Bürgermeister und Kommunalpolitiker habe ich haben, vor allem dem Büro der Enquete-Kommission immer gesagt: Wir brauchen Akzeptanz. Akzeptanz „Künstliche Intelligenz“, Ihnen, Frau Bülter, und Ihrem beim Bürger stellen wir her, indem wir eine breite Trans- Team, aber auch den Mitarbeitern in unseren Büros und parenz schaffen, darauf baut sich Vertrauen auf, und in den Fraktionen. daraus kann Sicherheit entstehen. Akzeptanz beim Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Viel Freu- Bürger stellen wir her, wenn wir den Bürgern zeigen, de beim Lesen! Lassen Sie uns gemeinsam den Fort- wo der Nutzen der Technik steckt, warum KI für die schritt gestalten! Zukunft wichtig ist und warum wir – im Rahmen des Erlebbaren – schon heute eine starke Konfrontation mit Danke schön. KI haben. Viele wissen es gar nicht. Die Bereiche Sprach- (Beifall bei der CDU/CSU – Jan Korte [DIE erkennung, Gesichtserkennung, Übersetzung, Navigation LINKE]: Sehr meinungsstarker Beitrag! – sind angesprochen worden. Doch der Bürger weiß davon (B) Gegenruf des Abg. Dr. Marco Buschmann (D) zu wenig; hier brauchen wir ein bisschen mehr Bildung, [FDP]: Der war gemein, Jan! – Gegenruf des ein bisschen mehr Information. Abg. Jan Korte [DIE LINKE]: Ist doch wahr! – Der Schlussbericht, Herr Präsident, wurde Ihnen über- Gegenruf des Abg. Ralph Brinkhaus [CDU/ geben. Ich darf sagen: Er ist mehr als ein Bericht für den CSU]: Da hat aber jemand dünne Haut!) Deutschen Bundestag, er ist auch ein Bericht für die breite Mehrheit; denn er ist gut formuliert, mit zahlrei- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: chen Handlungsempfehlungen, in jedem Unterabschnitt, zu jeder Projektgruppe immer auch eine Zusammenfas- Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Kluckert, sung. Das heißt, jeder hat die Gelegenheit, sich das anzu- FDP-Fraktion. schauen. Ich kann nur dazu ermutigen, sich diese 500 Sei- (Beifall bei der FDP) ten – und es sind tatsächlich nur 500 Seiten, die wir selbst formuliert haben – anzuschauen, wo wir gerungen haben um eine gemeinsame Position. Es ist uns nicht gelungen, Daniela Kluckert (FDP): alle mitzunehmen. Die AfD haben wir verloren, die Lin- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- ken haben wir verloren. Aber ich glaube, nicht wir haben ren! Zwei Jahre Enquete-Kommission bedeuten auch sie verloren, sondern sie haben sich selbst verabschiedet. zwei Jahre Kompromisse, und es ist gut, dass wir Kom- promisse können. Es ist gut, dass wir im Parlament, trotz (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – der ganzen Unterschiede, zusammenarbeiten können. Jessica Tatti [DIE LINKE]: Quatsch! Unver- Das tut auch gut in diesen Zeiten. Genau deswegen ist schämt!) es schade, dass es am Ende Die Linke war, die sich Die Linken haben den Bericht als Ganzes nicht mitge- diesem Kompromiss verweigert hat; vor allem, wenn tragen, sie haben sich enthalten, sie haben allein mit der man bedenkt, wie viele Ihrer Forderungen wir aufgenom- AfD wesentlich dazu beigetragen, dass man auf über men haben. Deswegen: Das nächste Mal, wenn Sie mit 90 Seiten mit Sondervoten die eigene Meinung zum Aus- dem Finger auf die USA zeigen, wenn Sie mit dem Finger druck bringt. auf andere zeigen, dann denken Sie daran, dass Sie es (Jan Korte [DIE LINKE]: Das ist auch die waren, die nicht bereit waren, die demokratische Gepflo- Aufgabe!) genheiten hier mitzutragen. Sie sind es, die sie nur nut- zen. Das wird, glaube ich, ein Stück weit dem nicht gerecht, was wir an Strapazen in der Abstimmung mit Ihnen hat- (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der ten. LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23765

Daniela Kluckert (A) Apropos schlechter Stil und „#hufeisen“: Die AfD Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (C) trägt den Antrag zwar mit, hat die Arbeit aber quasi ver- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Danyal Bayaz, weigert. Zumindest in der Gruppe, die ich geleitet habe, Bündnis 90/Die Grünen. wurde keine Zeile geschrieben, keine Diskussion geführt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Marc Jongen [AfD]: Unglaublich!) Dr. Danyal Bayaz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sobald es um konkrete Inhalte geht und eben nicht ums Schönen guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolle- Poltern, dann sieht man Sie nicht mehr. ginnen und Kollegen! Wir haben es gerade gehört: Wir (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten reden auch über ethische Aspekte in der KI; das war zu der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Dr. Birke Bull- Recht Schwerpunktthema in der Enquete-Kommission. Bischoff [DIE LINKE]) Ethik ist wichtig. Wenn eine neue Technologie aufkommt, dann wirkt ja Die Kompromisse, die wir als Parteien der Mitte getra- manchmal die normative Kraft des Faktischen. Es ist eine gen und erarbeitet haben Wette – diese Wette kann gut ausgehen; sie kann aber (Zuruf des Abg. Jan Korte [DIE LINKE]) auch schlecht ausgehen –, und ich finde, wir sollten uns dieser Wette nicht einfach ausliefern. Nur wenn wir selbst – die Sie nicht mitgetragen haben; Sie haben auch nicht gestalten, sind wir in der Lage, Normen zu setzen: Nor- mit abgestimmt –, sind die Ankerlinie für mehr; denn wir men, an denen sich andere orientieren, vielleicht sogar brauchen mehr KI, wir brauchen mehr Entscheidungs- orientieren müssen; Normen, die mit unseren Werten ver- freude, und wir brauchen weniger Angst. einbar sind. Technologischer Fortschritt, das war immer ein Treiber Wenn wir beispielsweise an China denken und die Ent- unserer Gesellschaft. Der Aufstieg der Bauern, die Frei- wicklungen dort für bedenklich halten, dann reicht es heit der Handwerker – all das wäre zum Beispiel ohne nicht, nur darüber zu klagen, dann reicht es nicht, die den Buchdruck überhaupt nicht möglich gewesen. beste Ethik in der KI zu haben, sondern wir müssen auch selbst Technologie in die Umsetzung bringen. Des- (Beifall bei der FDP) wegen können wir bei diesem Bericht nicht stehen blei- ben. Wenn wir Champion in der Ethik der KI werden Das Gleiche gilt für die Selbstbestimmung der Frauen; wollen – und ich finde, wir sollten das –, dann müssen ohne mehr Arbeitsplätze wäre die Abkehr von „Heim und wir auch Champion in der Anwendung von KI werden, Herd“ nicht denkbar gewesen. meine Damen und Herren. (B) (D) (Zuruf der Abg. Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN LINKE]) sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- KEN) Was wir nicht tun dürfen, was aber häufig passiert, ist, dass ethische Fragestellungen vorgeschoben werden, wo Gerade weil wir selbst gestalten müssen, macht es wir eigentlich nur ein bisschen entscheidungsfaul sind. mich manchmal stutzig, dass wir die grundlegenden Din- Statt KI als Lösung zu sehen, verlieren wir uns oft im ge irgendwie nicht hinbekommen. KI basiert auf Daten. Klein-Klein, Ambition und Gestaltungswille fehlen. Des- Nur kann der beste Algorithmus kein gutes Ergebnis lie- wegen ist es wichtig, dass wir die Hemmnisse abbauen, fern, wenn die Daten nicht gut sind. Als Wirtschaftspoli- zum Beispiel beim Transfer von der Forschung in die tiker merken wir gerade in dieser Pandemie, dass wir Anwendung, beim Einsatz von KI in Unternehmen und wirtschaftspolitische Entscheidungen teilweise im Blind- auch bei der Finanzierung unserer Start-ups. flug treffen müssen. Daten über Insolvenzen zum Bei- spiel sind über sechs Monate alt. Die aktuellsten Steuer- Für die praktische Umsetzung ist auch die Bundesre- daten reichen manchmal in das Jahr 2014 zurück, aber gierung verantwortlich. Sie muss als Anwender und als eigentlich bräuchten wir sie in Realtime, um die richtigen Nachfrager auftreten. Deswegen ist unser Vorschlag, dass Entscheidungen zu treffen, zum Beispiel, um bei der jetzt jedes Ministerium sich zehn KI-Anwendungen heraus- drohenden Insolvenzwelle gegenzusteuern. Die Daten- sucht, diese ausschreibt, implementiert und danach strukturen in der öffentlichen Hand sind oft nicht ein- umsetzt. So geben auch wir KI eine Richtung. heitlich, nicht vollständig und nicht logisch miteinander (Beifall bei der FDP) verknüpft. Ich zitiere aus dem „Handelsblatt“ dieser Woche – die haben es auf den Punkt gebracht –: Wir müssen entschlossen in diese Richtung gehen. Wir Wenn es um Erhebung, Aufbereitung und Weiter- brauchen – das wurde hier oft angeteasert – „KI made in gabe von Wirtschaftsdaten geht, ist Deutschland sta- Europe“, „KI made in Germany“, und das kommt nicht tistisches Entwicklungsland … von alleine, das müssen wir hier umsetzen. Nur mit mehr Innovation, mit mehr Wohlstand können wir auch Hier geht nicht nur viel Potenzial verloren, die richti- zukünftigen Generationen die Verheißung des Aufstiegs, gen politischen Entscheidungen zu treffen, hier geht auch also das Mehr-Wollen wie bei der industriellen Revolu- viel Potenzial verloren, Innovationen in unseren Behör- tion und wie beim Buchdruck, versprechen. Unser Ziel den nach vorne zu bringen. Wenn es eine Botschaft aus muss doch sein: Vorankommen in diesem Land. dieser Enquete-Kommission gibt, dann doch die, dass wir eine gute Datenstrategie für Umsetzung und für Innova- (Beifall bei der FDP) tion brauchen, meine Damen und Herren. 23766 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Dr. Danyal Bayaz (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das heißt: Sobald KI im autonomen Fahrzeug steckt, (C) sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) hat das Konsequenzen für ziemlich viele Verkehrsteilneh- Zu guter Letzt: Aufgrund der aktuellen Ereignisse – die mer, und wenn die Auswahl von Nachrichten durch KI Präsidentschaftswahlen in den USA sind nervenaufrei- beeinflusst wird, dann hat das sogar Konsequenzen für bend – hoffen wir natürlich auf einen Neubeginn des unsere politische Ordnung. In diesen Fällen müssen wir transatlantischen Verhältnisses. Wir haben es heute ein dafür sorgen, dass die Grundsätze unseres Miteinanders paarmal gehört: Bei KI geht es um „made in Europe“, nicht ausgehebelt werden. aber ich finde, wir sollten da nicht stehen bleiben. Ich (Beifall bei der SPD) höre manchmal aus der Debatte heraus, es gäbe jetzt eine Äquidistanz zwischen uns und China sowie zwi- Das bedeutet konkret: Der Gesetzgeber macht die Vorga- schen uns und den USA. Ich teile diese Meinung explizit ben, nicht die Technik. nicht. Trotz der schwierigen Lage in den USA teilen wir mit diesem Land gewisse Werte wie Demokratie, wie Wir halten daher eine gestufte Regulierung, die je nach Menschenrechte. Deutsche Firmen waren beispielsweise konkretem Risiko mehrere Abstufungen vorsieht, für den schon an der Mondlandung der Amerikaner beteiligt. Ich richtigen Ansatz; denn nur so können wir Risiken spezi- finde, der nächste technologische Moonshot sollte auch fisch regulieren. Schließlich macht es einen kleinen in einer Zusammenarbeit stattfinden. Denken wir zum Unterschied, ob wir über Instagram-Filter oder über auto- Beispiel an Spracherkennung, denken wir zum Beispiel nome Waffen sprechen; das sind unterschiedliche Risi- an so etwas wie den Sieg gegen den Krebs, und zwar kointensitäten, und das gebietet eine unterschiedliche mithilfe von künstlicher Intelligenz. Einstufung und eine unterschiedliche Behandlung. Deswegen sollten wir gezielt auf die Zusammenarbeit Gleichzeitig darf es natürlich nicht zu regulatorischen Europas mit den USA setzen, um KI nach unseren Werten Schnellschüssen kommen. Daher schlagen wir vor, das zu gestalten. Ich finde, das können wir selbstbewusst Risiko tastend zu ermitteln. Voraussetzung dafür ist, machen; denn mit dem vorliegenden Bericht der KI- dass derjenige, der algorithmische Systeme einsetzt, Enquete-Kommission haben wir eine richtig gute Grund- dies transparent macht. Ziel ist ein Prozess, der eine fun- lage geschaffen. dierte, evidenzbasierte Grundlage für die herantastende Herzlichen Dank. Ausgestaltung von Anforderungen – zum Beispiel im Hinblick auf die menschliche Arbeit, Robustheit, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Genauigkeit – ermöglicht. Dabei sind durch Normen sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und und Standards grundrechtlich geschützte Rechtsgüter zu der FDP) wahren. Schließlich sind Selbstbestimmung, Handlungs- (B) freiheit, Meinungs- und Informationsfreiheit sowie Ver- (D) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: sammlungsfreiheit für uns oberste Maxime. Nächste Rednerin ist die Kollegin Elvan Korkmaz- (Beifall bei der SPD) Emre, SPD. (Beifall bei der SPD) Diese Bedingungen, unter denen wir den Einsatz algo- rithmischer Systeme für Menschen rechtfertigen können, finden sich übrigens auch in der DSGVO. Ich möchte Elvan Korkmaz-Emre (SPD): einmal betonen: Die DSGVO schützt nicht Daten, son- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Einsatz dern sie schützt Menschen. Insofern habe ich einige Son- von algorithmischen Systemen birgt viele Chancen und dervoten mit ziemlicher Verwunderung gelesen, die mit Potenziale – ohne Frage. Aber er bringt auch gewisse der Zweckbindung oder der Datenminimierung zwei Schwierigkeiten mit sich, zum Beispiel Probleme und Grundsätze der DSGVO streichen wollen. Die DSGVO Gefahren zu erkennen, aufzudecken oder gar nachzuwei- ist mittlerweile ein Werk, das globale Anerkennung sen. Nehmen wir das Beispiel, dass die KI ein MRT-Bild erfährt, und deren Standards als europäische Errungen- analysiert. Im Zweifel können wir nicht nachverfolgen, schaft gelten. warum das Ergebnis so ausfällt und nicht anders. Hinzu kommt, dass uns die Geschwindigkeit und Dynamik in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Entwicklung neuer Anwendungsfälle für KI vor der LINKEN) Herausforderungen stellt. Das ist im digitalen Zeitalter alles nicht neu, aber bisher haben wir noch keine gute Europäische KI kann sicher viel – aber am Datenschutz Antwort darauf gefunden. sparen, das kann sie mit Sicherheit nicht. Insofern wundert es mich nicht, dass wir heute, nach Heute haben wir schon den einen oder anderen Dank zwei Jahren Arbeit, zwar einen Konsens vorliegen haben, gehört. Ein Dank ist bislang jedoch ausgeblieben, und aber nach wie vor unterschiedliche Haltungen ausgeprägt deshalb möchte ich mich einreihen und einen Dank an sind. Deshalb haben wir für uns ein Sondervotum einge- die Vorsitzende der Enquete-Kommission aussprechen, bracht – dafür einen großen Dank an Jan Kuhlen und den die uns mit ganz viel Engagement durch diese zwei Jahre wundervollen Verein D64 –, in dem wir festgehalten geführt hat: Vielen Dank, Daniela Kolbe! haben, dass die Regulierung zuerst das Risiko ihrer Anwendung für Gesellschaft und Individuen berücksich- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, tigen muss und danach erst die Anforderungen zu defi- der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE nieren sind. GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23767

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: gang im Wettbewerb sorgen; denn wir wollen, dass nicht (C) Nächster Redner ist der Kollege Hansjörg Durz, CDU/ nur wenige große, sondern viele kleine Unternehmen die CSU. Chance von KI für unsere Gesellschaft heben können. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der AfD) Hansjörg Durz (CDU/CSU): Die GWB-Novelle ist eines der zentralen wirtschafts- Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen politischen Projekte dieser Koalitionsfraktionen, und und Kollegen! Meine Damen und Herren! Am 4. Novem- wenn alles gut geht, dann liegt dieses Jahr zu Weihnach- ber, also gestern, um kurz vor 7 Uhr deutscher Zeit war es ten ein Geschenk unter dem Baum, das nicht nur den so weit: Das Gegenmittel wurde eingesetzt, das in der fairen Wettbewerb stärkt, sondern auch die Wahlfreiheit deutschen Übersetzung hölzern klingt, aber verständlich der Verbraucher. So geht soziale Marktwirtschaft im digi- ist. Ich zitiere: talen Zeitalter. So sichern wir wirtschaftliche Freiheit im Einige oder alle der Inhalte, die in diesem Tweet Netz. geteilt werden, sind umstritten und möglicherweise Wir werden nicht müde, diesen Weg für Freiheit, Recht irreführend in Bezug auf die Beteiligung an einer und wirtschaftliche Fairness im digitalen Zeitalter weiter- Wahl oder einem anderen staatsbürgerlichen Pro- zugehen. Der Bericht der Enquete-Kommission zeichnet zess. diesen Weg vor. Neben dem Zugang zu Daten muss der Es war dieser Warnhinweis, den der Kurznachrichten- Einsatz von künstlicher Intelligenz transparent gemacht dienst Twitter ausspielte, als der amtierende Präsident der werden; denn nur so erlangen wir das Vertrauen der Vereinigten Staaten von Amerika seinem politischen Bürger und können die Chancen künstlicher Intelligenz Widersacher vorwarf, ihm seinen Wahlsieg zu stehlen. in einem menschenzentrierten Ansatz nutzen. Ob der Hinweis hilft, das wissen wir nicht genau; denn Im öffentlichen Raum muss erkennbar bleiben, welche egal ob Fake News, Filterblasen oder Echokammern: Die Informationen wahr sind und welche nicht. Insbesondere Inhalte, die wir in den sozialen Medien zu sehen bekom- Journalisten und Behörden müssen deshalb in die Lage men, sind von Algorithmen geprägt, die auf künstlicher versetzt werden, die Echtheit von digitalen Inhalten zwei- Intelligenz beruhen. felsfrei zu erkennen. Wir müssen den Gefahren durch Die Mechanismen, wie zum Beispiel die Polarisierung sogenannte Deepfakes entgegentreten. Und wenn Robo- der digitalen Öffentlichkeit, werden zwar viel diskutiert, terjournalismus – wie heute teilweise schon, beispiels- sind jedoch nur sehr spärlich erforscht. Das liegt nicht weise bei der Berichterstattung über Sportveranstaltun- (B) etwa am Desinteresse der Wissenschaftler, sondern gen, das Wetter oder Verkehrsmeldungen – immer (D) daran, dass sie ihren Forschungsgegenstand nicht ange- präsenter wird und sich immer weiter ausweitet, dann messen untersuchen können. Was ihnen fehlt, sagt der müssen diese Texte als KI-generiert gekennzeichnet wer- Bericht der Enquete-Kommission sehr deutlich: der Zu- den. Diese Transparenz ist wichtig für die öffentliche gang zu Daten der sozialen Netzwerke. Nur wenn wir die Debatte und wichtig für die Demokratie. Meinungsbildung im Netz verstehen, kann Politik auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- die richtigen Regeln für den Diskurs im Netz setzen. ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD und des Abg. Mario Um Demokratie geht es auch hier und heute. Während Brandenburg [Südpfalz] [FDP]) für künstliche Intelligenz Daten essenziell sind, ist die Demokratie ohne den Willen zum Kompromiss nicht Dass die Koalitionsfraktionen den Bericht der denkbar. Berichte von Enquete-Kommissionen nehmen Enquete-Kommission ernst nehmen, zeigt sich auch dabei eine ganz besondere Funktion ein; denn Regie- daran, dass sie Handlungsempfehlungen bereits jetzt rungs- und Oppositionspolitiker finden hier gemeinsam umsetzen. Bei der Reform des Netzwerkdurchsetzungs- das Fahrwasser, in das wir unsere Gesellschaft steuern gesetzes beispielsweise werden die Union und auch die wollen. Auch die Fraktion Die Linke war in diese Kom- SPD alles daransetzen, eine Forschungsklausel in das promissfindung intensiv mit eingebunden; wir haben Gesetz zu bringen. Unser Ziel ist mehr Erkenntnis für auch mit Ihnen gute Diskussionen geführt. An vielen Demokratie im Netz. Stellen haben Sie die Möglichkeit von Sondervoten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- genutzt, was völlig in Ordnung ist. Dass Sie trotzdem ordneten der SPD) nicht die Kraft finden, diesem Bericht zuzustimmen, ist unverständlich und schade; denn es wird der intensiven Auch die Forderung des Berichts der Enquete-Kom- Arbeit aller Fraktionen nicht gerecht. mission nach einer Reform des Wettbewerbsrechts ist bereits in der Umsetzung. Mit der GWB-Novelle sind (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. wir weltweit eines der ersten Länder, die sich der Macht Mario Brandenburg [Südpfalz] [FDP] – Zuruf der Tech-Giganten mit einem Gesetz entgegenstellen. der Abg. Jessica Tatti [DIE LINKE]) (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das stimmt!) Wo führt das denn eigentlich hin, wenn Parteien und Fraktionen nicht mehr für den Kompromiss eintreten? Denn diese besitzen den Rohstoff des Wohlstands von morgen, den Rohstoff, der KI zum Laufen bringt: Daten. (Jan Korte [DIE LINKE]: Man kann doch eine Wir müssen für fairen Wettbewerb, für mehr Datenzu- eigene Meinung haben! Was ist das für eine 23768 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Hansjörg Durz (A) Argumentation? – Weitere Zurufe von der LIN- behindert, kann ich beiseitelassen. – Nein, es geht darum, (C) KEN) an der Stelle den Einsatz von künstlicher Intelligenz – Und da wären wir dann wieder beim Beginn meiner natürlich mit einer Zweckbindung – voranzubringen. Es Rede, bei den Warnhinweisen von Twitter und einer frag- geht darum, Ökosysteme für Start-ups auf der Basis von ilen digitalen Öffentlichkeit. Als Union wollen wir dieser künstlicher Intelligenz zu schaffen, noch mehr, um an der Fragilität entgegentreten, und deshalb brauchen wir Stelle – wir haben es mehrfach gehört – hier auch eine Transparenz und entsprechenden Datenzugang für mehr wirklich verantwortungsvolle und aktive Vorreiterrolle Demokratie und Freiheit im Netz. einzunehmen. Vielen Dank. Wir haben gesagt: Es geht bei künstlicher Intelligenz neben der Stärke in der Forschung immer auch darum, ob (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- wir den Transfer in die Praxis, in Industrie, in den Mittel- ordneten der SPD und der FDP) stand und in die kleinen Unternehmen hinbekommen. Und gerade wenn wir an den Mittelstand denken, stellen Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: wir fest, dass es eben oft an Know-how, an Transfermög- Nächster Redner ist der Kollege Falko Mohrs, SPD. lichkeiten fehlt. Auch das ist ein wichtiger Ansatz, um tatsächlich in Deutschland eine Vorreiterrolle einzuneh- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Christoph men. Bernstiel [CDU/CSU]) Ich möchte den Dank, der an alle gerichtet wurde, die mitgearbeitet haben, nicht wiederholen, aber ihn unter- Falko Mohrs (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- streichen. Ich glaube, er ist berechtigt. Herzlichen Dank ren! Es ist betont worden: Technik, Innovation, Fort- an die Vorsitzende und alle anderen! Ich sage das hier nur schritt sind keine Selbstzwecke, sondern es geht immer stellvertretend. darum, dass wir als Menschen dabei im Mittelpunkt ste- Meine Damen und Herren, ich wiederhole es, weil das hen und dass der Nutzen für uns als Gesellschaft der die wichtige Aufgabe ist: Es geht nicht um Mensch oder eigentliche Zweck von Fortschritt ist. Deswegen lautet KI, es geht um Mensch und KI und darum, wie wir das die Frage gar nicht: Mensch oder KI? Vielmehr muss es gestalten. um Mensch und KI gehen und darum, wie wir die Zu- Herzlichen Dank. kunft in unserem Sinne, im Sinne der Menschen gestal- ten. Das ist unser Ziel als Parlament, und das war die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aufgabe für uns als Enquete-Kommission. der CDU/CSU) (B) (Beifall bei der SPD) (D) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Auch in der Projektgruppe Wirtschaft haben wir uns sehr intensiv mit genau dieser Frage befasst: Wie schaf- Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der fen wir es eigentlich, nicht blind die Risiken, die mit Kollege Marc Biadacz, CDU/CSU. künstlicher Intelligenz verbunden sind, zu ignorieren, (Beifall bei der CDU/CSU) aber auch nicht genauso blind vermeintlichen Potenzialen oder Chancen hinterherzurennen, also weder zu verteu- Marc Biadacz (CDU/CSU): feln noch zu glorifizieren? Wie schaffen wir es, den Weg Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und in diesem Spannungsfeld zu finden? Ich glaube, das ist Kollegen! KI ist das Schlüsselthema, damit Deutschland die Aufgabe, die wir im Umgang mit KI erfüllen müssen. und Europa – Deutschland ist das Land, Europa ist der Deswegen haben wir uns in der Projektgruppe Wirt- Kontinent der Tüftler und der Denker – weltweit führen- schaft zum Ziel gesetzt, dass wir mit Szenarien arbeiten. de Innovationsstandorte bleiben, meine lieben Kollegin- Wir haben also beschrieben, was eigentlich der Zielzu- nen und Kollegen. Wir müssen uns aber in einem harten stand ist, zu dem wir in der Wirtschaft mit künstlicher internationalen Wettbewerb behaupten, damit wir auf Intelligenz kommen wollen, und auch, welchen Zustand dem Gebiet der künstlichen Intelligenz die Zukunft wir uns nicht wünschen. Und nachdem wir das beschrie- gestalten können. Die Handschrift von KI muss in Euro- ben haben, ging es auch darum, zu fragen: Was ist der pa, muss in Deutschland signiert werden. Weg von heute hin zu diesem Ziel? – Ich glaube, das ist Schon jetzt – gerade jetzt –, in diesem Moment, in wirklich ein verantwortungsvoller Umgang mit einer ja diesem Augenblick, hilft die KI in der Medizin, Men- doch sehr komplexen Technologie und Fragestellung für schenleben zu retten. Bilder können schneller ausgewer- uns als gesamte Gesellschaft. tet werden, Diagnosen können besser gestellt werden. In (Beifall bei der SPD) der beruflichen Weiterbildung können aufgrund von KI- Auf dieser Grundlage sind wir zu Empfehlungen ge- basierten Weiterbildungsplattformen schneller individua- kommen. Wir haben zum Beispiel gesagt, dass wir Expe- lisierte Lerninhalte dargeboten werden. Deswegen haben rimentierräume brauchen, sogenannte Sandboxes, um in wir als CDU/CSU-Fraktion ein Projekt gestartet; das ist ihnen, ohne sofort die Schere im Kopf zu haben, was MILLA, eine Lernplattform, die auch KI-basiert sein soll. vielleicht alles nicht geht, den Einsatz von künstlicher Und genau hier muss jetzt die Zukunft starten. Intelligenz ausprobieren zu können; natürlich immer Überall dort, wo Chancen entstehen, meine Damen mit einer klaren Zweckbindung. Es geht nicht um irgend- und Herren, sind auch Risiken. Und genau diese Risiken welche feuchten Träume, zu sagen: Alles, was irgendwie müssen wir hier in der Herzkammer der Demokratie, hier Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23769

Marc Biadacz (A) im Deutschen Bundestag, diskutieren. Deswegen kann Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Entwicklung der (C) ich da meinem Kollegen Hansjörg Durz nur zustimmen. künstlichen Intelligenz wird spannend. Ich persönlich Ich hätte mich auch gefreut, wenn die Linken sich nicht freue mich darauf. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion enthalten hätten, sondern entweder Ja oder Nein gesagt freut sich darauf. Aber für uns ist klar: Der Mensch steht hätten. Das gehört auch, finde ich, zur Demokratie. im Mittelpunkt. (Beifall bei der CDU/CSU – Jan Korte [DIE Vielen Dank. LINKE]: Das scheint ein Trauma zu sein! Ich (Beifall bei der CDU/CSU – Jan Korte [DIE verstehe es nicht!) LINKE]: Können Sie noch was zu der Enthal- tung sagen?) – Nein, das ist kein Trauma. Ich glaube, das Trauma liegt auf Ihrer Seite. – Aber lassen Sie uns im Text weiter- machen. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Damit schließe ich die Aussprache. (Jessica Tatti [DIE LINKE]: Da habe ich ein anderes Demokratieverständnis!) Die unterschiedlichen Voten der Fraktionen sind inner- halb der Enquete-Kommission abgegeben worden. Für Der Abschlussbericht der Enquete-Kommission das Plenum sind keine Anträge gestellt. Der Bericht auf „Künstliche Intelligenz“, meine Damen und Herren, liebe der Drucksache 19/23700 ist damit zur Kenntnis genom- Kolleginnen und Kollegen, ist mehr als die 800 Seiten men. PDF-Datei, die man jetzt vielleicht auf dem iPad in der Damit rufe ich die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 c Bibliothek abspeichern kann. Nein, es ist der Startschuss auf: einer offenen und einer konstruktiven Debatte. Für uns, für die CDU/CSU-Fraktion, ist es klar: Die ethischen a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Leitplanken werden hier im Parlament, werden hier ge- Dr. Gottfried Curio, Martin Hess, Dr. Bernd meinsam mit der Gesellschaft errungen und auch erstrit- Baumann, weiterer Abgeordneter und der ten. Für uns ist aber ebenso klar: Der Mensch steht im Fraktion der AfD Mittelpunkt. Umgehung des Parlaments bei Corona- Für mich als Arbeitsmarktpolitiker ist KI eine Riesen- Maßnahmen beenden – Beschlüsse des chance. Und warum ist es eine Riesenchance? Weil wir Corona-Gipfels vom 28. Oktober 2020 gerade viele Arbeitsplätze gestalten können, neu erschaf- rückgängig machen fen können. Und warum sage ich das jetzt auch gerade Drucksache 19/23949 (B) hier? Es gilt eben, nicht nur zu sagen: Ja, es werden auch (D) Überweisungsvorschlag: Arbeitsplätze wegfallen. – Aber es werden ganz viele Ausschuss für Gesundheit (f) Arbeitsplätze eben in der Hightechindustrie, aber auch Ausschuss für Inneres und Heimat (f) für Nichtakademiker und Nichtakademikerinnen entste- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Federführung strittig hen. c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Genau auf diesem Weg müssen wir als Parlament die Berichts des Ausschusses für Inneres und Menschen mitnehmen. Wir dürfen nicht das Gefühl ent- Heimat (4. Ausschuss) zu dem Antrag der stehen lassen, dass jemand abgehängt wird, dass jemand Abgeordneten , Jochen stehen gelassen wird und dass jemand nicht mitmachen Haug, Dr. Gottfried Curio, weiterer Abgeord- kann. Bei der künstlichen Intelligenz dürfen und sollen neter und der Fraktion der AfD alle Menschen mitmachen, liebe Kolleginnen und Kol- legen. Grundrechten trotz Corona wieder Gel- tung verschaffen – Versammlungs- und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Religionsfreiheit auch während einer epi- ordneten der SPD) demischen Lage sichern KI muss dem Menschen dienen, KI muss ein Werkzeug Drucksachen 19/18977, 19/23805 sein, KI wird ein Hilfsmittel sein; das haben schon viele Für die Aussprache wurde eine Dauer von 60 Minuten Kolleginnen und Kollegen angesprochen. Lassen Sie uns beschlossen. – Wenn Sie alle, die Sie an der Debatte teil- gemeinsam in diesem Haus – auch mit Ihnen gemeinsam, nehmen wollen, liebe Fraktion der Linken – diesen Abschlussbericht, zu (Jan Korte [DIE LINKE]: Oder müssen!) dem Sie sich enthalten haben – wobei „Abschlussbericht“ der falsche Name ist; mit diesem Bericht der Enquete- Platz genommen haben, dann eröffne ich die Aussprache Kommission fängt die Zukunft an –, jetzt als Startpunkt und erteile das Wort dem Kollegen Dr. Gottfried Curio, nehmen, um KI voranzubringen und diese Debatte hier AfD. im Deutschen Bundestag und in der Gesellschaft jetzt zu (Beifall bei der AfD) Ende zu bringen.

(Jessica Tatti [DIE LINKE]: Allerdings haben Dr. Gottfried Curio (AfD): schon alle mitbekommen, dass wir uns enthal- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- ten haben! Sie müssen es nicht noch mal ren! Was kommt denn nach diesem zweiten Lockdown? sagen!) Der dritte, vierte und zehnte? Wir hören schon, dass es 23770 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Dr. Gottfried Curio (A) dann nur an uns Bürgern gelegen hat, wenn es im Dezem- sind viele Betriebe schon durch den ersten Lockdown (C) ber eben doch einfach weiterläuft, weil wir nicht gut angeschlagen, der nach Herrn Spahn so nicht mal nötig genug pariert haben – eine völlig perspektivlose Politik war. Was für ein Wahnsinn! nach gut neun Monaten Bekanntschaft mit dem Problem. Der Patient Gesellschaft wird nur immer von Neuem ins (Beifall bei der AfD) künstliche Koma versetzt, statt behandelt zu werden, weil Es bräuchte jetzt doch Solidarität mit den schon Ge- Sie gar nicht wissen, wo Sie therapeutisch hinwollen. schwächten. Bereits im ersten Lockdown wurden über eine halbe Million Arbeitsplätze vernichtet, wurde ein (Beifall bei der AfD – Michael Grosse-Brömer Heer von Kurzarbeitern in eine ungewisse Zukunft [CDU/CSU]: Deswegen stehen wir auch besser geschickt. Der neue Shutdown wird jetzt vielen weiteren da als ganz Europa!) Unternehmen den Todesstoß versetzen. Staatshilfen, das Der Lockdown ist zu unspezifisch. Gaststätten und Sterbegeld, kommen nicht oder nicht rechtzeitig an. Ret- Kulturevents waren gerade keine Treiber der Epidemie. tungsmilliarden narkotisieren, aber heilen nicht. Für Gastwirte und die Kulturbranche mit ihren guten (René Röspel [SPD]: Woher wissen Sie das Hygienekonzepten heißt es: Ihr kriegt jetzt mal den denn?) Schwarzen Peter; ohne Nachweis der Schuld verurteilt. Wenn das Gewicht der typischen Infektionswege in den Freizeitanbieter und Selbstständige stehen vor dem Ruin, einzelnen Lebensbereichen immer noch nicht klar ist, die Reserven wurden schon im ersten Lockdown aufge- dann ist das doch kein Freibrief, da alles dichtzumachen, braucht. Die Insolvenzwelle aus dem Frühjahr, die Sie sondern ein Aufklärungsversagen. künstlich verschieben wollen, kommt ja erst noch. Wird die Branche weiter in den Winterschlaf geschickt, wird (Beifall bei der AfD) sie daraus nicht mehr erwachen. Kein Mensch will doch Wieder darf das Parlament – wie bei Euro-Krise und wegen einer härteren Grippe alles verlieren und Weih- Grenzöffnung – nur noch abnicken, was vom Kanzleramt nachten bis Silvester in Einzelhaft verbringen. Schluss ausgegeben wird. mit dieser übergriffigen Politik! (Beifall bei der AfD – Zuruf der Abg. Monika (Zuruf des Abg. Michael Grosse-Brömer Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) [CDU/CSU]) So geht auch das Konsumklima in den Keller. Statt Statt dass Sie nach Gutsherrenart immer wieder im Hin- immer nur aus dem Buch der Apokalypse zu lesen, soll- terzimmer etwas auskungeln, fordern wir die Rückkehr ten Sie auch mal Perspektiven vermitteln. Dazu kommt (B) zu strengster Rechtsbindung. Statt dass Sie aktionistisch dieser moralinsaure Kasernenton: „Veranstaltungen, die (D) einfach irgendwas ins Schaufenster stellen, sagen wir: der Unterhaltung dienen, werden untersagt.“ Das heißt, Die Medizin darf nicht schlimmer sein als die Krankheit. mit den Arbeitskollegen tagsüber zusammen malochen (Beifall bei der AfD) gehen, ist okay, aber hinterher ein Feierabendbier ist des Teufels. Dieser Shutdown geht wie ein Schnitter mit Der Zweck Gesundheitsschutz heiligt nicht die Mittel der Sense durch die deutsche Volkswirtschaft. Ertüchti- jedweder Grundrechtseinschränkung. Die Verhältnis- gen Sie doch lieber die Gesundheitsämter, größere Infek- mäßigkeit bleibt immer objektiv abzuwägen. Pauschales tionsherde zu lokalisieren: Superspreader-Events in der Durchregieren mit Ad-hoc-Verordnungen ist verfas- großstädtischen Erlebnisszene, oft migrantisch geprägt. sungswidrig, so selbst der Wissenschaftliche Dienst des (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und Bundestages. Auch fehle es an strengster Befristung der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Maßnahmen – AfD-Forderung der ersten Stunde – samt regelmäßiger Unterrichtung über die Wirksamkeit mit Halten Sie doch lieber das Virus aus den Pflegeheimen wissenschaftlicher Evaluation inklusive wirtschaftlichen heraus; dort gibt es einen Großteil der Todesfälle. Es und sozialen Auswirkungen. Verordnungen gemäß Infek- braucht dort gezielten Schutz, FFP2-Masken, Reihen- tionsschutzgesetz hätten dort viel stärker konkret tests, Schnelltests für Besucher, und nicht Maskenzwang bestimmt sein müssen. Das Gesetz weiß gar nichts von für Grundschulkinder, die kaum gefährdet und infektiös Lockdown und allgemeinen Betriebsverboten. Wir for- sind. dern eine rechtliche und parlamentarische Grundlegung Vernünftig wäre, gerade Restaurants offen zu lassen, und sinnvolle und verhältnismäßige Maßnahmen statt wo sich die Menschen unter Hygienebedingungen tref- kontraproduktive wie etwa die jetzigen, aufgehängt an fen. Kein seriöser Mediziner empfiehlt doch eine Mas- positiven Testungszahlen, ein Indikator von in Wahrheit kenpflicht im Freien auf diversen Straßen. Geht es darum, beschränkter Aussagekraft. den öffentlichen Kotau vor dem Gesslerhut einzufordern, Nur weil ein Staat seine Hausaufgaben nicht gemacht meine Damen und Herren? hat – Kapazität der Gesundheitsämter –, kann er jetzt (Beifall bei der AfD – Michael Grosse-Brömer nicht einfach Probleme durch Grundrechtsbeschränkun- [CDU/CSU]: Herr Curio als Wilhelm Tell!) gen bei den Bürgern abladen, nach dem Motto: Alles, was Spaß macht, ist infektiös. Es fehlt doch jeder Hinweis auf Wie dünn muss denn eine Position sein, wenn nur noch entscheidende Risiken in den beschränkten Branchen Nibelungentreue trägt? Den Vogel ab schießt der Minis- oder auf eine nur so jetzt bewirkte wesentliche Eindäm- terpräsident von Sachsen-Anhalt. Dort wären die Schritte mung; es gibt nur völlig pauschale Argumente. Dabei gar nicht nötig, sagt er. Man mache das nur aus nationaler Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23771

Dr. Gottfried Curio (A) Solidarität. – Man muss sich das mal vorstellen: Wirt- Rudolf Henke (CDU/CSU): (C) schaftszerstörung, Grundrechtseinschränkungen flächen- Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe deckend, nur damit die Leute daran glauben. Kolleginnen und Kollegen! Mann, Mann, Mann. Schluss mit dieser Arroganz der Macht, mit solch (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der groben Maßnahmen. Es braucht feinfühlige, zielgerichte- CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN te Instrumente. und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der vorliegende Antrag verlangt ja in seinem Titel, die (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Da ist Beschlüsse des Coronagipfels vom 28. Oktober rückgän- die AfD ja der richtige Ansprechpartner! – gig zu machen. Jan Korte [DIE LINKE]: Ihre Spezialität!) (Beifall bei der AfD) Wer mit Boxhandschuhen Klavier spielen will, wird nur Misstöne erzeugen, gerade auf der Klaviatur der Macht. Wer dann im Antragstext nach einer sachlichen Begrün- dung sucht, der sucht vergeblich. Deshalb möchte ich zu (Beifall bei der AfD) Beginn betonen, warum diese bundeseinheitlichen Maß- nahmen seit Montag richtig sind – trotz aller damit ver- Worum es dieser Regierung geht, ist auch die Kontrolle bundenen Belastungen. des Narrativs: Corona als Sündenbock für politische Fehlentscheidungen. Die Überschuldung in der Euro- Der Kern ist die Frage, ob wir warten wollen auf die Zone – alles nur Corona. Dabei ist die Coronakrise in Überforderung des Gesundheitssystems, auf das Abwei- Wahrheit eine Lockdown-Krise. Dabei sind die Rettungs- sen von behandlungsbedürftigen Patienten aus den Inten- töpfe in Wahrheit leer. Merkel gibt die große Schutzman- sivstationen, telmadonna zulasten künftiger Generationen. Das ist der (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Kein Weg in die Schuldenunion unter dem Vorwand des per- Wort dazu von der AfD! Peinlich!) manenten Ausnahmezustands. So eine Coronapolitik fürchtet dann wohl den Realitätscheck einer Rückkehr ob wir warten wollen auf eine Situation, in der Menschen, zur Normalität. Wir sagen: Rückkehr zu Recht und Ver- die beatmet werden müssen, die Beatmung verweigert hältnismäßigkeit jetzt! werden muss, weil die Pflegenden, die in der Lage sind, die Gerätschaften zu bedienen, nicht zur Verfügung ste- (Beifall bei der AfD – Jan Korte [DIE LINKE]: hen. Sofort!) (Jürgen Braun [AfD]: Panik! Panik!) (B) Stattdessen bedient man sich in diesem strategielosen (D) Vorwärtsstolpern der Methode Greta – „I want you to Deswegen sagen wir: Wir müssen präventiv handeln, um panic“ –, um den großen Umbau, die große Umverteilung solchen Engpässen zuvorzukommen. durchzudrücken – Stichwort „Wiederaufbaufonds“; jetzt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- werde das leichter gehen mit der Finanzunion; heißt es, ordneten der SPD) auch um als „rettende Exekutive“ daraus weiter Umfra- genpotenzial zu saugen. Es darf nicht erst die Situation eintreten, dass es zu spät ist. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Da Die Bundeskanzlerin und der Gesundheitsminister wünscht man sich als AfD lieber, dass es den haben das in den vergangenen Tagen – so wie auch viele Menschen schlecht geht!) von uns draußen in den Wahlkreisen – immer wieder Eine Kanzlerin, die die Bürger wie unmündige Kinder erläutert. Das exponentielle Wachstum der Anzahl der behandelt und in fantastischer Verblendung meint, wir Infektionsfälle ist besorgniserregend. Es droht, die müssten uns erst die Feier des Weihnachtsfests bei ihr Gesundheitsämter immer weiter zu überfordern. Gestern durch Wohlverhalten verdienen, die ist wohl wirklich zu lagen dem RKI schon 41 Mitteilungen aus Gesundheits- lange an der Macht. Wenn Sie, Frau Kanzlerin, morgens ämtern über Kapazitätsengpässe vor. auf dem Weg ins Kanzleramt wieder der Kontrollwahn Die Kontaktverfolgung aber ist zentral, um Ketten und überfällt, dann – ich bitte Sie – bleiben Sie, wenn immer auch unbemerkte Ketten zu durchbrechen. Jeder jetzt im es geht, zu Hause. Alltag aufgeschobene Kontakt ist ein Akt der Solidarität mit dem Nächsten. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der AfD – Jan Korte [DIE LINKE]: neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- Sie ist heute gar nicht da! Alter Schwede! – SES 90/DIE GRÜNEN) Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das da ist Frau Karliczek!) Davon verstehen Sie von der AfD möglicherweise wenig. Offen gestanden ist mein Gefühl, dass es Ihnen nicht darum geht, die Schwachen zu schützen, sondern es Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: geht Ihnen darum, eine Gesellschaft zu haben, in der jeder Nächster Redner ist der Kollege Rudolf Henke, CDU/ an sich selbst denkt, nach dem Motto: Dann ist auch an CSU. jeden gedacht. Die Schwachen haben den Nachteil. (Beifall bei der CDU/CSU) (Zuruf des Abg. Jürgen Braun [AfD]) 23772 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Rudolf Henke (A) Angesichts Ihrer Präferenz für die Starken frage ich mich, anderen 37 Gesetzen, die zu diesem Thema hier verab- (C) ob Sie zu den Darwinisten gehören; aber das ist vielleicht schiedet worden sind, präzisiert, welche Grundrechte in für die Darwinisten eine Zumutung. Ausnahmesituationen vorübergehend zurücktreten kön- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nen. Wir werden hier im Bundestag einen Vorschlag neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- unterbreiten, wie wir die Rechtssicherheit der Länder SES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der AfD: weiter verbessern können. Wir, Innenpolitiker, Rechts- Schwachsinn!) politiker, Gesundheitspolitiker, arbeiten mit den beteilig- ten Ministerien an einem Vorschlag, der dazu dient, die Nach einer internationalen Metastudie zur Infektions- Zweifel, die beispielsweise vom Bayerischen Verfas- sterblichkeit scheint das Alter für die Covid-19-Sterblich- sungsgerichtshof, aber auch von Gerichten in Rhein- keit der entscheidende Faktor zu sein, übrigens unabhän- land-Pfalz vorgetragen worden sind, zu beseitigen. gig vom nationalen Kontext. In meiner Altersgruppe der 65- bis 74-Jährigen lag die Sterblichkeit in dieser inter- Aus meiner Sicht bremsen wir mit den drastischen nationalen Metastudie bei 2,2 Prozent; das ist dreißigmal Kontaktverzichten die zweite Welle. Wir helfen – Sie so hoch wie bei der Grippe. In der Gruppe der über 85- haben von Narrativen gesprochen –, dass unsere Kinder Jährigen starb fast jeder Dritte an Covid-19, der diese und Enkel weiter täglich in den Bereich der Märchen und Infektion erlitt. Insofern ist der November nicht nur der Fabeln eintauchen können. Aber diese Pandemie als eine Monat der gemeinsamen Kraftanstrengung – das ist er Fabel zu bezeichnen, das kann wohl nur Ihnen in den Sinn auch –, er ist auch der Monat der Prüfung für unseren kommen. Wertekompass als Gesellschaft und der Prüfung, wie Am 16. November wird Zwischenbilanz gezogen. wichtig uns verletzliche Bevölkerungsgruppen sind. Da Dann wird entschieden, wie es weitergeht. Ich glaube, zeigt Ihr Antrag klar, dass das für Sie völlig unwichtig ist. dass wir noch im November das Infektionsschutzgesetz (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- erweitern und schärfen werden. Ich freue mich über die ordneten der SPD) Diskussionen in den Ausschüssen. In der vergangenen Woche gab es ja einige Aufregung Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. um die Positionierung mancher ärztlicher Organisatio- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nen. Die jüngsten Erklärungen aus Wissenschaft und ordneten der SPD) Ärzteschaft sind eindeutig: Die Maßnahmen der Minis- terpräsidentenkonferenz sind richtig und jetzt notwendig. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Wir müssen die hohen Infektionszahlen unbedingt Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Andrew (B) und konsequent senken, Ullmann, FDP. (D) erklärte am Montag Dr. Andreas Gassen, der Vorsitzende (Beifall bei der FDP) der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Der Präsident der Bundesärztekammer, der Kollege Reinhardt: Dr. Andrew Ullmann (FDP): Wir müssen jetzt die Notbremse ziehen, damit die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Welt Dynamik der Neuinfektionen nachlässt. kämpft gegen SARS-CoV-2, gegen eine Viruserkran- Und am 27. Oktober, am Tag vor den Entscheidungen in kung, die ernst zu nehmen ist, die gefährlich ist, die der Ministerpräsidentenkonferenz, hat es eine gemeinsa- auch mit dem Tod einhergeht. In Deutschland gestern, me Erklärung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, am Mittwoch, nach den aktuellen Zahlen: 17 000 neue der Fraunhofer-Gesellschaft, der Helmholtz-Gemein- Infektionsfälle; 151 Menschen, die an bzw. mit diesem schaft, der Leibniz-Gemeinschaft, der Max-Planck-Ge- Virus verstorben sind; ein bisschen mehr als 1 300 Men- sellschaft und der Nationalen Akademie der Wissen- schen, die auf Intensivstationen beatmet werden müssen. schaften Leopoldina gegeben: Das ist die Wahrheit. Das sind die realistischen Zahlen, die wir uns ansehen müssen. Um einen ähnlichen Verlauf der Pandemie in Deutschland noch verhindern zu können, müssen Es gibt aber auch gute Nachrichten. Diese müssen wir jetzt klare Entscheidungen getroffen und schnell genauso kommunizieren und genauso wahrnehmen. umgesetzt werden. Knapp 10 000 Menschen sind gestern von dieser Infek- tion neu genesen. Der sogenannte Reproduktionswert ... Je früher und konsequenter alle Kontakte, die liegt seit zwei Tagen unter 1. Über 7 000 Intensivbetten ohne die aktuell geltenden Hygiene- und Vorsichts- sind noch frei. Das ist so dank der Bevölkerung, dank der maßnahmen stattfinden, eingeschränkt werden, des- solidarischen Gesellschaft und übrigens nicht durch den to kürzer können diese Beschränkungen sein. Lockdown. Hier bedarf es auch einmal eines Danke- Wissenschaft und Ärzteschaft raten dazu, so vorzugehen, schöns. Wir müssen Dankeschön sagen, dass wir als wie es jetzt geschieht. Gesellschaft hier zusammenhalten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ordneten der SPD) der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- Wir haben im Infektionsschutzgesetz – das bestreiten SES 90/DIE GRÜNEN) Sie ja – sehr wohl Standardmaßnahmen, die die Länder Die Pandemie ist nicht vorbei. Sie ist hinterhältig und zum Schutz der Bevölkerung ergreifen dürfen. Wir als sehr dynamisch. Sie toleriert keine Fehler, auch keine Deutscher Bundestag haben hier im März wie in den Fehler in der Prävention. Präventionsmöglichkeiten gibt Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23773

Dr. Andrew Ullmann (A) es dabei viele, allerdings gibt es keine Magic Bullet, kein (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) Allheilmittel. Wir müssen Superspreader-Verhalten ver- der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- hindern, auch im privaten Bereich. Aber das geht nur SES 90/DIE GRÜNEN) durch gute Kommunikationsstrategien, Verantwortung und Vernunft. Maßnahmen müssen zielgerichtet, verhält- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: nismäßig und logisch sein. Wir brauchen ein Regelwerk, Nächster Redner ist der Kollege Sebastian Hartmann, das bundeseinheitlich ist und dynamisch angewendet SPD. werden kann. Meine Damen und Herren, die Notwendigkeit der Pan- (Beifall bei der SPD) demiebekämpfung steht für die meisten unserer Fraktio- nen hier im Bundestag außer Frage. Jeder weiß, dass die Sebastian Hartmann (SPD): Pandemie und ihre Bekämpfung Folgen für die Gesell- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und schaft, für die Gesundheit und für die Wirtschaft haben. Kollegen! Wo stehen wir heute am Donnerstag in der Zur Bekämpfung gehören auch begrenzte Grundrechts- parlamentarischen Beratung? Stand heute haben wir einschränkungen, um die Folgen der Pandemie nicht 20 000 Neuinfizierte mit dem neuartigen Coronavirus außer Kontrolle laufen zu lassen. Doch diese Grund- nach Meldung des RKI. Wir befinden uns in der so rechtseinschränkungen müssen klar, wissenschaftlich vorausgesagten zweiten Welle, die – Stand heute – die begründet, logisch und verhältnismäßig sein. erste Welle schon jetzt weit überragt. Wenn wir in unsere (Beifall bei der FDP) Nachbarstaaten schauen – ich nenne einmal Belgien, Frankreich, aber auch Tschechien, das von hohen Inzi- Eine Diskussion über die Notwendigkeit gehört auch in denzzahlen und Infektionszahlen getroffen ist –, muss die Parlamente. Das sehen die meisten in diesem Parla- uns bewusst sein: Die Lage ist sehr ernst. Wir sind ver- ment auch so. pflichtet, zu handeln, sowohl als Regierung, aber insbe- sondere auch als Parlament. Auch wenn von der AfD- Zum Kampf gehört aber auch, dass es eine Summe von Fraktion der Eindruck erweckt worden ist, dass genau Maßnahmen geben muss; denn nur eine Summe von diese Einheiten – die Ministerpräsidenten, die Bundes- Maßnahmen reduziert das Risiko einer Infektion. Ganz kanzlerin, die Bundesregierung und auch der Deutsche speziell geht es um die vulnerablen Mitbürgerinnen und Bundestag und die Landtage – ihrer Verantwortung nicht Mitbürger. Denn Besuchsverbote in Krankenhäusern und nachkommen, so sage ich: Dieser Eindruck ist falsch! Pflegeheimen wären eine Katastrophe. Das müssen wir Das müssen wir heute Morgen deutlich machen. verhindern. Die kalte Jahreszeit darf nicht zu einer Jah- (B) (D) reszeit der sozialen Kälte werden. Das muss unser (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie gemeinsames Ziel sein. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Sie von der AfD missbrauchen die Krise. Sie stiften nur Verwirrung. Sie gehen aber auch darüber hinweg, Die FDP-Fraktion hat in den letzten Monaten mindes- dass Sie von der AfD in Wirklichkeit keine klare Linie tens 25 Anträge eingebracht, konkrete Anträge, die diese haben. Die einen sagen: Es gibt das Virus nicht. Die Pandemiesituation betreffen. Dabei geht es nicht nur um anderen sagen: Die Maßnahmen müssten viel härter Gesundheitsschutz, wir zeigen soziale und wirtschaft- sein. Die dritten wiederum behaupten, das würde alles liche Verantwortung. Die Strategie der AfD dagegen ist nur der Wirtschaft zum Opfer fallen, wir bräuchten jetzt durchsichtig: Grundsätzlich wird die Pandemie infrage überhaupt keine Eingriffe mehr in Grundrechte. Damit, gestellt. Die Effektivität von Masken wird negiert. Die meine Damen und Herren, offenbart die AfD, worum es Validität der PCR-Tests wird nicht akzeptiert. Die ihr eigentlich geht. Sie missbraucht jede internationale Covid-19-Erkrankung wird negiert oder kleingeredet. Herausforderung, sie missbraucht immer wieder jede Das ist zu billig, zu einfach. Man kann die Biologie nicht innenpolitische Herausforderung, um ihrem billigen einfach wegdenken, liebe AfD. Populismus zu frönen und dabei niemals die Menschen in diesem Land in den Blick zu nehmen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem SES 90/DIE GRÜNEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- An dieser Stelle möchte ich gerne den ehemaligen Bun- ordneten der LINKEN) deskanzler Helmut Schmidt zitieren: „In der Krise Und – mehr noch – sie schürt Angst und Panik. Aber beweist sich der Charakter.“ – Ich glaube, mehr muss das Gegenteil ist doch jetzt geboten. Wir müssen uns man nicht sagen. klarmachen: Die Lage ist ernst. Aber die gesundheitli- Wir stimmen der Überweisung zu. Den Antrag zur chen Voraussetzungen, die Wissenschaft und Forschung Religionsfreiheit lehnen wir ab; denn ich bin überzeugt: in unserem modernen Industriestaat waren noch niemals Die Kirchen brauchen die AfD nicht als Fürsprecher der so gut wie jetzt. Wir sind dabei, einen Schritt weiter- Religionsfreiheit. zugehen. Wir werden es schaffen, diese Pandemie zu überwinden, genauso, wie wir jede andere Krise in die- Herzlichen Dank. sem Land auch überwunden haben. Wissenschaft, For- 23774 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Sebastian Hartmann (A) schung und auch der internationale Austausch waren (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (C) noch nie so gut wie jetzt. Das gibt uns die Zuversicht, Der zweite Punkt ist ganz klar auch aus unserer Ver- auf diesem Weg weiter voranzuschreiten. fassung abzuleiten. Natürlich geht es um den Schutz von (Beifall bei der SPD) Risikogruppen, die einen Anspruch darauf haben, dass Eine zweite Debatte ist jetzt allerdings sehr entschei- wir solidarisch miteinander umgehen, dass wir gemein- dend. Damals, Anfang März dieses Jahres, als wir sehr sam durch diese Krise gehen und sie nicht alleinlassen. zügig handeln mussten, als wir noch nicht genau wussten, Auch das ist ein erstrebenswertes und klar definiertes welche die besten Maßnahmen gegen eine unkontrollierte Ziel. Hier sollte also die destruktive Opposition nichts Ausbreitung sind, schlug die Stunde der Exekutive. reingeheimnissen. Damals war es uns wichtig, die Ermächtigungen an die Der dritte Punkt ist: Wir wollen in unserem Staat natür- Landesregierungen und auch an unsere Bundesregierung lich nicht vor der Frage stehen, ob das Gesundheitssys- zu geben. Auch das haben wir als Parlament beschlossen. tem so überfordert ist, dass man andere Erkrankungen Aber aus der Stunde der Exekutive darf kein Dauerzu- nicht mehr behandeln, andere Behandlungen nicht mehr stand werden. Deswegen haben die Koalitionsfraktionen, ausführen kann. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kol- allen voran die SPD, immer wieder deutlich gemacht, legen, gehört zur Ergänzung der Debatte auch eines: Ja, dass nach der Stunde der Exekutive, meine Damen und wir reden von Lockdown, wir reden von Shutdown, wir Herren, jetzt die Phase der Parlamente kommt. Darauf reden von Lockdown light, was auch immer diese Abstu- haben alle Bürgerinnen und Bürger in diesem Land einen fungen sein sollen. Aber zur Wahrheit gehört doch, dass Anspruch. Das bezieht alle konstruktiven Teile, auch die ein wesentlicher Teil der Bevölkerung in unserem Land, Opposition, mit ein. Wir sind gemeinsam gefragt, liebe diejenigen, die den Laden am Laufen halten, niemals in Kolleginnen und Kollegen, auch von den Grünen, den einen Lockdown gegangen ist. Das sind die Pflegenden in Linken und der FDP, während man die AfD aufgrund den Krankenhäusern, es sind die Ärzte, es sind die dieses Auftrittes mal wieder vergessen kann. Beschäftigten in den Rettungsdiensten; es sind all dieje- (Beifall bei der SPD) nigen, die im nächsten Kontakt mit Kranken arbeiten und sich darum kümmern, dass es nicht zu Ansteckungen Es wird nicht nur darum gehen, dass wir Leitplanken kommt. Es sind die Ordnungsbehörden, es sind die Poli- für diese Debatte setzen, dass wir einen Rahmen geben, in zeien und Sicherheitsbehörden, die auch dafür sorgen, dem Grundrechtseingriffe stattfinden. Vielmehr sind wir dass trotz Corona Demonstrationen in diesem Land selbst als Parlament auch gefordert, Leuchttürme und Wegmar- gegen einzelne Maßnahmen stattfinden können. Das ist ken zu definieren; denn wir sind der öffentlichste und doch unser demokratischer Rechtsstaat. Aber all diejeni- transparenteste Raum, den wir in unserem demokrati- (B) gen, die in dieser Krise ihren Job machen, haben einen (D) schen Rechtsstaat haben. Das gilt nicht für die Konferenz Anspruch darauf, dass sie auch geschützt werden, indem der Ministerpräsidentinnen, der Ministerpräsidenten und wir die Ausbreitung des Virus stoppen, liebe Kolleginnen der Bundeskanzlerin, wo auch wir, liebe Kolleginnen und und Kollegen. Kollegen, zuweilen gefordert sind, aus Pressemitteilun- gen und Konferenzen nachzuvollziehen, was denn da (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) beschlossen worden ist. Alle Bürgerinnen und Bürger in unserem Land haben Aber wir dürfen da auch nichts reingeheimnissen. darüber hinaus einen Anspruch an uns als Parlamentarie- Auch der Bundesgesundheitsminister hat klar erklärt, rinnen und Parlamentarier. Wir kommen zusammen, wir dass er mit dem Wissen von heute anders handeln würde, sitzen hier gerade im Plenum mit Abstandsregeln und das, glaube ich, spricht für alle von uns, auch in beieinander, wir tragen Masken. Aber wenn weite Teile diesem Plenum. Wir würden heute anders vorgehen, des Landes ihre Arbeit machen, dann ist es unsere Auf- weil wir eben mehr über dieses Virus wissen. gabe als Parlamentarierinnen und Parlamentarier, unsere (Beifall bei der SPD) Arbeit auch im dritten, siebten und achten Monat dieser pandemischen Lage zu erfüllen, und zwar in dem Wissen, Und weil wir das wissen, werden wir das auch als dass wir als Parlament Gesetze beschließen können und Parlament tun. Wir werden klare Rahmenbedingungen wir viele Gesetze auch geändert und Ermächtigungen definieren, auch was den Ressourceneinsatz angeht, und gegeben haben. zwar in enger Abstimmung mit den Gesundheitspoliti- kern, um klarzumachen: Was ist denn die pandemische Ich möchte, dass die jetzige Phase die Stunde des Lage nationaler Tragweite, die auch Landtage erklären, Parlaments ist, dass es nicht mehr um die Stunde der die der Bundestag definiert? Was tun wir zur Überwin- Exekutive geht, sondern wir als Bundestag fraktionsüber- dung der Lage? Welche Ressourcen setzen wir ein, und greifend deutlich machen: Wir definieren klare Rahmen- an welchen Teilen der Wirtschaft müssen wir welche bedingungen, wir stellen entsprechende Haushaltsmittel Einschränkungen vornehmen? zur Verfügung, und wir zeigen unserem Land einen Weg auf, wie wir durch diese Krise kommen. Das werden wir Wir werden noch mehr tun. Wir werden niemanden in in zwei Schritten tun. dieser Krise alleinlassen. Wir sorgen mit wirtschaftspoli- tischen Maßnahmen dafür, dass eben nicht die Wirtschaft Schade ist, dass die Debatte, die wir heute schon als vom Netz geht. Aber es gibt eine Ordnung der Dinge. Wir Vorstufe gebraucht hätten, erst am Freitag beginnt. Denn müssen noch mal deutlich sagen: Zuallererst müssen wir die Koalitionsfraktionen haben einen entsprechenden die Ausbreitung dieses Virus stoppen, solange wir keine Änderungsbedarf am Infektionsschutzgesetz angemeldet. Behandlungsmethoden und keine Impfung haben. Wir werden das, was schon jetzt als Formulierungshilfe Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23775

Sebastian Hartmann (A) vorliegt, erst einmal als Ausgangspunkt nehmen. Das ist Es ist nicht länger hinnehmbar, dass sich in Berlin die (C) aber nur die Grundlage; darauf werden wir aufsatteln. Es Ministerpräsidenten der Länder mit der Bundeskanzlerin wird ganz genau definiert, mit welchem Grundrechtsein- treffen, um in kleiner Runde über Maßnahmen zur Pan- griff wir wie umgehen, wie wir Ressourcen zur Verfü- demiebekämpfung zu debattieren und über weitreichende gung stellen und wie wir sowohl der Bundesregierung Eingriffe in Grund- und Freiheitsrechte der Bürgerinnen als auch den Regierungen auf Landesebene ganz klare und Bürger zu entscheiden. Orientierung geben, aber auch den Bürgerinnen und (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Reden Bürger im Land, damit sie sehen: Der Deutsche Bundes- Sie doch mal mit Herrn Ramelow darüber!) tag handelt, meine Damen und Herren, Gegen koordinierende Beratungen mit dem Ziel mög- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das hat lichst bundesweit einheitlicher Regelungen ist nichts ein- er, und das wird er!) zuwenden. und wir kommen als Parlamentarierinnen und Parlamen- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ach tarier in dieser schweren Stunde unserer Verantwortung so!) nach. Aber die Ministerpräsidentenkonferenz ist kein verfas- Herzlichen Dank. sungsmäßig oder irgendwo gesetzlich legitimiertes Gre- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mium. der CDU/CSU) (Philipp Amthor [CDU/CSU]: Sagt doch auch keiner! – Michael Grosse-Brömer [CDU/ Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: CSU]: Das hat doch nie jemand behauptet!) Nächster Redner ist der Kollege Dr. André Hahn, Die Das muss auch die Bundeskanzlerin endlich begreifen. Linke. (Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse- (Beifall bei der LINKEN) Brömer [CDU/CSU]: Sollen sie sich jetzt abstimmen, oder nicht?) Dr. André Hahn (DIE LINKE): Über zwingend notwendige, nachweisbar wirksame Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie und nicht zuletzt verhältnismäßige Einschränkungen mich eines gleich zu Beginn klarstellen: Anders als die von Grundrechten darf niemand anderes als der Deutsche AfD, die die Covid-19-Pandemie weitgehend leugnet und Bundestag entscheiden. nahezu alle Gegenmaßnahmen zu diskreditieren ver- (Beifall bei der LINKEN) (B) sucht, will ich für meine Fraktion, Die Linke, eindeutig (D) sagen: Das Coronavirus ist leider gefährliche Realität. Deshalb ist es zwingend erforderlich, dass das Infektions- Gegenmaßnahmen – zum Teil auch drastische – sind schutzgesetz diesbezüglich geändert und präzisiert wird. kaum vermeidbar, und auch wir fordern alle Bürgerinnen und Bürger in unserem Land auf, sich gerade in der jet- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das zigen Infektionssituation an die Vorgaben zu Abstands- steht doch für morgen schon auf der Tagesord- geboten, zu Hygienestandards und zur größtmöglichen nung!) Reduzierung von persönlichen Kontakten zu halten. Der Bundesgesundheitsminister darf sich nicht länger (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- quasi als Nebenkanzler gerieren und durch Verordnungen neten der SPD) sogar über geltende Gesetze hinwegsetzen können. Mit Ausnahme der AfD, die nur allzu gerne Chaos im (Rudolf Henke [CDU/CSU]: Wir haben das ins Land befördern möchte, kann niemand ein Interesse an Infektionsschutzgesetz reingeschrieben! Mit steigenden Infektionszahlen und einer Überforderung des der Mehrheit des Bundestages!) Gesundheitssystems haben. Hier sollten alle demokrati- Die Letztentscheidung muss immer beim Parlament lie- schen Parteien an einem Strang ziehen. gen, und die Maßnahmen müssen klar befristet werden. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der (Beifall bei der LINKEN) SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Das trifft sowohl auf die aufgrund des aktuellen Infek- NEN) tionsgeschehens erforderlichen Gegenmaßnahmen wie Aber die demokratischen Fraktionen, meine Damen auch auf die finanzielle Kompensation für Einnahmeaus- und Herren, hier in diesem Haus haben auch die Pflicht, fälle infolge staatlich verordneter Schließungen in Wirt- die verfassungsgemäße Gewaltenteilung zu achten und schaft und Kultur zu. durchzusetzen. Doch diese Gewaltenteilung hat in den Natürlich ist es ganz wichtig, dass die dann getroffenen letzten Monaten nicht nur nicht funktioniert, sondern ist Entscheidungen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern wiederholt verletzt worden. auch nachvollziehbar erklärt werden und man um Unter- (Rudolf Henke [CDU/CSU]: Das bestreite stützung wirbt. Genau daran hat es in den zurückliegen- ich! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: den Monaten vielfach gemangelt. Die Menschen haben Ich auch!) oft den Eindruck, es gebe durch unterschiedliche Bestim- mungen in den Bundesländern einen nicht mehr durch- Damit muss aus Sicht der Linken endlich Schluss sein. schaubaren Flickenteppich bei den coronabedingten Ein- (Beifall bei der LINKEN) schränkungen. 23776 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Dr. André Hahn (A) Dabei kommt es immer häufiger zu völlig abstrusen Meine Damen und Herren, noch einmal: Gerade in (C) Regelungen, die man als Politiker seinen Wählerinnen dieser schwierigen gesundheitlichen Lage muss der Bun- und Wählern beim besten Willen nicht mehr erklären destag bei Grundrechtseinschränkungen das Letztent- kann. Wie kann es zum Beispiel sein, dass bei einer scheidungsgremium sein und bleiben. Das fordern wir Trauerfeier für einen Verstorbenen mit einem weltlichen als Linke seit Langem. Dafür bedarf es endlich der Ein- Trauerredner nur 10 Menschen teilnehmen dürfen, weil sicht von Bundesregierung und Koalition, aber ganz sie als private Veranstaltung eingestuft wird, während bei sicher keines Antrags der AfD. einer Trauerfeier im selben Raum, bei der ein Pfarrer spricht, bis zu 30 Trauergäste zugelassen sind, weil das Herzlichen Dank. als religiöse Veranstaltung gilt? Absurder geht es kaum (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- noch! neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Als Sportpolitiker könnte ich hier auch diverse Bei- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: spiele aus dem Sportbereich anführen, was die Redezeit Nächste Rednerin ist die Kollegin Britta Haßelmann, nicht zulässt. Ich will aber klar sagen, dass wir als Linke Bündnis 90/Die Grünen. den neuerlichen Lockdown im Bereich des Breitensports, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) insbesondere im Freien, für völlig unverhältnismäßig hal- ten. (Beifall bei der LINKEN) Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Hier wie auch in vielen kulturellen und gastronomi- Kollegen! Die AfD ist kein seriöser Gesprächspartner, schen Einrichtungen gibt es überzeugende, von den Ge- wenn es um die Frage der Coronapandemiebekämpfung sundheitsbehörden geprüfte Hygienekonzepte, in deren geht, und schon gar nicht, wenn es um die Frage von Umsetzung auch viel Geld, zum Beispiel für Lüftungs- Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Parlamentarismus geräte, investiert wurde. Genutzt hat es den Betreibern geht. nichts. Ihre Einrichtungen mussten nun schließen, und niemand weiß genau, wann sie wieder öffnen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir fordern die Bundesregierung auf, diese Maßnahmen sowie des Abg. Dr. [SPD]) zu überprüfen, und notfalls muss der Bundestag hier kor- Und wenn es eines Beweises bedurft hätte, dann heute rigierend eingreifen. diese apokalyptischen Beiträge des AfD-Redners. (Beifall bei der LINKEN) (B) Meine Damen und Herren, eine Fraktion und Partei, (D) Wir als Linke begrüßen, dass der Unterricht an den die konsequent die Gefahren dieser Coronapandemie Schulen unter Berücksichtigung der Hygieneregeln wei- leugnet, ist doch in einer solchen Debatte einfach nicht terhin stattfinden kann. Aber was bringt das alles, wenn ernst zu nehmen: „Wir haben keine Pandemie in Deutsch- die Kinder vor und nach dem Unterricht in übervollen land.“ – „Die pandemische Lage, wenn sie denn da Bussen ohne jede Möglichkeit der Abstandswahrung zu gewesen sein sollte, die ist vorbei.“ – Es gibt „keine ihren Wohnorten transportiert werden, wie es sicherlich Coronatoten. Die werden mit Gewalt in die Statistik nicht nur in meinem Wahlkreis, der Sächsischen Schweiz, hineingelogen, um eine zweite Welle zu produzieren.“ – geschieht? Und dass es in Zehntausenden Klassenzim- Das sind alles Zitate aus Ihrer Fraktion von Ende Okto- mern in Deutschland wegen blockierter Fenster gar keine ber. Möglichkeit zum Lüften der Räume gibt, sei hier nur am Rande erwähnt. Deshalb frage ich schon: Was haben (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Bund und Länder in den letzten Monaten eigentlich Unglaublich!) unternommen, um sich auf die ja nun wahrlich nicht über- Gleichzeitig, meine Damen und Herren, ging es im raschend kommende zweite Welle der Coronapandemie März/April der Fraktionsvorsitzenden nicht scharf genug. vorzubereiten? (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So ist (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nach das!) Ihrer Meinung dürfen die sich ja nicht mit der Kanzlerin treffen!) Das ist Tatsache. Man sieht doch, wie Sie hin und her Wichtig ist zudem, dass die politischen Entscheidun- pendeln und jetzt versuchen, sich mit Widerstand auf gen nicht nur nachvollziehbar, sondern auch gerichtsfest der Straße Gehör zu verschaffen. sind. Nicht nur die umstrittenen Beherbergungsverbote, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sondern auch Einschränkungen des Versammlungsrechts wurden durch diverse Gerichte aufgehoben. Diesen Meine Damen und Herren, stellen Sie sich einmal vor, Urteilen muss künftig Rechnung getragen werden. wie die Zitate, die ich vorgetragen habe, auf die Familien, die Angehörigen, die Freundinnen und Freunde der fast Natürlich geht es letztlich auch um die Frage, wer denn 11 000 an Covid-19 gestorbenen Menschen in Deutsch- die Kosten dieser Krise trägt. Wir als Linke fordern hier land wirken, was sie für sie bedeuten. Jede einzelne dieser eine einmalige Vermögensabgabe für Milliardäre und furchtbaren Äußerungen und Leugnungen ist ein Schlag Multimillionäre als ersten wichtigen Schritt. ins Gesicht derjenigen Menschen, die erkrankt sind und (Beifall bei der LINKEN) die um ihr Leben bangen und vom Tod bedroht sind. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23777

Britta Haßelmann (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der geordneten der SPD und der LINKEN) CDU/CSU und der LINKEN) Diejenigen, bei denen der Krankheitsverlauf relativ Deshalb, meine Damen und Herren, müssen wir auch alle harmlos war, sind wahrscheinlich froh und dankbar, so achtsam sein, müssen wir aufpassen und müssen wir dass es so war, meine Damen und Herren. zwischen den demokratischen Fraktionen die Gemein- samkeit suchen Deshalb sind Sie kein seriöser Gesprächspartner, wenn es um die Coronapandemie und ihre Bekämpfung geht; (Karsten Hilse [AfD]: Sprechen Sie doch mal denn die braucht ein entschlossenes Handeln. Das zeigt zum Thema!) uns die Entwicklung der Pandemie in Europa, und jetzt in dieser Coronakrise gemeinsam überlegen: (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Gehen Sie auf den Wie können wir bei allem, was zu entscheiden ist, die Antrag ein!) Stärke des Parlaments klarer betonen? das zeigt uns die Entwicklung der Pandemie in den USA (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- mit über 200 000 Toten. Sie sind doch überhaupt nicht in SES 90/DIE GRÜNEN) der Lage, in so einer Krise zu handeln, meine Damen und Ich bin froh, dass es dazu Ihrerseits ein Signal gibt. Es Herren. hat lange genug gedauert, und das war ein Fehler. Aber ich bin froh, dass es jetzt das Signal gibt, zu sagen: Ja, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, auch wir haben verstanden. Gemeinsam werden wir das bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie Infektionsschutzgesetz grundlegend reformieren. – Gera- des Abg. Jan Korte [DIE LINKE]) de in der Krise bewährt sich der Rechtsstaat. Länderver- Wir haben allein heute 19 900 Neuinfektionen. Über ordnungen müssen konkretisiert werden. Wir brauchen 11 000 Menschen sind in Deutschland gestorben. Pflege- klare Kriterien und ein bundeseinheitliches Handeln bei rinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte arbeiten am aller Unterschiedlichkeit der Regionen; denn für die Rande ihrer Kräfte. Das alles ist die Realität. Und dann Menschen muss nachvollziehbar sein, was wir tun. Und stellen Sie sich hierhin mit ihrem Klub der Verweigerer wir brauchen die wissenschaftliche Begleitung durch und tun so, als gebe es keine Pandemie und als gebe es einen Pandemierat, meine Damen und Herren. kein Problem. Dabei zwingt uns diese Pandemie, wirk- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lich in dieser Krisensituation zu handeln, den Schutz der Gesundheit und die Einhegung des Infektionsgeschehens Ich hoffe, wir kommen ab morgen in der Debatte in der (B) (D) auch wirklich mit konkreten Maßnahmen vorzunehmen, Frage des notwendigen Parlamentsvorbehaltes ein Stück meine Damen und Herren. weiter – denn der verpflichtet uns zu klarerer Begrün- dung – und auch in der Frage des Bestimmtheitsgebotes. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Meine Damen und Herren, ich finde, wir sollten gemein- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und sam daran arbeiten. der FDP) Vielen Dank. Der zweite Punkt: die Rechtsstaatlichkeit, die Demo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – kratie und der Parlamentarismus. Wer so spaltet, wer die Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Der Nähe von Rechtsextremen, von rechten Netzwerken Anfang war gut! – Rudolf Henke [CDU/ sucht oder längst für sich gefunden hat, wer sich mit Ver- CSU]: Der Anfang und der letzte Satz!) schwörungsideologien gemeinmacht, der hat doch jede Glaubwürdigkeit, für Parlamentarismus, Rechtsstaatlich- keit und Demokratie zu kämpfen oder kämpfen zu wol- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: len, verloren; der hat sie nie gehabt, meine Damen und Nächster Redner ist der Kollege Philipp Amthor, Herren. CDU/CSU. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Philipp Amthor (CDU/CSU): Wir wissen doch alle – das sehen wir hier jede Parla- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mentswoche aufs Neue –, wie Sie immer wieder den Ver- Unser Land befindet sich in der wohl schwierigsten Zeit such unternehmen, die demokratischen Institutionen oder seit einigen Jahrzehnten. Unser Rechtsstaat ist unter dem wahlweise das Parlament oder manchmal auch beides auf Druck – das muss man zugestehen – der größten Frei- einmal verächtlich zu machen. Sie als Fraktion sind doch heitsbeschränkung seit Bestehen des Grundgesetzes. keine ernstzunehmende Kraft, bei der man sagen kann: Aber gerade solche Zeiten erfordern von uns gemeinsam, Sie schützt das Parlament; sie schützt den Rechtsstaat dass wir hier ernsthaft diskutieren, dass wir hier ehrlich oder die Demokratie. – Sie greifen sie an, jeden Tag diskutieren und dass wir das mit Respekt vor unserer aufs Neue. Verfassung tun. Den lassen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, einfach vermissen. Das hat auch Das Instrument der Verächtlichmachung der Demokra- Ihr heutiger Beitrag wieder gezeigt, liebe Kolleginnen tie ist eines der gefährlichsten. und Kollegen. 23778 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Philipp Amthor (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Insoweit sage ich: Wir als Parlament sollten uns nicht (C) Stephan Thomae [FDP]) permanent kleiner machen, als wir sind, liebe Kollegin- nen und Kollegen. Das muss hier der Maßstab sein. Man kann immer politisch unterschiedlicher Meinung sein, gerade auch bei den Coronamaßnahmen. Aber was (Beifall bei der CDU/CSU) nicht geht, ist, permanent, wenn einem die politischen Argumente ausgehen, immer nur mit dem Verdikt der Natürlich kann man die Forderung erheben und fragen: Verfassungswidrigkeit um sich zu werfen. Ich sage Ihnen: Muss die Regierung nicht klarer konditioniert werden? Das ist ein Muster, das wir von der AfD doch schon Ich sage Ihnen: Mittlerweile kann man zu der Meinung kennen. Schauen wir uns das an. Zur Euro-Politik der kommen, dass man bestimmtere Einschränkungen im Regierung kann man unterschiedlicher Meinung sein. Infektionsschutzgesetz vornehmen muss. Ich sage aber Sie haben sie für verfassungswidrig gehalten; das Bun- „mittlerweile“; denn es gilt der Grundsatz: Je länger desverfassungsgericht hat sie bestätigt. Die Migrations- Grundrechtseingriffe andauern und vor allem je konstan- politik haben Sie als verfassungswidrig kritisiert. Man ter eine Gefährdungslage ist, desto eher muss man kon- kann unterschiedlicher Meinung sein; aber vor dem Bun- kretisieren. Dass wir jetzt das Infektionsschutzgesetz zu desverfassungsgericht sind Sie krachend baden gegan- diesem Zeitpunkt ändern, ist kein Nachsteuern aufgrund gen. Ich sage Ihnen: Bei der Coronapolitik ist es wieder Ihres Drucks oder irgendwelcher Behauptungen. Das ist so. Ihnen fällt außer dem Vorwurf der Verfassungswid- logisch, das ist konsequent, das ist folgerichtig. So geht rigkeit nichts ein. Sie werden damit scheitern. So einfach vernünftiges Regieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. lassen wir Ihnen das nicht durchgehen, liebe Kolleginnen (Beifall bei der CDU/CSU) und Kollegen. Wie wir vorgehen, ist verfassungsadäquates Handeln. (Beifall bei der CDU/CSU) Aber ich will Ihnen noch sagen, was eben nicht verfas- sungsadäquat ist. Nicht verfassungsadäquat ist es, diese Ich bin ja wirklich ein großer Freund der Verfassung Bedrohung, die wir durch die Coronasituation haben, zu und weiß auch: Die Verfassung setzt dem Staat Grenzen. leugnen, sie zu ignorieren und staatlichen Schutzpflich- Sie gibt aber in den seltensten Fällen nur eine Handlungs- ten nicht nachzukommen. Da muss ich Ihnen sagen – das option vor, sondern lebt in der Regel von Handlungs- haben Sie wieder par excellence gezeigt –: Sie nennen alternativen. Genau diese Handlungsalternativen haben sich „Alternative für Deutschland“, bieten hier aber gar wir im Moment. Natürlich kann die Regierung durch keine Alternativen an. Sie sagen einfach, die Beschlüsse das Parlament stärker beschränkt werden. Aber am sollten rückgängig gemacht werden. Sie wollen Risiko- Ende haben wir als Parlament den Entscheidungsspiel- gruppen schützen, obwohl man sagen muss: Wenn wir raum. Das ist es, was Sie nicht verstehen wollen; denn (B) uns das demografisch anschauen, ist die Risikogruppe (D) Entscheidungsspielräume verleugnen Sie. mittlerweile so groß, dass die Hälfte der Bevölkerung Man muss vielleicht manches Mal ein plastisches Bei- zur Risikogruppe gehört. Sie haben keinen Plan, Sie spiel nehmen: Die Verfassung ist so toll, dass sie es Ihnen haben keine Argumente, sondern tragen nur das Ammen- auch erlaubt, Leute im Grenzbereich zum Rechtsextre- märchen der Verfassungswidrigkeit vor. Das reicht nicht mismus nicht aus Ihrer Partei zu werfen, wie es andere aus. Wir werden Ihren Antrag ablehnen. machen, sondern sogar mit Führungspositionen zu ver- Herzlichen Dank. sorgen. Man kann es anders machen. Am Ende entschei- det der Wähler, was richtig ist. Wir sind überzeugt, dass (Beifall bei der CDU/CSU) wir hier die richtigen Alternativen wählen, liebe Kolle- ginnen und Kollegen. Vizepräsidentin : (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Grosse- Vielen Dank, Philipp Amthor. – Guten Morgen, liebe Brömer [CDU/CSU]: Die besseren Alternati- Kolleginnen und Kollegen! Nächster Redner: für die ven!) FDP-Fraktion Stephan Thomae. Wenn Sie sagen, das Parlament sei nicht beteiligt (Beifall bei der FDP) worden, dann gibt es dafür nur zwei Erklärungsansätze. Entweder Sie haben nicht mitbekommen, wie wir hier Stephan Thomae (FDP): Debatte um Debatte geführt, Konditionierung um Kondi- Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und tionierung im Haushalts- und im Fachrecht behandelt Kollegen! Dass ausgerechnet die AfD heute einen Antrag haben, oder Sie verdrehen es bewusst. Ein bewusstes Ver- auf mehr Parlamentsbeteiligung stellt, hat einen Hauch drehen ist natürlich die Einordnung der Ministerpräsiden- von Treppenwitz, finde ich. Denn es ist doch gerade die tenkonferenz, wie Sie sie hier vornehmen. AfD, die ein ums andere Mal ihre Verachtung für dieses Parlament deutlich macht. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So ist das!) (Christian Dürr [FDP]: So ist es!) Wenn man sagt, wir würden den Beschlüssen im Kanzler- Es ist doch immer die AfD, die jedes Mittel ergreift, um amt hinterherlaufen, dann ist das schlicht falsch. In Wahr- dieses Parlament der Lächerlichkeit preiszugeben. Und heit gehen wir den Beschlüssen im Kanzleramt voraus; es ist die AfD, die immer wieder versucht, die Würde denn das, was dort beschlossen wird, funktioniert nur auf dieses Hauses infrage zu stellen, meine Kolleginnen der Grundlage unserer parlamentarischen Ermächtigung. und Kollegen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23779

Stephan Thomae (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Rudolf Henke [CDU/CSU]: Sehr richtig! Sehr (C) der CDU/CSU und der Abg. Britta Haßelmann wahr!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Aber irgendwann können auch wir uns nicht mehr einen Sie stören den Parlamentsbetrieb, Sie missbrauchen die schlanken Fuß machen. Geschäftsordnung, Sie stellen die Sitzungsleitung infra- ge. Es geht doch der AfD gar nicht darum, mehr Parla- (Christian Dürr [FDP]: Richtig! – Michael mentsbeteiligung zu erwirken. Was die AfD will, ist nicht Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Steht morgen etwa mehr Parlamentsbeteiligung bei der Pandemiebe- auf der Tagesordnung!) kämpfung. Sie wollen gar keine Pandemiebekämpfung. Irgendwann stehen wir in der Verantwortung, Artikel 80 Das ist der Unterschied. Absatz 1 Satz 2 auszufüllen und klar zu sagen, was denn (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nun die Ermächtigung der Regierung ist. der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Dabei geht es um ein ernstes Anliegen. Es geht darum, Herr Kollege! wie wir mit wirksamen und verhältnismäßigen Mitteln dieser Pandemie und ihrer Ausbreitung Herr werden Stephan Thomae (FDP): und gleichzeitig berechtigte wirtschaftliche Interessen Wir stehen in der Verantwortung. Wir sind auch der der Arbeitnehmer und der Unternehmer sowie soziale bessere Gesetzgeber; wir sind schnell genug und gründ- und kulturelle Bedürfnisse der Menschen ernst nehmen lich. Deswegen müssen wir uns wieder mehr in die Ver- und nicht unter den Tisch fallen lassen, gerade wenn die antwortung nehmen lassen. Pandemiebekämpfung länger dauert. Darum geht es doch. Darum ringen wir hier sehr ernsthaft und auch Vielen Dank. sehr kontrovers. Das muss sein. Deswegen gehört in der (Beifall bei der FDP) Tat die Diskussion über die Pandemiebekämpfung in die- ses Haus. Der Bundestag ist auch ein gutes Interessen- ausgleichsorgan, weil hier viel mehr als in den Ministe- Vizepräsidentin Claudia Roth: rien, in der Regierung, im Bundeskanzleramt die Vielen Dank, Stephan Thomae. – Der nächste Redner: wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen der für die SPD-Fraktion Mahmut Özdemir. Bevölkerung in ihrer Breite vertreten sind. Das können wir leisten. Wir bilden das so gut ab wie sonst kein Ver- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rudolf Henke [CDU/CSU]) (B) fassungsorgan, meine Damen und Herren. (D) (Beifall bei der FDP) Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD): Gerade die Opposition hat die Aufgabe, die Schwach- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und stellen in der Regierungspolitik herauszufiltern. Das ist Kollegen! Wieder einmal überzieht die AfD dieses Haus nicht etwa, wie der Unionsfraktionsvorsitzende in der mit einem Antrag, der untauglich ist und vor Wider- letzten Woche bei der Regierungserklärung der Kanzlerin sprüchlichkeit strotzt. Nicht alles kann man in fünf Minu- sagte, eine Anmaßung. Das ist nicht unwürdig. Wir müs- ten Redezeit und in einer solchen Debatte richtigstellen. sen uns nicht dafür schämen. Es ist unsere Aufgabe, das zu tun, die Schwachstellen aufzuspüren. (Jan Korte [DIE LINKE]: Bringt auch nichts!) (Beifall bei der FDP und der LINKEN) Aber wenn Sie solche Dinge kritisieren wie die in Ihrem Antrag, dann empfehle ich einen Blick in ein kleines Das ist Teil des Qualitätsmanagements, das ein Parla- graues Büchlein – das Grundgesetz –, das sich auch in ment leisten muss. Nirgendwo sonst kreuzen sich so die Ihren Schubladen befindet. Ich zitiere einmal einige Klingen von Meinungen und Gegenmeinungen, prallen wenige Passagen daraus: Argument und Gegenargument so aufeinander. Das ist unsere Aufgabe. Wir denken in Wählerlogik, weil die Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Rückspiegelungen der Sorgen und Nöte der Bürgerinnen Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch und Bürger bei uns ankommen. besondere Organe der Gesetzgebung, (Rudolf Henke [CDU/CSU]: Dann muss man – das sind wir – aber auch mal sagen, was gut war!) der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung Deswegen sind wir legitimiert, Recht zu setzen. Das kön- ausgeübt. nen wir ausnahmsweise auch mal an die Regierung durch Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Rechtsverordnung delegieren; aber dann müssen wir laut Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Recht- Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz auch Inhalt, sprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. Zweck und Ausmaß klar bestimmen. Nun mag es im Frühjahr dieses Jahres, im März und im Mai, die Situa- Für die Kollegen von der Linken, die die Bundesstaat- tion gegeben haben, wo wir kaum eine andere Möglich- lichkeit kritisieren und die mittlerweile das Privileg keit hatten, als generalklauselartig weitreichende Befug- haben, in dem einen oder anderen Bundesland Verant- nisse, auch Ermessensbefugnisse an die Regierung zu wortung zu haben, zitiere ich Artikel 30 des Grund- delegieren. gesetzes: 23780 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Mahmut Özdemir (Duisburg) (A) Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Mit diesem Antrag zeigen Sie, dass Sie den Staatsauf- (C) Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der bau nicht verstanden haben. Sie brauchen Angst – die Länder, soweit dieses Grundgesetz keine andere schüren Sie selber – und Verunsicherung im Land. Sie Regelung trifft oder zulässt. fordern, dass wir Dinge rückgängig machen sollen, als ob das etwas besser machte. Sie haben keine eigenen Jeder, der irgendeine Ministerpräsidentenkonferenz oder Vorstellungen. Sie versuchen krampfhaft, ein bestimmtes -zusammenkunft kritisiert, kritisiert also gleichzeitig die Bild zu zeichnen, weil es Ihre Daseinsberechtigung ist. Bundesstaatlichkeit. Sie wollen den Leuten weismachen, dass es einen Kon- (Jan Korte [DIE LINKE]: Das hat Ihr Frak- trollverlust in diesem Land gibt. Das ist widersprüchlich, tionsvorsitzender letzte Woche selber gemacht! das ist planlos, und das ist ziellos, liebe Kolleginnen und So ein Unsinn!) Kollegen von der AfD. (Beifall bei der SPD) Ein Blick in die Verfassung ist immer eine gute Idee, und Lesen ist immer bildend. Wir wollen Sicherheit, Verlässlichkeit und Vertrauen schaffen. Wo sind Sie eigentlich gewesen, als wir in die- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sem Parlament über das vornehmste Parlamentsrecht der CDU/CSU) bestimmt und davon Gebrauch gemacht haben, nämlich Vollmundig bezichtigt die AfD-Fraktion die Regie- einen Haushalt zu beraten, das Grundgesetz zu ändern, rung, den Bundestag zu übergehen. Sie suggerieren in über die Schuldenbremse hinaus Investitionen für die Ihrem Antrag, dass Sie wuchtiges parlamentarisches Vor- Menschen in diesem Land vorzunehmen, als wir Kin- dergelderhöhungen, als wir Kurzarbeitergeld, als wir die gehen an den Tag legen. Dabei umfasst dieser Antrag maximal drei Seiten. Darin schreiben Sie von Parla- unbürokratische Verlängerung der Bezugsdauer des mentsvorbehalt, Rechten des Parlaments und Kontroll- Arbeitslosengeldes, als wir Steuersenkungen für Gastro- nomen, als wir Mehrwertsteuersenkungen beschlossen befugnissen. Dann schreiben Sie im Forderungsteil, dass die Bundesregierung Ihnen einen Gesetzentwurf haben? schreiben soll, der den Parlamentsvorbehalt wiederher- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Alles stellt. Widersprüchlicher geht es doch gar nicht. Sie hier beschlossen!) haben Ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Entweder sind Wo waren Sie, als wir hier im Deutschen Bundestag Sie faul, unfähig, oder Sie haben die Verfassung nicht darüber debattiert und entsprechende Gesetze gemacht verstanden. haben? (B) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – (Leif-Erik Holm [AfD]: Haben Sie mal die (D) Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Oder Brille aufgesetzt?) alles drei zusammen!) Eine Umgehung des Bundestages ist nicht möglich. Ich Es geht um mehr in diesem Land. Die Menschen zwei- habe Ihnen das Grundgesetz vorgelesen. Dem einen oder feln. Sie hadern, sie hinterfragen Dinge – zu Recht. Es ist anderen Kollegen sollte man vielleicht auch die Verhal- ihr Grundrecht, Dinge zu hinterfragen. Der Sportverein tensregeln für Abgeordnete im Deutschen Bundestag vor- fragt, warum man den Trainingsbetrieb einstellen muss. lesen. Der Gastronom fragt, warum wir in seine Berufsfreiheit eingreifen. Das zeigt, dass Parlamentarierinnen und Par- Ich möchte mich noch auf die konkrete Lage beziehen. lamentarier nicht nur hier im Plenarsaal gefordert sind. Wenn Sie über das Infektionsschutzgesetz reden, sollten Die Passagen, die ich Ihnen gerade vorgetragen habe, Sie sich § 5 anschauen. Dort lautet der erste Satz: zeigen, dass das Volk uns Macht überträgt und dass wir Der Deutsche Bundestag stellt eine epidemische es vertreten sollen. Wir sind die Sensoren der Demokra- Lage von nationaler Tragweite fest. tie, die jeden Tag aufs Neue schauen müssen – Koalition Sie halten die Menschen im Land zum Narren. Sie sind und Opposition –, ob die Regierung korrekt Gebrauch aber am Ende der Hofnarr, der der eigenen Gaukelei zum macht von dem, was wir ihr per Gesetz einräumen. Nur Opfer fällt. Wir bestimmen als Parlament mit Gesetzen so schafft man wieder Akzeptanz in diesem Land, und die Richtung für die Bundesregierung. Wir sagen, wie dafür hat die SPD-Bundestagsfraktion ein Positionspa- weit sie gehen darf, indem wir sie mit Haushaltsmitteln pier vorgelegt, auf das ich sehr stolz bin. ausstatten. Wir sind am Ende auch diejenigen, die die (Beifall bei der SPD – Jan Korte [DIE LINKE]: Notbremse ziehen, wenn uns das Regierungshandeln Positionspapier ist ein bisschen wenig!) nicht mehr passt. Die entsprechende Debatte führen wir hier im Deutschen Bundestag. Fakt ist: Wir können hier im Deutschen Bundestag nicht umgangen werden. Es gibt eine ununterbrochene Wir werden Ihren Antrag ablehnen Legitimationskette in diesem Land. Wir, der Deutsche (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Zu Bundestag, oder die Länderparlamente bestimmen Regie- Recht!) rungen. Regierungen bestimmen Beamte. Beamtinnen und brauchen, wenn es nach mir geht, keine weitere Bera- und Beamte treffen Einzelfallentscheidungen. Das heißt, tung im Ausschuss. wir, die Parlamente, wirken bis zu jedem Einzelfall und jeder Einzelentscheidung hindurch und stellen uns jeden In diesem Sinne vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, Tag aufs Neue auch der gerichtlichen Überprüfung. liebe Kolleginnen und Kollegen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23781

Mahmut Özdemir (Duisburg) (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nerlei Mitgefühl und keinerlei Empathie. Das ist nicht (C) der CDU/CSU) mein Verständnis von einer Gesellschaft, in der ich leben möchte. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vielen Dank, Mahmut Özdemir. – Nächster Redner: Bei dem Vorschlag der AfD kann man sich auch fra- für die CDU/CSU-Fraktion Alexander Krauß. gen, wie das praktisch gehen soll, Risikogruppen zu iso- (Beifall bei der CDU/CSU) lieren. Sollen in den Altenpflegeheimen die 80-Jährigen die 80-Jährigen pflegen? Denn die jungen Leute, die jetzt in den Pflegeheimen arbeiten, kann man dann nicht mehr Alexander Krauß (CDU/CSU): hineinlassen, weil diese ja unter sich bleiben sollen. Oder Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und wie machen wir das in den Familien? Darf die Oma ihre Herren! Keine Frage, die getroffenen Maßnahmen sind Enkel nicht mehr sehen, weil man Alt und Jung trennen starke Eingriffe in Freiheitsrechte der Bürger. Dafür muss? Wer gehört eigentlich zur Risikogruppe? Jeder braucht es einen guten Grund, und es braucht verständ- dritte Deutsche ist über 60 Jahre alt und gehört damit liche Begründungen für die Menschen. Der gute Grund zur Risikogruppe. Es gibt Diabetiker, Krebskranke, Men- findet sich in Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes: schen mit einem geschwächten Immunsystem und Rau- „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unver- cher. Wenn man auf die RKI-Seite schaut, stellt man fest, sehrtheit.“ Ich finde, der Staat muss alles unternehmen, dass auch die Männer eine Risikogruppe sind, die für damit das Gesundheitswesen nicht überfordert wird, da- schwere Verläufe prädestiniert ist. Es wird nicht funktio- mit Ärzte nicht gezwungen sind – wie wir das in Italien nieren, all diese Gruppen auszuschließen. erlebt haben –, zu entscheiden, welcher Patient die Chan- Die AfD hat ja vorgeschlagen, dass es für Risikogrup- ce auf einen Beatmungsplatz bekommt, welcher Patient pen und Nichtrisikogruppen getrennte Einkaufszeiten in die Chance auf Überleben bekommt und welcher nicht. den Supermärkten geben soll. Ein vollkommen absurder Ich möchte nicht, dass wir vor solche Entscheidungen Vorschlag, der an der Realität vollkommen vorbeigeht! gestellt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Meine sehr geehrten Damen und Herren, die angespro- Zuruf von der AfD: Das kam gestern als Fra- chenen Beispiele stammen nicht aus irgendwelchen Ent- ge!) wicklungsländern. Vielmehr können wir die Überforde- rung des Gesundheitswesens in Italien, in Spanien, in Meine sehr geehrten Damen und Herren, ja, die getrof- Frankreich und in den USA studieren, also in hochentwi- fenen Maßnahmen sind einschneidend. Ja, die getroffe- (B) ckelten Ländern. Wenn wir ehrlich sind, können wir das nen Maßnahmen sind belastend. Aber sie sind eben auch (D) auch in einigen Regionen in Deutschland studieren. Den- richtig. Wir dürfen nicht zuschauen, wie die Intensivsta- ken wir an den Landkreis Heinsberg, wo im Frühjahr tionen volllaufen. Deswegen bedarf es eines beherzten Patienten wegverlegt und Ärzte zugeführt werden muss- Handelns. Die Bundeskanzlerin hat mit den Ministerprä- ten, um die Situation in den Griff zu bekommen. Dort sidenten beherzt gehandelt. Ich bin den Handelnden dafür waren nur 15 Prozent der Bevölkerung infiziert. Es han- sehr dankbar. delt sich also um eine reale Gefahr. Deswegen ist das Ziel Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. richtig, die Zahl der Kontakte zu halbieren. Die Richtung (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. stimmt, wie wir in den letzten Tagen sehen. Wenn wir uns [SPD]) die Berliner Innenstadt anschauen, dann stellen wir fest, dass es ruhiger geworden ist. Es gibt nicht mehr so viele Menschen, die auf den Plätzen herumstreunen und ihr Vizepräsidentin Claudia Roth: Bier trinken. Das ist eine gute Entwicklung, wie ich finde. Vielen Dank, Alexander Krauß. – Die letzte Rednerin in dieser Debatte: Emmi Zeulner für die CDU/CSU-Frak- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tion. Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt nur (Beifall bei der CDU/CSU) einen Vorschlag der AfD, wie man mit der Situation umgehen soll. Das ist der Vorschlag, die Risikogruppen Emmi Zeulner (CDU/CSU): zu isolieren. Der Rest darf also weiter feiern. Das ist die Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Botschaft, die die AfD hat. Zuerst irritiert mich das damit Kollegen! Kollegen von der AfD, es ist wie häufig bei verbundene Freiheitsverständnis: Ich komme über alles. Ihren Anträgen: Die Anträge sind schlicht nicht redlich. Was interessiert mich mein kranker Nachbar? – Das ist Es ist nicht redlich, dass Sie immer nur die eine Seite der das Denken, das dahintersteckt. Medaille beleuchten, also die teilweise massiven Ein- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schränkungen, welche die Menschen in unserem Land zurzeit tragen müssen, und dabei völlig außen vor lassen, Warum soll ich eine Party weniger machen, nur damit warum diese Maßnahmen getroffen wurden. Es ist nicht jemand anderes nicht krank wird und gesund bleibt? – redlich, dass Sie so tun, als würde unsere Bundeskanzle- Herr Gauland hat das in der vergangenen Woche relativ rin morgens aufstehen und sich überle- deutlich gesagt – ich bin ihm dankbar dafür, dass er das so gen, welche Beschränkungen sie unserem Land auferle- deutlich gesagt hat –: Dann sterben halt welche. Was gen kann. Es ist nicht redlich, dass Sie einfach völlig soll’s? – Das ist seine Grundeinstellung. Da gibt es kei- unerwähnt lassen, warum wir diese Einschränkungen be- 23782 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Emmi Zeulner (A) schlossen haben. Wir haben sie beschlossen, weil wir uns nehmen ja ihrerseits stellvertretend für unsere gesamte (C) aktuell in einer handfesten Pandemie befinden und weil Gesellschaft aktuell den größten Teil der Last in dieser wir die berechtigte und belegbare Sorge haben, dass unser Pandemie. Gesundheitssystem überlastet wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall der Abg. Karin Maag [CDU/CSU]) Aber selbst unsere Gastronomen – ich spreche mit vielen Deshalb ist es geradezu ironisch, dass Sie uns das vor- Betroffenen in meinem Wahlkreis –, Reisebürobetreiber, werfen, was Sie ständig tun. Sie wägen nicht ab, Sie Kunstschaffende usw. wissen, dass die Regierung und betrachten die Situation einseitig, und Sie lassen keine auch die Parlamente handeln müssen. Verhältnismäßigkeit – ganz konkret in Ihren Anträgen – walten. Noch zwei weitere Punkte, die mich wirklich an Ihren Anträgen ärgern, weshalb wir diese ablehnen: Zum einen (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. ignorieren Sie einfach unsere föderalen Strukturen und Sebastian Hartmann [SPD] und Kordula verkennen, dass manche Ihrer Forderungen in die Zustän- Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) digkeit der Länder fallen. Zum anderen ist es bei über 70 Debatten zu Anträgen und Hilfspaketen und Diskus- Selbstverständlich führen wir als Unionsfraktion in unse- sionen in den Haushaltsausschüssen langsam lächerlich, ren Gremien die Debatte über die Verhältnismäßigkeit dass Sie weiterhin behaupten, das Parlament werde nicht der Maßnahmen. Und morgen werden wir als Regie- gehört und habe an den Entscheidungen nicht teil. rungsparteien den Entwurf eines Dritten Bevölkerungs- schutzgesetzes einbringen. Darin enthalten ist der neu (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Carsten gefasste § 28a Infektionsschutzgesetz, in dem wir die Schneider [Erfurt] [SPD]) Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen besonders betonen. Zum Schluss ist es mir wichtig, schlicht zu betonen: Es Das Schlimmste für mich aber ist, dass Sie anschei- ist, zum Glück, ein Thema auf Zeit, und auch die Maß- nend glauben, dass die Menschen in unserem Land keine nahmen sind zeitlich befristet. Aber wir sind nach Japan Zahlen verstehen. Ja, es ist selbstverständlich zulässig, die zweitälteste Gesellschaft dieser Welt, und auch des- Maßnahmen zu kritisieren. Ich denke, alle in diesem halb haben wir eine besondere Verantwortung. Bei allen Haus verstehen die Sorgen und manchmal auch die Wut Schwierigkeiten, die wir haben, macht es mich stolz und der Menschen, die von den Einschränkungen durch die bin ich dankbar, wenn ich erlebe, wie ganz viele der Coronamaßnahmen betroffen sind. Aber auch diese Men- jungen Generation Verantwortung gegenüber der älteren schen sehen die Zahlen. Sie sehen, dass es am 18. Oktober Generation übernehmen, indem sie achtsam sind. Das 769 Covid-Fälle in intensivmedizinischer Behandlung lässt mich zuversichtlich auf unsere Gesellschaft blicken. (B) gab; das waren 39 Fälle mehr im Vergleich zum Vortag. (D) Sie sehen, dass es am 28. Oktober, also zehn Tage später, Vielen Dank. schon doppelt so viele Fälle, nämlich 1 569, mit einer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Steigerung zum Vortag von 99 Fällen, gegeben hat. Und ordneten der SPD) gestern waren wir bei 2 546 gemeldeten Fällen mit einer Steigerung zum Vortag von 158 Fällen. Daher scheint es sehr realistisch, was unter anderem mein geschätzter Kol- Vizepräsidentin Claudia Roth: lege Henke in der letzten Debatte gesagt hat. Er hat prog- Vielen Dank, Emmi Zeulner. Danke auch dafür, dass nostiziert, dass wir am 7. November 3 000 Fälle in inten- Sie einen Beweis geliefert haben, wie mehrsprachig die sivmedizinischer Behandlung haben werden, also eine Franken und Fränkinnen sind. weitere Verdoppelung in den letzten zehn Tagen. Das (Beifall bei Abgeordneten der FDP) nennt man Mathematik, das ist Logik. Ich fände es ein- fach nur überheblich und weltfremd, wenn wir davon Damit schließe ich die Aussprache. ausgehen würden, dass uns all das, was in anderen euro- Tagesordnungspunkt 9 a. Interfraktionell wird Über- päischen Ländern gerade passiert, nicht passieren könnte. weisung der Vorlage auf Drucksache 19/23949 an die in (Beifall bei der CDU/CSU) der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Die Federführung ist aber strittig. Die Fraktionen der Von den regulär benötigten freien Kapazitäten in der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Aus- Intensivmedizin für Notfälle will ich hier gar nicht spre- schuss für Gesundheit. Die Fraktion der AfD wünscht chen. Federführung beim Ausschuss für Inneres und Heimat. In meiner schönen fränkischen Heimat sagt man land- Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvor- läufig: There is no glory in prevention. – Also, wenn ein schlag der Fraktion der AfD. Wer stimmt für diesen Über- Schaden verhindert wird, erntet man dafür keinen Ruhm, weisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- weil der Schaden faktisch nicht eingetreten ist und damit gen? – Ich sehe keine. Der Überweisungsvorschlag ist nicht spürbar war. Aber gerade das macht gute Politik in abgelehnt. Die AfD hat zugestimmt. Der Rest des Hauses Zeiten eines Pandemiegeschehens aus: vorausschauend war dagegen. handeln. Und dabei muss selbstverständlich die Verhält- nismäßigkeit ein zentraler Punkt sein. Deshalb ist es auch Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor- nur angemessen, dass wir als Gesellschaft den entstande- schlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, also nen Schaden der von den Einschränkungen betroffenen Federführung beim Ausschuss für Gesundheit. Wer Branchen ausgleichen. Die betroffenen Branchen über- stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23783

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überweisungsvor- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege (C) schlag ist angenommen bei Gegenstimmen der Fraktion Ulrich Lange für die CDU/CSU-Fraktion. der AfD und Zustimmung vom Rest des Hauses. (Beifall bei der CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 9 c. Wir kommen zur Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat zu Ulrich Lange (CDU/CSU): dem Antrag der Fraktion der AfD mit dem Titel „Grund- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, rechten trotz Corona wieder Geltung verschaffen – Ver- wir haben geliefert: Im März ein Treffen des Koalitions- sammlungs- und Religionsfreiheit auch während einer ausschusses, und heute beschließen wir sage und schreibe epidemischen Lage sichern“. Der Ausschuss empfiehlt das vierte Gesetz zur Planungsbeschleunigung in dieser in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache Legislaturperiode. Da nehmen wir hier bei der Planungs- 19/23805, den Antrag der Fraktion der AfD auf Druck- beschleunigung wirklich Tempo auf. sache 19/18977 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- (Beifall bei der CDU/CSU) hält sich? – Eine Enthaltung. Die Beschlussempfehlung Rekordinvestitionen lassen sich auch nur mit beschleu- ist angenommen. Dagegengestimmt hat die AfD. Der nigter Planung umsetzen. Dass wir in unserer Verkehrs- Rest des Hauses mit Ausnahme eines fraktionslosen Ab- infrastruktur schneller zum Bau kommen müssen, haben geordneten, der sich enthalten hat, hat die Beschlussemp- wir die letzten Jahre deutlich gemerkt. Es war keine Frage fehlung angenommen. des Geldes, Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: (Zuruf von der LINKEN: Doch!) a) – Zweite und dritte Beratung des von der sondern es war eine Frage der Planung und des Bau- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs rechts. Deswegen auch ein Dankeschön an das Bundes- eines Gesetzes zur Beschleunigung von verkehrsministerium für die rasche Umsetzung dieses Investitionen vierten Planungsbeschleunigungsgesetzes. Drucksachen 19/22139, 19/22778, (Beifall bei der CDU/CSU) 19/23054 Nr. 6 Warum ist das so wichtig? Liebe Kolleginnen und Kol- – Zweite und dritte Beratung des von den legen, wir alle wollen einen klimafreundlichen Verkehr. Abgeordneten Torsten Herbst, Frank Sitta, Wir alle reden davon, dass wir mehr mit der Bahn fahren Dr. Christian Jung, weiteren Abgeordne- wollen. Genau an dieser Stelle setzt dieses Planungsbe- ten und der Fraktion der FDP eingebrach- schleunigungsgesetz an. Wir haben uns im Koalitionsver- (B) ten Entwurfs eines Gesetzes für ein Bun- trag vorgenommen, 70 Prozent des Schienennetzes zu (D) desfernstraßen-Baubeschleunigungsge- elektrifizieren; um die 60 Prozent sind es. Eine Elektrifi- setz zierungsoffensive macht aber nur dann Sinn und hat nur dann wirklich Aussicht, umgesetzt zu werden, wenn wir Drucksache 19/22106 Änderungen im Planungsrecht vornehmen; und genau Beschlussempfehlung und Bericht des das machen wir. Ausschusses für Verkehr und digitale In- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) frastruktur (15. Ausschuss) Einfach ausgedrückt: Man sagt, man elektrifiziert. Drucksache 19/24040 Man zieht ein bisschen Draht, und alles ist gut. – Wenn man sich die Planungsvorläufe davor aber anschaut – b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Umweltverträglichkeit, Planfeststellung; Planfeststel- Berichts des Ausschusses für Verkehr und lung, Umweltverträglichkeit –, dann ist es richtig, dass digitale Infrastruktur (15. Ausschuss) zu wir jetzt genau das zusammenfassen und in einer Vor- dem Antrag der Abgeordneten Dr. Dirk prüfung gemeinsam machen. Spaniel, Leif-Erik Holm, Wolfgang Wiehle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Wir erleichtern die Verfahren bei der Digitalisierung AfD der Bahnstrecken, bei der Erhöhung oder Verlängerung von Bahnsteigen und beim barrierefreien Ausbau. Wer Investitionsoffensive im Infrastrukturbe- von uns allen kennt nicht die Diskussionen vor Ort, reich – Das Investitionsbeschleunigungs- wenn man sagt: „Wir wollen den Bahnsteig ein bisschen gesetz sinnvoll ergänzen verlängern, den Bahnsteig ein bisschen erhöhen, eine Drucksachen 19/23131, 19/24040 Unterführung, einen Aufzug einbauen“? Und zehn Jahre Planung sind weg. – Das kann doch nicht sein. Deswegen Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein ist dieses Planungsbeschleunigungsgesetz an dieser Stel- Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- le für die Menschen vor Ort so wichtig. nen vor. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Für die Aussprache ist eine Dauer von 60 Minuten Gleiches gilt für die Errichtung von Schallschutzwän- beschlossen worden. den zur Lärmsanierung. Die Menschen vor Ort haben Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Plätze kein Verständnis, dass wir Jahre brauchen, um eine zügig einzunehmen oder zu tauschen, damit ich den ers- Schallschutzwand zu planen und zu errichten, weil wir ten Redner aufrufen kann. eine Prüfung an die andere reihen und dann im Verfahren 23784 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Ulrich Lange (A) das Ganze wieder beginnen und doppelt machen. Schie- Im Gegensatz zum Entwurf der Regierung ist unser (C) nenverkehr hat nur Akzeptanz, wenn es uns gelingt, Antrag – unser Antrag! – von dem Wunsch nach einer Lärmschutz an den Strecken zu bauen, liebe Kolleginnen leistungsfähigen Infrastruktur aller Verkehrsträger gelei- und Kollegen. tet. Das heißt, anders als Sie denken wir auch an den Ausbau der Straßen und der Luftfahrtinfrastruktur. Ein weiterer Meilenstein im Raumordnungsrecht: Auch hier, glaube ich, ist es höchste Zeit, dass wir die (Beifall bei der AfD) Bekanntmachung und Auslegung von Verfahrensunterla- Abgesehen vom fehlenden politischen Willen scheitert gen im Internet vornehmen. Es ist wichtig, dass wir beim der Infrastrukturausbau in unserem Land an der knappen Neubau kleiner Verbindungsschienenstrecken Doppel- Planungskapazität. Um diese knappe Ressource der Pla- prüfungen vermeiden. Auch das ist doch ein Ärgernis, nungskapazitäten bestmöglich einzusetzen, steht im Kern das wir keinem vor Ort erklären können. Das ist eine unseres Antrags eine Kosten-Nutzen-Analyse aller Entwicklung der letzten Jahrzehnte gewesen. geplanten Projekte. Wenn es nach unserem Antrag geht, (Dr. Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dann wird zuerst das gebaut, was den Menschen in die- NEN]: Wer regiert denn da?) sem Land am meisten nützt: Das ist nun fast immer ein Ausbau der Straßeninfrastruktur. – Da brauchen Sie nicht reinzurufen. Sie sind ja meistens Mitauslöser des Ärgernisses. (Beifall bei der AfD – Detlef Müller [Chem- nitz] [SPD]: Das ist die Schiene! Ganz genau!) (Widerspruch des Abg. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Ja, ja. – Für die meisten Bürger in unserem Land ist auch interessant, dass eine Beschleunigung der Planung Sie unterstützen bei mir im Wahlkreis gerade eine Klage und der Genehmigung von Infrastrukturprojekten eine gegen einen barrierefreien Ausbau. Vorgabe der Europäischen Union ist; manchmal kommt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- auch etwas Sinnvolles aus Brüssel. In einer EU-Verord- neten der FDP und des Abg. Detlef Müller nung – KOM(2018) 277 endg. – will die EU den Mit- [Chemnitz] [SPD]) gliedstaaten vorschreiben, dass diese ihr Planungschaos beenden sollen. Die Erarbeitung der Planungsgrundlage Wir können uns gern einmal darüber unterhalten, wie Ihr soll zwei Jahre dauern dürfen, der Genehmigungszeit- Reden hier und Ihr Verhalten vor Ort auseinanderfallen. raum – jetzt hören Sie alle einmal zu! – soll laut EU nur (Dr. Christian Jung [FDP]: Viel Spaß mit der ein Jahr betragen. Dagegen gibt es Widerspruch von der nächsten Bundesregierung!) Bundesrepublik Deutschland. Ich zitiere aus Ihrem Widerspruch: (B) Wir vereinfachen das Verfahren bei den Verwaltungs- (D) gerichten, indem wir als erste Instanz das Oberverwal- Artikel 6 … verkennt, dass sich die Dauer eines tungsgericht vorsehen. Auch das ist wichtig, liebe Kolle- rechtsstaatlichen Verfahrens nicht gesetzlich verord- ginnen und Kollegen. nen lässt. Insoweit sind die Fristen … Ja, es ist das vierte Beschleunigungsgesetz. Ich bin – der EU; das habe ich jetzt eingefügt – überzeugt: Wir werden auch noch ein fünftes brauchen. willkürlich gesetzt. Sie sind zudem in der Praxis Warum? Ich sage das so deutlich, weil die Wiederein- nicht umsetzbar, da weder national … noch europa- führung der materiellen Präklusion nach unserer Auffas- rechtlich … vorgeschriebene Verfahren berücksich- sung noch fehlt. Das gehört dazu. Wenn jemand einmal tigt sind. zu spät ist – ja, Frau Präsidentin, ich werde nicht zu spät sein –, dann ist er zu spät. Deswegen, liebe Kolleginnen Ich übersetze das einmal in die Umgangssprache: Die und Kollegen: Das vierte Planungsbeschleunigungsge- Bundesregierung möchte die deutschen Behörden so setz ist wichtig, das fünfte kommt ohne Verspätung. lange planen und genehmigen lassen, wie sie es für rich- tig halten – notfalls auch ewig. Danke schön. (Detlef Müller [Chemnitz] [SPD]: Quatsch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Argumentiert wird mit der Einhaltung von Rechtsstaat- lichkeit und Bürgerbeteiligung. Viele andere Staaten der Vizepräsidentin Claudia Roth: EU, zum Beispiel die Niederlande bzw. Dänemark, die Vielen Dank, Ulrich Lange. – Nächster Redner: für die solche Genehmigungsprozesse in zwei Jahren durchzie- AfD-Fraktion Dr. Dirk Spaniel. hen, sind also nach Einschätzung der Regierung keine Rechtsstaaten oder haben unzureichende Bürgerbeteili- (Beifall bei der AfD) gungen. In Ihrem vorliegenden Antrag machen Sie übrigens Dr. Dirk Spaniel (AfD): Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau genau das Gegenteil von Bürgerbeteiligung: Für die total Präsidentin! Der Gesetzentwurf der Koalition, den wir unsinnige Verspargelung unserer Landschaft mit Hunde- heute bereits zum zweiten Mal hier besprechen, kommt rte Metern hohen Windindustrieanlagen schließen Sie die viel zu spät. Der Transitverkehr, der über deutsche Auto- aufschiebende Wirkung von Klageverfahren explizit aus. bahnen rollt, hat sich in den letzten 20 Jahren auf vielen Ich fasse zusammen: Wir lehnen Ihren Antrag ab, weil Strecken verdreifacht. Das Netz wurde jedoch völlig er genau da, wo es für dieses Land wichtig ist, nämlich unzureichend, quasi gar nicht, ausgebaut. bei der Straßeninfrastruktur, fast keine Beschleunigung Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23785

Dr. Dirk Spaniel (A) der Genehmigungsverfahren erzielt, und genau da, wo Das Verkehrsministerium hat natürlich auch in diesem (C) wir die Bürgerbeteiligung erhalten wollen, etwa bei Gesetzentwurf wieder etwas vergessen, und zwar das Windindustrieanlagen, wollen Sie die Bürgerbeteiligung Rückgrat der Verkehrswende in den Städten: den öffent- ausschalten. lichen Nahverkehr. Wir haben im parlamentarischen Ver- fahren dafür gesorgt, dass die Erleichterungen für die (Mathias Stein [SPD]: Quatsch!) Schiene auch für Straßenbahnen und Trams gelten. Es ist unsere Aufgabe als Oppositionspartei, Ihre Mein Kollege Detlef Müller wird dazu nähere Ausfüh- Mogelpackung und doppelzüngige Politik aufzudecken. rungen machen. Aber wir beschleunigen nicht nur bei Genau das werden wir auch weiterhin tun. Verkehrsprojekten, sondern gehen auch im Energiebe- reich stark voran. Wer die Klimaziele erreichen will, Vielen Dank. muss dafür auch die notwendigen Schritte tun. Wir brau- chen mehr Windkraft und dürfen nicht einfach nach dem (Beifall bei der AfD) Sankt-Florian-Prinzip vorgehen. Klagen gegen mehr als 50 Meter hohe Windenergieanlagen werden deshalb Vizepräsidentin Claudia Roth: künftig direkt vor den Oberverwaltungsgerichten verhan- Vielen Dank, Dr. Spaniel. – Nächster Redner: für die delt. SPD-Fraktion Mathias Stein. (Uwe Witt [AfD]: Am besten gleich verbieten!) (Beifall bei der SPD) Zudem haben diese Klagen grundsätzlich keine aufschie- Mathias Stein (SPD): bende Wirkung mehr. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Wir steigen aus der Kohle aus; das ist notwendig, das Kollegen! Im Spätsommer trank ich in der Kieler Innen- ist richtig. Die vereinbarte Umrüstung von Kohle- auf stadt einen Cappuccino, während eine Gruppe von Kli- Gaskraftwerke findet aber nach einem äußerst ambition- maaktivisten von Extinction Rebellion drohte, eine ierten Zeitplan statt. Wir wollen nicht, dass Kohlekraft- Aktion zu machen. Sie warnte vor dem Klimawandel, werke länger laufen, weil wir in die Gaskraftwerke noch und ein junger Mann erklärte, dass er zur Rettung des keinen Strom und keine Wärme einspeisen können. Da- Klimas und mit deutlichem Unmut seiner Mutter zu Hau- her ist es richtig und vertretbar, Klagen gegen große se die Heizung abgedreht hatte. Seine Botschaft war deut- Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen ab 50 Megawatt direkt lich: Wir müssen verzichten und notfalls frieren, um das zu den Oberverwaltungsgerichten zu geben. Klima und unseren Planeten zu retten. (B) Das ist nicht die Botschaft von uns Sozialdemokratin- Fernwärme aus industrieller Abwärme soll viel stärker (D) nen und Sozialdemokraten. Wir wollen und wir werden als bisher für den Bereich Wohnen genutzt werden; das Klima retten; aber unser Weg ist ein anderer. Wir besonders in der Region Hamburg soll dies erprobt wer- sagen: Wir müssen mehr investieren, mehr Innovationen den. Wir beschleunigen dafür die Realisierung der Fern- fördern und auch hart arbeiten, um unsere Gesellschaft in wärmeleitungen. Oft ist schon früh klar, dass ein Plan- den nächsten Jahren möglichst schnell klimaneutral feststellungsverfahren kommt. In diesen Fällen darf umzubauen. früher damit begonnen werden, zum Beispiel mit Aus- gleichsmaßnahmen im Artenschutz. Diese Regelung er- (Beifall bei der SPD – Sabine Leidig [DIE LIN- lauben aber nur solche Maßnahmen, die wieder zurück- KE]: Aber in was investieren, in Autobahnen? genommen werden können. Das Roden eines alten Hallo?) Eichenwaldes ist zum Beispiel nicht zulässig. Dafür müssen wir die klimafreundliche Bahn und den Wir packen also ordentlich an, um wichtige Infrastruk- öffentlichen Nahverkehr stärken, erneuerbare Energien turmaßnahmen für eine klimaneutrale und wohlstands- zügig ausbauen und Technologien wie die Kraft-Wär- fördernde Industriegesellschaft auf den Weg zu bringen. me-Kopplung und die Fernwärme stärker nutzen. Dazu, Gelingen wird uns dies allerdings nur, wenn wir die Be- liebe Kolleginnen und Kollegen, leistet dieses Gesetz schleunigung von Infrastrukturmaßnahmen als Teamleis- einen großen Beitrag. tung ganz, ganz vieler verstehen: die Länder, indem sie (Beifall bei der SPD) im Bundesrat diesem Gesetz zustimmen und die Oberver- waltungsgerichte mit genügend Personal ausstatten; Wir beseitigen Stück für Stück Investitionshemmnisse im Planungsbereich. Ein großer Teil unseres Bahnnetzes (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Patrick in Deutschland ist weder elektrifiziert noch digitalisiert Schnieder [CDU/CSU]) oder gar barrierefrei für Menschen mit Behinderung. Die Bahn ist schon heute eines der umweltfreundlichsten Ver- die Vorhabenträger, indem sie die Menschen anständig kehrsmittel. Mit diesem Gesetz werden wir einen großen informieren und, wo notwendig, noch besser beteiligen; Teil der Umbaumaßnahmen in Richtung Klimaneutrali- wir Abgeordnete, indem wir deutlich machen, dass tät, Barrierefreiheit und Digitalisierung unbürokratischer Sanierung, Modernisierung und Ausbau von Infrastruktur planen und bauen können. In den allermeisten Fällen ent- einen wesentlichen Beitrag leisten, um unsere Klimaziele fallen Planfeststellung oder eine Plangenehmigung. Mei- einzuhalten. ne Kollegin Kirsten Lühmann wird das noch näher erläu- tern. (Beifall bei der SPD) 23786 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Mathias Stein (A) Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten „eine noch engere Verzahnung von Raumordnung und (C) ist klar: Mit den richtigen Investitionen und einer ordent- Planfeststellung“, und – wenn wir ehrlich sind – auch lichen Portion Tatkraft können wir das Klima schützen, bei der Digitalisierung ist noch richtig viel Luft nach mobil bleiben, nicht frieren und mit unserem Wohlstand oben. Es kann doch nicht angehen, dass wir in diesem für ein gutes Leben sorgen. Land bis heute Aktenordner mit dem Lkw zwischen Vielen Dank. Behörden hin- und herfahren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nun haben Sie als Koalition zugegebenermaßen eini- der CDU/CSU) ges für die Schienenwege und auch für die Wasserstraßen getan. Aber ich sage auch: Wir dürfen die Straßen in Deutschland nicht vergessen. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Mathias Stein, auch danke für die Punkt- (Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Das haben wir landung, was die Redezeit angeht. – Der nächste Redner: ja nicht!) für die FDP-Fraktion Torsten Herbst. Über 80 Prozent der gesamten Transportleistung dieses (Beifall bei der FDP) Landes werden auf unseren Straßen erbracht. Und wenn die Grünen der Meinung sind, man brauche jetzt ein Baumoratorium, Straßenbau dürfe überhaupt nicht mehr Torsten Herbst (FDP): stattfinden, dann sage ich: Sie leben in einer grünen Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Traumparallelwelt, die mit der Realität in Deutschland Herren! Am Dienstag dieser Woche um 13 Uhr erging nichts zu tun hat. ein wegweisendes Urteil. Das war das Urteil des Bundes- verwaltungsgerichts zum Bau des deutschen Teils der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Fehmarnbeltquerung. Alle Klagen wurden abgewiesen. der CDU/CSU und des Abg. Dr. Dirk Spaniel Das war ein positives Signal, nicht nur für dieses Ver- [AfD]) kehrsprojekt, sondern insgesamt für die Verkehrsinfra- Jeden Tag sind Millionen Pendler auf unseren Straßen struktur und Großprojekte in diesem Land. unterwegs, um ihre Arbeitsplätze zu erreichen. Auf den (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Straßen sind auch nicht nur die Lkws mit den Waren des bei Abgeordneten der SPD) täglichen Bedarfs unterwegs, sondern beispielsweise der ÖPNV, die Schulbusse, Rettungswagen. All diese Ver- Der Weg dahin war allerdings quälend langsam. kehrsmittel brauchen ein leistungsfähiges Straßennetz. Deutschland ist die viertgrößte Wirtschaftsnation der Sie mögen Biosupermärkte ganz besonders. Ganz ehr- Welt. Wir können es uns nicht leisten, dass unsere (B) lich, wenn ich mir anschaue, wie dort angeliefert wird, (D) Verkehrsinfrastruktur im Schneckentempo modernisiert dann sehe ich relativ wenig Waren, die per Lastenfahrrad wird, obwohl wir eigentlich den Planungsturbo brauchen. oder Eisenbahn angeliefert werden, die kommen per Lkw. (Beifall bei der FDP) Auch die brauchen ein vernünftiges Straßennetz. Das setzt aber eines voraus: Wir brauchen in diesem Land (Beifall bei der FDP) den Grundkonsens, dass Mobilität kein Übel ist. Mobili- Deswegen legen wir Freie Demokraten auch einen tät ist eine Grundvoraussetzung, die Triebfeder dafür, eigenen Gesetzentwurf zur Baubeschleunigung der Bun- dass wir unseren Wohlstand erhalten und zukünftig desfernstraßen vor. Wir wollen, dass der Bundestag noch ausbauen können. genau wie bei den Wasserwegen und Schienenstrecken (Beifall bei der FDP) selbst Vorhabenträger werden kann, damit wir national Die Koalition hat jetzt im dritten Anlauf ihr viertes bedeutsame Projekte hier im Bundestag beschließen Investitionsbeschleunigungsgesetz vorgelegt. In weiten und dafür Baurecht schaffen können. Teilen begrüßen wir die Punkte, die darin stehen; wir (Beifall bei der FDP) werden dem Gesetzentwurf auch zustimmen. Wir hätten Wenn wir uns umschauen und unsere Nachbarn be- uns aber auch gewünscht, dass Sie früher initiativ gewor- trachten, stellen wir fest: Die Dänen bauen schneller als den wären, dann hätten einige Regelungen nämlich schon wir; die Niederländer bauen schneller als wir; die Polen Wirkung zeigen können. Wir hätten uns auch gewünscht, bauen schneller als wir. Die Schweizer und auch die dass Sie mutiger gewesen wären; denn mit Ihrem Gesetz- Österreicher schaffen es schneller. Das muss doch unse- entwurf bleiben Sie hinter Ihren eigenen Koalitionsbe- ren Ehrgeiz anstacheln, dass wir es mindestens genauso schlüssen vom 8. März dieses Jahres zurück, und Sie gut hinbekommen oder – ich sage es deutlich – als moder- bleiben auch in vielen Punkten hinter dem zurück, was nes Land besser werden. Deshalb, meine Damen und der CDU-Verkehrsminister von Nordrhein-Westfalen, Herren: Lassen Sie uns jetzt wirklich den Planungsturbo Hendrik Wüst, gefordert hat. Hätten Sie eher den Mut zünden! gehabt, ein komplettes Paket auf den Tisch zu legen, wären wir heute schon woanders, als wir im Moment (Beifall bei der FDP) sind. (Beifall bei der FDP) Vizepräsidentin Claudia Roth: Uns, der FDP, fehlen auch einige wichtige Punkte: das Vielen Dank, Torsten Herbst. – Die nächste Rednerin: Thema „Stichtagsregelung für Einsprüche“ – was auch für die Fraktion die Linke Sabine Leidig. Vertreter Ihrer Fraktion sehr oft vortragen –, das Thema (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23787

(A) Sabine Leidig (DIE LINKE): Bahnlinienverbindungen geschaffen werden. Gemeinden (C) Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! wie Homberg (Ohm), die keinen Bahnanschluss haben, Bevor ich in die Einzelheiten einsteige, möchte ich auf und andere Gemeinden, die Tausende Einwohnerinnen den Rahmen zu sprechen kommen, in dem wir über die- und Einwohner zählen, aber keinen Anschluss an die ses Investitionsbeschleunigungsgesetz debattieren. Die Bahn haben, könnten diese Anschlüsse bekommen. Das Kollegen, die vor mir geredet haben, haben es schon kann man mit diesem Geld finanzieren, und das fordern gesagt: Es ist das vierte Beschleunigungsgesetz in die- wir Linke. Das würde wirklich eine Investitions- und ser Legislatur. Aber die Geschichte der Planungsbe- Planungsbeschleunigung bedeuten, die in die richtige schleunigungs- und Investitionsbeschleunigungsmaß- Richtung geht. nahmen diverser Bundesregierungen reicht zumindest schon die elf Jahre, die ich dem Bundestag angehöre, (Beifall bei der LINKEN) zurück; sie ist eigentlich noch viel länger. Das dritte große Problem ist, dass Sie in der Tendenz so Was bisher noch nicht wirklich vorliegt, ist eine Aus- eine Haltung haben, als seien die Umwelt- und Verkehrs- wertung dieser Maßnahmen. 2006 gab es zuletzt eine verbände, die Bürgerinnen und Bürger, die sich da kom- Darstellung dazu, was Investitionsbeschleunigung ge- petent einbringen, Ihre Gegner. Wir haben aber in der bracht hat; das ist nun schon 14 Jahre her. Es ist Zeit, Anhörung gehört und an den Beispielen, die Sie immer noch einmal zu sehen, was welche Maßnahme tatsächlich wieder nennen – Schweden oder Dänemark –, gesehen, bewirkt hat. Das wird nicht getan, und das ist ein Pro- dass eine frühzeitige Einbeziehung von Bürgerinnen und blem. Bürgern und auch die kompetente Einbeziehung von Umweltverbänden dazu führt, dass es bessere Planungen Das zweite Problem, das ich aber noch gravierender und schnellere Umsetzung geben kann. Das ist ein total finde, ist die Tatsache, dass Sie alles beschleunigen. wichtiger Punkt. Das fordern wir als Linke seit vielen Wir haben es gerade schon einmal gehört: Sie sind der Jahren. Sie haben es bisher nicht geschafft, ein Konzept Meinung, dass man die gesamte Verkehrsinfrastruktur für gute Bürgerbeteiligung vorzulegen, obwohl es seit schneller ausbauen muss. 2013 versprochen ist. Das wird einfach gebraucht. (Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Richtig!) (Beifall bei der LINKEN) Das halten wir für einen grundfalschen Ansatz, Ein weiterer Punkt, der damit zusammenhängt, ist die (Beifall bei der LINKEN – Dr. Christian Jung Frage der personellen Ausstattung. Wenn wir Umvertei- [FDP]: Noch langsamer? Entschleunigung für lung und Neuverteilung von Mitteln, von Ressourcen Deutschland, oder was wollen Sie?) fordern, dann gilt das nicht nur für die Frage, wohin (B) weil wir nämlich, um die Klimaschutzziele erreichen zu Investitionsmittel gesteuert werden, sondern auch für (D) können, dringend Verkehr reduzieren müssen. Verkehr die Frage, wie Personal eingesetzt wird. Da geht es natür- reduzieren kann man aber nur, wenn Menschen zum Bei- lich auch darum, dass Verwaltungs- und Planungsbehör- spiel nicht mehr alleine in ihrem Automobil unterwegs den, aber auch Gerichte besser ausgestattet werden müs- sind, sondern Alternativen haben, wenn wir mehr Bahn sen, damit bestimmte Prozesse einfach schnell gehen und Bus für alle zur Verfügung stellen. Und genau dafür können. Was nützt es, wenn die Gerichte jetzt alle mög- müssen wir die Investitionsmittel neu verteilen, und zwar lichen Entscheidungen fällen sollen, dort aber nicht mehr schnell. Menschen mit den Fragen beschäftigt werden? Das heißt, wir brauchen auch eine Umverteilung, eine Neuvertei- (Beifall bei der LINKEN) lung von personellen Ressourcen. Sie alle haben wahrscheinlich die neueste Studie des (Beifall bei der LINKEN) Wuppertal Institutes gelesen, die deutlich macht: Wenn im Verkehrssektor nicht dramatische Veränderungen Zum Schluss möchte ich sagen, dass wir mit vielen der stattfinden, wird dieser Sektor die Klimaziele nicht errei- Maßnahmen, die jetzt in diesem konkreten vierten – vor- chen. Die Bundesregierung bleibt eine Konzeption dafür läufig letzten – Investitionsbeschleunigungsgesetz vorge- leider immer wieder schuldig. Wir finden, dass das gar sehen sind, schon einverstanden sind. Wir können aber nicht so schwierig ist. nicht mit vollem Herzen zustimmen, weil Sie sich nicht Sie haben leider mit früheren Investitionsbeschleuni- darauf beschränken, dass bessere Elektrifizierungsmaß- gungsmaßnahmen dafür gesorgt, dass demokratische nahmen und Ertüchtigungsmaßnahmen für Bahnhöfe, Möglichkeiten, Alternativen zu prüfen, blockiert werden. die Bahn und für Windkraftanlagen durchgeführt werden, Sie haben im Rahmen der Bundesverkehrswegeplanung sondern sich Hintertüren offenlassen und auch Maß- 2020 über tausend Fernstraßenprojekte mit einem Fern- nahmen für Landstraßen vorsehen. Wir wollen, dass Be- straßenausbaugesetz sozusagen als verbindlich darge- schleunigung auf den Ausbau der zukunftsfähigen, stellt. Es wird jetzt so interpretiert – so kommen dann sozialökologischen und klimagerechten Infrastruktur be- auch solche Gerichtsurteile zustande –, als sei es gar nicht schränkt wird. mehr zulässig, Alternativen zu prüfen. (Detlef Müller [Chemnitz] [SPD]: Elektrobus- Ich kann Ihnen sagen: Wenn Sie jetzt in Hessen die se müssen auch irgendwo fahren!) A 49 mit aller Gewalt durchsetzen, dann verpassen Sie Unter diesen Bedingungen könnten wir zustimmen; so eine große Chance, Alternativen zu finanzieren. Mit den müssen wir uns enthalten. 1,4 Milliarden Euro, die dort für 40 Kilometer neue Auto- bahn eingesetzt werden, könnten viel bessere Ost-West- (Beifall bei der LINKEN) 23788 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: besser zu machen? Und nein, es sind nicht die Grünen (C) Danke schön. – Vielen Dank, Frau Kollegin Leidig. und die Umweltverbände, die schuld daran sind, dass die Planungen nicht schneller laufen; diese ewige Leier vom Entschuldigen Sie, wenn wir drei hier oben sehr viel Sündenbock bringen Sie doch nur deshalb, weil Sie Ihre nach oben geschaut haben. Da war gerade eine größere eigenen Hausaufgaben nicht gemacht haben. Gruppe unterwegs, und wir haben jetzt gehört: Das war das Vorprotokoll von Prinz Charles, der am Volkstrauer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tag kommen wird. Also, entschuldigen Sie bitte; natürlich Das zweite Problem ist, dass Sie einfach gar nicht ist die volle Konzentration immer bei Ihnen, aber neu- klären, welche Infrastruktur wir brauchen. In der vorletz- gierig sind wir doch. ten Sitzungswoche haben wir hier über Autobahnen und (Heiterkeit) Infrastruktur diskutiert. Da konnte man wirklich tief bli- cken: Kollege Ploß sagte – ich zitiere –, es seien „Inves- Leider war es nicht der Prinz himself. titionen ins Autobahnnetz genau das, was wir mit Blick ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: auf Klimaschutz … brauchen“. Dann wären die Männer genauso neugierig gewesen!) (Lachen des Abg. Stefan Gelbhaar [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN] – Helin Evrim Ich will Ihnen noch sagen, dass ein Wahlgang läuft, Sommer [DIE LINKE]: Genau! Das ist rich- liebe Kolleginnen und Kollegen. Wer noch nicht zu tig!) dem Vorschlag der Fraktion der CDU/CSU für die Wahl eines Mitglieds im PKGr abgestimmt hat, kann das noch Ich kann nur sagen: Da haben Sie etwas ganz Grundle- knapp zehn Minuten tun. Wir schließen den Wahlgang gendes nicht verstanden. um 12.05 Uhr. Minister Scheuer sagte – Zitat –: Nächste Rednerin in der Debatte: Dr. Ingrid Nestle für Ich bin glücklich, wenn ich unterwegs bin und neue Bündnis 90/Die Grünen. Infrastrukturprojekte eröffnen kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich freue mich auch, wenn ich ein gutes Infrastruktur- projekt eröffnen kann; aber es ist doch nicht egal, wel- Dr. Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ches. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einem Punkt sind wir uns einig: Wir brauchen schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren. Um es vorweg- Der dritte Punkt, den Sie dringend adressieren müssen, (B) zunehmen: Ja, wir werden, wenn auch mit einigen Bauch- wenn Sie mit der Beschleunigung von Infrastrukturaus- (D) schmerzen, heute zustimmen, bau Erfolg haben wollen, ist die Bürgerbeteiligung. Lei- der sind auch in diesem Gesetzentwurf wieder einige (Michael Donth [CDU/CSU]: Oh!) Tücken drin. Wir fordern zum Beispiel, dass natürlich weil wir uns unserer Verantwortung stellen und, ja, weil alle Unterlagen für das Raumordnungsverfahren auch in wir nicht für einen Ansatz stehen, bei dem wir uns im Papierform ausgelegt werden müssen und nicht nur digi- Streit zerfetzen. Vielmehr wollen wir gemeinsam nach tal. Sie garantieren nicht, dass tatsächlich Dialogverans- dem Weg suchen, wie wir gute Infrastruktur für unser taltungen im Raumordnungsverfahren stattfinden, son- Land bauen können. dern sagen: Na ja, ach, da kann man irgendwie eine Information machen. – So funktioniert das nicht. Sie wer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Planung nur dann beschleunigt bekommen, wenn Sie sowie bei Abgeordneten der SPD) die Bürger endlich ernst nehmen, wenn Sie mit den Men- Der große Wurf und ein Ruhmesblatt ist dieser Gesetz- schen und nicht gegen die Menschen planen. entwurf leider trotzdem wieder einmal nicht. Herr Lange, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie haben stolz verkündet, dass es sogar schon der vierte in dieser Legislatur ist. Ja, aber das ist doch kein Grund, Als Allerletztes, Herr Herbst: Wenn Sie meinen, wir stolz zu sein. Wenn man auf ein Pferd steigt, sagt man hätten noch nicht genug Straßen: Das Straßennetz in doch auch nicht: Oh, ich versuche es schon zum vierten Deutschland reicht bis zum Mond und zurück. Mal; ich bin immer noch nicht oben angekommen. – Gut (Christian Dürr [FDP]: Was für ein absurder wäre es gewesen, wenn der erste Versuch gesessen hätte Vergleich!) und Sie schon einmal losgeritten wären. Was aber tat- sächlich passiert, ist: Sie stochern so ein bisschen im Da wird auch Ihr Gummibärchennachschub im Super- Nebel; beschleunigt haben Ihre bisherigen Versuche lei- markt nicht gefährdet sein, der nichts. (Dr. Christian Jung [FDP]: Der Herr Herbst isst (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – gar keine Gummibärchen!) Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Vergleiche wenn wir nicht noch mehr Straßen dazubauen, sondern waren schon besser!) die bisherigen Straßen erhalten und andere Infrastruktur Deshalb halten Sie auch so eine Art Oppositionsrede dazubauen. und bemängeln, was alles nicht funktioniert bei uns im Herzlichen Dank. Land. Ja wer hat denn die letzten zehn Jahre – und län- ger – hier regiert? Wer hätte denn die Chancen gehabt, es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23789

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Das halte ich für (C) Vielen Dank, Dr. Ingrid Nestle. – Der nächste Redner eine Fehlinformation! Das ist sicher falsch! So ist der Minister. Ich gebe das Wort an Bundesminister ein Unsinn!) Andreas Scheuer. Ich fragte mich während Ihrer Rede, für was Sie jetzt sind (Beifall bei der CDU/CSU) an Infrastruktur. Wenn man gar keine Infrastruktur mehr bauen darf, wenn man als Linkspartei sogar schon gegen Andreas Scheuer, Bundesminister für Verkehr und Rad- und Fußverkehr an dieser Brücke ist, digitale Infrastruktur: Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! (Helin [DIE LINKE]: Das Es ist interessant, was man in dieser Debatte alles lernen stimmt doch gar nicht! – Sabine Leidig [DIE kann, LINKE]: Das ist einfach falsch, was Sie hier erzählen!) (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Ja! Merken! Nicht wieder vergessen!) dann zeigt das: Beschleunigung für Deutschland gibt es über Hoheiten und Pferde und alles Mögliche. nur in dieser Koalition und in sonst keiner. Danke, dass Sie das heute wieder bewiesen haben. (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Gum- mibärchen!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Auch über Gummibärchen. Meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Ich darf erst mal hervorheben, Frau Kollegin Nestle: Kollegen, wir hatten heute gerade eine Haushaltsaus- Die Grünen werden diesem Paket zustimmen. Schön, schusssitzung. Ich bedanke mich noch mal für die sehr danke! intensiven Beratungen und dass das Parlament für die (Stefan Gelbhaar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- großen Investitionen des Bundesministeriums für Ver- NEN]: Ja! Wir stehen auch zu unserem Wort!) kehr und digitale Infrastruktur so viel Geld bereitstellt. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Realitäten Jetzt müssen wir mit diesem vierten Paket die Um- schauen dann oft ganz anders aus. Frau Dr. Nestle, Sie setzung dieser Investitionsmittel noch ein Stück besser kommen ja aus Schleswig-Holstein. Da haben wir Gott machen. Ich darf an die drei Gesetze erinnern, die wir sei Dank für ein nächstes großes Projekt die Freigabe schon beschlossen haben: Im ersten Gesetz haben wir bekommen, durch das Urteil des Bundesverwaltungsge- unter anderem Gerichtsverfahren beschleunigt, Doppel- (B) richts zum Fehmarnbelttunnel. prüfungen ausgeschlossen und Aufgaben zusammenge- (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) legt. Das zweite diente dazu, dass Baurecht künftig auch durch Gesetze geschaffen werden kann. Und im Das zeigt: Wir können im Einklang mit Natur und dritten haben wir Genehmigungspflichten für Ersatzneu- Umwelt planen, und wir nehmen die Interessen vor Ort bauten aufgehoben und Kommunen finanziell entlastet. ernst. Aber wir haben auch den Nutzen dieser Maßnahmen Die Maßnahmen spüren wir schon jetzt; gerade bei den im Blick. Deswegen leisten wir mit diesem Projekt einen Schienenwegen, gerade bei den Ersatzneubauten sehen großen Beitrag, dass Europa besser zusammenwächst. wir einen Schub. Danke für diese Unterstützung! Die Die Infrastruktur bietet dazu die größten Chancen. Maßnahmen haben Erfolg. Das haben die Sachverständi- gen von Kommunen, Industrie und Verkehrsunternehmen Frau Kollegin Nestle, Sie kommen aus Schleswig-Hol- in einer Anhörung des Verkehrsausschusses am 5. Okto- stein. Die Grünen haben sich noch nicht entschließen ber bestätigt. können, dieses Projekt intensiv zu unterstützen. Viel- leicht tut sich ja heute, an diesem Tag, was dafür. Vielen Der Koalitionsausschuss hat uns im März dieses Jahres Dank, dass wir beweisen können, dass wir sorgsam, sorg- noch mal den Auftrag gegeben – Gott sei Dank –, die fältig, achtsam und ausgewogen solche Großprojekte Maßnahmen zu beschleunigen – deswegen gibt es jetzt umsetzen können. einen vierten Vorschlag, unser viertes Gesetz zur Pla- (Beifall bei der CDU/CSU) nungsbeschleunigung. Frau Kollegin Leidig, diese Koalition möchte keine Frau Kollegin Nestle, wie oft man jetzt den Versuch Entschleunigung für Deutschland, sondern wir möchten macht, aufzusteigen – das Ergebnis zählt. Zum Schluss Beschleunigung für Deutschland in vielen, vielen Projek- gibt es eine Verbesserung, und das heißt Investitionsbe- ten. Vielleicht geben Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen schleunigung für Deutschland und einen wirklichen der Linkspartei in Rostock noch mal einen guten Rat. Modernisierungsschub für unser Land.

(Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Wir sind Jetzt nehmen wir uns das Planfeststellungsverfahren hier nicht die Partei! Wir sind hier Fraktion!) vor, das Raumordnungsverfahren und die nachgelagerten Wir haben da nämlich die Warnow-Brücke. Die Warn- Gerichtsprozesse. ow-Brücke ist ein großes Projekt für den Radverkehr und den Fußverkehr für die BUGA. Die Linken sind gegen (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dieses Projekt. Echte Ministerrede!) 23790 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Bundesminister Andreas Scheuer (A) Wir straffen, kürzen oder schaffen ganz ab, sodass wir Sorry, jetzt habe ich die Lobbytaste nicht gedrückt; (C) unsere Infrastrukturprojekte beschleunigen. jetzt haben die mich gar nicht gehört, meine großartige Ansage. Das heißt, noch mal: Liebe Kolleginnen und Herr Kollege Herbst, Sie haben ein paar Beispiele aus Kollegen, gibt es noch irgendjemanden hier im Haus, unseren Nachbarländern genannt. Es passiert immer wie- der oder die nicht abgestimmt hat? – Ich sehe niemanden der bei großen Projekten, dass es Probleme gibt. Über den rennen. Dann ist das nicht der Fall. Ich schließe die Wahl Brenner-Tunnel hat hier keiner berichtet. Wenn bei uns in und bitte die Schriftführer und Schriftführerinnen, mit der Deutschland mal was nicht so gut läuft, dann berichtet Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen dann jeder darüber. Aber dort gab es einen Streit mit dem Auf- später bekannt gegeben.1) tragnehmer. Bei diesem Tunnel rechnet unser Nachbar- Nächster Redner: Wolfgang Wiehle für die AfD-Frak- land jetzt damit, dass es fünf Jahre Bauverzögerung gibt. tion. Das passiert mal bei großen Bauprojekten, aber das soll natürlich nicht oft vorkommen, sondern wir müssen dafür (Beifall bei der AfD) sorgen, dass das Controlling passt, dass das Monitoring passt, wenn die Maßnahmen an den Start gehen. Aber Wolfgang Wiehle (AfD): vorher – und dazu sind wir heute zusammen – wollen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- wir vor allem die Planungsverfahren beschleunigen – legen! Eine freie Gesellschaft lässt ihren Bürgern die Ent- also weniger langwierige Planfeststellungsverfahren –, scheidung, welches Verkehrsmittel sie wählen, und wir wollen, dass die Raumordnungsverfahren über- flüssig gemacht werden in vielen Dingen, wo keine Rech- (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Da muss aber te von Bürgern betroffen sind, wo es keine Gefahren für ein anderes da sein!) die Natur gibt, wo es keine Eingriffe in Landschaft und und sie lässt sich selbst die Freiheit, ihre Infrastruktur Raumgestaltung gibt. Wenn das alles erzielt ist, dann zügig an den Bedarf anzupassen. Die AfD-Fraktion hat haben wir wirklich eine Beschleunigung. Also: Wo kein einen Antrag stellt, der diesen Freiheiten dient. Die Koa- Ärger, da kein Kläger, und auch kein Raumordnungsver- lition hat gezeigt, wie man ein Sammelsurium kleiner fahren. Verbesserungen durch einen naturschutzpolitischen Sün- denfall entwerten kann. Deswegen werden wir auch die Digitalisierung noch (Beifall bei der AfD) mal verstärkt in diese Prozesse einbringen, wir werden die Unterlagen verstärkt online veröffentlichen und we- Die AfD fordert, für alle Verkehrsträger die Planung zu niger auslegen, und wir werden noch mal bei den beschleunigen. Ein Umsetzungsbeispiel dafür liefert der Gerichtsverfahren straffen. Gesetzentwurf der Kollegen von der FDP-Fraktion für (B) ein Bundesfernstraßen-Baubeschleunigungsgesetz. Das (D) Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Sie haben füllt eine große Lücke, die die Koalition mit ihren Regel- immer einen straffen Blick auf den Zeitplan. ungen für Maßnahmengesetze gelassen hat, weil sie nur Bahn und Wasserwege im Blick hat. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Detlef Müller [Chemnitz] [SPD]: Richtiger- Ich habe ihn gar nicht angeschaut. weise!) Wir sind fest davon überzeugt, dass der Bund nicht erst sieben Jahre warten muss, bis er bei einem vordringlichen Andreas Scheuer, Bundesminister für Verkehr und Projekt eingreift, weil sich ein Planfeststellungsverfahren digitale Infrastruktur: ewig hinzieht. Aber die Richtung stimmt, und deshalb Ich kann Ihnen sagen: Wir haben auch einen straffen werden wir zugunsten dieses Gesetzentwurfes abstim- Blick auf den Zeitplan. Wir sind sehr konzentriert an men. dieser Stelle, um die großen Projekte für Deutschland umzusetzen und sie zu beschleunigen. (Beifall bei der AfD) Das Gegenbeispiel liefert der Entschließungsantrag Herzlichen Dank für die Unterstützung. der Grünenfraktion. Dort wird nicht nur ernsthaft die Planungsbeschleunigung für Nischenprojekte wie Ober- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- leitungsbusse gefordert. Nein, mit ihrer Ziffer 4 wollen ordneten der SPD) die Antragsteller die Projekte an die ideologische Kanda- re nehmen und sie unter die Bedingung stellen, dass sie die richtige – ich zitiere – „Klima- und Verlagerungswir- Vizepräsidentin Claudia Roth: kung“ haben sollen. Darüber entscheidet dann wahr- Vielen Dank, Andreas Scheuer. scheinlich eine grünlackierte Verkehrslenkungskommis- sion. Natürlich richtet sich dieser Ansatz einseitig gegen So, liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt darf ich noch den Bau notwendiger Straßenprojekte; denn bei Ihnen mal fragen: Gibt es jemand von Ihnen, der oder die noch geht Verkehrsverlagerung bekanntlich immer nur in nicht abgestimmt hat? – Dem ist nicht so. Dann schließe eine Richtung. ich die Wahl, und ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Wie (Beifall bei der AfD) immer wird Ihnen das Ergebnis so bald wie möglich bekannt gegeben. 1) Ergebnis Seite 23796 A Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23791

Wolfgang Wiehle (A) Dabei spricht gar nichts gegen sinnvolle Eisenbahn- Das Geld ist also da. Jetzt gilt es, diese Mittel einzu- (C) projekte, gerade dort, wo die Bahn ihre Stärken hat. Die setzen und in tatsächliche Kapazitätssteigerungen auf der liegen darin, große Verkehrsmengen zu bündeln und da- Schiene zu überführen. Hier haben wir tatsächlich Nach- mit auch die Straßen zu entlasten. Sie liegen darin, hohe holbedarf, nicht nur beim Neubau von Strecken, sondern Geschwindigkeiten sicher zu beherrschen und große Ent- auch bei der Modernisierung. Allein bei der Elektrifizie- fernungen zu Lande rasch zu überwinden. Mit guter In- rung hat das deutsche Schienennetz laut Zahlen der frastruktur wird die Bahn im Wettbewerb der Verkehrs- Allianz pro Schiene einen Ausbaubedarf von über träger besser dastehen. 3 300 Kilometern. Noch immer sind nur 27 von 57 Grenz- übergängen im Schienenverkehr elektrifiziert. Das müs- (Beifall bei der AfD) sen wir angehen, Die Bekämpfung des Verkehrsträgers Straße aber, sei es aktiv oder durch gezielte Vernachlässigung, ist in einer (Beifall bei der SPD) freiheitlichen Gesellschaft unvorstellbar. um unsere ambitionierten Ziele für die Schiene wie den (Beifall bei der AfD) Deutschlandtakt, die Verdoppelung der Fahrgastzahlen bis 2030 und die Steigerung des Schienenanteils im Die AfD-Fraktion wird den Antrag der Grünen mit aller Güterverkehr auf 25 Prozent wirklich zu erreichen. Entschiedenheit ablehnen. Dazu schaffen wir mit dem Investitionsbeschleuni- (Beifall bei der AfD – Stefan Gelbhaar gungsgesetz neue Möglichkeiten, und zwar dadurch, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war dass Erneuerungen von Betriebs- und Bahnanlagen von super! Das hat gepasst! Das war kraftvoll, diese der Planfeststellung freigestellt werden, insbesondere Entschiedenheit!) auch beim barrierefreien Umbau, dadurch, dass es bei Modernisierung und Digitalisierung von Bestandsstre- Vizepräsidentin Claudia Roth: cken nicht erneut zu Umweltverträglichkeitsprüfungen Danke schön, Wolfgang Wiehle. – Nächster Redner: kommen muss, sowie dadurch, dass es bei Lückenschlüs- für die SPD-Fraktion Detlef Müller. sen bei der Elektrifizierung von Strecken unter 15 Kilo- metern keines zusätzlichen Planfeststellungsverfahrens (Beifall bei der SPD) für die Strecke, aber auch für die zugehörigen Bauwerke wie Brücken, Bahnquerungen und Tunnel bedarf. All das Detlef Müller (Chemnitz) (SPD): ermöglicht eine tatsächliche Beschleunigung von not- Ich habe wieder was gelernt: „Lobbytaste“, ein sehr wendigen Investitionen. (B) schöner Begriff, sollte man sich merken. – Sehr geehrte Besonders freut mich zudem, dass dieses Gesetz auch (D) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte Verbesserungen für den Güterverkehr und den ÖPNV mit ein paar Wortungetümen beginnen: Gesetz zur bringen wird: für den Güterverkehr, weil die Herstellung weiteren Beschleunigung von Planungs- und Geneh- von Gleisanschlüssen und von Zuführungs- und Indust- migungsverfahren im Verkehrsbereich, Maßnahmenge- riestammgleisen vereinfacht wird – auch das schafft setzvorbereitungsgesetze I und II und das Gesetz zur Be- Voraussetzungen für mehr Güter auf der Schiene – und schleunigung von Investitionen, über das wir heute für den ÖPNV, weil wir die Befreiung von der Planfest- beraten. Zum insgesamt vierten Mal in dieser Legislatur – stellung auch auf die Sanierung und Modernisierung von es wurde bereits gesagt – beschäftigen wir uns also mit Straßenbahnstrecken anwenden. Gerade im Zusammen- der schnelleren Umsetzung von Infrastrukturmaßnahmen hang mit dem deutlichen Mittelaufwuchs im GVFG ist in unserem Land. Das ist absolut folgerichtig und auch das ein wichtiger Schritt. notwendig; denn die Infrastruktur ist die Grundlage der Wertschöpfung und die Basis des Wohlstandes von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 83 Millionen Menschen. Deswegen müssen wir sie nicht der CDU/CSU) nur erhalten, sondern wir müssen sie anhand der Bedarfe in der Zukunft ausrichten und ausbauen. Tun wir das Aber, meine Damen und Herren, das heute hier debat- nicht, lassen sich die notwendigen Transformationspro- tierte Investitionsbeschleunigungsgesetz muss wirken. zesse unserer Zeit – Verkehrswende, Klima- und Energie- Wir müssen die Wirkung prüfen und im Bedarfsfall wende, Digitalisierung und Automatisierung – nicht auch nachsteuern. Wir dürfen uns hier nicht zurücklehnen umsetzen. und hoffen, dass das alles schon irgendwie klappt. Wir machen die Gesetze ja nicht wegen der Gesetze. Es darf Finanziell haben wir gerade im Verkehrsbereich die nicht nur weiße Salbe sein, die andere Probleme bei der Grundsteine dafür gelegt; Stichworte sind drei weitere Umsetzung von Infrastrukturmaßnahmen überdeckt. Hier Wortungetüme: Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, sind alle beteiligten Akteure – Bund, Länder und Kom- Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung III sowie das munen, aber auch die Gerichte und die Planungsbüros – Strukturstärkungsgesetz. So richtig kreativ sind diese gefragt, entsprechende Kapazitäten zur Planung und Um- Wortschöpfungen nicht, Herr Minister. Da ist das Fami- setzung dieser Maßnahmen vorzuhalten und zu nutzen, lienministerium deutlich besser. damit, Herr Bundesminister, es tatsächlich schneller geht. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Heiterkeit Vielen Dank. bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Donth [CDU/CSU]: Das „Besser-bauen-Ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten setz“!) der CDU/CSU) 23792 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: tig wie die Schiene, die Wasserwege und die Luftfahrt. (C) Vielen Dank, Detlef Müller. – Nächster Redner: für die Erst in der Kombination miteinander, durch mehr Planer FDP-Fraktion Dr. Christian Jung. und bessere digitale Planungsverfahren im Bund und in den Ländern kommen wir gemeinsam zum Erfolg und (Beifall bei der FDP) sichern durch eine moderne Infrastruktur immer auch Arbeitsplätze. Konjunktur braucht Infrastruktur! Dr. Christian Jung (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen (Beifall bei der FDP) und Herren! Konjunktur braucht Infrastruktur. Dies ist seit Jahren mein politisches Motto. Wir müssen uns ge- Vizepräsidentin Claudia Roth: meinsam anstrengen, damit wir in den kommenden Jah- Vielen Dank, Dr. Christian Jung. Auch das war eine ren mithilfe einer besseren Infrastruktur im Verkehrsbe- Punktlandung, genau auf die Sekunde. Jetzt haben wir reich und in der Digitalisierung Standorte mit vielen schon zwei Vorbilder heute. Arbeitsplätzen wie bei mir in Baden-Württemberg attrak- tiver machen. (Stephan Brandner [AfD]: Sie flirten ja rich- tig!) (Beifall bei der FDP) – Tja, das hat mit mir zu tun, Herr Brandner. Dabei gilt: Alles, was Arbeitsplätze schafft und sichert, auch durch Infrastruktur, ist sozial. Konjunktur braucht (Stephan Brandner [AfD]: Das kenne ich gar Infrastruktur. nicht!) Demgegenüber steht nicht nur im Südwesten die – Das glaube ich, dass Sie das nicht kennen. Länge der Staus auf den deutschen Autobahnen. Diese hat sich in den Jahren 2002 bis 2019 fast verfünffacht; (Heiterkeit – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE das zeigt die Probleme auf, die gelöst werden müssen. Für GRÜNEN]: Das hat was damit zu tun, wie man Schwertransporte sind wichtige Autobahnbrücken gar in den Wald hineinruft!) nicht oder nur eingeschränkt nutzbar. Allein in Baden- Entschuldigung. – Nächster Redner: für die Fraktion Württemberg mussten 2019 21 Brücken an Bundes- Bündnis 90/Die Grünen Stefan Gelbhaar. fernstraßen saniert und instand gesetzt werden. Aufgrund veralteter Schienenstrecken und fehlender Ausweichstre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) cken kommt es immer wieder zu Sperrungen, die nicht durch andere Strecken abgefedert werden können und Stefan Gelbhaar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) bundesweit zu spüren sind. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen (D) Es wird deutlich: Wir haben in Deutschland einen und Herren! Zum vierten Mal in dieser Legislaturperiode großen Bedarf im Aus- und Neubau und in der Optimie- stimmen wir heute über ein Gesetz zur Beschleunigung rung der Verkehrswege. Viele Projekte verzögern sich der Planung von Infrastrukturprojekten ab. CDU/CSU jedoch aufgrund von komplizierten und oftmals langjäh- und SPD feiern sich dafür gegenseitig. rigen Genehmigungs- und Planungsverfahren. Natürlich (Michael Donth [CDU/CSU]: Ja! Zu Recht!) müssen wichtige Aspekte wie Umwelt- und Lärmschutz- fragen sowie die Bürgerbeteiligung berücksichtigt wer- Dabei wird dadurch doch eines klar: Die letzten drei den. Das darf aber nicht dazu führen, dass, wie bei der Gesetze waren nur halbherziger Murks. Noch immer lie- zweiten Rheinbrücke zwischen Karlsruhe und Wörth, gen zwischen Planungsbeginn und Baufreigabe im mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte vergehen, bis Pro- Schnitt 10 bis 15 Jahre. Das klingt paradox, aber es ist jekte umgesetzt werden. durchaus logisch; denn jede neue Version eines Gesetzes führt erst mal zu mehr Bürokratie. Es ist ein Gesetz mehr (Beifall bei der FDP) und keins weniger. Deswegen muss so ein Gesetz sitzen. Die Beschleunigung der Planung und Umsetzung wichti- ger Infrastrukturprojekte ist daher richtig und wichtig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Beschleu- Wir bewegen uns aber nur in Trippelschritten. Sie nigung von Investitionen bleibt aber in einigen Punkten machen, was nötig ist, aber nicht, was möglich ist. Ja, hinter den Erwartungen der Freien Demokraten zurück. Sie vereinfachen die Elektrifizierung und den Lärm- Verbesserungsmöglichkeiten wie eine Stichtagsregelung schutz bei Straßenbahnen – endlich. Aber warum fehlt wurden nicht wahrgenommen. Insgesamt geht der Ge- das für Oberleitungsbusse? Warum steht da nichts zur setzentwurf aber in die richtige Richtung, sodass wir als Digitalisierung der U-Bahn? Warum weist der Gesetzent- FDP-Bundestagsfraktion dem Entwurf auch schon im wurf bei der Radinfrastruktur nur eine große Lücke auf? Ausschuss zugestimmt haben. Das riecht nach Absicht. Durch unseren Gesetzentwurf für Bundesfernstraßen Sie reden hier ständig nur von der Straße; die FDP war können Projekte, die in der Planung geradezu feststecken, heute das beste Beispiel. schneller auf den Weg gebracht werden. Allein in mei- (Dr. Christian Jung [FDP]: Das haben wir doch nem Bundesland Baden-Württemberg gibt es viele Pro- gar nicht gemacht! Was reden Sie für einen jekte, die einer dringenden Beschleunigung bedürfen. Unsinn, Herr Gelbhaar?) Dabei gilt: Wir dürfen Verkehrsträger nicht gegeneinan- der ausspielen. Straßenverkehrswege sind genauso wich- Wir haben aber in Europa das dichteste Straßennetz. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23793

Stefan Gelbhaar (A) Das alles verkennt die Realitäten. Es verkennt auch die die Kutsche aber auch schneller fahren kön- (C) Dringlichkeit beim Klimaschutz, und das muss sich än- nen!) dern. Das ist ein wichtiges Thema für uns, und es ist auch ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wichtiges Thema für dieses Land, weil wir so in die Lage Sie sagen stets, wir hätten ein Planungsbeschleuni- versetzt werden, das Geld, das vorhanden ist, schneller zu gungsproblem. Ich meine, wir haben ein Umsetzungs- verbauen; immerhin stehen Wettbewerbs- und Zukunfts- problem. Sie wollen schneller werden? Dann los! Brin- fähigkeit für unser Land auf dem Spiel. Standortvorteile gen Sie mehr Personal in die Verwaltung, um die schaffen wir mit schnellen Verfahren. Das sehen wir Projektplanung voranzutreiben! überall da, wo Großinvestitionen getätigt werden. Dort brauchen wir schnelle Entscheidungen, schnelle Geneh- (Dr. Christian Jung [FDP]: Aber in Baden- migungen, schnelle Planungsprozesse. Württemberg klappt das noch nicht bei den Grünen mit den Planern! Was fordern Sie Letztlich geht es auch um das Vertrauen der Bürger in denn da?) den Staat; denn die Bürger wollen doch miterleben, dass Entscheidungen, die getroffen worden sind, noch zu ihren Bringen Sie mehr Personal an die Gerichte, sodass strit- Lebzeiten umgesetzt werden. Heute erleben wir, dass tige Verfahren schneller beschieden werden können! Jahre oder gar Jahrzehnte zwischen Entscheidung und Papier bedrucken alleine reicht nicht. Umsetzung liegen. Das darf nicht so bleiben, und deshalb (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ist mit dem Beschluss dieses Gesetzes heute ein guter Tag Dr. Christian Jung [FDP]: Erst mal in Baden- für die Infrastruktur in Deutschland. Württemberg die Hausaufgaben machen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Mit dieser Politik werden wir – Herr Lange hat es Detlef Müller [Chemnitz] [SPD]) schon angekündigt – auch noch einen fünften Anlauf von Ihnen hier debattieren. Der Gesetzentwurf ist nicht Und in der Tat: Heute legen wir einen Schwerpunkt auf falsch, und wir werden ihm zustimmen; aber Ihr Vorge- den Ausbau des Schienenverkehrs, insbesondere auf die hen ist stümperhaft. Elektrifizierung und auf die klimafreundliche Transfor- mation unseres Energie- und Verkehrssystems. Herr (Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Die Kopfstän- Minister Scheuer, vielen Dank für den hervorragenden de, die Sie hier machen, muss man erst mal Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben. Wir haben ihn hinbekommen!) noch ein bisschen besser gemacht. Das machen wir so in Die Planungsbüros, die Verwaltungen fassen sich doch der Koalition. (B) alle an den Kopf. Die kriegen von Ihnen halbjährlich neue (D) Regelungen rein. Das ist doch nicht normal. So, meine (Dr. Christian Jung [FDP]: Da müssen Sie aber Damen und Herren, bringt das weder unsere Verkehrs- noch vieles besser machen!) wende noch Ihre autofixierte Politik voran, sondern es Deshalb haben wir zusätzlich noch Kraft-Wärme-Kopp- schafft beständig mehr Aufwand statt weniger, und das lungsanlagen, Fernwärmeleitungen und Windkraftanla- muss besser werden. gen aufgenommen. Vielen Dank. Lassen Sie mich das Ganze in der Zusammenschau der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Maßnahmen nicht nur dieser Wahlperiode, sondern auch der vorangegangenen Wahlperioden betrachten. Wir wer- den in den nächsten Jahren deutliche Beschleunigungs- Vizepräsidentin Claudia Roth: effekte sehen. Gleichwohl darf das nicht der Schluss- Vielen Dank, Stefan Gelbhaar. – Nächster Redner: für punkt sein, und es wird auch nicht der Schlusspunkt die CDU/CSU-Fraktion Patrick Schnieder. sein. Überall da, wo wir weitere Beschleunigungspoten- (Beifall bei der CDU/CSU) ziale heben können, werden wir das tun, und wir müssen es auch tun. Das bleibt eine Daueraufgabe. Patrick Schnieder (CDU/CSU): Es ist heute schon mehrfach gesagt worden: Unser Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Wunschzettel war noch länger. Dazu gehört auch die Prä- Herren! Planungsbeschleunigung, Genehmigungsbe- klusion, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP. schleunigung, Investitionsbeschleunigung sind ein be- Wenn das nicht vor dem Europäischen Gerichtshof sonderes Anliegen in der Union. Deshalb treiben wir anhängig wäre, wenn schon entschieden wäre, wie weit seit Jahren dieses Thema voran, und deshalb sind wir wir dort gehen können, dann hätten wir das schon lange auch stolz darauf, dass wir heute das vierte Gesetz dazu mit hineingepackt. Wir wollen die materielle Präklusion, allein in dieser Wahlperiode verabschieden. wir wollen gesetzliche Stichtagsregelungen, und deshalb Und um das Bild etwas zu korrigieren, Frau Kollegin warten wir nur noch diese Entscheidung ab. Ich denke, von den Grünen: Das ist nicht ein Pferd, das wir zum das ist auch geboten aus Respekt vor der Entscheidung vierten Mal beladen, sondern, wenn Sie so wollen, span- des Gerichtes. nen wir das vierte Pferd vor die Kutsche, damit es in der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Planung und Genehmigung noch schneller geht. Stefan Gelbhaar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU – Steffi Lemke NEN]: Das müssen Sie dem Minister aber deut- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann muss lich sagen!) 23794 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Patrick Schnieder (A) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir erzielen – Ah, einige Niedersachsen sind im Raum. – Warum sage (C) aber nur dann Beschleunigungswirkungen, wenn wir ich das? Ich sage es, weil ich ein wenig stolz bin, stolz wirklich ernsthaft vorhaben, in Infrastruktur zu investie- darauf, dass wir in Niedersachsen den ersten Wasserstoff- ren, und wenn wir Entscheidungen, die wir politisch personenzug auf die Schiene gebracht haben, der im getroffen haben und die von Gerichten sanktioniert wur- Regelverkehr verkehrt. Darum habe ich ihn auch in den, dann auch akzeptieren. Wir dürfen nicht dazu über- mein Verkehrsquartett aufgenommen: eine tolle Technik, gehen, getroffene Entscheidungen zu blockieren, zu ver- 140 km/h schnell, zweimal 272 kW Leistung. Die Men- zögern und zu hintertreiben. Die Praxis wird den schen in der Region Cuxhaven, wo er fährt, sind froh, Lackmustest darstellen, ob wir hier mit tollen Worten dass es an ihrer nichtelektrifizierten Strecke jetzt sauber Beschleunigung begrüßen, dann aber im tatsächlichen und dass es leiser ist. Handeln vor Ort, wo wir Verantwortung tragen, alles Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir wieder konterkarieren. sind uns einig: Noch besser, noch effizienter ist die Elekt- Deshalb will ich hier ganz klar sagen: Das, was zum rifizierung von Eisenbahnstrecken. Daher hat die Koali- Beispiel die Grünen im Moment mit der A 49 in Hessen tion auch im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir bis betreiben, ist ein solches doppelzüngiges und doppelbö- 2025 70 Prozent aller Strecken der Deutschen Bahn diges Spiel, AG elektrifizieren werden – und das ist auch gut so. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der der FDP) CDU/CSU) und das nicht nur deshalb, weil es hier um Straße geht. Wir haben konsequenterweise dafür auch das Geld zur Wir können doch nicht so tun, als könnten wir auf Stra- Verfügung gestellt. Schon in der letzten Legislatur haben ßenausbau verzichten. Das ist ein Schlag ins Gesicht der wir begonnen, einen Investitionshochlauf zu machen, ihn ländlichen Räume und der Menschen, die von Umge- zu verstetigen, damit wir diese Ziele auch wirklich errei- hungs- und Ausweichverkehren betroffen sind, weil chen können. Aber wir haben trotzdem noch ein Problem: Lückenschlüsse nicht vollzogen werden oder weil not- Selbst die kleinste Maßnahme, die wir ergreifen, hat bis wendige Maßnahmen an Autobahnen unterbleiben. jetzt ein aufwendiges Planfeststellungsverfahren nach Wir haben für die A 49 gutachterlich ganz klar belegte sich gezogen, auch wenn die Maßnahme selber eigentlich Wirkungen eines solchen Lückenschlusses. Wir haben völlig klar und unproblematisch ist. Und das haben wir demokratische Mehrheiten in Entscheidungen. Wir haben jetzt geändert. die höchstrichterliche Bestätigung all dieser Dinge. Auf Wie haben wir das gemacht? Wir haben zum Beispiel Landesebene stimmen Sie dem im Koalitionsvertrag (B) bei Elektrifizierungen, auch wenn auf der Strecke Brü- (D) noch zu, und hier versuchen Sie, es zu hintertreiben. cken oder Tunnel sind, gesagt: Wir machen nicht sofort Das ist die Erschütterung des Vertrauens der Bürger in das gesamte Verfahren, sondern wir machen erst eine all- staatliche Prozesse, und genau das müssen wir mit gemeine Umweltverträglichkeitsprüfung. – Und wenn schnelleren Planungs- und Genehmigungsprozessen wie- diese Prüfung dann besagt: „Es gibt keine Probleme; derherstellen. Wir wollen nämlich noch erleben können, wir brauchen keine richtige Umweltverträglichkeitsprü- dass Entscheidungen, die getroffen wurden, auch umge- fung“, dann machen wir nur die Vorprüfung. Wenn die setzt werden. Vorprüfung ergibt: „Alles okay“, dann brauchen wir weder ein Planfeststellungsverfahren noch ein Plange- (Beifall bei der CDU/CSU) nehmigungsverfahren. Das, liebe Kolleginnen und Kol- Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren: Es legen, beschleunigt wirklich. ist ein wichtiges Gesetz, das wir heute verabschieden. Es macht nur Sinn, wenn wir überhaupt in Infrastruktur (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) investieren, und zwar in alle Verkehrsträger, so wie wir Das heißt aber nun nicht, dass diese Maßnahme, weil sie nach dem Bedarf brauchen. Wir jedenfalls wollen den es keine Umweltverträglichkeitsprüfung gibt oder weil es Ausbau von Straßen, von Schienenwegen, von Wasser- keine Genehmigungspflicht gibt, jetzt völlig frei ist und straßen, und zwar beschleunigt. Mit diesem Gesetz kom- der Bauherr oder die Bauherrin ohne jegliche Rahmen men wir einen weiteren wichtigen Schritt voran. bauen kann. Nein, selbstverständlich – das steht auch in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- dem Gesetz – sind landesrechtliche Vorschriften, ist ordneten der SPD) Umweltschutz, ist die Beteiligung der betroffenen Dritten zwingend erforderlich, auch wenn es nur eine Anzeige- pflicht gibt. Insofern ist es eben nicht ein Schleifen von Vizepräsidentin Claudia Roth: Beteiligungsrechten, wie ich es hier gehört habe, oder Vielen Dank, Patrick Schnieder. – Nächste Rednerin: von Umweltschutzrechten, sondern es ist eine sinnvolle für die SPD-Fraktion Kirsten Lühmann. Maßnahme mit Augenmaß, die wir hier auf den Weg (Beifall bei der SPD) gebracht haben. (Beifall bei der SPD) Kirsten Lühmann (SPD): Wir haben diese allgemeine Vorprüfung auch für andere Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Projekte ins Leben gerufen, für die Digitalisierung von Die meisten wissen es: Ich komme aus Niedersachsen. Strecken und, ganz wichtig, für den barrierefreien (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Umbau. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23795

Kirsten Lühmann (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie erleben es in (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) (C) Ihren Wahlkreisen doch auch: Man kann doch nieman- Für Nichtschwaben hier im Saal frei übersetzt: nicht dem erklären, dass man dann, wenn man Barrierefreiheit bruddeln – also schimpfen –, sondern schippen – also mit durch eine Rampe herstellen und dafür den Bahnsteig dem Bau loslegen. Denn durch Reden und Mosern alleine etwas verlängern will, mit fünf, sechs Jahren Planungs- wird kein Meter Fahrdraht über einer Schienenstrecke verfahren zu rechnen hat. Das ist Quatsch. Das ändern wir verlegt. So verbessert sich für den klimafreundlichen hier. Die Barrierefreiheit genauso wie Schallschutzwände elektrischen Verkehrsträger Schiene absolut gar nichts. werden wir jetzt effizient und schnell durchsetzen kön- nen. Wir handeln heute getreu diesem Motto. Wir verkürzen für Bauvorhaben, die den Klimaschutz voranbringen, die (Beifall bei der SPD) langen Planungszeiten. Wir beschleunigen die Elektrifi- Als weitere Beschleunigung haben wir veranlasst: Bis zierung von Bahnstrecken, und das nach einem langen 15 Kilometer Elektrifizierung ist sogar nur noch eine Ringen auch dann, wenn sich ein Tunnel oder andere standortbezogene Vorprüfung erforderlich. Also, Sie Bauwerke auf dem Abschnitt befinden. Das bedeutet we- sehen: rundum ein Paket, das deutliche Beschleunigung niger Dieselzüge, weniger CO2-Emissionen und mehr E- bringt, ohne aber die Belange des Naturschutzes zu ver- Loks. Und wir beschleunigen Bahnsteigverlängerungen nachlässigen oder die Beteiligung der betroffenen Dritten und die Digitalisierung unseres Schienennetzes. Das einzuschränken. bedeutet Platz für längere Züge, für mehr Kapazität, die Mein Dank geht hier an die beteiligten Ministerien, wir für die Umsetzung des Deutschlandtaktes dringend zuerst an das Verkehrsministerium, aber auch an das brauchen. Umweltministerium und an die Kollegen und Kollegin- Wir beschleunigen die Herstellung einer vollständigen nen der betroffenen Arbeitsgruppen. Wir haben da hart Barrierefreiheit – vom großen Hauptbahnhof bis zur klei- zusammengearbeitet. Ich denke, wir haben einen sehr nen Straßenbahnhaltestelle. Das bedeutet mehr Reisen guten Kompromiss gefunden, der schnelleres Bauen, für alle im öffentlichen Nah- und Fernverkehr. Und wir schnelleren Lärmschutz, schnellere Barrierefreiheit und beschleunigen und entbürokratisieren den Bau von saubere Luft zur Folge haben wird. Industriegleisen und Gleisanschlüssen, um den Güterver- Herzlichen Dank. kehr auf der Schiene schneller voranzubringen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU) Je attraktiver öffentliche Verkehrsmittel für uns alle (B) Vizepräsidentin Claudia Roth: sind, desto unattraktiver wird die Nutzung weniger kli- (D) Vielen Dank, Kirsten Lühmann. – Der letzte Redner in mafreundlicher Verkehrsträger. Das, liebe Kolleginnen dieser Debatte: für die CDU/CSU-Fraktion Michael und Kollegen, machen wir ohne Autoverhinderungspoli- Donth. tik; denn unser Weg ist es, die Alternativen attraktiver und besser zu machen. (Beifall bei der CDU/CSU) Eines möchte ich schon noch anführen. Dieses Gesetz ist ein Kompromiss – wie immer im parlamentarischen Michael Donth (CDU/CSU): Verfahren. Wir haben in der Diskussion den schon guten Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Entwurf des Hauses in zahlreichen Punkten noch weiter Kollegen! Lassen Sie es mich als letzten Redner in dieser verbessert. Auch wenn ich mir – das ist bei einem Kom- Debatte einfach noch mal zusammenfassen. Heute ist ein promiss eben immer so der Fall – manchmal etwas mehr guter Tag für das Klima, ein guter Tag für die Wirtschaft, gewünscht hätte: Es ist trotzdem im Endergebnis ein für den Energiesektor und vor allem ein guter Tag für die wirklich gutes Gesetz. Verkehrspolitik. Gerade für mich als Berichterstatter mei- ner Fraktion für die Schiene war eigentlich schon zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Beginn dieses Vorhabens klar, dass sich all das nicht ordneten der SPD) gegenseitig ausschließt; manche hier im Haus scheinen Daher freut es mich, dass wir für dieses Gesetz auch die das immer noch zu meinen. Dass Verkehr und Klima- breite Zustimmung hier im Hause heute bekommen; denn schutz Hand in Hand gehen können, zeigt der nun vor- wer gegen dieses Gesetz stimmt, der ist dagegen, dass wir liegende Gesetzentwurf zur Investitionsbeschleunigung, schneller klimafreundlichen Verkehr und schneller mehr wie ich meine, sehr eindrücklich. Barrierefreiheit im Schienenverkehr bekommen. Wir Schwaben wissen das schon lange, und schon seit Energischer als mit diesem Gesetz, liebe Kolleginnen Beginn der Diskussion um Stuttgart 21 ist immer wieder und Kollegen, geht es eigentlich fast nicht. Dieses Gesetz ein Aufkleber zu sehen mit der Aufschrift: „Ed bruddla, steht für ein hochmodernes, digitales Schienennetz, das buddla!“ mehr Kapazitäten bietet. Deshalb braucht es jetzt dieses Gesetz, deshalb braucht es diese Investitionsbeschleuni- Vizepräsidentin Claudia Roth: gung jetzt, und deshalb braucht es jetzt weniger Bruddeln „Net bruddla, buddla!“, so heißt es bei mir. und mehr Buddeln. Wenn ich dann hören muss, Herr Spaniel, dass Sie Michael Donth (CDU/CSU): argumentieren: „Wir stimmen dem Investitionsbeschleu- Frau Präsidentin, genau. nigungsgesetz nicht zu, weil es zu wenig für den Straßen- 23796 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Michael Donth (A) bau enthält“, erinnert mich das schwer an Sandkastenkin- Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent- (C) derspiele. Wir wollen dieses Land voranbringen, und das schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen noch schneller. Deshalb stimmen wir diesem Gesetzent- auf Drucksache 19/24049. Wer stimmt für diesen Ent- wurf zu. schließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- gen? – Keine. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Vielen Dank. Zugestimmt haben die Fraktionen Bündnis 90/Die Grü- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nen und Die Linke. Dagegengestimmt haben die Fraktio- ordneten der SPD) nen der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der AfD. Immer noch Tagesordnungspunkt 10 a. Abstimmung Vizepräsidentin Claudia Roth: über den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP für ein Vielen Dank, Michael Donth. – Damit schließe ich die Bundesfernstraßen-Baubeschleunigungsgesetz. Der Aus- Aussprache. schuss für Verkehr und digitale Infrastruktur empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Bevor wir zur Abstimmung kommen, möchte ich das Drucksache 19/24040, den Gesetzentwurf der Fraktion von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte der FDP auf Drucksache 19/22106 abzulehnen. Ich bitte Ergebnis der Wahl eines Mitglieds des Parlamentari- diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, schen Kontrollgremiums gemäß Artikel 45d des Grund- um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal- gesetzes bekannt geben: Eigentlich sind wir 709 Abge- tungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera- ordnete, wie Sie wissen, abgegeben wurden allerdings tung abgelehnt. Zugestimmt haben die Fraktionen der nur 605 Stimmzettel; ungültig keine. Mit Ja haben FDP und der AfD. Dagegengestimmt haben die Fraktio- gestimmt 541 Abgeordnete, mit Nein haben gestimmt nen CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Die 34 Abgeordnete, enthalten haben sich 30 Kollegen oder Linke. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die Kolleginnen. Der Abgeordnete Roderich Kiesewetter hat weitere Beratung. die nach § 2 Absatz 3 des Gesetzes über die parlamenta- rische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Tagesordnungspunkt 10 b. Beschlussempfehlung des Bundes erforderliche Mehrheit von 355 Stimmen er- Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur zum reicht. Er ist damit als Mitglied des Parlamentarischen Antrag der Fraktion der AfD mit dem Titel „Investitions- Kontrollgremiums gewählt. Ich gratuliere ganz herz- offensive im Infrastrukturbereich – Das Investitionsbe- lich.1) schleunigungsgesetz sinnvoll ergänzen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- auf Drucksache 19/24040, den Antrag der Fraktion der neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- (B) AfD auf Drucksache 19/23131 abzulehnen. Wer stimmt (D) SES 90/DIE GRÜNEN) für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage- Jetzt kommen wir zu mehreren Abstimmungen. gen? – Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Gegen die Stimmen der AfD-Fraktion Tagesordnungspunkt 10 a. Wir kommen zur Abstim- haben alle anderen Fraktionen und Mitglieder des Hauses mung über den von der Bundesregierung eingebrachten der Beschlussempfehlung zugestimmt. Gesetzentwurf zur Beschleunigung von Investitionen. Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 c auf: empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung a) Beratung des Antrags der Abgeordneten auf Drucksache 19/24040, den Gesetzentwurf der Bun- Dr. Achim Kessler, Susanne Ferschl, desregierung auf den Drucksachen 19/22139 und Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordne- 19/22778 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte ter und der Fraktion DIE LINKE diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer Beitragsbemessungsgrenze der gesetzli- stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent- chen Kranken- und Pflegeversicherung wurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zuge- abschaffen und dadurch den Beitragssatz stimmt haben die Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die senken Grünen, CDU/CSU und FDP. Dagegengestimmt hat die Drucksache 19/23934 Fraktion der AfD. Enthalten hat sich die Fraktion der Linken. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit Dritte Beratung b) Beratung der Beschlussempfehlung und des und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Berichts des Ausschusses für Inneres und Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. – Heimat (4. Ausschuss) zu dem Antrag der Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Abgeordneten Dr. Achim Kessler, Susanne entwurf ist angenommen mit der Zustimmung von SPD, Ferschl, Matthias W. Birkwald, weiterer Ab- Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP gegen die geordneter und der Fraktion DIE LINKE Stimmen der AfD-Fraktion und bei Enthaltung der Frak- Beamtinnen und Beamten den Weg in die tion Die Linke. gesetzliche Krankenversicherung erleich- tern 1) Namensverzeichnis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2 Drucksachen 19/1827, 19/22241 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23797

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Diesen Zustand will Die Linke mit der Einführung einer (C) Berichts des Ausschusses für Gesundheit solidarischen Gesundheits- und Pflegeversicherung been- (14. Ausschuss) den. – zu dem Antrag der Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN) Dr. Achim Kessler, Susanne Ferschl, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeord- Aber, meine Damen und Herren, die private Kranken- neter und der Fraktion DIE LINKE versicherung schadet nicht nur der gesetzlichen Kranken- versicherung, sondern sie schadet auch den Privatversi- Ein System für alle – Privatversicherte cherten selbst. Obwohl die private Krankenversicherung in gesetzliche Krankenversicherung bislang an den Kosten der Pandemiebekämpfung so gut überführen wie nicht beteiligt war, erhöhen sich die durchschnittli- – zu dem Antrag der Abgeordneten chen Beiträge im Januar um 8,1 Prozent. Bei der Debeka Dr. Achim Kessler, Susanne Ferschl, werden es sogar 17,6 Prozent sein. Meine Damen und Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeord- Herren, das ist nicht im Interesse der Privatversicherten. neter und der Fraktion DIE LINKE (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Lebenslangen Bindungszwang an pri- Für viele Privatversicherte wird die eigene Versiche- vate Krankenversicherungen abschaf- rung im Alter zur unentrinnbaren Armutsfalle; denn sie fen können im Ruhestand bei sinkenden Einkommen die stei- Drucksachen 19/9229, 19/14371, 19/24026 genden Beiträge nicht mehr zahlen. Sie rutschen dann, wie auch viele Selbstständige mit geringen Einkommen, Für die Aussprache ist eine Dauer von 60 Minuten in den Basis- und Notlagentarif. Meine Damen und Her- beschlossen. – Ich warte, bevor ich eröffne, bis die Kol- ren, wir sprechen hier über 100 000 Menschen, die dann leginnen und Kollegen Platz genommen haben. – Könn- nur noch eine stark eingeschränkte Gesundheitsversor- ten wir das bitte beschleunigen? Herr Donth, Sie haben gung haben. gerade so viel über Beschleunigung geredet; dann tun Sie es auch. – Ich glaube, wir können beginnen. Ich möchte gern an dieser Stelle eine 59-jährige Foto- Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat grafin zu Wort kommen lassen, die mit großen Beitrags- Dr. Achim Kessler für die Fraktion Die Linke. schulden im Basistarif versichert ist und jetzt Angst hat, in der Krise in den Notlagentarif abzurutschen. Ich zitie- (Beifall bei der LINKEN) re: Können Sie sich vorstellen, wie man sich fühlt da- (B) Dr. Achim Kessler (DIE LINKE): mit, wie viele Ängste das auslöst? Noch bin ich ver- (D) Geschätzte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und mutlich gesund, was passiert, wenn ich schwer, zum Herren! Die Coronakrise zeigt uns erneut, wie wichtig es Beispiel an Krebs erkranke? Ich bekomme dann ist, Spitzenverdiener und Millionäre in die Finanzierung keine Behandlung, weil ich die unendlich hohen der gesetzlichen Krankenversicherung einzubeziehen. Beiträge der PKV nicht bezahlen kann. Weil Ärzte (Beifall bei der LINKEN) meine Behandlung aufgrund des Notlagen- bzw. Basistarifs in der PKV ablehnen können! Denn im nächsten Jahr fehlen in der gesetzlichen Kran- kenversicherung mindestens 16,6 Milliarden Euro. Diese Diese Gesetzgebung ist unmenschlich, ungerecht Kosten dürfen nicht auf die kleinen und mittleren Ein- und unsozial. kommen abgewälzt werden. Sie treibt viele Menschen in tiefe Depression, die ihr (Beifall bei der LINKEN) Leben lang gearbeitet und Steuern bezahlt haben, Meine Damen und Herren, Ungleichheit beim Zugang um dann in ihrer Rente zu Menschen und Patienten zur Gesundheitsversorgung ist nicht akzeptabel. zweiter Klasse zu werden. (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, wie Sie sehen, gehört die private Krankenversicherung auch im Interesse der Pri- Alle Menschen, die in Deutschland leben, müssen die vatversicherten abgeschafft! gleiche hochwertige Gesundheitsversorgung bekommen, unabhängig von Einkommen, Herkunft oder Wohnort. (Beifall bei der LINKEN) Aber ein gleicher Zugang zur Gesundheitsversorgung Wir stellen deshalb heute vier Anträge zur Diskussion. für alle und eine solidarische Finanzierung sind nur mög- Mit dem ersten fordern wir, dass alle in Deutschland leb- lich ohne private Krankenversicherung. enden Menschen in der gesetzlichen Krankenversiche- (Beifall bei der LINKEN) rung versichert sein sollen und dass die private Kranken- versicherung abgeschafft wird. Die private Krankenversicherung ermöglicht es Bes- serverdienern, sich der solidarischen Finanzierung und (Beifall bei der LINKEN) dem Lastenausgleich zu entziehen. Für die gesetzliche Ich habe allerdings das Gerücht gehört, dass sich die Krankenversicherung bleiben dann nur noch die kleinen übrigen Fraktionen diesem Antrag nicht anschließen wol- und mittleren Gehaltsgruppen. len. Deshalb stellen wir heute auch vernünftige Zwi- (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Es lebe schenschritte zur Abstimmung, die es insbesondere SPD das Vorurteil!) und Grünen ermöglichen sollen, zuzustimmen: 23798 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Dr. Achim Kessler (A) Mit dem zweiten Antrag wollen wir Beamtinnen und Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) Beamten des Bundes den Weg in die gesetzliche Kran- Kommen Sie bitte zum Schluss. kenversicherung ermöglichen, wie es viele Bundesländer ja schon tun. Dr. Achim Kessler (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN) Ja. – Wir hätten insgesamt eine hochwertige gesund- Das ist kein Zwang, sondern nur eine Streichung der heitliche und pflegerische Versorgung für alle Menschen. Subventionierung der privaten Krankenversicherung. Ich bitte Sie deshalb: Stimmen Sie unseren Anträgen zu! Das, meine Damen und Herren, kann man nur ablehnen, Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. wenn man ideologisch verblendet ist oder den Wünschen der Lobbyisten der Versicherungswirtschaft nach staat- (Beifall bei der LINKEN) licher Unterstützung folgt. (Beifall bei der LINKEN – Christine Vizepräsidentin Claudia Roth: Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das sagt der Rich- Vielen Dank, Dr. Achim Kessler. – Bevor Sie sich tige!) wundern, möchte ich Ihnen sagen, dass Minister Spahn für diese Debatte entschuldigt ist. Er ist im Ausschuss. Denn ohne die staatlichen Beihilfen für Beamtinnen und Beamte wäre die private Krankenversicherung längst (Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Im Haus- sang- und klanglos untergegangen. Und dafür ist es haltsausschuss!) höchste Zeit! Nächste Rednerin: Karin Maag für die CDU/CSU- (Beifall bei der LINKEN) Fraktion. Im dritten Antrag fordern wir, die Beitragsbemes- (Beifall bei der CDU/CSU) sungsgrenze zuerst anzuheben und dann ganz abzuschaf- fen; denn dass ich als gut verdienender Abgeordneter in Karin Maag (CDU/CSU): der gesetzlichen Krankenversicherung prozentual nur Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! rund die Hälfte von dem bezahlen muss, was eine Lidl- Manchmal – wir hatten das Thema schon – wünschte Verkäuferin bezahlt, das ist wirklich eine bodenlose ich mir, Herr Dr. Kessler, dass die Opposition ihre Forde- Ungerechtigkeit und muss beendet werden. rungen anspruchsvoller begründen und vertreten würde. (Beifall bei der LINKEN) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Noch (B) Mit dem vierten Antrag möchten wir Privatversicher- anspruchsvoller?) (D) ten den Wechsel in eine andere private oder gesetzliche Versicherung ermöglichen, indem sie ihre Altersrückstel- Ihre Anträge sind jedenfalls altbekannte Wiedergänger. lungen mitnehmen können. Meine Damen und Herren, Sie machen sich ja noch nicht einmal die Mühe, auf wenn Sie Wettbewerb möchten, dann müssen Sie den juristische wie politische Einwände aus den letzten zehn Privatversicherten auch erlauben, ihre private Kranken- Jahren qualifiziert einzugehen. versicherung zu verlassen und in eine andere zu wech- (Beifall des Abg. Stephan Pilsinger [CDU/ seln. CSU]) (Beifall bei der LINKEN) Ich jedenfalls würde hier gerne einmal über den Wir brauchen dringend einen Ausweg für Privatversi- Reformbedarf bei der PKV diskutieren. Sie haben ja cherte, die nicht mehr weiterwissen – und zwar ohne, recht: Da gibt es Reformbedarf. Da gibt es viele ältere dass wir dadurch der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherte, die durch steigende PKV-Prämien stark be- schaden. Meine Damen und Herren, die lebenslange lastet werden. Ich würde zum Beispiel gerne den Stan- Zwangsmitgliedschaft vieler Privatversicherter kann heu- dardtarif wieder öffnen und im Basistarif Verbesserungen te ein Ende haben, wenn Sie unserem Antrag zustimmen! anmahnen. Ja, die Höhe der Prämien bereitet Schwierig- keiten. Ja, die ärztliche Versorgung im Basistarif ist Mit unseren Anträgen insgesamt wollen wir das Soli- schwierig. Aber dagegen sperrt sich nicht nur Ihre Frak- darprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung stär- tion. Sie – und das geht jetzt nicht nur an die Linke – ken und die gesetzliche Krankenversicherung zu einer ordnen dem politischen Ziel einer Einheitsversicherung solidarischen Gesundheits- und Pflegeversicherung aus- alle Sorgen und Nöte der PKV-Versicherten schlicht bauen. Das bedeutet konkret: Der durchschnittliche unter. Krankenkassenbeitrag würde um fast ein Viertel sinken. 90 Prozent der Versicherten müssten weniger zahlen und (Beifall bei der CDU/CSU) hätten am Ende des Monats mehr im Geldbeutel. Wir Ich ganz persönlich fühle mich jedenfalls den 9 Millionen könnten in der Krankenversicherung alle Zuzahlungen PKV-Versicherten mindestens genauso verpflichtet wie abschaffen. Die Kosten für Brillen und Zahnersatz könn- allen gesetzlich Versicherten. Ich meine, „sozial“ und ten wieder komplett übernommen werden. Besonders „solidarisch“ gehen hier komplett anders. belastete Gruppen, wie zum Beispiel Freiberufler mit schwankenden Einkommen – ein aktuelles Thema –, (Beifall bei der CDU/CSU) könnten endlich entlastet werden. Dann auf ein Neues! Wir setzen uns mit Ihren Argu- (Beifall bei der LINKEN) menten zur Abschaffung der PKV gerne auseinander. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23799

Karin Maag (A) Sie behaupten, die private Krankenversicherung ver- Dann fordern Sie die Aufhebung der Beitragsbemes- (C) stoße gegen das Prinzip der Solidarität. Tja, innerhalb sungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung. der privaten Kassen, stelle ich zumindest fest, wird die Auch da: Die juristische Expertise dazu bewerten Sie Solidarität der älteren Versicherten zugunsten der jünge- durchaus entspannt. – Sie wissen es doch besser: Die ren Generationen gelebt. PKV-Versicherte bauen über Solidarität der gesetzlich Krankenversicherten darf bei Jahre kontinuierlich mit eigenen Altersrückstellungen der Beitragsbemessung eben nicht überdehnt werden. einen Kapitalstock auf. Sie tragen so ihre im Alter stei- Auch dort muss es in einem gewissen Rahmen beim genden Gesundheitskosten selbst. Künftige Generationen Äquivalenzprinzip bleiben. von Kindern und Enkelkindern werden durch die PKV- Versicherten mit Rücklagen (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sach- (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Aber die leistungsprinzip! Was für ein Äquivalenzprin- sind doch nichts mehr wert!) zip? In der privaten Krankenversicherung gibt es kein Äquivalenzprinzip! Was für ein in Höhe von aktuell – danke, Herr Kessler – 270 Milliar- Unsinn!) den Euro entlastet. Solidarität entsteht aber auch zu den gesetzlich Ver- Beiträge, die nicht einmal mehr in einem großzügigen sicherten. Dass die GKV Steuerzuschüsse erhält, ist uns Rahmen in Beziehung zur Leistung stehen, also zum allen bekannt. Und zu Ihren Gunsten, Herr Dr. Kessler, gewährten Versicherungsschutz, die mutieren zur Steuer rechne ich jetzt mal mit den 14,5 Milliarden Euro aus der und sind damit rechtswidrig. Vorcoronazeit. Die Privatversicherten beteiligten sich Übrigens würden Sie ganz praktisch auch noch eine daran als Steuerzahler im Schnitt mit über 175 Euro pro Bremse für jede Gehaltserhöhung einführen: Arbeitgeber Kopf und Jahr, in der Summe mit 1,6 Milliarden Euro, würden ja für die Bezahlung der höheren Löhne und obwohl sie von den versicherungsfremden Leistungen Gehälter bestraft; die Beitragslast würde insgesamt der GKV sicher nicht profitieren. gleichzeitig erhöht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Dr. Achim Kessler [DIE LIN- Vizepräsidentin Claudia Roth: KE]) Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Privatversicherte zahlen auch – darauf weisen Sie zu -bemerkung der Kollegin Vogler von der Linken? Recht hin – für viele medizinische Leistungen höhere Honorare. Damit unterstützen sie natürlich das Gesund- (B) heitswesen, und zwar jährlich mit 13 Milliarden Euro Karin Maag (CDU/CSU): (D) zusätzlich. Gerne. (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Quatsch!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Diese zusätzlichen Einnahmen ermöglichen zum Beispiel Gut. den niedergelassenen Ärzten und den Krankenhäusern zusätzliche Investitionen in moderne Geräte und Behand- lungsmethoden, die wiederum sowohl den PKV-Versi- Kathrin Vogler (DIE LINKE): cherten als auch den gesetzlich Versicherten zugutekom- Vielen Dank, liebe Karin Maag, dass Sie meine Zwi- men. schenbemerkung zulassen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ich will jetzt mal auf diese Legendenbildung rund um Dr. Wieland Schinnenburg [FDP]) das Äquivalenzprinzip eingehen. Das Äquivalenzprinzip kann doch nur für ein Versicherungssystem gelten, in Liebe Kolleginnen und Kollegen, die private Kranken- dem die Leistung in Bezug zum Beitrag steht. Der Beitrag versicherung – so habe ich gelesen – soll nun abgeschafft, zur gesetzlichen Krankenversicherung steht aber in über- Privatversicherte sollen zu gesetzlich Versicherten haupt keinem Verhältnis zum Leistungsversprechen. Das gemacht und die bisherige Beihilfe des Bundes für seine Leistungsversprechen wird nämlich allein durch den Beamten soll zu einem Arbeitgeberbeitrag in der GKV Bedarf bzw. die Bedürfnisse der versicherten Person umgewandelt werden. Kurz: Sie fordern ein objektives geregelt, wenn sie denn krank und damit zur Patientin Berufsverbot für private Kassen, greifen in die Eigen- oder zum Patienten wird. tumsrechte der Privatversicherten ein, (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: So ein Es ist vom Grunde her im Prinzip unbegrenzt: Also Quatsch! Sie glauben doch selber nicht, was auch wenn eine familienversicherte Person, beispielswei- Sie sagen!) se ein Kind, das noch nie einen einzigen Cent Beitrag gezahlt hat, schwer an einer seltenen Krankheit, an einer und Sie enteignen die privaten Krankenkassen, wenn Sie besonderen Krebsform erkrankt, hat dieses Kind, diese ihnen die 270 Milliarden Euro Altersrückstellungen weg- familienversicherte Person, einen quasi unbegrenzten nehmen und in den Gesundheitsfonds übertragen wollen. Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Kranken- Juristisch sage ich: Subfiligran! – Das macht Ihnen so versicherung, auf Rehaleistungen, auf Leistungen, die die schnell keiner nach. Gesundheit wiederherstellen, das Befinden bessern usw. (Beifall bei der CDU/CSU) usf. 23800 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Kathrin Vogler (A) Deswegen finde ich, diese Argumentation über das den Beitragszahlern in der GKV. Wenn jemand jahrzehn- (C) Äquivalenzprinzip kann man gern in der Rentendebatte telang Vorteile der PKV in Anspruch genommen hat, führen. An dieser Stelle aber, in der Diskussion über dann muss er natürlich auch später mit den Nachteilen gesetzliche Krankenversicherung versus Privatversiche- leben und kann dann nicht in die GKV wechseln. rung, hat das überhaupt nichts zu suchen. Kommen wir noch zur Portabilität der Altersrück- (Beifall bei der LINKEN – Matthias W. stellungen. Wir haben bereits 2007 mit dem Wettbe- Birkwald [DIE LINKE]: Sachkostenprinzip!) werbsstärkungsgesetz diese Portabilität innerhalb der PKV verbessert, auch da wieder im verfassungsrechtlich Karin Maag (CDU/CSU): gebotenen Rahmen, nämlich nur im Umfang des Basis- Verehrte Frau Kollegin, Sie haben eines vergessen, tarifs. Wenn nun die Jungen, die Gesunden, die Versicher- nämlich dass das Äquivalenzprinzip auf den durch- ten mit den niedrigeren Risiken zu anderen privaten Ver- schnittlichen Betrachter und auf die durchschnittliche sicherungen abwanderten und ihre Altersrückstellungen Leistung abstellt. komplett mitnähmen, würde das unweigerlich zu Beitrag- serhöhungen bei den Verbliebenen in ihrer jeweiligen (Widerspruch bei der LINKEN – Dr. Achim Kohorte führen. Das wollen wir zumindest nicht. Und Kessler [DIE LINKE]: Nein! Das ist nicht die Portabilität gar in die GKV zu ermöglichen, würde – wahr!) da reden wir wiederum über gute Argumente der letzten Deswegen ist das Leistungsversprechen der GKV tat- zehn Jahre – die Eigentumsgarantie gemäß Artikel 14 sächlich unbegrenzt. Grundgesetz verletzen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: In wel- Aus unserer Sicht jedenfalls hat sich das Nebeneinan- chem Gutachten soll das denn stehen? – der von GKV und PKV sehr praktisch bewährt. Die Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Sie müssen gesetzlichen Krankenkassen müssen sich in einem Sys- es jetzt auch gut begründen! – Weiterer Zuruf temwettbewerb zugunsten ihrer Versicherten beweisen von der LINKEN: Jetzt verwechseln Sie das und anstrengen. Das fördert Qualität. Deswegen werden mit der Privatversicherung!) wir wie immer Ihre Anträge ablehnen. – Entschuldigung, aber wenn ich die Fragen Ihrer Kolle- Herzlichen Dank. gin beantworte, dann müssen Sie es ertragen, dass ich (Beifall bei der CDU/CSU) eine andere Meinung habe. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Vizepräsidentin : der FDP – Stephan Pilsinger [CDU/CSU]: Wie (B) Frau Kollegin, könnten Sie bitte Ihren Mund-Nase- (D) die AfD!) Schutz mitnehmen und auch aufsetzen? Also, noch mal: Selbstverständlich ist das Leistungs- (Karin Maag [CDU/CSU]: Entschuldigung!) versprechen der GKV unbegrenzt; da sind wir uns völlig einig. Das Wort hat der Abgeordnete Jörg Schneider für die AfD-Fraktion. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Danke!) (Beifall bei der AfD) Ob ein Beitrag aber tatsächlich geeignet ist, dieses Leis- tungsversprechen in irgendeiner Form zu ermöglichen, hat nichts mit der Unbegrenztheit des Leistungsverspre- Jörg Schneider (AfD): chens zu tun, sondern er wird pauschal berechnet und auf Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und eine durchschnittliche Betrachtung heruntergebrochen. Herren! Liebe Zuschauer! Eine gute Idee hat Die Linke: Deswegen habe ich auch nicht formuliert, dass es zentral Sie möchte Privatversicherten ermöglichen, bei einem festgezimmert ist, sondern formuliert, dass es jedenfalls Kassenwechsel die Rückstellungen mitzunehmen. Das so, wie Sie es in den vergangenen zehn Jahren ausge- würde tatsächlich den Wettbewerb zwischen den privaten drückt haben, falsch ist. Krankenversicherungen beleben. Das, finde ich, ist eine gute Idee. Aber damit habe ich Sie für heute auch schon Wenn Sie die Aussagen der Sachverständigen, die sich genug gelobt. in den letzten zehn Jahren bei Anhörungen zu diesem Thema geäußert haben, durchsehen, dann werden Sie (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Das reicht feststellen, dass sich tatsächlich der eine oder andere auch!) Sachverständige in unserem Sinne ausgedrückt hat. Mehr Lob gibt es nicht. Dass sich Sachverständige in Ihrem Sinne ausgedrückt (Beifall bei der AfD – Helin Evrim Sommer haben, habe ich noch nicht so richtig bemerkt. [DIE LINKE]: Da sind wir aber erleichtert!) (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Achim Kessler Der nächste Punkt ist nämlich: Sie möchten bei Beam- [DIE LINKE]: Dann haben Sie aber nicht zuge- ten gerne eine Wahlmöglichkeit schaffen zwischen Bei- hört!) hilfeverfahren, wie jetzt üblich, und der gesetzlichen Jetzt mache ich weiter. – Sie wollen ja auch noch die Krankenversicherung. Da frage ich mich schon mal: 9/10-Regelung abschaffen. Klar, wenn Sie die PKV ins- Können Sie da nicht direkt ehrlich sagen: „Alle Beamten gesamt abschaffen, dann braucht es diese Regelung nicht in die gesetzliche Krankenversicherung“? Und da druck- mehr. Falls sie bleiben sollte, dann, sage ich Ihnen, redet sen Sie jetzt so ein bisschen rum: Ja, das ist verfassungs- die Union von Solidarität, und zwar von Solidarität mit rechtlich problematisch; da bräuchte man Zweidrittel- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23801

Jörg Schneider (A) mehrheiten. – Ich erinnere Sie mal dran: Sie sind die Vielleicht noch mal zur Erläuterung. Der National (C) Oppositionspartei, und ich hoffe, Sie werden hier ganz Health Service wurde in Großbritannien 1948 von einer lange Oppositionspartei bleiben. damals stramm sozialistischen Labour-Partei eingeführt. (Beifall bei der AfD) (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Quatsch! Das stimmt doch nicht!) Und als Oppositionspartei haben Sie ohnehin ein gewis- ses Problem, hier Mehrheiten zusammenzufinden. – Nein, das war 1948. Lesen Sie es mal nach. – Er wurde eingeführt von einer stramm sozialistischen Labour-Par- (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Kommen tei mit großen Sympathien für die Sowjetunion, für den Sie doch mal zur Sache! Das ist doch viel inte- Genossen Stalin. ressanter!) (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Sagen Sie Ich finde, dann kann man direkt auch wirklich ehrlich doch mal was zur Gesundheitspolitik heute! fordern, was man will. Das können Sie nicht!) Aber, wissen Sie, das wollen Sie ja gar nicht; denn Ich weiß nicht, vielleicht ist es diese Bruderschaft im wenn Sie wirklich alle Beamten in die gesetzliche Kran- Geiste, die Sie dazu bewegt, uns hier in Deutschland jetzt kenversicherung schicken würden, dann wären da natür- das gleiche gescheiterte System aufzwingen zu wollen. lich auch viele Lehrer, viele Sozialarbeiter dabei. Das sind viele Sympathisanten von Ihnen; die möchten Sie (Beifall bei der AfD – Dr. Achim Kessler [DIE nicht vor den Kopf stoßen. Deswegen eiern Sie hier so LINKE]: Reden Sie doch mal zur Sache! Sie ein bisschen rum. haben ja keine Ahnung!) (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Das Meine Damen und Herren, wir sind doch mit diesem überlassen Sie uns!) dualen System sehr gut gefahren; das funktioniert doch. Das ist ganz klar Klientelpolitik, was Sie hier machen. (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) Deswegen werden wir diesen Antrag ablehnen, meine Wir haben einen Wettbewerb zwischen den Systemen, Damen und Herren. und – Frau Maag sprach es eben auch schon an – der Privatversicherte bezahlt für die gleiche Leistung quasi (Beifall bei der AfD – Zuruf von der Linken: das Doppelte dessen, was der gesetzlich Versicherte Klientelpolitik für die Mehrheit der Menschen! bezahlt. Dadurch haben wir in den Praxen, in den Klini- Wie kann man so was sagen?) ken schon eine Quersubventionierung, und das ist durch- Ihre Forderung, die private Krankenversicherung aus ein Stück gelebte Solidarität. (B) abzuschaffen, ist dann zumindest schon mal ein bisschen (D) In einem Punkt gebe ich Ihnen natürlich recht: Viele ehrlicher. Ich sage „ehrlicher“, nicht „besser“. Privatversicherte sparen dadurch Geld. Das möchten Sie (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Sagen Sie denen gerne wegnehmen, weil Sie ihnen das nicht gön- doch mal was zur Gesundheitspolitik!) nen. – Ich sage durchaus was zur Gesundheitspolitik; darüber (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Darum spreche ich doch gerade, Herr Kessler. geht es überhaupt nicht!) (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Nee!) Aber bitte nehmen Sie doch endlich mal zur Kenntnis: Wir haben in Deutschland weltweit die höchsten Steuer- Sie möchten gerne die private Krankenversicherung und Sozialversicherungsabgaben. Gerade denjenigen, die abschaffen, diese böse Zweiklassenmedizin. von Ihrer Regelung besonders betroffen wären – die Ärz- (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ja, und? Ach, te, die Ingenieure – bleiben schon heute von 1 Euro, den die ist ja böse!) sie vielleicht als Gehaltserhöhung bekommen, nicht mal 50 Cent übrig. In diesem sozialistischen Einheitssystem werden wir dann alle gleichermaßen glücklich oder – das sollte man (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nicht vielleicht besser sagen – gleichermaßen unglücklich. nach unserer Steuerreform! Die Beitragssätze der gesetzlichen Versicherung sinken dann!) (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Mehr als Worthülsen haben Sie nicht! Alles Worthül- Meine Damen und Herren, wir müssen für diese Men- sen! – Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: schen die Beiträge endlich ein Stück weit senken, Phrasen über Phrasen!) (Beifall bei der AfD) Denn das gibt es doch schon. Gucken Sie mal nach Groß- damit wir ihnen tatsächlich die Möglichkeit geben, weiter britannien; da gibt es den National Health Service. Das ist ihre berufliche Zukunft in Deutschland zu suchen, und sie ein marodes System für die breite Masse; und für einige nicht ins Ausland abwandern. Dazu leistet Ihr Antrag wenige wirklich Reiche gibt es dann Privatkliniken. Mei- keinerlei Beitrag, und deswegen werden wir ihn auch ne Damen und Herren, das ist ein Zweiklassensystem, ablehnen. was Sie uns hier aufdrücken wollen. (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Da sind (Beifall bei der AfD – Matthias W. Birkwald wir aber froh! Sonst hätte es mich auch gewu- [DIE LINKE]: Das wollen wir aber nicht! Sie ndert! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: sollten mal zur Sache reden!) Alles andere hätte uns auch geschockt!) 23802 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Jörg Schneider (A) Ich danke Ihnen. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass die PKV in der (C) (Beifall bei der AfD – Dr. Achim Kessler [DIE heutigen Form über kurz oder lang ein Auslaufmodell LINKE]: Das ist wirklich sehr ahnungslos, was sein wird. Sie hier vortragen!) (Beifall der Abg. Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Neukundengeschäft für Vollversicherungen ist – Das Wort hat die Kollegin Sabine Dittmar für die SPD- außer bei Beamten – nahezu zum Erliegen gekommen. Fraktion. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, es (Beifall bei der SPD) macht einen erheblichen Unterschied, ob man die private Krankenversicherung in einen echten Wettbewerb mit Sabine Dittmar (SPD): den gesetzlichen Kassen schickt oder ob man die Bei- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und tragsbemessungsgrenze und die PKV von jetzt auf gleich Kollegen! Es ist allgemein bekannt, dass die SPD die zum Stichtag X abschaffen möchte. Denn da gibt es gesetzliche Krankenversicherung für weitere Beschäftig- erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken und auch tengruppen öffnen möchte und damit Schritt für Schritt sehr konträre Rechtsauffassungen; das haben uns die vie- auf die Einführung einer Bürgerversicherung hinarbeitet. len Anhörungen gezeigt, die wir zu dieser Thematik ja schon durchgeführt haben. Wir Sozialdemokraten setzen (Beifall bei der SPD und der LINKEN) daher lieber auf einen Versicherungsmarkt mit gleichen In eine Bürgerversicherung würden – wie der Name Regeln für alle und echte Wahlfreiheit für die Versicher- schon sagt – alle Bürgerinnen und Bürger einbezogen ten. werden, also auch Freiberufler, Selbstständige und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Beamte. Damit würden alle Berufsgruppen Beiträge in die solidarische Krankenversicherung einzahlen, und Hamburg hat es vorgemacht und bietet für neue Beam- die Lasten würden auf mehr Schultern verteilt. te eine echte Wahlfreiheit zwischen privater und gesetz- licher Krankenversicherung an. Auch in der GKV (Beifall bei der SPD und der LINKEN) bekommt man nun die pauschale Beihilfe. Mittlerweile Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns einig, machen auch Berlin, Brandenburg, Thüringen und Bre- dass es auch in der gesetzlichen Krankenversicherung men ihren Neubeamten dieses Angebot. Auch die Beam- Reformbedarf gab und gibt. So haben wir zum Beispiel ten, die sich bislang schon in der gesetzlichen Kranken- die Mindestbeiträge für Soloselbstständige um mehr als versicherung versichert haben, weil sie beispielsweise (B) die Hälfte gesenkt und Zeitsoldaten den Zugang zur aufgrund einer Vorerkrankung überhaupt keine private (D) gesetzlichen Krankenversicherung ermöglicht. Damit Krankenversicherung gefunden haben, erhalten nun end- haben wir die GKV für weitere Personengruppen attrakti- lich den Arbeitgeberzuschuss. ver gemacht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es ist aber auch kein Geheimnis, dass sich die PKV Es wäre nur konsequent, auch auf Bundesebene für die mittlerweile selbst entzaubert hat. Mit jeder neuen Welle Beamtinnen und Beamten aktiv zu werden. Leider hat die von Prämiensteigerungen zum Jahresende erreichen uns Union bislang weder ein Interesse daran, die Situation der Briefe von verzweifelten Privatversicherten, die ange- gesetzlich versicherten Bundesbeamten zu verbessern, sichts der davongaloppierenden Versicherungsbeiträge noch daran, den Beamten eine echte Wahlfreiheit zu er- nicht mehr wissen, wie sie diese in Zukunft bezahlen möglichen. sollen. Und da hilft auch nur bedingt ein Notlagen- oder Basistarif. Diese Haltung der Union könnte man ja noch mit einer – ja – ideologischen Nibelungentreue zur PKV (Beifall des Abg. Dr. Achim Kessler [DIE erklären. Aber richtig fragwürdig für mich ist die ableh- LINKE]) nende Haltung des Beamtenbundes, der glaubt, seine Mit- Verschärft wird dieser Trend durch die fortdauernde glieder vor einer freien Entscheidung zwischen gesetz- Niedrigzinsphase, die die wirtschaftlichen Verhältnisse licher und privater Krankenversicherung schützen zu der PKV durcheinanderwirbelt. Prämiensteigerungen müssen. Er nimmt dabei als Kollateralschaden in Kauf, von mehr als 15 Prozent sind keine Seltenheit. dass gesetzlich versicherte Beamte den kompletten Bei- trag alleine zahlen müssen, während ihr Beihilfeanspruch Bei einer echten Wahlfreiheit begeben sich viele Bür- komplett ins Leere läuft. Das ist für mich, Kolleginnen gerinnen und Bürger schon heute lieber in den sicheren und Kollegen, wirklich sehr bemerkenswert. Hafen der GKV. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. das!) [CDU/CSU]) Hier kann man sich als Versicherter nicht nur auf planba- Über die Bundesländer könnte hier auch wieder ein re Beiträge verlassen, sondern hat auch die Sicherheit, bisschen Dynamik in das Geschehen kommen, wenn nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin man sich beispielsweise in Baden-Württemberg mit behandelt zu werden. dem grünen Gesundheitsminister dafür einsetzen würde, (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem dass der Arbeitgeberzuschuss auch für die Beamtinnen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Beamten in der GKV geleistet wird. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23803

Sabine Dittmar (A) Kolleginnen und Kollegen, es wird zweifelsohne noch Die von Ihnen vorgebrachten Argumente sind auch (C) ein langer Weg sein, bis wir ein einheitliches und solidari- schlichtweg falsch. Sie führen ja einen ungleichen Zu- sches Versicherungssystem haben: für alle Bürgerinnen gang an und – das muss man sich mal auf der Zunge und Bürger, unabhängig vom Status, ob Beamter, Ange- zergehen lassen –: stellter, Freiberufler oder Selbstständiger. Aber – davon Weil Ärztinnen und Ärzte bei gleicher Leistung für bin ich überzeugt –: Die Bürgerversicherung – oder wie Privatversicherte viel höhere Vergütungen bekom- immer man sie dann auch nennen mag – wird kommen. men, erhalten Privatversicherte früher einen Termin. Davon bin ich überzeugt, und dafür werden wir als SPD weiterkämpfen. Meine Damen und Herren, ich finde, das ist erst mal ein ungeheuerlicher Vorwurf und ein Vorurteil gegenüber Die Anträge der Linken lehnen wir allerdings ab. Denn den Ärztinnen und Ärzten, die nämlich überhaupt nicht wir setzen weniger auf verfassungsmäßig fragwürdige darauf gucken. Wenn jemand krank ist, wird er behandelt. Verbote, als vielmehr auf die Überlegenheit der gesetz- So ist und bleibt es auch. lichen Krankenversicherung. (Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN (Beifall bei der SPD) und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Haben Sie Vizepräsidentin Petra Pau: schon einmal selber einen Arzt nach einem Ter- Das Wort hat die Kollegin Christine Aschenberg- min gefragt?) Dugnus für die FDP-Fraktion. Zweitens stelle ich immer wieder fest – auch bei Ihnen, Herr Schneider –, dass Sie den Unterschied zwischen (Beifall bei der FDP – Dr. Achim Kessler [DIE privater Gebührenordnung und gesetzlicher Gebühren- LINKE]: Jetzt gibt es Klassenkampf!) ordnung überhaupt nicht verstanden haben. Bei den ge- setzlich Versicherten ist es nämlich so, dass ein Punkt- Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): wert zugrunde liegt, und bei den Privatversicherten Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und basiert die Gebührenordnung auf einem Euro-Betrag Kollegen! Selbst in Coronazeiten lassen es sich die Lin- mit einem Steigerungsfaktor. Das wird mit einem Steige- ken doch wieder einmal nicht nehmen, zum gefühlt hun- rungsfaktor multipliziert. dertsten Mal die Abschaffung der PKV zu fordern. Ich (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Deswe- kann es langsam nicht mehr hören, meine Damen und gen kriegen ja auch Privatpatienten eher einen Herren. Termin!) (B) (Beifall bei der FDP – Helin Evrim Sommer Dieser Steigerungsfaktor hat aber auch null mit der (D) [DIE LINKE]: Müssen Sie aber!) gesetzlichen Gebührenordnung zu tun. Ihrer Fraktion ist es ja anscheinend noch nicht aufge- (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Sie sollten fallen: Deutschland ist gerade mit seinem dualen System einmal mit einem gesetzlich Versicherten spre- aus beiden Krankenversicherungsformen so gut aufge- chen! Ich kann das gerne vermitteln!) stellt. Denn der Qualitätswettbewerb – es wurde schon Wenn hier davon geredet wird, dass jetzt 100 Euro mit angesprochen – zwischen GKV und PKV um die beste Steigerungsfaktor 2,3 230 Euro seien, ist das schlichtweg Versorgung ist doch geradezu der Motor für Innovatio- falsch, meine Damen und Herren. nen, und das garantiert eben auch unser hohes Niveau in der Gesundheitsversorgung, meine Damen und Herren. (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Sie müssen sich einmal mit ganz normalen Menschen (Beifall der Abg. Pascal Kober [FDP] und Petra unterhalten!) Nicolaisen [CDU/CSU]) Das ist bei Ihnen die ideologische Brille, die Sie aufha- Von diesem Qualitätswettbewerb profitieren alle Versi- ben. Nehmen Sie sie einfach mal ab; dann würden Sie cherten, nämlich sowohl die gesetzlich Versicherten als auch den Unterschied erkennen und würden nicht immer auch die Privatversicherten. Ich kann Ihnen nur sagen: so ein dummes Zeug erzählen, was Ihnen einige hier im Die Zufriedenheit der gesetzlich und privat Versicherten Saal auch noch glauben. ist im Moment auf Rekordniveau; so hoch war die Zufrie- Meine Damen und Herren, nicht das Nebeneinander denheit noch nie. Und dann kommen Sie mit Ihrem An- der Gebührenordnungen ist das Problem, sondern das trag! Problem ist doch, dass die Leistungen, die über die Ich verstehe Ihr ewiges Gerede von der Zweiklassen- GKV abgerechnet werden, budgetiert sind. Also anstatt medizin nicht. Privatversicherte zwangsweise in ein hier die Abschaffung der PKV zu fordern, hätten Sie doch GKV-System zu verschieben, ist doch geradezu absurd. mal unserem Antrag auf Aufhebung der Budgetierung Fragen Sie doch einfach mal die Menschen. zustimmen sollen. Das hätte den Versicherten mehr geh- olfen als alles andere. (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Eben! Wir fragen die Menschen!) (Beifall bei der FDP) Einen kompletten Systemwechsel lehnen wir von der Als weiteres großes Argument führen Sie an, dass sich FDP ab. die Ärzte so gerne da niederlassen würden, wo viele Privatversicherte sind, und das Ursache des Ärzteman- (Beifall bei der FDP) gels auf dem Land sei. 23804 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Christine Aschenberg-Dugnus (A) (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Eine der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) Ursachen!) sowie bei Abgeordneten der SPD) Auch das ist falsch, meine Damen und Herren. Aus mei- Und wir müssen auch darauf achten, dass dieses Prinzip nem Wahlkreis zum Beispiel weiß ich, dass der Privat- nicht beschädigt wird. patientenumsatz bei mir im Kreis um ein Drittel höher ist Gucken wir uns die Zahlen an: Mehr als 73 Millionen als in der Stadt Lübeck. Das ist also auch wieder ein Menschen in Deutschland sind gesetzlich versichert; Argument, das völlig falsch ist, Sie aber benutzen, um gerade mal 9 Millionen sind privat versichert, davon die hier dafür plädieren, die PKV abzuschaffen. Hälfte wiederum Beamte, die eben mit Beihilfe plus einer (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Lübeck hat besonderen Form der privaten Versicherung abgesichert auch unterschiedliche Stadtteile! Das ist total sind. unseriös!) (Zuruf des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/ Ja, ich gebe Ihnen in einem Punkt recht: Der Wett- DIE GRÜNEN]) bewerb innerhalb der PKV muss gestärkt werden, also Niemand weltweit würde auf die Idee kommen, dass die Portabilität muss flexibler zu handhaben sein. Das man ausgerechnet diejenigen, die über hohe Einkommen gilt aber nur innerhalb der PKV. So einfach, wie Sie verfügen und die in der Regel aufgrund ihres sozialen sich das hier denken, geht es mit der Mitnahme der Status auch geringere Gesundheitsrisiken haben, außer- Altersrückstellungen nämlich nicht; denn wir müssen halb dieses solidarischen und so leistungsfähigen Sys- uns auch der rechtlichen Problematik von Altverträgen tems versichert. Ich glaube, dieser Tatsache muss man bewusst sein. sich stellen. Wir als FDP-Fraktion achten die rechtliche Problema- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, tik und die gesetzlich normierte Vertragstreue sowohl bei bei der SPD und der LINKEN) privaten als auch bei gesetzlichen Krankenversicherun- gen. Deswegen werden wir selbstverständlich Ihre Anträ- Und dieser Tatsache muss man sich auch deshalb stel- ge ablehnen. len, weil wir wissen, dass wir in mehrerlei Hinsicht unter Druck sind: Herzlichen Dank. Wir sind erstens unter Druck, weil wir nach dem Ende (Beifall bei der FDP) dieser Wahlperiode mit mindestens 16 Milliarden Euro Deckungslücke zwischen den Einnahmen und den Aus- Vizepräsidentin Petra Pau: gaben der gesetzlichen Krankenversicherung in die (B) Denken Sie bitte an den Mund-Nase-Schutz! nächste Wahlperiode starten werden. (D) (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Ent- Zweitens. Wir haben viele, viele Privatversicherte, die schuldigen Sie bitte! Tut mir leid!) eben nicht in der günstigen Situation als Beamte sind und mit den Bedingungen der privaten Krankenversicherung Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die keinesfalls gut fahren. Es ist nämlich ein Märchen, wenn Kollegin Maria Klein-Schmeink das Wort. man sagt, das sei eine bessere Absicherung, damit sei eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bessere Versorgung verbunden. Vielmehr haben wir im Gegenteil viele, viele Gruppen, die am Anfang so schlechte Tarife für sich gewählt haben – oft, ohne das Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu wissen –, dass wesentliche gesundheitliche Risiken NEN): nicht abgesichert sind. Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen hier im Hause! Liebe Zuhörerinnen und (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Zuhörer! Wir haben jetzt in der Krise, in der Coronapan- SES 90/DIE GRÜNEN) demie, erlebt, wie leistungsfähig unser Gesundheitssys- Wer weiß denn, dass zum Beispiel Rehamaßnahmen in tem ist. Dass es so leistungsfähig ist, hat im Kern mit der sehr, sehr vielen Tarifen nicht inkludiert sind? Wer weiß langen, langen Tradition der solidarischen gesetzlichen das? Und wer weiß als junger Mensch, wenn er eine Krankenversicherung zu tun. private Krankenversicherung wählt, dass er, wenn er viel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN leicht eine psychische Erkrankung bekommt und einen sowie bei Abgeordneten der SPD) längeren Rehaaufenthalt nötig hat oder vielleicht nach der Implantation einer künstlichen Hüfte einen langen Jeder, der was anderes hier als Bild erzeugen will, Rehaaufenthalt braucht, auf all diese Dinge in den aller- muss sich mit dieser Tatsache auseinandersetzen: Nir- meisten Tarifen der privaten Krankenversicherung kei- gendwo sonst weltweit habe ich einen so großen und so nen wirklichen, rechtlich verbrieften Anspruch hat? umfangreichen Anspruch auf gute Leistungen, auf quali- tätsgeprüfte und gesicherte Leistungen, und zwar unab- (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Aber das hängig davon, in welcher sozialen Lage ich bin, welches interessiert die FDP nicht!) Einkommen ich bekomme und ob ich behindert bin oder Das sind doch die Themen, denen wir uns stellen müs- andere große Bedarfe mitbringe. Unbesehen von der Per- sen, auch aufgrund unserer Fürsorgepflicht. Denn auch son ist zumindest idealiter der Anspruch da, gut versorgt für die 9 Millionen Privatversicherten sind diese Themen zu werden. Das ist ein hohes Gut, das wir schützen müs- natürlich von Bedeutung, und denen müssen wir uns sen. zuwenden. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23805

Maria Klein-Schmeink (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) sowie bei Abgeordneten der SPD und der NEN): Abg. Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]) Damit stellen wir zusätzlich sicher, dass alle Zugang zu einer guten Versorgung haben. Wenn wir uns gleichzeitig anschauen, wie viel Neben- wirkung dieses Nebeneinander von privat und gesetzlich Danke schön. hat, dann können wir rational nicht begründen, wieso wir diese Wege gehen. Vielmehr brauchen wir Mechanismen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wie beispielsweise die Beitragsbemessungsgrenze, die Versicherungspflichtgrenze. All diese Mechanismen Vizepräsidentin Petra Pau: brauchen wir ja, um das Nebeneinander der verschiede- Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Abgeordnete nen Risikosortierungen, die sich da ergeben, überhaupt Petra Nicolaisen das Wort. irgendwie tragfähig zu machen. Auch das ist was Ana- chronistisches. Das würden wir uns freiwillig neu nie (Beifall bei der CDU/CSU) wählen. Das muss man doch ganz klar sehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Petra Nicolaisen (CDU/CSU): sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt sind wir doch alle in der Verpflichtung, zu „Beamtinnen und Beamten den Weg in die gesetzliche schauen: Wie bekommen wir ein zukunftsfähiges, trag- Krankenversicherung erleichtern“ ist der Titel eines der fähiges und solidarisches System erhalten und auf die vorliegenden Anträge der Linken. Ich sage ganz deutlich: neuen Anforderungen eingestellt, die sich uns stellen? Das Thema ist mir nicht unbekannt. Die Forderung, das Wir haben das Problem der demografischen Entwick- gegenwärtige Beihilfesystem dahin gehend zu ändern, lung. Wir werden erleben, dass sich in den nächsten wahlweise einen Arbeitgeberzuschuss zur gesetzlichen zehn Jahren die Anzahl der Hochbetagten verdoppelt. Krankenversicherung für Beamtinnen und Beamte einzu- Die Folgekosten daraus werden wir zu stemmen haben; führen, war sowohl Gegenstand einer meiner letzten da brauchen wir Antworten. Debatten im Schleswig-Holsteinischen Landtag als auch im Jahre 2018 hier im Bundestag. Wir haben dazu ein Wir brauchen aber gleichzeitig auch die Antwort Jahr später ja auch eine Anhörung durchgeführt. darauf, wie wir mit dem Umstand umgehen, dass es ein Nebeneinander gibt zwischen Erwerbstätigen, Arbeitneh- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ungeachtet der Frage merinnen und Arbeitnehmern, die sich den Belastungen nach einem eventuellen Bedarf und einem möglichen (B) stellen, und großen Gruppen, die andere Einkommens- Interesse sprechen insbesondere verfassungsrechtliche (D) arten haben, aber nicht in die solidarische Finanzierung Bedenken sowie Kosten gegen die im Antrag vorgeschla- einzahlen müssen. Das sind doch Fragen, mit denen wir genen Änderungen des bewährten Beihilfesystems. Las- uns auseinandersetzen müssen. Da sind wir überhaupt sen Sie mich zunächst einige Punkte zu den Kosten nicht gut beraten, in alte ideologische Scharmützel zu sagen. verfallen. Die finanziellen Auswirkungen auf Bund, Länder und (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Kommunen lassen sich auf lange Zeit kaum vorhersagen. SES 90/DIE GRÜNEN) Die Mehrkosten für die Steuerzahler, die sich aus Vielmehr müssen wir schauen: Wie kriegen wir ein einem Arbeitgeberzuschuss ergeben würden, wären nicht gemeinsames System hin, mit dem wir solidarisch die mit den Kosten der bestehenden Beihilfe zu vergleichen. Risiken aus Gesundheit und Pflege absichern, mit dem Zudem werden beim bestehenden Beihilfesystem für wir dafür Sorge tragen, dass es dabei gerecht zugeht, und den Personenkreis neu einzustellender Beamtinnen und das wir bezahlbar halten? Das ist doch der Spagat, den Beamten in der Regel in den ersten Jahren kaum Kosten wir hinzukriegen haben, und das ist das, was wir auch verursacht. einer guten Versorgung schulden. Gerade weil wir wissen, dass wir uns zum Beispiel Auch mögliche Beitragssteigerungen für Beamtinnen lange ausgeruht haben und nicht dafür gesorgt haben, und Beamte in der privaten Krankenversicherung wurden dass bestimmte Beschäftigtengruppen im Gesundheits- nicht in den Blick genommen, ganz zu schweigen von wesen adäquat bezahlt werden, und weil wir sehen und den Mehrbelastungen für die gesetzlichen Krankenver- jetzt ja so deutlich und schmerzlich erleben, dass wir sicherungen und deren Beitragszahler, insbesondere jetzt, einen riesigen Fachkräftemangel haben, brauchen wir wo die gesetzlichen Krankenversicherungen pandemie- finanzielle Möglichkeiten. Die können wir darüber bedingt mit massiv steigenden Ausgaben und sinkenden heben, dass wir wirklich Sorge dafür tragen, dass alle in Einnahmen zu kämpfen haben. Daneben ergäbe sich für die solidarische Finanzierung einbezogen sind und damit das Solidarsystem der gesetzlichen Krankenversicherung auch die Kosten stemmen, die sich notwendigerweise zudem das Risiko, dass hauptsächlich Beamtinnen und ergeben. Beamte mit Vorerkrankungen in die gesetzliche Kranken- versicherung wechseln.

Vizepräsidentin Petra Pau: (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Kollegin Klein-Schmeink, achten Sie bitte auf die Zeit. GRÜNEN]: Das Problem gibt es nicht!) 23806 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Petra Nicolaisen (A) Und damit nicht genug: Im Rahmen des Dienst- und Uwe Witt (AfD): (C) Treueverhältnisses verpflichtet sich der Dienstherr, für Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und die Beamtinnen und Beamten zu sorgen. Diese Fürsorge- Kollegen! Verehrte Zuschauer an den TV-Geräten! Wer- pflicht macht einen Teil der Attraktivität des öffentlichen ter Minister Spahn! Auf Wunsch der Genossen und Dienstes aus. Genossinnen der Fraktion Die Linke beschäftigen wir uns einmal wieder mit dem dunkelroten Traum von der (Beifall bei der CDU/CSU) Rückkehr zum Staatssozialismus. Wer die Beitragsbe- messungsgrenze abschaffen und dadurch durch vermeint- Mit einer Änderung des bewährten Beihilfesystems liche Mehreinnahmen von bösen Reichen die Beiträge für könnte gerade diese Attraktivität des öffentlichen Diens- die guten Armen senken will, der hat das Solidarsystem tes gefährdet werden. Darüber hinaus erfordert die der Krankenkassen definitiv nicht verstanden. Schutz- und Fürsorgepflicht des Dienstherrn in gewissen Fällen ein Mehr an Leistungen. Das bedeutet, dass auch (Beifall bei der AfD – Matthias W. Birkwald für freiwillig gesetzlich versicherte Beamtinnen und [DIE LINKE]: Behalten Sie Ihre Ideologie für Beamte eine Restbeihilfe immer bestehen bleiben müss- sich!) te. Daraus ergäben sich zwei parallele Systeme mit zusätzlichen Kosten für den Dienstherrn. Denn warum wurde die Beitragsbemessungsgrenze überhaupt eingeführt? Eingeführt wurde sie einst vor Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Änderung des allem zum Schutz der gesetzlichen Krankenkassen. Das Beihilfesystems würde voraussichtlich für alle teurer, haben Sie in Ihrem Antrag auch richtig dargelegt. Nur aber nur für wenige Ausnahmefälle besser werden. Nicht leider haben Sie wieder mal die völlig falschen Schlüsse zuletzt bietet das bisherige System zwischen Besoldung, daraus gezogen; denn Sie glauben nun, dass es effektiver Versorgung und Beihilfe Gewähr für die Einhaltung der ist, die Besserverdienenden durch den Wegfall dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben. Die Beamtinnen und Bemessungsgrenze kräftiger zur Kasse bitten zu können. Beamten leisten wertvolle Arbeit für das Gemeinwohl und sind unverzichtbar. Durch sie wird eine leistungsfä- (Zuruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE hige sowie unabhängige Verwaltung gewährleistet. Daher LINKE]) bin ich der Auffassung, dass auch wir eine gewisse Ver- pflichtung gegenüber dem Beamtentum haben. Was Sie offensichtlich vergessen haben, ist, dass es sich bei den Krankenversicherungen und auch bei den (Beifall der Abg. Karin Maag [CDU/CSU]) Pflegeversicherungen um ein Leistungsprinzip auf soli- darischer Ebene handelt. Wer viel verdient, zahlt viel. (B) Ich bin mir sicher, dass wir mit unserem dualen Versiche- Wer wenig verdient, zahlt auch weniger. Dennoch sind (D) rungssystem und dem Dreiklang aus Besoldung, Versor- die Leistungen der Krankenkassen für alle gleich. Die gung und Beihilfe dieser Verpflichtung nach wie vor prozentualen Beiträge der Kranken- und Pflegeversiche- gerecht werden. Das bestehende System ist die Grund- rung sind ebenso für alle Einkommenshöhen gleich, im lage für eine gute Versorgung der Beamtinnen und Beam- Gegensatz zur progressiven Steuerlast. Zum Beispiel ein ten. Es gilt, das Gute zu bewahren. Hilfsarbeiter mit 2 000 Euro brutto zahlt 173 Euro Lohn- steuer. Das entspricht 8,65 Prozent seines Gehaltes. Der Der vorliegende Antrag ist – wenn wir ehrlich sind – Meister mit 6 000 Euro brutto zahlt 1 370 Euro. Das sind der Versuch, einen Grundstein in Richtung Bürgerversi- also 22,8 Prozent Lohnsteuer. Wenn Sie nun die Beitrags- cherung zu legen; das haben Sie gesagt. Das wird den bemessungsgrenze für die gesetzliche Krankenkasse Beamtinnen und Beamten und ihrer Tätigkeit im Staats- abschaffen wollen, so treiben Sie die Besserverdienen- dienst nicht gerecht. den, die noch Mitglieder in der gesetzlichen Krankenver- sicherung sind, zuhauf in die private Krankenversiche- (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Hä?) rung. Damit das nicht passiert, wollen Sie bereits, wie Und so bin ich nach wie vor der festen Überzeugung, dass mein Kollege Jörg Schneider erwähnte, diese auch gleich das bestehende System nicht nur die Einhaltung der ver- abschaffen. fassungsrechtlichen Vorgaben, sondern auch eine gute Sie konstruieren hier eine Kette von verunglückten Versorgung der Beamtinnen und Beamten gewährleistet. Anträgen, von denen der neueste die Fehler des vorheri- Aus diesen Gründen gilt nach wie vor – wie bereits im gen korrigieren soll. Diese unsinnige Arbeitsweise war Jahre 2018 – unverändert: Der vorliegende Antrag ist mir eigentlich nur durch das Ministerium von Minister abzulehnen. Heil bekannt. Diese Form des Sozialismus, die die Lin- ken wie eine Monstranz vor sich hertragen, spaltet die Herzlichen Dank. Gesellschaft schon seit Jahren.

(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der AfD – Lachen bei der LIN- KEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Mit diesen von Gier aufs Geld anderer Leute getriebenen Das Wort hat der Abgeordnete Uwe Witt für die AfD- Anträgen schlagen Sie den Spaltpilz noch tiefer ins Holz Fraktion. unserer Gesellschaft, als Sie es bisher schon getan haben.

(Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23807

Uwe Witt (A) Wir lehnen Ihr Konvolut zur Einführung der SED, der Oder aber wir kommen der PKV dadurch entgegen, dass (C) sozialistischen Einheitskrankenkasse Deutschlands, wir netterweise den Arbeitgeberanteil für die GKV über- generell ab. nehmen und dadurch eine echte Wahlfreiheit schaffen. Es wird Ihnen nicht entgangen sein: Glücklicherweise gibt Danke schön. es die zweite Lösung an manchen Orten in dieser Repu- (Beifall bei der AfD – Helin Evrim Sommer blik ja schon. In Hamburg hat es Olaf Scholz vorgemacht. [DIE LINKE]: Noch ein Witz! – Dr. Achim Immer mehr Bundesländer ziehen nach. Ja, das Hambur- Kessler [DIE LINKE]: Die Rede sollten Sie ger Modell ist ein Erfolg. in Köln halten! Das war wirklich: Tata, tata, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tataaa! – Gegenruf von der LINKEN: Nicht der LINKEN) den Karneval beleidigen! Das mache ich nicht mit!) Mittlerweile gehen mehr als die Hälfte der Beamten in die GKV.

Vizepräsidentin Petra Pau: (Karin Maag [CDU/CSU]: In die GKV nur Das Wort hat die Kollegin Martina Stamm-Fibich für 3 Prozent!) die SPD-Fraktion. Und jetzt zum angekündigten Lichtblick. Als diese Gerechtigkeitslücke in Brandenburg geschlossen wurde, (Beifall bei der SPD) hat selbst der innenpolitische Sprecher der CDU-Frak- tion, Björn Lakenmacher, zugegeben, dass die Stärkung Martina Stamm-Fibich (SPD): der Wahlfreiheit durch die Beihilfe zu mehr Gerechtigkeit Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und führt. Kollegen! Wer die gesundheitspolitische Linie der SPD (Beifall bei der SPD und der LINKEN) in den letzten Jahren verfolgt hat, dem sollte nicht ver- borgen geblieben sein, dass es zwischen unserer Linie Also: Lassen Sie sich hiervon inspirieren, und lassen Sie und den heutigen Oppositionsanträgen inhaltliche Über- uns eine echte Wahlfreiheit im Wettbewerb schaffen! einstimmungen gibt. Leider kann man das über unseren Zum Schluss noch ein paar Worte zum System im All- Koalitionspartner nicht sagen. Wie Sie gleich hören wer- gemeinen. Es vergeht kein Monat, in dem wir in diesem den, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Es gibt Haus nicht über irgendwelche Probleme diskutieren, die Lichtblicke. Wir geben die Hoffnung jedenfalls nicht auf. durch das duale Krankenversicherungssystem getriggert Nun aber zum Inhaltlichen. In meinem Wahlkreis habe werden. (B) ich einen jungen Mann, der Beamter im gehobenen Durch meine Arbeit im Petitionsausschuss sehe ich (D) Dienst in Bayern ist und – wie dort üblich – privat ver- obendrein auch die ganzen Einzelfälle, die in diesem sichert ist. Das Problem: Aufgrund einer Vorerkrankung System durch den Spalt zwischen GKV und PKV fallen. zahlt er direkt mal 30 Prozent mehr Krankenversiche- Nein, es geht hier nicht um eine Neiddebatte. Es geht rungsbeiträge als seine Kolleginnen und Kollegen im auch nicht darum, das System infrage zu stellen. Aber gleichen Alter, obwohl die Krankheit laut Attest vom es geht darum, dass sich immer mehr PKV-Versicherte Arzt kein Thema mehr ist. Um überhaupt versichert zu die Beiträge nicht mehr leisten können. An die Auswir- werden, musste der junge Mann einen dreimonatigen kungen der Pandemie habe ich hier noch gar nicht Papierkrieg mit dem Krankenversicherer führen. Zwi- gedacht. schendurch sagte er mir: Ich weiß nicht, ob die mich Es geht darum, dass eine große Anzahl von Menschen überhaupt nehmen. – Die Alternative wäre gewesen, überhaupt keinen oder nur einen sehr geringen Versiche- sich freiwillig gesetzlich zu versichern und den Arbeitge- rungsstatus aufweist und Gesundheitsleistungen immer beranteil selbst zu tragen. häufiger – darüber diskutieren wir wenig – von Kommu- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist nen, von Wohlfahrtsverbänden und von vielen, vielen das Problem!) Freiwilligen erbracht und finanziert werden. Wir haben keine Lust mehr darauf, ständig diese Ausnahmen und Das, meine Damen und Herren, ist für einen Beamten in Regelungsflicken zu verabschieden, die doch am Ende der Besoldungsgruppe A 9 keine Option. Dies ist finan- nur die Symptome dieses ökonomisch unsinnigen Sys- ziell in keiner Weise sinnvoll und auch nicht machbar. tems abschwächen. Deshalb muss das Problem an der Wurzel gepackt werden. Wir brauchen eine Krankversi- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem cherung für alle. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Und so etwas darf auch nicht passieren; denn das ist nicht solidarisch, und das ist auch nicht gerecht. Es gibt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zwei Möglichkeiten, wie wir das in Zukunft lösen und DIE GRÜNEN) über die wir diskutieren können. Die eine ist: Die PKV nimmt jeden Beamten, unabhängig von seinen Vorerkran- Vizepräsidentin Petra Pau: kungen, zu den gleichen Konditionen auf. Die Gesichter Für die FDP-Fraktion hat nun Dr. Wieland bei der PKV würde ich jetzt gern sehen. Schinnenburg das Wort. (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Ja!) (Beifall bei der FDP) 23808 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

(A) Dr. Wieland Schinnenburg (FDP): (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Uns lie- GRÜNEN]: Weil die nicht älter werden, oder gen vier Anträge der Linken vor. Mit diesen Anträgen was?) wollen Sie die PKV zunächst schwächen und dann abschaffen. Ich sage Ihnen: Die Freien Demokraten Einen Vorteil der GKV gibt es aber, und zwar besteht kämpfen für den Erhalt und für die Stärkung der privaten grundsätzlich Kontrahierungszwang. Grundsätzlich kön- Krankenversicherung. nen sich Patienten unabhängig von ihrem Alter und ihrem Gesundheitszustand versichern lassen. Das ist ein Punkt, (Beifall bei der FDP) den die PKV auch einmal übernehmen sollte. Warum tun wir das? Zunächst einmal tun wir es, weil Ich fasse zusammen, meine Damen und Herren. Wir wir Wettbewerb wollen, wie wir es immer wollen. Wir sind für Wettbewerb. Wir wollen, dass Menschen selber wollen, dass die Menschen auswählen können, wo und bestimmen können. Was wir nicht wollen, ist eine Ent- wie sie sich versichern. Jeder Mensch weiß doch selber eignung von Menschen in zigfacher Milliardenhöhe. Was am besten, welche Versicherung zu ihm passt. wir nicht wollen, ist die Vergesellschaftung von Alters- (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Dann stim- rückstellungen. Schämen Sie sich dafür, meine Damen men Sie unserem Antrag zu!) und Herren! Die FDP wird weiter für eine freie, solida- rische und gegliederte Krankenversicherung sorgen. Das wollen Sie abschaffen. Wir wollen das beibehalten, meine Damen und Herren. Vielen Dank, meine Damen und Herren. Zweiter Punkt. Die private Krankenversicherung hat (Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD und eine ganze Reihe von ganz erheblichen Vorteilen. Am der LINKEN: Maske aufsetzen! – Dagmar wichtigsten ist zunächst die Therapiefreiheit. Wie kann Ziegler [SPD]: Jetzt am Platz setzt er sie auf!) es denn sein, dass in der GKV irgendwelche Gremien entscheiden, woraus die Behandlung besteht? Wir wol- Vizepräsidentin Petra Pau: len, dass Arzt und Patient für sich entscheiden, wie die Das Wort hat der Kollege Dietrich Monstadt für die Behandlung abläuft. Die einzige Begrenzung ist bei der CDU/CSU-Fraktion. PKV der Begriff der medizinischen Notwendigkeit. Zum Glück ist es so, dass der Bundesgerichtshof diesen (Beifall bei der CDU/CSU) Begriff sehr weit auslegt. Mir persönlich ist es vor Gericht regelmäßig eine große Freude, der PKV deutlich zu machen, wie weit dieser Begriff auszulegen ist. Dietrich Monstadt (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Bun- (B) Dritter Punkt: Budgetierung. Wie kann es sein, dass desminister Spahn! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D) Gremien festlegen, wie viel Geld für die Behandlung Meine Damen und Herren! Unser duales Krankenver- kranker Menschen zur Verfügung steht? Das ist in der sicherungssystem haben wir in diesem Hause immer wie- GKV so. Man kann ja vieles budgetieren, aber doch nicht der diskutiert. Gefühlt haben wir dieses Thema ähnlich die Behandlung kranker Menschen, meine Damen und intensiv wie das aktuelle Thema der Coronapandemie Herren. Das geht gar nicht. diskutiert, ohne dass es dadurch besser würde. (Beifall bei der FDP – Zuruf des Abg. (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Aber Sie Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]) haben nichts dazugelernt!) Vierter Punkt: Niederlassungsfreiheit. Wie kann es – Das kann ich an Sie zurückgeben, Herr Kessler. sein, dass in irgendwelchen Gremien festgelegt wird, wo Ärzte ihre Praxis aufmachen dürfen? Ein Arzt soll Ein Antrag fordert, wie wir jetzt gelernt haben, als doch selber entscheiden, wo nach seiner Einschätzung Zwischenschritt – so haben Sie uns das erklärt –, die die Menschen sind, die seine speziellen Qualifikationen Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Kranken- nachfragen. Auch das ist ein Grundfehler der GKV. und Pflegeversicherung abzuschaffen, allerdings ohne die in jedem Fall hilfreich sein könnenden neuen Argu- (Zurufe von der SPD) mente. Frau Maag hat darauf nachdrücklich hingewiesen. Fünfter Punkt: Transparenz. Jeder Privatversicherte kann genau nachlesen, welche Leistungen bei ihm Ihr Antrag ist vielmehr zum wiederholten Male auf- erbracht wurden und was dafür berechnet wurde. Auch grund verfassungsrechtlicher Bedenken abzulehnen. das gibt es bei der GKV nicht. (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Nein! Sie (Sabine Dittmar [SPD]: Seit Jahren besteht geben immer nur das Gleiche wieder! Total Anspruch darauf!) langweilig! Denken Sie mal neu!) Sechster Punkt. Die PKV ist demografiefest. Wir – Hören Sie doch mal zu! Das wäre hilfreich. Vielleicht haben schon festgestellt, dass hier 270 Milliarden Euro lernen Sie noch etwas. Altersrückstellungen gebildet wurden. So etwas gibt es (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Nein, von bei der GKV auch nicht. Und Sie werden feststellen: In Ihnen nicht!) wenigen Jahren werden die Beiträge der GKV kräftig steigen, weil viele Angehörige der geburtenstarken Jahr- Bei der Beitragsbemessung in unserem solidarisch aus- gänge in Rente gehen und dann weniger Beitrag zahlen gerichteten System darf die Solidarität in der Versiche- können. Auch dieses Problem gibt es bei der PKV nicht. rungsgemeinschaft nicht überdehnt werden. Um dem Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23809

Dietrich Monstadt (A) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu entsprechen, muss len. Grundsätzlich profitieren die gesetzlichen und die (C) in solchen Systemen das Äquivalenzprinzip der Versiche- privaten Krankenkassen – es ist wiederholt angesprochen rung bleiben. worden – im Wettbewerb voneinander. (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Das hat In der ambulanten Versorgung gilt der Erlaubnisvor- doch Frau Vogler gerade widerlegt! Sagen Sie behalt für die GKV. Das bedeutet, dass neue, innovative doch nicht immer das Gleiche!) Leistungen vom Gemeinsamen Bundesausschuss erst ausdrücklich zugelassen werden müssen, ehe sie in die Das heißt – jetzt passen Sie auf! –, dass Leistungen, für Regelversorgung gelangen. Dass diese Prozesse manch- die Beiträge entrichtet werden, auch dem Interesse der mal Jahre dauern, habe ich beispielsweise für Medizin- Versicherten entsprechen müssen. Anderenfalls kommen produkte an dieser Stelle immer wieder kritisch ange- die Beiträge einer Steuer gleich. Das wollen wir nicht. merkt. In der PKV gilt der Erlaubnisvorbehalt nicht. (Beifall bei der CDU/CSU) Die gesetzlichen Krankenkassen sind dadurch gezwun- gen, sich ebenfalls mit innovativen Behandlungsmetho- In einem zweiten Antrag fordern Sie, die private Kran- den auseinanderzusetzen und diese gegebenenfalls kenversicherung ab einem bestimmten Stichtag auf medi- schneller in ihren Leistungskatalog aufzunehmen. Diese zinisch nicht notwendige Zusatzversicherungen zu Innovationsmotorik, die durch den Wettbewerb der bei- begrenzen. Alle privat Krankenversicherten sollen per den Krankenkassensysteme hervorgerufen wird, gerade Gesetz zu gesetzlich Versicherten werden. Diese fakti- auch bei Sprunginnovationen, käme zum Erliegen. Die- sche Abschaffung der PKV begegnet ebenfalls grund- sen Wettbewerb in unserem System wollen wir deshalb sätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Dies würde genau so erhalten. einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Berufsfrei- heit der Versicherer darstellen. Warum wollen Sie unser (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zuverlässiges System gefährden? Das deutsche Gesund- heitssystem hat im internationalen Vergleich eine hohe Meine Damen und Herren, auch das vorgeschobene Versorgungsdichte und ermöglicht allen Patientinnen Argument, dass GKV-Versicherte erschwert Arzttermine und Patienten einen einfachen Zugang zu medizinischen bekommen, ist durch die Regelung im TSVG vom Tisch. Leistungen. Bei Einführung einer Bürgerversicherung sehe ich, sehen wir als Union eher eine Verschlechterung (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Was?) der Situation. Wir befürchten, dass ohne die Dualität der Das duale Versicherungssystem hat sich in seiner Form Systeme die Gefahr besteht, dass der Leistungskatalog bewährt. Von daher lehnen wir Ihre Anträge unisono ab. nicht mehr dem medizinischen Fortschritt angepasst (B) und mittelfristig auf eine minimale Grundversorgung Herzlichen Dank. (D) reduziert wird. Meine Damen und Herren, nicht mit uns! (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, auch die Zahlen sprechen Vizepräsidentin Petra Pau: für sich. Laut einer Studie des Wissenschaftlichen Insti- Das Wort hat der Abgeordnete Dirk Heidenblut für die tuts der Privaten Krankenversicherung stehen durch die SPD-Fraktion. PKV 12,89 Milliarden Euro mehr für das deutsche Gesundheitswesen zur Verfügung. (Beifall bei der SPD) Die Zusammenlegung der zwei Versicherungssysteme zu einer Einheitsversicherung bedeutet auch nicht, dass Dirk Heidenblut (SPD): eine Zweiklassenmedizin abgeschafft wird bzw. nicht Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und entstehen kann; vielmehr fördert sie soziale Ungerechtig- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss quasi keit. Es wird zu einem Anstieg der privaten Zusatzleis- direkt, lieber Kollege Monstadt, auf Ihren Beitrag ein- tungen kommen. Das kann und will sich nicht jeder leis- gehen, weil Sie sich ausdrücklich für Vielfalt und Wahl- ten. Meine Damen und Herren von den Linken – ich freiheit ausgesprochen haben. Da drängt sich sofort die schaue auch in die Reihen der SPD und der Grünen –, Frage auf: Warum dann nicht auch für die Beamtinnen dann hätten wir gerade die Zweiklassenmedizin, die Sie und Beamten? Denn diese haben zum jetzigen Zeitpunkt nicht wollen. Vielfalt und Wahlfreiheit nicht. Kommen wir zu einem weiteren Antrag: „Lebenslan- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen Bindungszwang an private Krankenversicherungen der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE abschaffen“. Hier ignorieren Sie schlicht den Artikel 14 GRÜNEN) des Grundgesetzes in seinem komplexen Regelungsrah- men. Auch haben wir schon im Jahr 2009 im GKV-Wett- Das ist etwas, was uns allerdings ganz massiv stört. bewerbsstärkungsgesetz die Umsetzung des Transfers für die jeweiligen Altersrückstellungen in der PKV im Um dann auch die Fürsorgepflicht direkt aufzugreifen: Umfang des Basistarifs ermöglicht. Ja, natürlich hat der Staat eine Fürsorgepflicht für seine Beamtinnen und Beamte. Es gibt aber sogar schon Aus- Meine Damen und Herren, wir stehen für ein freiheitli- führungen der Gerichte, dass diese keineswegs vernach- ches Versicherungssystem. Wir wollen Vielfalt und lässigt wird, wenn Beamtinnen und Beamte in das gesetz- Wahlmöglichkeiten im Sinne der Versicherten sicherstel- liche Versicherungssystem einbezogen werden. 23810 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Dirk Heidenblut (A) Die Fürsorgepflicht gilt übrigens für alle Beamtinnen würde der letzte Antrag überhaupt keinen Sinn mehr (C) und Beamte. Meine Kollegin hat nur eines von vielen machen, weil dann mit dem ersten Antrag die Jahresar- Beispielen, die wir auf den Tisch bekommen, angespro- beitsentgeltgrenze bereits aufgehoben wäre. Also chen, das deutlich macht, wann die Fürsorgepflicht nicht scheinen Sie dem Verfahren selbst nicht richtig zu trauen. erfüllt wird. Ich sage noch mal deutlich für die SPD: Wir sind für Was das Geld angeht, um das auch mal deutlich zu einen sinnvollen Weg Richtung Bürgerversicherung. Ich machen: Abgesehen davon, dass es nicht wirklich klar finde es übrigens gut, darüber immer wieder zu diskutie- ist, ob und in welchem Umfang Mehrkosten verursacht ren. Steter Tropfen höhlt den Stein: Ich hoffe, an der würden, hat der Staat, der öffentliche Dienst – den Mitar- einen oder anderen Stelle dann auch den Widerstand beiterinnen und Mitarbeitern möchte ich herzlich dan- beim Koalitionspartner. – Vielleicht denken Sie über die ken – ja nicht nur Beamtinnen und Beamte. Er hat auch Beamten und die Beamtinnen noch mal nach. Angestellte, und zwar ganz viele Angestellte. Warum gilt Wir können vielleicht irgendwann einen Weg gehen. da nicht auch die Fürsorgepflicht? Wenn es wirklich gilt, Aber es muss ein vernünftiger, ein abgestimmter Weg dass die Kosten an dieser Stelle sinken, würde sich das sein, der für alle gangbar ist und der alle mitnimmt und womöglich für den öffentlichen Dienst sogar völlig aus- bei dem wir die verschiedenen Probleme bedenken. gleichen. Insofern, selbst wenn es zu einer Steigerung Da meine Zeit zu Ende geht: käme, heißt das nicht, dass dies unbedingt deutlich teurer würde. Aber das vielleicht nur kurz zu Beginn. ( [CDU/CSU]: Die Redezeit!) Ich bedanke mich fürs Zuhören, freue mich auf die wei- Ich will jetzt auf die Anträge eingehen. Liebe Kollegin- tere Diskussion, die wir mit dem letzten Antrag noch nen von der Linken! Jetzt habe ich sozusagen andersrum haben werden. Und: Bleiben Sie alle gesund! nicht gegendert. Natürlich: Liebe Kolleginnen und Kol- legen von der Linken, Sie haben vier Anträge vorgelegt. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Georg Das, was Sie da machen, ist ein bisschen widersprüch- Kippels [CDU/CSU] und Kordula Schulz- lich; das muss ich schon sehr deutlich sagen. Das Pro- Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) blem ist: Die vier Anträge in Richtung Bürgerversiche- rung heben sich in dem einen oder anderen Punkt wieder Vizepräsidentin Petra Pau: auf. Das ist auch nicht wirklich ein erfolgversprechender Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Weg, um zur Bürgerversicherung zu kommen. Stephan Pilsinger das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU) (B) der Abg. Sabine Dittmar [SPD]) (D) Stephan Pilsinger (CDU/CSU): Die Kollegin Maag hat ja den Punkt mit der Alters- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst rückstellung schon angesprochen. Ich will ausdrücklich geht mein Dank an die Kolleginnen und Kollegen der sagen: Nähme man den Antrag zur Altersrückstellung Fraktion Die Linke. Aus meiner Sicht gibt es keinen ganz alleine, also ohne all die anderen Punkte, die Sie besseren Zeitpunkt, um über das Thema Einheitsversi- dazugesetzt haben, dann wäre dieser Antrag möglicher- cherung hier im Plenum zu diskutieren. weise sogar höchst unsolidarisch. Er würde nämlich dazu Der Grund ist ganz einfach: Die vergangenen Pande- führen, dass dann, wenn bestimmte Punkte aufgehoben miemonate haben eindrucksvoll gezeigt, dass unser werden, erstens ein Hopping zwischen privater und Gesundheitssystem zu den besten der Welt gehört und gesetzlicher Kasse zustande käme und dass zweitens dass das Nebeneinander von gesetzlicher und privater den gesetzlich Versicherten aufgebürdet würde, im Zwei- Krankenversicherung, meine Damen und Herren, ein ele- fel all das zu bezahlen, was die Menschen, die vorher mentarer Bestandteil dieses leistungsfähigen Systems ist. lange in der privaten Krankenversicherung waren, nicht mehr bezahlen können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Tino Sorge [CDU/CSU]: Wah- (Beifall des Abg. Stephan Pilsinger [CDU/ re Worte!) CSU]) Wenn ich aber dann in Ihrem Antrag lese, die private Krankenversicherung müsse abgeschafft werden, um die Das halte ich und halten wir nun überhaupt nicht für den Zweiklassenmedizin zu überwinden, dann kann ich Ihnen richtig gangbaren Weg. nur sagen: Sie ignorieren damit völlig den Versorgungs- Bei dem Antrag, den wir jetzt überweisen werden, also alltag in unserem Land. Ich spreche hier nicht nur von der Ihrem letzten Antrag, hat man ein bisschen den Eindruck, hervorragenden Akut- und Regelversorgung in unseren dass Sie Ihrem ersten Antrag nicht viel Erfolgsaussichten Arztpraxen und Kliniken oder unserem dichten Netz an zubilligen; denn de facto greift der letzte Antrag einen spezialisierten Laboren. Vielmehr zeigt sich gerade jetzt Punkt noch mal auf: Würde heute der erste Antrag be- in der Krise, dass unser Gesundheitssystem in fast allen schlossen – ich nehme an, dafür treten Sie immer noch Bereichen deutlich besser strukturiert und organisiert ist ein –, als die meisten anderen Systeme auf dieser Welt. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. (Zustimmung der Abg. Helin Evrim Sommer Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE [DIE LINKE]) GRÜNEN]) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23811

Stephan Pilsinger (A) Wenn die bisher sehr erfolgreiche Bewältigung dieser Die Einführung einer Einheitsversicherung, meine (C) anhaltenden Gesundheitskrise nicht der Beweis dafür ist, Damen und Herren, ist weder sozial noch ökonomisch dass das duale System ein Erfolgsmodell ist, sehr geehrte begründbar und bringt keinerlei Vorteile für die medizi- Kolleginnen und Kollegen der Linken: Welche Belege nische Versorgung. brauchen Sie denn dann? (Beifall bei der CDU/CSU) Aber verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Kein Sys- tem ist perfekt oder ohne Fehler. Wir haben gezeigt, dass Vielmehr wäre das, was Sie hier vorschlagen, eine wir die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger sehr ernst Abkehr von den Grundsätzen der sozialen Marktwirt- nehmen. Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz schaft, die unser Land und vor allem unser Gesundheits- haben wir bereits im vergangenen Jahr dafür gesorgt, dass system in den vergangenen Jahrzehnten so stark gemacht gesetzlich Versicherte schnell einen Arzttermin bekom- haben. Und das werden wir nicht zulassen. men. Dazu gehört auch, dass die Terminservicestellen als Vielen Dank. zentrale Anlaufstellen für Patientinnen und Patienten aus- gebaut wurden und somit 24 Stunden an sieben Tagen der (Beifall bei der CDU/CSU) Woche erreichbar sind. Parallel dazu wurde das Mindest- sprechstundenangebot der Vertragsärzte erhöht, und es wurden Anreize für Zusatzangebote wie zum Beispiel Vizepräsidentin Petra Pau: die Vermittlung eines Facharzttermins durch den Haus- Ich schließe die Aussprache. arzt geschaffen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/23934 an den Ausschuss für Gesundheit Aber das sind nicht die einzigen Maßnahmen, mit de- vorgeschlagen. Gibt es weitere Überweisungsvorschlä- nen wir die ärztliche Versorgung für die Versicherten ver- ge? – Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir wie vor- bessert haben. So erhalten Ärzte, die in wirtschaftlich geschlagen. schwachen und unterversorgten ländlichen Räumen prak- tizieren, künftig regionale Zuschläge. Darüber hinaus Tagesordnungspunkt 11 b. Wir kommen zur Be- wird auch der Strukturfonds der Kassenärztlichen Ver- schlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Hei- einigung ausgebaut und der finanzielle Spielraum des mat zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel Fonds entscheidend verbessert. In Gebieten mit zu wenig „Beamtinnen und Beamten den Weg in die gesetzliche Ärzten können die Länder zudem unter bestimmten Krankenversicherung erleichtern“. Der Ausschuss emp- Voraussetzungen Zulassungssperren aufheben. Das alles fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache sind sinnvolle und zielführende Maßnahmen, die eine (B) 19/22241, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Druck- (D) spürbare Verbesserung im Versorgungsalltag der Patien- sache 19/1827 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- tinnen und Patienten ausmachen. schlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen, die FDP-Fraktion und die AfD-Fraktion. Wer stimmt Leider kann man das von Ihren Vorschlägen zur Ab- dagegen? – Die Fraktion Die Linke und die Fraktion schaffung der privaten Krankenversicherung und zur Ein- Bündnis 90/Die Grünen. Wer enthält sich? – Niemand. führung einer Einheitsversicherung nicht sagen. Ich frage Die Beschlussempfehlung ist angenommen. mich, welches Ziel Sie mit Ihren Vorschlägen eigentlich verfolgen; denn wissenschaftlich haltbare Nachweise Tagesordnungspunkt 11 c. Beratung der Beschluss- dafür, dass die Einführung einer Einheitsversicherung empfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Druck- zu Verbesserungen in der Gesundheitsversorgung führt, sache 19/24026. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch- können Sie nicht vorlegen. Das ist auch kein Wunder; stabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des denn diese Nachweise gibt es auch gar nicht. Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/9229 mit dem Titel „Ein System für alle – Privatversicherte in gesetzliche Krankenversicherung überführen“. Wer (Beifall bei der CDU/CSU) stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt Im Gegenteil: Schauen Sie nur nach England. Eine Über- dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung lastung der Kliniken und Arztpraxen tritt dort regelmäßig ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Zustim- schon während der saisonalen Grippewelle auf. – Ganz zu mung aller anderen Fraktionen angenommen. schweigen davon, dass die Abschaffung des dualen Sys- Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- tems zu Verwerfungen in der Versicherungslandschaft fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak- führen und die Beiträge in der gesetzlichen Krankenver- tion Die Linke auf Drucksache 19/14371 mit dem Titel sicherung in die Höhe treiben würde. „Lebenslangen Bindungszwang an private Krankenver- sicherungen abschaffen“. Wer stimmt für diese Be- Auch Ihr Vorschlag, die Beitragsbemessungsgrenze schlussempfehlung? – Die Koalitionsfraktionen und die gleich mit abzuschaffen, würde wie eine indirekte Steuer- FDP-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Die Fraktionen erhöhung wirken und damit dem deutschen Mittelstand in Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Wer enthält dieser Krisensituation enormen Schaden zufügen. Stei- sich? – Die AfD-Fraktion. Die Beschlussempfehlung ist gende Gesundheitskosten wären schlussendlich nicht angenommen. nur zum Nachteil aller Bürgerinnen und Bürger, sondern würden auch dem Wirtschaftsstandort Deutschland nach- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 h und haltigen Schaden zufügen. 33 b sowie den Zusatzpunkt 3 auf: 23812 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Vizepräsidentin Petra Pau (A) 36 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung Liebe ist kein Tourismus – Für eine faire (C) eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Ges- und europaweite Regelung für binationale etzes zur Änderung des Weingesetzes Paare Drucksache 19/23749 Drucksache 19/23928

Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Roman Johannes Reusch, Dr. Bernd g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Baumann, Stephan Brandner, weiteren Ab- Roman Müller-Böhm, Dr. Jens geordneten und der Fraktion der AfD einge- Brandenburg (Rhein-Neckar), Konstantin brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Kuhle, weiterer Abgeordneter und der Frak- Änderung des Asylgesetzes tion der FDP Drucksache 19/23948 Wahlrecht ab 16 Überweisungsvorschlag: Drucksache 19/23926 Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Inneres und Heimat (f) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Dr. Rainer Kraft, Karsten Hilse, Marc Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Bernhard, weiterer Abgeordneter und der h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fraktion der AfD Doris Achelwilm, Dr. Petra Sitte, , weiterer Abgeordneter und der Fukushima und Tschernobyl sachlich be- Fraktion DIE LINKE trachten – Der Atomausstieg war ein Feh- ler und muss rückgängig gemacht werden Den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu- kunftsgerecht entwickeln – Qualität, Drucksache 19/23955 Regionalität und Solidarität ausbauen Überweisungsvorschlag: statt abbauen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 19/23937 (B) Überweisungsvorschlag: (D) d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Kultur und Medien (f) Markus Frohnmaier, Marc Bernhard, Petr Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Bystron, weiterer Abgeordneter und der Ausschuss Digitale Agenda Fraktion der AfD ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Roman Verpflichtende Veröffentlichung und Müller-Böhm, Stephan Thomae, Grigorios Zuleitung der Ergebnisberichte der Exter- Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Frak- nen Qualitätskontrolle der Deutschen Ge- tion der FDP sellschaft für Internationale Zusammen- arbeit an den Deutschen Bundestag Mediation stärken Drucksache 19/23954 Drucksache 19/23936

Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) lung Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss Digitale Agenda e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen Haushaltsausschuss Lorenz Gösta Beutin, Ralph Lenkert, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter 33 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE Martin Hess, Dr. Bernd Baumann, Dr. Gottfried Curio, weiterer Abgeordneter Ökostromausbau zukunftsfähig gestalten und der Fraktion der AfD Drucksache 19/23933 Rechtsgrundlagen für einen Präventivge- Überweisungsvorschlag: wahrsam auf Bundesebene für Gefährder Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) zeitnah schaffen Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Drucksache 19/23951 Haushaltsausschuss Überweisungsvorschlag: f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Konstantin Kuhle, Gyde Jensen, Stephan Thomae, weiterer Abgeordneter und der Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Fraktion der FDP Verfahren ohne Debatte. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23813

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung (C) die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu gegen die Stimmen der AfD-Fraktion bei Zustimmung überweisen. Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – der übrigen Fraktionen angenommen. Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschla- Dritte Beratung gen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 s auf. Es Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- denen keine Aussprache vorgesehen ist. entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, Tagesordnungspunkt 37 a: der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der AfD- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Fraktion angenommen. von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom Tagesordnungspunkt 37 c: 9. Dezember 2019 zur Änderung des Ab- Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- kommens vom 28. Juni 2004 zwischen der regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Bundesrepublik Deutschland und der Repu- über die Umwandlung des Informationstech- blik Singapur zur Vermeidung der Doppelbe- nikzentrums Bund in eine nichtrechtsfähige steuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Anstalt des öffentlichen Rechts und zur Ände- Einkommen und vom Vermögen rung weiterer Vorschriften Drucksache 19/22751 Drucksache 19/22784 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalt- ausschusses (7. Ausschuss) sausschusses (8. Ausschuss) Drucksache 19/23801 Drucksache 19/24036 Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 19/23801, den Gesetzent- empfehlung auf Drucksache 19/24036, den Gesetzent- wurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/22751 wurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/22784 anzunehmen. anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Zweite Beratung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem (B) damit in zweiter Beratung bei Enthaltung der FDP-Frak- (D) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – tion mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- angenommen. entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der FDP-Fraktion Dritte Beratung und der AfD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Linke angenommen. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Tagesordnungspunkt 37 b: Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- der AfD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Frak- desregierung eingebrachten Entwurfs eines tion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP- Gesetzes zur Anpassung der Kostenvor- Fraktion angenommen. schriften im Bereich der Entsorgung radioaktiver Abfälle sowie zur Änderung Tagesordnungspunkt 37 d: weiterer Vorschriften Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Drucksache 19/22779 regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Datenübermittlung für Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Zwecke der Ernährungsvorsorge schusses für Umwelt, Naturschutz und nuk- Drucksache 19/22860 leare Sicherheit (16. Ausschuss) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Drucksache 19/23888 ses für Ernährung und Landwirtschaft (10. Aus- – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- schuss) schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 19/23754 Drucksache 19/23892 Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache Sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf 19/23754, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/23888, den Gesetzentwurf der Bundesre- Drucksache 19/22860 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, gierung auf Drucksache 19/22779 in der Ausschussfas- die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand- sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstim- das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält mig angenommen. 23814 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Dritte Beratung Es handelt sich um 101 Petitionen. Wer stimmt dafür? – (C) Die Koalitionsfraktionen, die AfD-Fraktion, die FDP- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Fraktion und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Fraktion Die Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Linke. Die Sammelübersicht 657 ist damit angenommen. entwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 37 h: Tagesordnungspunkt 37 e: Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes tionsausschusses (2. Ausschuss) über die Feststellung des Wirtschaftsplans des Sammelübersicht 658 zu Petitionen ERP-Sondervermögens für das Jahr 2021 (ERP-Wirtschaftsplangesetz 2021) Drucksache 19/23778 Drucksache 19/22861 Hier geht es um 55 Petitionen. Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen, die AfD-Fraktion, die FDP-Frak- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- tion und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer ses für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Fraktion Drucksache 19/24035 Die Linke. Die Sammelübersicht 658 ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Zustimmung aller anderen Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt in Fraktionen angenommen. seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/24035, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache Tagesordnungspunkt 37 i: 19/22861 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – tionsausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- entwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig ange- Sammelübersicht 659 zu Petitionen nommen. Drucksache 19/23779 Dritte Beratung Hier geht es um 20 Petitionen. Wer stimmt dafür? – Die und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Koalitionsfraktionen, die FDP-Fraktion und die Fraktion Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Die Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- AfD-Fraktion. Wer enthält sich? – Die Fraktion Die Lin- (B) entwurf ist einstimmig angenommen. ke. Die Sammelübersicht 659 ist angenommen. (D) Tagesordnungspunkt 37 f: Tagesordnungspunkt 37 j: Beratung der Beschlussempfehlung und des Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Berichts des Ausschusses für Verkehr und digita- tionsausschusses (2. Ausschuss) le Infrastruktur (15. Ausschuss) zu dem Antrag Sammelübersicht 660 zu Petitionen der Abgeordneten Oliver Luksic, Frank Sitta, Torsten Herbst, weiterer Abgeordneter und der Drucksache 19/23780 Fraktion der FDP Hier geht es um zwei Petitionen. Wer stimmt dafür? – Keine Diskriminierung von Motorradfahrern Alle Fraktionen. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Ent- hält sich jemand? – Das ist nicht der Fall. Die Sammel- Drucksachen 19/20778, 19/23981 übersicht 660 ist einstimmig angenommen. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- Tagesordnungspunkt 37 k: schlussempfehlung auf Drucksache 19/23981, den An- trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/20778 Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- tionsausschusses (2. Ausschuss) lung? – Die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Bünd- Sammelübersicht 661 zu Petitionen nis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Die FDP- Fraktion und die Fraktion Die Linke. Wer enthält sich? – Drucksache 19/23781 Die AfD-Fraktion. Die Beschlussempfehlung ist ange- Es handelt sich um eine Petition. Wer stimmt dafür? – nommen. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel- Tagesordnungspunkte 37 g bis 37 s. Wir kommen da- übersicht 661 ist gegen die Stimmen der Fraktion Die mit zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- Linke von den anderen Fraktionen des Hauses angenom- schusses. men. Tagesordnungspunkt 37 g: Tagesordnungspunkt 37 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- tionsausschusses (2. Ausschuss) tionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 657 zu Petitionen Sammelübersicht 662 zu Petitionen Drucksache 19/23777 Drucksache 19/23782 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23815

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Hier geht es um 25 Petitionen. Wer stimmt dafür? – Die Hier geht es um eine Petition. Wer stimmt dafür? – Die (C) Koalitionsfraktionen, die AfD-Fraktion und die FDP- Koalitionsfraktionen und die Fraktion Die Linke. Wer Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Die Fraktionen Die stimmt dagegen? – Die AfD-Fraktion, die FDP-Fraktion Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Wer enthält sich? – und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer enthält Niemand. Die Sammelübersicht 662 ist angenommen. sich? – Niemand. Die Sammelübersicht 667 ist angenom- Tagesordnungspunkt 37 m: men. Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Tagesordnungspunkt 37 r: tionsausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Sammelübersicht 663 zu Petitionen tionsausschusses (2. Ausschuss) Drucksache 19/23783 Sammelübersicht 668 zu Petitionen Hier geht es um 18 Petitionen. Wer stimmt dafür? – Die Drucksache 19/23788 Koalitionsfraktionen und die AfD-Fraktion. Wer stimmt Es handelt sich um drei Petitionen. Wer stimmt dafür? – dagegen? – Die FDP-Fraktion, die Fraktion Die Linke Die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Bündnis 90/ und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer enthält Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Die AfD-Fraktion, sich? – Niemand. Die Sammelübersicht 663 ist angenom- die FDP-Fraktion und die Fraktion Die Linke. Wer ent- men. hält sich? – Niemand. Die Sammelübersicht 668 ist ange- Tagesordnungspunkt 37 n: nommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Tagesordnungspunkt 37 s: tionsausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Sammelübersicht 664 zu Petitionen tionsausschusses (2. Ausschuss) Drucksache 19/23784 Sammelübersicht 669 zu Petitionen Hier geht es um eine Petition. Wer stimmt dafür? – Die Drucksache 19/23789 Koalitionsfraktionen, die FDP-Fraktion und die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Die AfD-Fraktion und Es handelt sich um eine Petition. Wer stimmt dafür? – die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer enthält sich? – Die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Die Niemand. Die Sammelübersicht 664 ist angenommen. AfD-Fraktion, die FDP-Fraktion, die Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Wer enthält sich? – Nie- Tagesordnungspunkt 37 o: (B) mand. Die Sammelübersicht 669 ist angenommen. (D) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Ich danke Ihnen für diese gemeinsame konzentrierte tionsausschusses (2. Ausschuss) Arbeit. Sammelübersicht 665 zu Petitionen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Drucksache 19/23785 Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU Es handelt sich um eine Petition. Wer stimmt dafür? – und SPD Die Koalitionsfraktionen und die FDP-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Die AfD-Fraktion, die Fraktion Die Nachbesetzung eines Mitglieds des Nationalen Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer ent- Begleitgremiums gemäß § 8 Absatz 3 des hält sich? – Niemand. Die Sammelübersicht 665 ist ange- Standortauswahlgesetzes nommen. Drucksache 19/23945 Tagesordnungspunkt 37 p: Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- dagegen? – Wer enthält sich? – Der Wahlvorschlag ist tionsausschusses (2. Ausschuss) gegen die Stimme des Abgeordneten Brandner bei Zustimmung aller übrigen Fraktionen und Abgeordneten Sammelübersicht 666 zu Petitionen angenommen. Drucksache 19/23786 Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: Es handelt sich um 19 Petitionen. Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen, die Fraktion Die Linke und die Aktuelle Stunde Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und Die AfD-Fraktion und die FDP-Fraktion. Wer enthält SPD sich? – Niemand. Die Sammelübersicht 666 ist angenom- men. Islamistischen Terror in Europa entschieden bekämpfen – Unsere freie Gesellschaft vertei- Tagesordnungspunkt 37 q: digen Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes- tionsausschusses (2. Ausschuss) minister des Innern, für Bau und Heimat, Horst Seehofer. Sammelübersicht 667 zu Petitionen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Drucksache 19/23787 ordneten der SPD) 23816 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

(A) Horst Seehofer, Bundesminister des Innern, für Bau Natürlich müssen wir auch immer wieder überlegen, (C) und Heimat: welche zusätzlichen Maßnahmen sinnvoll sind. Wir tun Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen dies im Bundesinnenministerium jeden Tag meistens und Kollegen! Die jüngsten Anschläge in Wien, Nizza einige Stunden, wie heute Vormittag, aber nicht nur an- und nahe Paris haben uns erneut vor Augen geführt, lässlich von Anschlägen, sondern das ist eine permanente welch ungeheure Bedrohung der islamistische Terror Aufgabe. für uns nach wie vor darstellt. Auch in Deutschland muss- Aber ich werbe dafür, mit Schnellschüssen immer ten wir in diesem Jahr schon drei islamistische Anschläge zurückhaltend zu sein. Entscheidend ist, welche zusätz- verzeichnen: einen Brandanschlag in Waldkraiburg, den liche Maßnahme wirksam ist und uns in der Sache auch Angriff auf der Berliner Stadtautobahn und den Angriff weiterbringt. Wenn eine Maßnahme wirksam erscheint in mit einem Mord. und uns in der Sache, in der Bekämpfung des Terroris- Die Gefahr durch den islamistischen Terrorismus be- mus, vorwärtsbringt, dann sollten wir sie auch angehen. steht also unverändert fort. Wir wussten und wissen um Aber es ist in diesem Bereich nichts so gefährlich, als diese Gefahr, und wir haben dies auch in den Monaten wenn mit Schnellschüssen Erwartungen geweckt werden, vor den genannten Taten hier immer wieder betont. Wie die dann nicht realisiert werden können. Deshalb werbe oft habe ich darauf hingewiesen, dass unserem Lande die ich dafür, zuallererst das bestehende Recht anzuwenden, größte Bedrohung durch den Rechtsextremismus erwach- konsequent anzuwenden, und permanent auch gemein- sen ist. Ich habe auch immer wieder betont, wir dürften sam zu überlegen, wo wir die Dinge bei uns in der Bun- auf keinem Auge blind sein. Auch der islamistische Ter- desrepublik Deutschland noch optimieren können. ror gehört zu den Herausforderungen unserer Zeit. Dieses Phänomen ist keine regionale Erscheinung, ist (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der auch keine nationale Erscheinung, sondern eine europä- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- ische und eine weltweite. Deshalb kommt es darauf an, NEN) dass wir international zusammenarbeiten, insbesondere Die Gefährdungslage bei uns im Lande ist hoch, das auch auf der Ebene der Europäischen Union. Ich habe heißt, für die Allgemeinheit übersetzt – ohne dass wir heute – wir haben ja im Moment die Ratspräsidentschaft Angst machen; wir beschreiben die Realität –: Mit inne – auch mit der zuständigen Kommissarin darüber Anschlägen muss auch bei uns jederzeit gerechnet wer- gesprochen. Wir werden nächste Woche bereits, am 13. den. Wir haben also die Pflicht, alles zu tun, um die dieses Monats, ohnehin eine Innenministerkonferenz Gesundheit und das Leben unserer Bevölkerung zu schüt- durchführen, wegen der Asylreform. Wir werden einen zen. erheblichen Teil dieser Konferenz nutzen, um uns mit der Sicherheitslage in Europa auseinanderzusetzen, auch (B) Aber ich möchte gleich zu Beginn sehr klar sagen: mögliche Konsequenzen für die internationale Zusam- (D) Unser Kampf gegen Terrorismus richtet sich nicht gegen menarbeit zu überlegen. Wir stimmen mit der Kommis- den Islam, sondern gegen fanatischen und gewalttätigen sion völlig überein, aber auch mit den Mitgliedstaaten, Extremismus. insbesondere mit den hauptbetroffenen Ländern, dass wir (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LIN- den Terroristen und ihren Hintermännern nur gemeinsam KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Handwerk legen können. Es wäre eine blanke Illu- sowie bei Abgeordneten der FDP) sion, zu glauben, dass man auf diese globale Herausfor- derung national, alleine reagieren kann. Unsere Sicherheitsbehörden sind hochsensibel, hellwach und auch gut gerüstet. Dies, glaube ich, darf ich auch für (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- unsere Bundesländer sagen, mit denen wir gerade in die- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE sen Tagen in einem regelmäßigen Kontakt stehen. Es GRÜNEN) freut mich auch, dass der Vorsitzende der Innenminister- Ich danke bei dieser Gelegenheit dem gesamten Parla- konferenz, Kollege Georg Maier, sich an dieser Debatte ment. Wir haben ja schon seit geraumer Zeit – das heißt beteiligt. Unsere Sicherheitsbehörden brauchen in dieser seit einigen Jahren – bei unseren Bitten, zusätzliches schwierigen Zeit die vollste Rückendeckung von uns Personal, zusätzliche Ressourcen zu bekommen, immer allen; denn sie verrichten gerade in dieser Richtung einen wieder vom Deutschen Bundestag die notwendige Unter- äußerst schwierigen Dienst. stützung erhalten. Ich denke nur an die personelle Aus- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- stattung: Wenn man Gefährder überwachen will, ist dies neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- unheimlich personalintensiv. Wir haben ja durch den Fall SES 90/DIE GRÜNEN) in Wien auch Bezüge nach Deutschland hin zu Gefähr- Was ist zu tun? Ich denke, das Allerwichtigste ist, dass dern, die 24 Stunden, rund um die Uhr, an sieben Tagen wir die Befugnisse, die unsere Sicherheitsbehörden die Woche überwacht werden – Gefährder, die ich als haben, und das geltende Recht richtig anwenden, konse- hochgefährlich einschätze. quent anwenden und nicht dem Reflex hinterherlaufen, Es ist zu kurz gesprungen, wenn man glaubt, man bei jeder Herausforderung immer wieder neu zu überle- könnte das alles nur durch das Aufenthaltsrecht lösen. gen, welche Paragrafen wir zusätzlich brauchen. Es Ich darf hier einmal mitteilen, dass wir derzeit 615 isla- kommt entscheidend darauf an, dass wir das geltende mistische Gefährder in Deutschland haben; davon sind Recht konsequent anwenden. Ich kann aus der Erfahrung 217 mit deutscher Staatsangehörigkeit, 119 mit einer der letzten Tage sagen, dass es dabei vor allem auf zweiten Staatsangehörigkeit neben der deutschen und Kooperation und Informationsaustausch ankommt. 279 mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Ich nenne Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23817

Bundesminister Horst Seehofer (A) diese Zahlen, um noch einmal deutlich zu machen, dass Wir als AfD gedenken der Opfer, ihrer Familien und (C) hier ein sehr umfassender Ansatz notwendig ist und man Freunde. sich nicht nur auf die Nationalität konzentrieren sollte. Noch einmal: 217 deutsche Staatsangehörige, die radika- Meine Damen und Herren, wir müssen uns wieder ein- lisiert sind und Gefährder sind nach Meinung der Sicher- mal fragen – vor allem Sie müssen das –, wie es dazu heitsbehörden, und 119 mit einer doppelten Staatsange- kommen konnte. Der Attentäter war gebürtiger Wiener. hörigkeit; aber die deutsche ist immer dabei. Seine Eltern waren als Albaner aus Mazedonien nach Österreich gekommen. Bislang galt der auf dem Balkan Ich möchte den Bürgerinnen und Bürgern sagen: Sie praktizierte Islam als vergleichsweise liberal, doch längst können sich darauf verlassen, dass wir uns mit aller Kraft haben sich auch dort junge Muslime radikalisiert. Diese gegen diesen barbarischen Terror stemmen, und zwar mit Radikalisierung wirkt auch auf Österreich; denn die allen Instrumenten, die uns zur Verfügung stehen: mit Mehrheit der dort lebenden Migranten stammt aus repressiven Mitteln, mit präventiven Mitteln, mit poli- Balkanländern, und wie wir heute wissen, haben radikali- zeilichen Mitteln, mit Überwachungsmaßnahmen, mit sierte Muslime auf dem Balkan engen Kontakt zu gewalt- Integrationsmaßnahmen und auch mit Abschiebungen. bereiten Islamisten in Syrien, im Irak und in anderen Nur eine solche ganzheitliche Herangehensweise wird arabischen Ländern. Die Sicherheitsbehörden berichten uns auch dazu führen, dass wir eines Tages diese Geißel von auffällig vielen jungen Muslimen, die vom Balkan unserer Zeit überwinden werden. als Dschihadisten nach Syrien reisten. Auch der am Mon- Ich danke. tagabend erschossene 20-jährige Attentäter hatte mehr- fach vergeblich versucht, auszureisen und sich dem „Isla- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mischen Staat“ anzuschließen. Und nicht nur Österreich neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE hat ein Problem mit Islamisten vom Balkan. Auch nach GRÜNEN) Deutschland gibt es Kontakte, wie die Bundesregierung bereits 2018 einräumte. Vizepräsidentin Petra Pau: Meine Damen und Herren, als der große Migrations- Das Wort hat der Abgeordnete Tino Chrupalla für die strom im Sommer 2015 über den Balkan nach Deutsch- AfD-Fraktion. land floss, haben wir von der AfD davor gewarnt, dass (Beifall bei der AfD) viele gewaltbereite Islamisten im Strom der Migranten mitschwimmen könnten, und wir haben recht behalten. In Deutschland halten sich derzeit 630 islamistische Tino Chrupalla (AfD): Gefährder auf. Die deutschen Sicherheitsbehörden war- Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Werte Abgeordnete! nen – ich zitiere –: (B) Liebe Landsleute! Der gewaltbereite Islamismus und (D) der Dschihadismus versuchen, die Spielregeln in Europa Obwohl der islamische Staat im Jahr 2019 seine zu ändern. Ihr von Hass erfüllter Kampf zieht eine letzte territoriale Basis verloren hat und obwohl er Blutspur durch Europa: Zuerst enthauptete ein fanati- den Tod seines Anführers Abu Bakr al-Baghdadi zu scher Islamist den Lehrer Samuel Paty in einem Pariser beklagen hatte, zeigt sich die anhaltende Relevanz Vorort auf offener Straße. Wenige Tage später versuchte einer dschihadistischen Ideologie sehr deutlich. ein Islamist in Nizza, eine 60-jährige Kirchenbesucherin zu köpfen. Als sein Versuch scheiterte, tötete er die Frau, Diese Menschen, meine Damen und Herren, sind nicht die zum Beten gekommen war, mit einem sehr tiefen willens, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Sie Kehlenschnitt, wie die Zeitung „Le Monde“ berichtet. wollen sich nicht an unsere Gesetze halten. Sie stellen Außerdem tötete er einen 55-jährigen Küster durch Mes- ihren religiösen Fanatismus über Freiheit, Rechtsstaat- serstiche in den Hals und eine 30-jährige Mutter von zwei lichkeit und Demokratie. Kindern. (Beifall bei der AfD) Meine Damen und Herren, und nun am Montag das Blutbad von Wien. Es war der letzte Abend vor dem Und ich frage Sie – auch Sie, Herr Seehofer, weil Sie hier von der Regierung ab Mitternacht verhängten Lockdown. gefragt haben: was ist zu tun? –: Was hindert uns daran, Tausende Wiener nutzten die Gelegenheit, bei fast som- diese Leute unverzüglich in ihre Heimatländer abzuschie- merlichen Temperaturen noch einmal auszugehen. Gegen ben? Stattdessen denken Grüne, Linke und Sozialdemo- 20 Uhr machte sich der fanatische Islamist mit einer kraten immer öfter darüber nach, Aspekte der Meinungs- Kalaschnikow, einer Pistole und einer Machete bewaffnet freiheit einzuschränken, weil die Islamisten dies auf den Weg. In nur wenigen Minuten tötete er 4 Passan- einfordern. ten und verletzte 22 weitere zum Teil schwer. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Die Mordanschläge von Paris, Nizza und Wien zielten GRÜNEN]: Was?) auf das Herz unserer Kultur und unserer Demokratie, sie waren Anschläge auf unsere Werte, sie waren eine Auf diese Weise geben wir grundlegende demokratische Kriegserklärung an die Freiheit, sprich: an unsere west- Werte wie das Recht auf Selbstbestimmung auf. Ich frage liche Lebensweise; darum betreffen die Ereignisse nicht Sie: Warum? nur Frankreich und Österreich, sondern Europa als Gan- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE zes. GRÜNEN]: So ein Quatsch! – Helin Evrim (Beifall bei der AfD) Sommer [DIE LINKE]: Unsinn!) 23818 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Tino Chrupalla (A) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit einem (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der (C) Satz von Ahmad Mansour enden, dem in dieser Situation LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP nichts hinzuzufügen ist – ich zitiere –: Die Antwort auf und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) den Terror liegt im vertieften, gefestigten Bekenntnis Diese Anschläge sind keine Angriffe auf einzelne Staa- zum säkularen Staat, zum demokratischen Rechtsstaat, ten, auf Städte oder Menschengruppen, es sind Angriffe samt Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und Religions- auf das Grundverständnis unseres Zusammenlebens. Das kritik. Nur mit Aufklärung, klarer Kommunikation und genau meinen wir, wenn wir sagen: Dieser Anschlag ist konsequenter Rechtsstaatlichkeit lässt sich der politische ein Anschlag auf uns alle. – Wir alle sind getroffen, wir Islam und damit letztlich die Wurzel des Terrors entschie- alle sind verletzt. Aber wir alle sind auch in der Pflicht, den bekämpfen. das heißt, wir dürfen niemals akzeptieren, dass unser Ich danke für die Aufmerksamkeit. Modell einer offenen, freiheitlichen Gesellschaft ange- griffen, beeinträchtigt oder ausgehöhlt wird. Unser (Beifall bei der AfD – Dr. Konstantin von Notz Grundgesetz ist der Grund, auf dem wir uns als gleich- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer will denn berechtigte Bürgerinnen und Bürger begegnen, auch den Blasphemieparagrafen abschaffen?) Konflikte austragen, ganz gleich, welche persönlichen Ansichten und Einstellungen jeder hat. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Das Wort hat der Landesminister für Inneres und Kom- bei Abgeordneten der CDU/CSU und des munales des Freistaates Thüringen, Georg Maier. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Was dabei niemals zur Disposition stehen darf, sind die Grundprinzipien unserer Verfassung: die individuellen Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Georg Maier, Minister (Thüringen): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Meine sehr geehrten Damen und Herren, als Innen- und Herren Abgeordnete! Ich spreche heute als Vorsit- minister des Freistaates Thüringen und als Vorsitzender zender der Innenministerkonferenz, also als Vertreter der Innenministerkonferenz beschäftige ich mich natür- der Sicherheitsbehörden der Länder, zu Ihnen, und, mei- lich nicht erst seit den jüngsten Anschlägen mit dem ne sehr geehrten Damen und Herren, der Anlass ist ein Thema „islamistischer Terrorismus“. Ich kann Ihnen denkbar trauriger. Nachdem unser Nachbarland Frank- und den Menschen in Deutschland versichern, dass wir, reich von mehreren grausamen Attentaten getroffen wur- insbesondere im Kreise der Innenminister, stetig damit befasst sind, die Sicherheitsbehörden im Kampf gegen (B) de und auch in Dresden feige gemordet wurde, hat nun (D) auch Österreich Opfer eines islamistischen Anschlags zu den Terror, egal aus welcher politischen oder weltan- beklagen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen schaulichen Richtung, noch schlagkräftiger zu machen. Sie mich anfangs sehr deutlich sagen: Meine Gedanken Wir als Innenminister sind in erster Linie dafür verant- sind bei den Opfern und ihren Angehörigen. Großer Dank wortlich, Gefahren für die öffentliche Sicherheit abzu- gilt unter diesen traurigen Umständen besonders den wenden und Straftaten zu verfolgen. Spätestens nach Polizistinnen und Polizisten und Mitarbeiterinnen und dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz haben Mitarbeitern der Sicherheitsbehörden in Frankreich, in wir sehr wichtige Schritte unternommen, die länderüber- Österreich, aber auch in Deutschland. greifende Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden wei- ter zu verbessern. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LIN- (Enrico Komning [AfD]: Wurde auch Zeit!) KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) In unserem föderalen Staat teilen sich die Sicherheits- behörden die Aufgaben. Deswegen ist eine enge Koope- Der Bundesminister hat es eben gesagt: Die Gescheh- ration und Abstimmung zwischen den Sicherheitsbehör- nisse zeigen ganz deutlich, dass die Gefährdung der den entscheidend für den Erfolg im Kampf gegen den öffentlichen Sicherheit und die alltägliche Bedrohung Terror; der Bundesminister hat das eben auch sehr deut- für die Bürgerinnen und Bürger Europas und der Bundes- lich gemacht. Die Arbeit des Gemeinsamen Terrorismu- republik nicht abstrakt, sondern sehr konkret sind. Ich bin sabwehrzentrums beim BKA möchte ich hier besonders deshalb sehr dankbar, heute vor Ihnen sprechen zu dür- hervorheben. In den entsprechenden Abteilungen – eine fen. Deutschland verteilt mit seiner föderalen Struktur die ist ausgerichtet auf rechtsextremistischen Terror, eine Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung auf viele andere auf islamistischen Terror – laufen alle Informatio- Schultern. Wir Länder kooperieren eng miteinander. Mit nen über terroristische Bestrebungen zusammen, und es dem Bund wissen wir einen starken Partner an unserer werden entsprechende Abwehrmaßnahmen länderüber- Seite, den wir insbesondere jetzt, mit Blick auf die über- greifend koordiniert. geordnete Bedrohung unseres Landes, brauchen. Dies gilt insbesondere für den jetzt wieder zutagegetretenen isla- Wesentlich für die erfolgreiche Zusammenarbeit ist die mistischen Terror. Kooperation zwischen nachrichtendienstlichen und poli- zeilichen Institutionen und Akteuren. Es wird analytisch Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist die und gleichfalls einzelfallbezogen gearbeitet. Man spricht Logik des Terrors, die Logik des Hasses, Menschen ein- von einem ganzheitlichen Ansatz. Nachrichtendienste zuschüchtern. Dieser Logik müssen wir uns gemeinsam und Polizei müssen miteinander sprechen; das ist gut entgegenstellen. so, und das hat sich bewährt. Dabei spielen auch techni- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23819

Minister Georg Maier (Thüringen) (A) sche Anwendungen zur Überwachung des Cyberraums den Sicherheitsbehörden in unserem Land weiter den (C) eine immer wichtigere Rolle. Ziel ist es, wie auf einem Rücken. Sie erfüllen das Versprechen auf den Schutz Radar frühzeitig zu erkennen, wo sich Menschen, gerade der Menschenwürde, die Durchsetzung des Rechts und im Netz, radikalisieren und zu Gefährdern werden. Und – die Wahrung der Freiheit durch ihre tägliche Arbeit. das möchte ich auch deutlich sagen – mehrfach ist es uns (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gelungen, Anschläge auf diese Art und Weise zu verei- teln. Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, verdienen unseren Respekt und unsere politische Unterstützung. Den kürzlich in der Koalition gefundenen Kompromiss zum Einsatz von Quellen-Telekommunikationsüberwa- Die Erweiterung von Befugnissen und das Zollen von chung durch den Verfassungsschutz begrüße ich persön- Respekt sind jedoch weitgehend wirkungslos, wenn nicht lich an dieser Stelle ausdrücklich. genügend Fachpersonal in den Sicherheitsbehörden zur Verfügung steht. Hier möchte ich als Vorsitzender der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) IMK nochmals auf den Pakt für den Rechtsstaat hinwei- Die Aufdeckung von Strukturen und die Verhinderung sen. Dieser Pakt hat uns wesentlich vorangebracht, und von Straftaten dürfen heutzutage nicht daran scheitern, dieser Weg muss weiter beschritten werden. dass potenzielle Täter nicht mehr mit dem Handy mit- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie einander telefonieren, sondern dass sie das tun, was wir bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE jeden Tag auch tun: Sie kommunizieren über Messenger- GRÜNEN) dienste. Wir sollten uns immer wieder die Frage stellen, ob wir Trotzdem, meine sehr geehrten Damen und Herren, genug Vorsorge getroffen haben, um Anschläge auf unse- erfüllt mich diese aktuelle Anschlagsserie in Europa mit re Bürgerinnen und Bürger – egal aus welcher Motivation Sorge. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich um eine heraus – in Zukunft verhindern zu können. Es gilt, demo- neue Welle terroristischer Aktivitäten handelt. Einerseits kratiefeindliche Parallelgesellschaften zu verhindern und ist denkbar, dass es sich um eine Welle von Nachah- unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zu ver- mungstaten handelt, andererseits ist auch denkbar, dass teidigen. dahinter eine perfide Strategie steckt, dass es gesteuert ist. Sie wissen: Die Menschen sind aufgrund der Pande- Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme mie verunsichert. Mit diesen Anschlägen, die wahllos zum Ende. Die Menschen in unserem Land vertrauen Opfer finden, wird etwas ausgelöst; dadurch wird Angst darauf, dass sie vom Staat kraftvoll vor Bedrohungen und Schrecken in einer verunsicherten Bevölkerung ver- geschützt werden. Dieser kraftvolle Staat, das sind nicht breitet. nur die Sicherheitsbehörden und ihre Mitarbeiterinnen (B) und Mitarbeiter, sondern das sind wir alle. Handeln wir (D) Was mich aber besonders umtreibt, ist die Tatsache, auch weiterhin engagiert, sorgsam und verantwortungs- dass es sich bei den Attentätern in Dresden und Wien bewusst, um dem Anspruch, den die Bevölkerung an uns um Personen handelt, die bereits im Fokus der Sicher- stellt, gerecht zu werden. heitsbehörden standen. Deren Gefährlichkeit war bekannt. Beide waren bereits im Vorfeld in Haft, und Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. trotzdem konnten die Anschläge nicht verhindert werden. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Wir sind deshalb aufgerufen, zu prüfen, wie wir in Zu- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE kunft insbesondere mit diesem Personenkreis umgehen. GRÜNEN und der Abg. Helin Evrim Sommer Darüber werden wir auf der nächsten Innenministerkon- [DIE LINKE] – Enrico Komning [AfD]: Jetzt ferenz beraten. können wir alle wieder aufwachen!) (Marian Wendt [CDU/CSU]: Und wie wir sie abschieben können!) Vizepräsidentin Petra Pau: Auf den ersten Blick scheint mir geboten, die Anstren- Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Stephan gungen bei der Deradikalisierung zu intensivieren, gera- Thomae das Wort. de auch in Haftanstalten. Ferner müssen wir bei beson- (Beifall bei der FDP) ders gefährlichen Personen nach der Haft zum Beispiel noch eine stärkere Beobachtung bis hin zu einer temporä- ren vorbeugenden Ingewahrsamnahme in Betracht zie- Stephan Thomae (FDP): hen. Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In Paris, in Nizza, in Dresden und in Wien (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) mussten insgesamt neun unschuldige Menschen ihr Dies muss natürlich – und das ist für mich handlungs- Leben lassen, weil fanatische Islamisten aus Hass gegen- leitend – unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßig- über unserer freiheitlichen Lebensform Menschen wahl- keit geschehen. Wir haben in Thüringen von diesem los ermordet haben. Unsere Trauer, unser Mitgefühl und Instrument bereits Gebrauch gemacht. unsere Solidarität gelten den Opfern und Hinterbliebe- Mein Appell an uns ist, auf Bundes- und Landesebene nen. weiter wirksam gegen die Bedrohung des Islamismus Die Vorfälle zeigen uns, dass die Bedrohungslage vorzugehen. Dazu gehört zum Beispiel die Unterstützung durch den fanatischen Islamismus nicht abgenommen der Demokratieförderung und der Extremismuspräven- hat. Er war in der letzten Zeit etwas verdeckt; aber er tion durch Bund und Länder. Stärken wir darüber hinaus hat sich weiterentwickelt und kämpft sich jetzt mit großer 23820 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Stephan Thomae (A) Brutalität und Grausamkeit wieder nach vorn. Wir kön- Gefährder müssen konsequent überwacht werden, nöti- (C) nen aber unterscheiden zwischen fanatischem, gewalttäti- genfalls unter Einsatz elektronischer Fußfesseln. Sie gem Islamismus und dem Islam, also Menschen, die ein- müssen aber – da, wo es rechtlich möglich ist – auch fach nur friedlich in unserer Mitte leben wollen. konsequent abgeschoben werden. Wir sind ein weltoffenes, tolerantes und plurales Land. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Das Grundgesetz kennt keine Konfessionen, und die AfD) Religionsfreiheit gehört zu unserem Land dazu. Men- schen aller Religionen und Konfessionen können bei Das ist ein Punkt – ich blicke zu den Kollegen der uns leben; aber sie müssen sich ebenfalls zu diesem Grünen –, den die Grünen mal für sich klären müssen. Grundsatz der Toleranz, der Weltoffenheit und der Plura- Auch Sie fordern, da, wo es rechtlich möglich ist, Ab- lität bekennen. schiebungen konsequent durchzuführen. Im Bundesrat aber erschweren Sie konsequente Abschiebungen, indem (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie verhindern, dass solche Länder wie Georgien oder die der AfD) Maghreb-Staaten als sichere Länder anerkannt werden. Zu unserem Grundverständnis eines toleranten Landes Das mag an anderer Stelle zu diskutieren sein, aber es gehört auch das Recht auf Meinungsfreiheit, und das gehört insgesamt zu diesem Bereich hinzu. schließt ein, dass Religionen und Religionsgemeinschaf- ten auch Kritik über sich ergehen lassen müssen. Das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kann manchmal schmerzhaft sein, zum Beispiel wenn der CDU/CSU – Dr. Konstantin von Notz es Kritik in der Form von Satire ist, aber damit muss [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist was man klarkommen; auch das muss man tolerieren können. anderes!) Unser Grundgesetz schützt die Religionsausübung, aber Schließlich müssen wir auch dafür sorgen, dass Vereins- es schützt nicht vor Kritik an der eigenen Religion. Und verbote konsequent geprüft und ausgesprochen werden, das ist ein wichtiger Grundsatz, den alle Menschen beher- wo es möglich und geeignet ist, um das Entstehen von zigen müssen, die bei uns auf Dauer leben wollen. Islamismus zu verhindern. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der AfD) Der dritte Bereich ist die Kooperation, also eine bes- sere Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden im eige- Menschen, vor allem Muslime, die damit klarkommen, nen Land. Wir fordern seit Langem eine Föderalismus- können dauerhaft einen Platz in unserer Gesellschaft fin- kommission zur Reform unserer Sicherheitsstruktur, um den. Was keinen Platz in unserem Land haben kann, ist die Strukturen zu verbessern und zu bearbeiten und um (B) fanatischer Islamismus. Den müssen wir auf allen Ebenen die Zusammenarbeit zu verbessern. Das Gleiche brau- (D) bekämpfen, und deswegen brauchen wir eine konsistente, chen wir auf europäischer Ebene. Wir müssen Europol in sich geschlossene Bekämpfungsstrategie, die auf ver- hin zu einem europäischen Kriminalamt weiterentwi- schiedenen Ebenen angreifen muss. ckeln und auch da die Zusammenarbeit und den Aus- Da ist zunächst die Ebene der Prävention. Wir müssen tausch der Informationen und Daten verbessern, hin zu selber verstehen: Wie entsteht, wie verfestigt sich Isla- einer europäischen Gefährderdatei. Wir brauchen zudem mismus? Gibt es in unserem Rechtsstaat einen toten Win- eine bessere internationale Zusammenarbeit, weil sich kel, in dem Muslime in bestimmten Quartieren sich selbst auch der Islamismus international betätigt. überlassen sind, wo sie das Gefühl haben, dass niemand Dieser Dreiklang aus besserer Prävention, besserer hinschaut, was dort entsteht und was sich dort tut? Reaktion und besserer Kooperation muss unser Instru- Wir brauchen auch eine Imamausbildung in Deutsch- ment sein, um den Islamismus bei uns in Deutschland land, eine vermehrte Ausbildung deutscher Imame, die und in Europa besser und effektiver zu bekämpfen. nach unserem Verständnis von Meinungsfreiheit und Kri- tik ihre Religion predigen. Wir brauchen mehr islami- Vielen Dank. schen Religionsunterricht, damit Jugendliche und Kinder (Beifall bei der FDP) ihre Auffassung von Religion nicht in Moscheevereinen bekommen, in die wir nur schwer hineinblicken können. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall des Abg. Dr. Mathias Middelberg Das Wort hat die Kollegin Amira Mohamed Ali für die [CDU/CSU]) Fraktion Die Linke. Wir müssen aber auch Moscheevereine kritischer durchleuchten. Wir müssen darauf achten, dass sie nicht (Beifall bei der LINKEN) aus dem Ausland finanziert und dadurch beeinflusst oder gar gesteuert werden. Wir brauchen auch nicht zuletzt Amira Mohamed Ali (DIE LINKE): städtebauliche Konzepte, um dafür zu sorgen, dass nicht Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- Räume entstehen, in denen Muslime sich selbst überlas- legen! Wir allen stehen noch unter dem Eindruck der sen sind. Das ist der Bereich der Prävention. furchtbaren islamistischen Terrorangriffe der vergange- Im Bereich der Reaktion und der Repression muss – nen Wochen, zuletzt am Montagabend in Wien. Unsere das ist schon angesprochen worden – die Strafverfolgung Gedanken sind bei den Ermordeten und ihren Angehöri- konsequent ausgeübt werden, dürfen keine Straftaten gen. Den vielen Verletzten wünsche ich von Herzen eine bagatellisiert oder eine Art Rabatt gewährt werden. schnelle und vollständige Genesung. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23821

Amira Mohamed Ali (A) Es muss jetzt alles darangesetzt werden, diese abscheu- Wie ich haben viele Muslime nach jedem islamistischen (C) lichen Verbrechen vollständig und so schnell wie möglich Anschlag die Sorge, dass jetzt Vorbehalte gegen sie aufzuklären. Und das ist jetzt in Bezug auf Wien nicht nur wachsen, dass sie weiter wachsen, muss man leider eine Aufgabe der österreichischen Behörden; denn sagen; denn Vorbehalte und Pauschalurteile gibt es be- Berichten zufolge hatten die Attentäter auch Kontakt zu reits heute. Islamisten in Deutschland. Dem muss konsequent nach- Und auf einer menschlichen Ebene ist es auch nach- gegangen werden. vollziehbar, dass nach einem Terroranschlag Unsicher- (Beifall bei der LINKEN) heit aufkommt. Das ist eine schwierige Situation für alle. Doch es ist auch bedrückend, wenn man zum Bei- Das eine ist die vollständige Aufklärung dieser Ver- spiel beim Arzt im Wartezimmer sitzt und Leute um einen brechen, die Aufdeckung der dahinterstehenden islamis- herum zusammenzucken, wenn der Name „Mohamed tischen Netzwerke und die konsequente Verfolgung der Ali“ aufgerufen wird. Verantwortlichen mit allen rechtsstaatlichen Mitteln; das andere ist die Verhinderung weiterer terroristischer Es ist das erklärte Ziel der Terroristen, Angst zu Anschläge. Und auch hier braucht es Konsequenz. Über- schüren, Hass zu säen und die Gesellschaft zu spalten. all da, wo Straftaten vorbereitet oder verabredet werden, Aber genau das dürfen wir alle gemeinsam nicht zulas- überall da, wo Hass und Gewalt gepredigt werden, muss sen. mit allen rechtsstaatlichen Mitteln konsequent durchge- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem griffen werden. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen, wir dürfen uns neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht spalten lassen. Und dazu gehört auch, dass es keinen Zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus ist es Zweifel daran geben darf, dass alle Muslime, die hier auch notwendig, sogar dringend notwendig, alle Mög- friedlich und auf dem Boden unseres Grundgesetzes lichkeiten zu nutzen, Terroristen den Geldhahn zuzudre- leben, ein gleichberechtigter und gleichwertiger Teil hen. Das ist ein zentraler Punkt. Und es darf auch nicht unserer Gesellschaft sind. sein, dass Terroristen direkt oder indirekt mit Waffen ver- (Beifall bei der LINKEN, dem BÜNDNIS 90/ sorgt werden. Aber das geschieht, unter anderem auch DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der aus Deutschland. Das muss aufhören. SPD und des Abg. [CDU/CSU]) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Und es ist vollkommen unverantwortlich, dass politi- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sche Kräfte auch in diesem Hause mit Hass und Hetze (B) Länder, die den Terror exportieren, dürfen keine stra- einen Generalverdacht gegenüber Muslimen verbreiten (D) tegischen Partner sein, und alle Waffenlieferungen müs- und noch nicht einmal davor zurückschrecken, die sen sofort eingestellt werden. schrecklichen Terroranschläge dafür zu instrumentalisie- ren, ihre rassistische und menschenverachtende Propa- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Canan ganda zu befördern. Und das möchte ich jetzt einmal Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) stellvertretend für alle demokratischen Kräfte in diesem Denn wenn der islamistische Terror konsequent und ent- Haus sagen: Dem stellen wir uns klar entgegen. schieden bekämpft werden soll, dann schließt das auch (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem den Kampf gegen die Finanzierung von islamistischen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- Terrornetzwerken ein. ordneten der CDU/CSU) Der Islamismus ist eine menschenverachtende, gefähr- Im Kampf gegen Terrorismus braucht es Mut, konse- liche Ideologie, die sich brutal gegen alle richtet, die nicht quentes Handeln auf allen Ebenen, es braucht Zusam- so leben und denken, wie die Islamisten es wollen. Er menhalt und Solidarität. Gehen wir gemeinsam diesen richtet sich gegen die freie Meinungsäußerung, gegen Weg. die Demokratie, gegen Gleichberechtigung, gegen die Vielen Dank. Freiheit von Bildung und Wissenschaft – hier bei uns in Europa, aber auch auf der ganzen Welt. Erst am Montag (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- starben in Kabul mindestens 35 Menschen, als IS-Kämp- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- fer die Universität stürmten. Zehn Tage zuvor waren be- ten der SPD) reits 24 Kinder bei einem Anschlag auf eine Schule in Afghanistan ermordet worden. Jeder islamistische Vizepräsidentin Petra Pau: Anschlag, jeder Mord ist grauenvoll und erschütternd, Dr. Konstantin von Notz hat nun für die Fraktion egal wo er stattfindet. Bündnis 90/Die Grünen das Wort. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- ten der SPD) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Und wenn ich von einem islamistischen Anschlag NEN): erfahre, dann ergreift mich als Muslima auch immer die Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sorge, was das mit unserer Gesellschaft macht, was das Die Bilder der Terroranschläge aus Nizza und jetzt aus mit dem Bild vom Islam in unserer Gesellschaft macht. Wien sind schrecklich und zutiefst erschütternd. Und im 23822 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Dr. Konstantin von Notz (A) Namen meiner Fraktion möchte ich noch einmal unser Drittens. Österreich ist eine strikte Abschottungspoli- (C) aufrichtiges und tiefes Beileid an alle Hinterbliebenen, tik in Bezug auf Geflüchtete gefahren, und dennoch hat die Freunde der Opfer und an die Verletzten aussprechen. das Land, gemessen am Anteil, eine der größten salafisti- Den Beamtinnen und Beamten der Polizei, die durch ihr schen Szenen in Europa. schnelles und mutiges Durchgreifen Schlimmeres verhin- dert haben, gebühren unser Dank und unsere Anerken- Viertens. Auch über die Hälfte der deutschen Gefähr- nung, meine Damen und Herren. der im Bereich Islamismus – Horst Seehofer hat es ge- sagt – sind Deutsche. Und deswegen sind alle Grenz-, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Mauer-, Festungsdiskussionen, wie sie gerne von den bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- extremen Rechten betrieben werden, eben auch sicher- geordneten der SPD und der LINKEN) heitspolitisch sinn- und wirkungslos. Der Anschlag in Nizza, die grausame Ermordung zweier völlig argloser Frauen und eines Küsters frühmor- (Marian Wendt [CDU/CSU]: Das stimmt gens in einer Kirche, und der Anschlag in Wien, das nicht!) Erschießen von unbewaffneten und völlig wehrlosen All das zeigt, Marian Wendt: Populismus, Hetze, Isla- Frauen und Männern – diese Taten sind in ihrer ruchlosen mophobie, Rassismus sind nicht nur menschenverach- Grausamkeit empörend und entsetzlich, und die dahinter- tend; es ist auch grottenschlechte Sicherheitspolitik und liegende menschenverachtende Ideologie ist schlicht gefährlich für uns alle, meine Damen und Herren. widerlich, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP) geordneten der LINKEN) Stattdessen brauchen wir gut kooperierende, personell Es ist das erklärte Ziel von Terroristen, einen Keil in und technisch top ausgestattete Sicherheitsbehörden, die unsere Gesellschaft zu treiben. Lassen wir das zu, gewin- Informationen rechtsstaatlich zulässig und zuverlässig nen sie; so einfach ist das. Und deswegen hat Sebastian teilen. Wenn es stimmt, dass in Wien relevante Informa- Kurz – ich zitiere ihn nicht oft – recht, wenn er sagt, dies tionen aus der Slowakei nicht richtig berücksichtigt wur- sei keine Auseinandersetzung zwischen Christen und den, muss das aufgeklärt werden. Aber wir sollten selbst Muslimen, sondern ein Kampf zwischen den vielen Men- sehr demütig sein; denn auch vor dem Anschlag auf dem schen, die an den Frieden glauben, und jenen wenigen, Breitscheidplatz leuchteten 32 von 20 möglichen Warn- die sich den Krieg wünschen. – So ist das, meine Damen lampen bei unseren Behörden, meine Damen und Herren. (B) und Herren. (D) (Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Richtig!) und bei der FDP) Und natürlich müssen wir ausländische Gefährder Und was uns Wien auch lehrt: Die ach so einfachen abschieben, aber eben nur, wenn dies nach internationa- Parolen und teils offen rassistischen Antworten passen lem und deutschem Recht möglich ist. Das reicht aber eben nicht. nicht aus. Wir müssen auch bei deutschen Gefährdern Erstens. Der Täter von Wien war Österreicher. Und und denjenigen, die nicht abgeschoben werden können, deswegen führt die pauschale, an jeder Ecke und jedem aktiv werden. Natürlich brauchen wir starke Programme Ende geäußerte Forderung nach Abschiebung – Horst zur Prävention und zur Deradikalisierung. Aber für Seehofer hat es gesagt – als Lösung für alle Fragen in Gefährder, seien Sie islamistisch oder rechtsextremis- die Irre, meine Damen und Herren. tisch, brauchen wir vonseiten der Justiz eine scharfe Null- toleranzlinie. Der Weg des Paktes für den Rechtsstaat – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das klang an – muss konsequent weitergegangen werden. sowie des Abg. Detlef Seif [CDU/CSU]) Die Strafverfahren, die es bei Gefährdern immer gibt, Zweitens. Der Täter begründete seinen Hass und sein müssen beschleunigt entschieden werden. Und wir müs- Morden religiös. Tatsächlich aber stehen auch religiöse sen bei radikalisierten und gewaltbereiten Tätern im Voll- Muslime an der Seite der Bedrohten, schreiten ein und zug über die Möglichkeiten der Sicherungsverwahrung retten Menschen. So war es, als der Terrorist Albakr 2016 sprechen, meine Damen und Herren. von Geflüchteten überwältigt und bei der Polizei abge- Und schließlich fordere ich das BMI auf, Herr Innen- liefert wurde, und so war es jüngst auch in Dresden und minister, endlich entschlossen und konsequent, mit aller Wien. Härte gegen jegliche extremistischen Vereine mit Verbo- Vergessen wir nicht, meine Damen und Herren – es ten vorzugehen. Dass die Feinde unseres Rechtsstaats klang eben an –: Die meisten Menschen, die von Islamis- und unserer Freiheit das Vereinsprivileg für sich nutzen ten ermordet werden, sind Muslime. Und deswegen ist können, ist unerträglich. die Chiffre der Rechtsextremisten und der Islamisten vom Religionskrieg irreführend und falsch. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- sowie bei Abgeordneten der SPD und der ordneten der CDU/CSU und der FDP) FDP und des Abg. [CDU/CSU]) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23823

(A) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (C) Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Kollege Dr. Mathias Middelberg. GRÜNEN und des Abg. Dr. Lars Castellucci [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU) Der dritte Aspekt, den ich ansprechen möchte, betrifft Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): die Situation – ich sag das mal so –, in der das Kind schon Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon in den Brunnen gefallen ist; die Fälle haben wir ja leider gesagt worden: Der islamistische Terror und die islamis- auch. Man kann auch versuchen, in der Haft mit Deradi- tische Gefahr, die wir eine Zeit lang nicht immer so prä- kalisierung vorzugehen; was Sie gesagt haben, Herr sent im Auge hatten, sind nach wie vor hoch – in ganz Maier, ist richtig. Aber wir werden nicht alle diese Fälle Europa. erfassen können. Wir werden nicht alle gewissermaßen umerziehen können. Wir werden nicht alle mit gutmein- Ich will bewusst noch einmal Zahlen nennen: Unsere enden, wohlmeinenden Programmen erreichen können. Sicherheitsbehörden zählen hier in Deutschland gegen- Deswegen brauchen wir starke Sicherheitsbehörden. wärtig 28 000 Islamisten. Davon stufen sie 615 als Gefährder ein. Gestern im Ausschuss hat uns der Präsi- Ich habe Ihnen, Herr von Notz, eben sehr genau zuge- dent des Bundeskriminalamtes noch mal vor Augen hört. Sie haben gesagt: Wir brauchen starke Sicherheits- geführt, dass die Gefahr dadurch verschärft und ver- behörden; sie müssen personell und technisch stark auf- größert wird, dass wir jetzt zunehmend mit mehr IS- gestellt sein. Rückkehrern aus Syrien und Irak rechnen müssen. Der Extremismus insgesamt nimmt allerdings zu, nicht nur (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE der islamistische, sondern auch der von links und auch GRÜNEN]: Ja!) der von rechts. Rechts zählen wir 32 000 Extremisten und Ich sage: Wir brauchen sie auch stark aufgestellt, was die 72 Gefährder, und links zählen wir 33 000 Extremisten Kompetenzen angeht. Ich begrüße ausdrücklich, was und 5 Gefährder, etliche Tausend in allen Bereichen, de- Herr Maier dazu gesagt hat – das ist richtig –: Wir brau- nen unsere Sicherheitsbehörden Gewaltorientierung chen jetzt unbedingt so was wie die Quellen-TKÜ. bescheinigen. (Hans-Jürgen Irmer [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Also, die Gefahren nehmen zu. Minister Seehofer hat völlig zu Recht gesagt: Zunächst gilt es, den Blick auf den Die Quellen-TKÜ ist nichts anderes als Telefone abhö- Rechtsterrorismus und den Rechtsextremismus zu rich- ren, was wir schon dürfen. Aber die technische Entwick- ten – von ihm geht gegenwärtig die größte Gefahr aus –, lung ist halt weitergegangen, die Leute telefonieren nicht (B) (D) aber wir müssen genauso auf den Linksextremismus mehr so viel. Es wäre schön, wenn Sie sich dem Vorhaben schauen, und wir müssen genauso auf den Islamismus anschließen und zustimmen könnten und wir diese Quel- blicken, dessen Gefahr uns gerade in den letzten Wochen len-TKÜ für unseren Verfassungsschutz einrichten könn- noch mal ganz besonders vor Augen geführt wurde. ten. Ich werte das dann als Zustimmung, Herr von Notz. Das Thema müssen wir grundlegend angehen. Hierzu Das begrüßen wir ganz außerordentlich. ist schon viel Richtiges gesagt worden – gerade auch zum (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Thema Integration –, an welchen Punkten der Blick zu neten der SPD – Dr. Konstantin von Notz schärfen ist. Ich schließe mich hier ausdrücklich den Aus- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist tech- führungen des Kollegen Thomae von der FDP zum The- nisch etwas komplizierter, als Sie sagen, Herr ma Religionsfreiheit, aber auch zur Meinungsfreiheit und Kollege! Sonst hätten Sie es ja gemacht!) zum Verhältnis dieser beiden Freiheiten an. Ich fand das, was Sie gesagt haben, sehr zutreffend und richtig. Ich Wir wollen gar keine weiter gehenden Kompetenzen teile diese Einschätzung ausdrücklich. für den Verfassungsschutz; wir wollen aber, dass der Ver- fassungsschutz unter den heutigen technischen Bedin- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie gungen das machen kann, was er vor 10 oder vor 20 Jah- bei Abgeordneten der SPD) ren auch machen konnte. Das wollen wir umsetzen. Ich sage das auch, weil in meinem Wahlkreis an der Universität Osnabrück gerade ein Modellprojekt Imam- Ich sage Ihnen ganz ehrlich – letzte Bemerkung –: Wir ausbildung läuft. Dort werden schon Religionslehrer, also werden auch über andere Fragen – Stichwort: Online- Lehrer für islamische Theologie, ausgebildet. Jetzt pro- durchsuchung – in diesem Hause noch mal sprechen müs- biert man es mit der Imamausbildung. Ich halte dieses sen. Wir werden auch nicht umhinkommen, in wenigen Projekt, das ich exemplarisch herausgegriffen habe, wirk- Einzelfällen – vielleicht sind es 10 oder 20 pro Jahr –, in lich für ein ganz wichtiges Projekt. Wir sollten es konse- denen sich die Verdachtsmomente verdichten, mal auf quent fortführen und dann auch ins Werk setzen. Ich Speichermedien gucken zu müssen. Ich glaube, das sind glaube, es ist ganz wichtig, dass wir Glaubenslehrer in Themen, über die wir uns ernsthaft unterhalten müssen, diesem Land haben – und zwar völlig unabhängig davon, wenn wir es mit der Bekämpfung des Extremismus und für welche Religion sie Glaubenslehrer sind –, die die des Terrorismus wirklich ernst meinen. Sprache dieses Landes sprechen, die dieses Land mög- Herzlichen Dank. lichst kennen und die die Werte dieses Landes teilen, die demokratisch orientiert sind, die rechtsstaatlich orientiert (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- sind und freiheitlich denken. ordneten der SPD und der FDP) 23824 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

(A) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: sichts der existenziellen Bedrohung, die vom islamisti- (C) Ich erteile als Nächstes das Wort dem Kollegen Martin schen Terror ausgeht, für Ihr zögerliches, ja fast schon Hess von der AfD-Fraktion. hilfloses Agieren keinerlei Verständnis mehr. Politik hat die Aufgabe, die Rechtsgrundlagen an die reale Sicher- (Beifall bei der AfD) heitslage anzupassen und gegebenenfalls neue zu schaf- fen. Martin Hess (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Zum (Zuruf des Abg. Dr. Konstantin von Notz wiederholten Male stehen wir hier, weil islamistische [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Barbaren in Frankreich, in Österreich und in Deutschland Und deshalb: Klagen Sie nicht, sondern handeln Sie end- Menschen bestialisch ermordet haben. Zum wiederholten lich! Nur so werden wir den Kampf gegen den Terror Male müssen wir die übliche Betroffenheitsrhetorik zur auch gewinnen. Kenntnis nehmen, und natürlich versprechen sowohl die Regierung als auch der Rest der Fraktionen hier im Hau- (Beifall bei der AfD) se, alles Menschenmögliche zu tun, um den islamisti- Wir müssen jetzt endlich unsere Grenzen wirksam schen Terrorismus zu bekämpfen. Aber die Wahrheit schützen, damit nicht weiterhin islamistische Terroristen ist: Sie tun es nicht, und Sie haben es nie getan. in unser Land strömen. (Beifall bei der AfD) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE In Deutschland und in Europa sterben Menschen, weil GRÜNEN]: Der Mann war Österreicher!) Sie sich weigern, die erforderlichen Schutzmaßnahmen Der syrische Terrorist von Dresden hätte seinen Messer- umzusetzen, und dafür sollten Sie sich schämen. Ihr anschlag, Herr von Notz, nie begehen können, wenn die Totalversagen ist nicht weiter hinnehmbar. Bundesregierung, wie die AfD seit Jahren fordert, den (Beifall bei der AfD) Schutz unserer Grenzen veranlasst hätte. Ihre Politik der offenen Grenzen sorgt für islamistischen Terror in Die Bürger haben es satt, von Ihnen immer nur große Deutschland und in Europa und damit für Leid und Tod. Worte zu hören. Die Bürger wollen, dass das Krebsge- Damit muss jetzt endlich Schluss sein! schwür des islamistischen Terrorismus endlich entfernt und Deutschland wieder sicher wird. Das ist die derzeit (Beifall bei der AfD) wichtigste Aufgabe des Staates, und diese muss sofort Unsere Sicherheitsbehörden stufen derzeit 619 Islamis- mit aller Konsequenz und mit allen erforderlichen Mit- ten als Gefährder ein. All diese Gefährder wollen einen teln umgesetzt werden. (B) Terroranschlag begehen. Mehr als die Hälfte von ihnen (D) (Beifall bei der AfD) hält sich in Deutschland auf, die meisten sind auf freiem Das fängt mit der klaren und unmissverständlichen Fuß. Weder Fußfessel noch Observation helfen dabei, Benennung der Wahrheit an. Wenn die Kanzlerin bei diese tickenden Zeitbomben zu entschärfen. Das wissen ihrer Erklärung zum islamistischen Terroranschlag von wir auch seit mindestens fünf Jahren, und der Anschlag Nizza mit keinem Wort die Ursache erwähnt, nämlich von Dresden hat das wieder eindringlich und bitter bestä- den Islamismus, dann ist das Feigheit vor dem Feind. tigt. Ja, Sie haben richtig gehört. Islamisten haben Europa Ich frage Sie: Wie viele unschuldige Menschen müssen den Krieg erklärt, und wir müssen jetzt endlich zurück- denn noch dem islamistischen Terror zum Opfer fallen, schlagen. bevor Sie endlich effektive Maßnahmen ergreifen? (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Dazu ist es unabdingbar, dass der Feind auch klar benannt Wir müssen so schnell wie möglich den Aktionsradius wird. Und wer glaubt, er könne den islamistischen Terror der potenziellen Massenmörder auf null reduzieren. Das quasi totschweigen, der drückt sich nicht nur um die ist nur mit den Maßnahmen möglich, die unsere Fraktion Lösung des Problems, nein, er ist Teil des Problems. schon seit Langem fordert: Alle islamistischen Gefährder Wovor haben Sie denn Angst? Glauben Sie, dass es, sind sofort in Abschiebehaft zu nehmen und abzuschie- wenn wir effektiv gegen den Terror vorgehen, dann ben. noch weitere Terroranschläge geben wird? Ich sage Ihnen: Ihre feige Zurückhaltung sorgt dafür, dass die (Zuruf der Abg. Claudia Roth [Augsburg] Lage immer weiter eskaliert. Der barbarische Islamismus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) lässt sich nicht mit Appeasement bekämpfen, sondern nur Wo dies nicht möglich ist, brauchen wir endlich eine mit absoluter Entschlossenheit, und dafür ist es aller- bundesweit einheitliche Rechtsgrundlage für den länger- höchste Zeit. fristigen Gefährdergewahrsam. Islamistische Gefährder (Beifall bei der AfD) müssen so lange hinter Gitter, bis sie keine Gefahr mehr für Leben und Gesundheit unserer Familien darstellen. Wenn wir jetzt keine Härte zeigen, werden wir diesen Um das schnellstmöglich umzusetzen, hat die AfD-Frak- Kampf verlieren, und das wird die AfD-Fraktion unter tion diese Woche auch einen entsprechenden Antrag in keinen Umständen zulassen. Also tun Sie bitte nicht so, den Bundestag eingebracht. Ich rate Ihnen: Stimmen Sie als würden Sie jetzt schon alles tun, was der Rechtsstaat diesem Antrag zu! hergibt, um den islamistischen Terrorismus zu bekämp- fen. Das ist mitnichten der Fall. Die Bürger haben ange- ( [CDU/CSU]: Sonst?) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23825

Martin Hess (A) Wer sich jetzt noch effektiven Maßnahmen zur Terrorbe- Gesellschaft auf einmal gewalttätig und brutal wird. (C) kämpfung verweigert, der trägt Mitverantwortung für Genau das gilt es zu verhindern, liebe Kolleginnen und jeden künftigen Anschlag. Kollegen! (Beifall bei der AfD – Peter Beyer [CDU/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CSU]: Hör auf! Das ist unerträglich!) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Und um nicht missverstanden zu werden: Gegen Mus- lime, die mit uns in Frieden leben wollen und unsere Unsere Antwort ist: mehr Demokratie, mehr Offenheit, Grund- und Werteordnung teilen, hat niemand etwas. mehr Humanität. Wer aber den Koran über unsere Gesetze stellt, wer unse- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ren Staat verachtet, wer Hass predigt oder unsere Gesell- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – schaft aktiv bekämpft, Dr. [AfD]: Ja, natürlich!) (Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das war die Antwort von Jens Stoltenberg nach dem NEN]: Wie die AfD!) grausamen Attentat auf Utoya, wo 69 vorwiegend ganz junge Menschen ihr Leben verloren haben. Darum geht für den haben wir eine klare Botschaft: es. Wir dürfen eben nicht den Zielen der Terroristen nach- (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Wir auch!) geben, sondern müssen deutlich machen: Wir stehen ein für ein offenes Land! Wir stehen ein für Mitmenschlich- Wir, die Bürger dieses Landes, werden unsere Werte und keit! Der Kollege von Notz hat es beschrieben: In Öster- die Art und Weise, wie wir leben, gegen eure menschen- reich konnten wir gerade erleben, dass zwei muslimische verachtende Ideologie des Hasses verteidigen, und wir Bürger geholfen und einem Polizisten das Leben gerettet werden siegen. Also, passt euch an, oder geht! haben, dass sie eingegriffen haben. Mitmenschlichkeit hat nichts damit zu tun, woher die Menschen kommen, (Beifall bei der AfD) sondern hat damit etwas zu tun, was die Menschen im Kopf haben und was sie im Herzen tragen. Das ist das Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Entscheidende. Die nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kollegin Ute Vogt. der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- (Beifall bei der SPD) NISSES 90/DIE GRÜNEN) Terrorismusbekämpfung beginnt also schon in den (B) Ute Vogt (SPD): Köpfen, beginnt damit, dass wir Aufklärung zulassen. (D) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Allen antiaufklärerischen Tendenzen, die am Ende zu denke, es gibt überhaupt keinen Anlass dafür, zu glauben, Fanatismus führen, ob von Rechtsextremisten, von Isla- dass irgendjemand in diesem Raum nicht dafür arbeitet, misten oder auch von Linksextremisten, erteilen wir eine jedenfalls auf der Seite der demokratischen Parteien, dass Absage, weil es nie gut ist, wenn man fanatisch und dieses Land und auch andere Länder sicher sind vor Ter- extremistisch agiert, und weil es nicht gut ist, wenn rorismus. Und es ist niemand hier in diesem Raum, der man einfach nur gewalttätig antwortet. nicht dafür einstehen würde, dass Terroranschläge, egal Wir haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten erle- von wem sie verübt werden, möglichst nie wieder statt- ben können, dass es große Erfolge bei der Terrorismus- finden. Wir bekämpfen den Terrorismus mit allen Mit- bekämpfung gab. Natürlich gibt es bei jedem Anschlag teln, die der Rechtsstaat möglich macht. öffentliche Aufmerksamkeit, öffentliche Begleitung und zu Recht Betroffenheit. Was in der Öffentlichkeit aber (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten weniger wahrgenommen wird, das sind die vielen Ermitt- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE lungserfolge unserer Sicherheitsbehörden, die in den letz- GRÜNEN) ten Jahren eine enorme Zahl an Straftaten im Vorfeld Es gehört in einer parlamentarischen Demokratie – und verhindern konnten. Unsere Sicherheitsbehörden haben die gilt es zu verteidigen – auch dazu, dass wir uns gegen- aufgespürt, wo sich Terroristen zusammengetan haben, seitig zuhören, Herr Hess. Wenn Sie der Debatte zugehört haben Einzeltäter aufgespürt, die auf einmal Sprengstoff hätten, hätten Sie erfahren, dass bei vielen der Straftäter gekauft und Attentate vorbereitet haben. Diese wurden eine Abschiebung leider gar nicht funktioniert, weil sie verhaftet, verurteilt und teilweise auch abgeschoben, deutsche Staatsbürger sind. Jetzt in Österreich war es zum soweit sie nicht deutsche Staatsbürger waren. Es gilt, Beispiel ein österreichischer Staatsbürger. Also machen das eben auch zur Kenntnis zu nehmen und verstärkt Sie den Leuten hier nichts vor mit Ihren Pseudolösungen deutlich zu machen, dass vieles nicht passiert ist, weil und irgendwelchen Vorschlägen! So, wie Sie sie hier vor- wir in den letzten Jahren den islamistischen Terror eben getragen haben, fördern Sie nur die Gewalt und schüren nicht aus den Augen verloren haben. Das ist in der media- den Hass in unserem Land. len Wahrnehmung manchmal vielleicht etwas unterge- gangen. (Volker Münz [AfD]: Das ist Unsinn!) Ein Letztes will ich noch sagen: Terror entsteht auch Sie sagen hier verbal so etwas wie „Wir erklären den durch Nachahmung. Ich finde, das ist ein ganz wichtiger Krieg“ und „Wir schlagen zurück“. Ja, das ist es doch, Punkt, den wir gerade in Zeiten der sozialen Medien stark was der Terrorismus erreichen will, nämlich dass diese beachten müssen. Jedes geteilte Video von Szenen, in 23826 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Ute Vogt (A) denen Menschen umkommen, jedes Video, in dem ein Minister, dass sie gegenüber ihren Mitgliedern eine Null- (C) Täter vermeintliche Erfolge in seiner eigenen Szene dar- toleranzstrategie fahren und auch nur den Ansatz von stellen kann, ist ein Beitrag dazu, dass es weiterhin Hass, islamistischem Gedankengut zurückweisen. dass es weiterhin Verfolgung und Gewalt geben wird. Ich Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wurde glaube, da müssen wir noch stärker ansetzen. schon gesagt: Wir haben über 600 Gefährder in Deutsch- Wir müssen auch mit den Medien noch intensiver dis- land, solche mit deutschem Pass und solche mit ausländi- kutieren, dass es nicht angeht, dass die Taten wieder und schem Pass. Wir müssen natürlich primär danach wieder gezeigt werden, dass die Täter von vorne bis hin- schauen, dass wir die ausländischen Gefährder aus unse- ten durchleuchtet werden. Wir müssen über die Opfer rem Land hinausbringen. Das haben wir durch eine Ver- reden und die Täter so wenig wie möglich erwähnen. besserung der Maßnahmen geschafft. Der Präsident des Nur so schaffen wir es, ihnen ihre Wichtigkeit zu neh- Bundeskriminalamtes hat heute Mittag im Untersu- men. Dann sind sie keine Vorbilder mehr. Dann sind sie chungsausschuss Breitscheidplatz berichtet, dass an die das, was sie sind: kleine, mickrige gewalttätige Verbre- 100 Gefährder in den letzten Jahren abgeschoben werden cher. So muss man sie bezeichnen. Und das hilft auch, konnten. Nachahmer möglichst kleinzuhalten. Wir haben das auch gefördert, etwa durch das Geord- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nete-Rückkehr-Gesetz, das wir beschlossen haben. Ich der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE freue mich, wenn der Vorsitzende der Grünen, der Herr GRÜNEN) Habeck, in der „Welt am Sonntag“ sagt: Ja, wir müssen ausländische Gefährder ausweisen. – Nur würde ich mich In diesem Sinne bitte ich um eine differenzierte Debat- auch darüber freuen, wenn die Grünen bei den entsprech- te. Ich bitte darum, nicht zu versuchen, dieses Thema enden Taten mitmachten und nicht nur darüber redeten. politisch zu instrumentalisieren. Das haben unsere Bür- Sie hätten beispielsweise den Entwurf zu einem Geord- gerinnen und Bürger nicht verdient. Sie verdienen unse- nete-Rückkehr-Gesetz unterstützen können. Sie könnten ren Einsatz für ihre Sicherheit. etwa heute Abend bei der nächsten Debatte mitmachen, (Beifall bei der SPD) wenn wir in diesem Bereich entsprechend nachbessern. Ansonsten sind die Worte von Herrn Habeck nur wertlose Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Prosa, und dann ist es nicht glaubwürdig. Der nächste Redner ist der Kollege Alexander Throm, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – CDU/CSU-Fraktion. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU) GRÜNEN]: Der fühlt sich sehr zuständig, der (B) Herr Habeck! Aber der ist gar nicht da!) (D) Alexander Throm (CDU/CSU): – Herr Kollege von Notz, zu Ihnen komme ich auch Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und noch. – Wir haben 2017 auch für die deutschen Gefährder Kollegen! Der islamistische Terror zieht eine schreckli- die Gesetze zur Sicherungsverwahrung verschärft. Herr che Blutspur durch Europa. Noch letzten Freitag haben Kollege von Notz, ich habe es sehr wohlwollend zur wir hier über Nizza und Dresden debattiert – ich durfte Kenntnis genommen, dass Sie gerade in Ihrer Rede ge- dazu auch sprechen –, und jetzt debattieren wir über sagt haben: Da müssen wir noch mehr tun. – In der Tat, Wien. Dieser Anschlag erfüllt uns ebenso mit Trauer die Anwendung dieser Gesetze ist noch etwas subopti- und Abscheu wie mit Wut. Wir sind mit unseren Gedan- mal. Wir müssen auch evaluieren, ob wir da noch etwas ken bei unseren österreichischen Freunden und den nachschärfen müssen. Nur, Herr Kollege von Notz, Angehörigen der Opfer. warum haben Sie dann als Grüne 2017 nicht wenigstens diesen Gesetzentwürfen zugestimmt? Sie haben sie abge- Der islamistische Terror war nie weg, auch wenn er die lehnt. letzten Monate etwas in den Hintergrund getreten ist. Er ist nach wie vor sehr real, und gerade jetzt droht auch die (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Gefahr von Nachahmertaten. Aber wir werden nicht GRÜNEN]: Lassen Sie uns mitberaten!) nachgeben. Wir werden unsere Werte noch entschiedener Insofern müssen Sie Ihren Worten eben auch Taten folgen einfordern als bisher: die Gleichberechtigung von Mann lassen. und Frau, die Religionsfreiheit für alle, das heißt auch den (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Konstantin Respekt für den Andersgläubigen, und die Presse- und von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich Meinungsfreiheit, die gerade auch in Bezug auf Reli- würde meinen Terminkalender freiräumen für gionsgemeinschaften gilt. Ich will deutlich sagen, dass die Termine!) die allermeisten der in Deutschland lebenden Muslime dies ganz genauso sehen und diesen Islamismus ganz Eine letzte Bemerkung möchte ich machen. Wir müs- genauso ablehnen, wie wir alle hier dies tun. sen auch schauen, dass wir die ausländischen Gefährder abschieben. Das gilt auch für diejenigen aus Syrien. Des- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. wegen brauchen wir eine Neubewertung des Abschiebes- Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE topps, auch wenn wir wissen, dass es noch andere Hürden GRÜNEN]) gibt und wir natürlich rein praktisch Personen nur schwer Ich will aber auch deutlich sagen, dass wir insbeson- nach Syrien verbringen können. Aber das eine ist die dere von den muslimischen Verbänden, die auch Ge- Bewertung der Sicherheitslage in Syrien, die das Aus- sprächspartner unserer Regierung sind, einfordern, Herr wärtige Amt vornimmt, und das andere ist die Frage, ob Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23827

Alexander Throm (A) die Innenministerkonferenz den absoluten Abschiebe- Freiheit leben können und dass es eben die Terroristen (C) stopp nicht doch wenigstens für eine bestimmte Perso- sind, die Angst haben müssen, und zwar vor Verfolgung nengruppe aussetzen kann, durch unsere topaufgestellten deutschen Sicherheitsbe- hörden. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist internationales Recht!) (Beifall bei der SPD) und das ist die Personengruppe der eingestuften Gefähr- Vom Terror in Europa profitieren meines Erachtens der aus Syrien. Denn wenn jemand selbst erklärt, er sei zwei Seiten. Auf der einen Seite profitieren die Terroris- Feind von Deutschland und er beabsichtige, hier Men- ten bzw. der „Islamische Staat“ selber. Sie töten feige und schen zu töten oder zu schädigen, dann hat er keine Chan- brutal unschuldige Menschen und rühmen sich damit. ce verdient. Auf der anderen Seite profitieren die Rechten und die (Beifall bei der CDU/CSU) Islamfeinde, auch die in diesem Hohen Haus. Für sie ist jeder islamistische Anschlag ein gefundenes Fressen, um Er verdient dann weder den Schutz des Asylrechts noch Ressentiments und Hass in unserer Gesellschaft gegen- den Schutz eines Abschiebestopps. Deswegen ist mein über unseren muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbür- Appell an Sie, Herr Minister Seehofer, dass Sie die Mög- gern und gegenüber demokratischen Parteien zu schüren. lichkeit prüfen – unabhängig von der Einschätzung des Auswärtigen Amtes –, wenigstens diese kleine Gruppe Für Demokratiefeinde ist die Schuldfrage geklärt. In von Gefährdern aus Syrien vom Abschiebestopp auszu- ihren Augen haben alle Muslime Schuld. Ihre Kollegin nehmen. Frau von Storch kommentierte auf Twitter: Solche Anschläge passieren immer da, wo es islamische Ge- Herzlichen Dank. meinden gibt. – Die intellektuelle Leistung, zwischen (Beifall bei der CDU/CSU) Islam und Islamismus zu unterscheiden, überstieg dabei ganz offenbar ihre Fähigkeiten. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Der nächste Redner ist für die SPD-Fraktion der Kolle- ge Uli Grötsch. Natürlich – das war schon immer so – haben die Rech- ten vermeintlich einfache Lösungen parat, wenn es darum (Beifall bei der SPD) geht, wie der Terror aus Deutschland verschwindet. Nur, leider ist die Realität viel komplexer. Weder gibt es ein- Uli Grötsch (SPD): fache Lösungen, noch gibt es hundertprozentige Sicher- Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und heit. Auch wenn wir in den Sicherheitsbehörden die bes- (B) (D) Kollegen! Wir alle stehen noch unter Schock angesichts ten Frauen und Männer haben, die es wohl weltweit gibt: der sich überschlagenden Ereignisse in Europa, erst hier Selbst die können nicht für hundertprozentige Sicherheit in Deutschland, in Dresden, dann zum wiederholten Male überall in Deutschland und Europa sorgen. in Frankreich, diesmal in Nizza, und jetzt jüngst in Wien, Aber ich sage Ihnen: Genauso wenig, wie wir den IS- und das alles, nachdem bis Oktober die Zahlen islamisti- Terroristen erlauben, uns Angst zu machen, uns zu spal- scher Anschläge und Anschlagsvorhaben in Deutschland ten und unsere freie Gesellschaft zu attackieren, genauso und Europa insgesamt rückläufig waren. Das zeigt uns: wenig werden wir ihnen erlauben, Profit aus unserer Terrorismus ist eine dauerhafte Gefahr und seine Trauer und unserer Solidarität zu schlagen. Bekämpfung eine dauerhafte Aufgabe, in allen Bereichen der Gesellschaft, von der Zivilgesellschaft über die Jetzt wachsen wir erst recht zusammen. Zum Beispiel Sicherheitsbehörden bis hin zu jeder und jedem von kandidiert ein Hanauer Architekt mit türkischen Wurzeln uns. Das betrifft Terrorismus in all seinen hässlichen Aus- für den Bundestag, nachdem sein Cousin am 19. Februar prägungen gleichermaßen. 2020 in Hanau von einem Rechtsextremisten ermordet Unsere Gedanken sind bei den Opfern dieser schreck- wurde. Abdullah Unvar sagt, er wolle sich für das fried- lichen islamistischen Terroranschläge und deren Ange- liche Zusammenleben und gegen Menschenfeindlichkeit hörigen. Für uns Demokratinnen und Demokraten in engagieren. „Jetzt erst recht“, sagt er. Ich bin froh, dass er Europa heißt das jetzt, dass wir solidarisch Seite an Seite das für die SPD macht, liebe Kolleginnen und Kollegen. stehen und geschlossen gegen alle Terroristen und Demo- (Beifall bei der SPD) kratiefeinde aufstehen, die unsere Lebensweise und unse- re Werte in Europa bekämpfen. Es sind übrigens zwei Menschen mit türkischen Wur- zeln, die als Helden von Wien gefeiert werden, weil sie (Beifall bei der SPD sowie des Abg. selbstlos einen Polizeibeamten aus dem Kugelhagel Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE gerettet haben. Ich sage allen Demokratiefeinden, egal GRÜNEN]) ob islamistisch oder rechtsextrem: Wir lassen uns nicht Sie wollen uns Angst machen, liebe Kolleginnen und spalten! Im Gegenteil: Bei jedem Anschlag wachsen wir Kollegen. Aber ich sage Ihnen: Die Einzigen, die jetzt noch näher zusammen, und das erfüllt mich mit Stolz. Angst haben sollten, sind die Terroristen selber. Terroris- Wir sind mehr – jetzt erst recht, liebe Kolleginnen und mus ernährt sich vom Hass. Lassen Sie uns deshalb alle Kollegen. gemeinsam alles dafür tun, dass diese Angst bei den Vielen Dank. Menschen in Deutschland und Europa nicht entsteht, son- dern dass alle Menschen wissen, dass sie in Frieden und (Beifall bei der SPD) 23828 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

(A) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Ich möchte an dieser Stelle betonen, lieber Konstantin (C) Der nächste Redner ist der Kollege Marian Wendt, von Notz, weil du von „allem rechtlich Möglichen“ CDU/CSU-Fraktion. gesprochen hast: Es ist jetzt an der Zeit, Farbe zu beken- nen. Macht mit! Reiht euch ein! Sorgt für Akzeptanz, und (Beifall bei der CDU/CSU) unterstützt die schnelle Einführung der Quellen-TKÜ! Aber wir müssen auch ein Stück weiter schauen, außer- Marian Wendt (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und halb unseres Landes. Der mutmaßliche Attentäter von Kollegen! Dresden, Paris, Nizza, Lyon, Wien – innerhalb Dresden ist 2015 nach Deutschland gekommen, zusam- von 28 Tagen wurden neun Menschen in Europa, mitten men mit hunderttausend weiteren Menschen. In dieser unter uns, auf grausamste Art und Weise von Islamisten Ausnahmesituation wussten unsere Sicherheitsbehörden ermordet und viele weitere schwer verletzt. Wir trauern zeitweise nicht, wer da alles über die Grenzen zu uns mit den Angehörigen und Freunden der Opfer. kam. Deshalb: Ja, wir als Union setzen uns für striktere Einreisekontrollen ein. Wir müssen an unseren europä- Wir befinden uns in einem europäischen Terrorherbst, ischen Außengrenzen die Hintergründe und Motive der und der islamistische Terrorismus in Europa nimmt zu. Einreisenden aus entsprechenden Gebieten vorab prüfen Aber – das haben die Kolleginnen und Kollegen heute und erst dann die Einreise ermöglichen. Es braucht ein- bestätigt – es ist kein Kampf zwischen Christen und Mus- heitliche Terrordatenbanken, einheitliche Gefährderlisten limen. Es ist ein Kampf zwischen der Mehrheit der Men- und ein einheitliches Asylregime, damit wir dieser Situa- schen, die sich für Frieden engagieren und sich ein Leben tion gerecht werden können. Ansonsten setzen wir unsere in Freiheit wünschen, und denen, die die Welt brennen Bürgerinnen und Bürger in Europa einer möglichen Ge- sehen wollen. Deswegen ist der gemeinsame Kampf aller fahr aus wie in Nizza oder Dresden, und das dürfen wir gesellschaftlichen Kräfte besonders wichtig. Wir sollten unter keinen Umständen zulassen. als Christen, als Juden, als Muslime, als Atheisten zusam- menstehen. Für mich ist es, ehrlich gesagt, immer noch schwierig, zu verstehen, dass ein Gefährder, der in Italien als solcher Genau weil es sich um islamistischen Terrorismus han- registriert ist, überhaupt keinen Alarm auslöst, wenn er delt, ist es besonders wichtig, Frau Ali, dass die Muslime sich in Frankreich aufhält. Das müssen wir zwingend und ein deutliches Zeichen senden. Es muss klar sein, dass sofort beenden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Muslime diesen Hass und diese Gewalt verurteilen; die- ses Signal wünsche ich mir noch sichtbarer. (Beifall bei der CDU/CSU) (Amira Mohamed Ali [DIE LINKE]: Und Neben dem dringend benötigten schnelleren und euro- warum sprechen Sie jetzt genau mich an?) paeinheitlichen Informationssystem ist auch ein – es wur- (B) de von mir schon angesprochen – einheitliches Asylsys- (D) – Weil Sie das gefordert haben, und ich unterstütze Sie tem wichtig. Wir müssen alles dafür tun – das haben die dabei. Kolleginnen und Kollegen heute auch gesagt –, dass wir Der Islamismus ist eine Gefahr für Deutschland und die vermeidbaren Gefahren begrenzen, und wir müssen Europa. Der Angriff auf ein schwules Paar in Dresden dafür sorgen, dass unsere Bürgerinnen und Bürger kein war der Beginn dieses europäischen Terrorherbstes. Der Leben in Angst und Hass führen, sondern sich sicher mutmaßliche Angreifer war ein mehrfach verurteilter fühlen, dass sie in unserem freiheitlichen Land, auf die- islamistischer Gefährder. Unsere Sicherheitsbehörden sem freiheitlichen Kontinent gerne leben. Dafür braucht tun ihr Möglichstes, um die Bevölkerung vor Anschlägen es eine starke Zivilgesellschaft, die ein Bollwerk gegen wie diesem zu schützen, und wir hier im Deutschen Bun- radikale Islamisten aufbaut. destag – wie auch die Kolleginnen und Kollegen in den Ich glaube – das sage ich zum Schluss –, dieser europä- Landtagen – sind aufgefordert, unser Möglichstes zu tun, ische Terrorherbst erinnert uns doch daran, dass wir – um sie dabei zu unterstützen. Nun heißt es nämlich ganz egal was wir glauben oder denken – für unsere freiheit- konkret, Farbe zu bekennen. liche Gesellschaft in Europa kämpfen werden und diese Wir haben vom Innenministerium und von der Bundes- Terroristen am Ende nicht siegen. regierung einen Vorschlag zur Umsetzung der Quellen- Vielen Dank. TKÜ auf dem Tisch. Alle Fraktionen hier im Hohen Haus können diesen guten Vorschlag, diese Novelle zum Ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- fassungsschutzgesetz, unterstützen und daran mitarbei- ordneten der SPD) ten, dass unsere Sicherheitsbehörden, die Männer und Frauen, die für unsere Sicherheit zuständig sind, entspre- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: chende Instrumente an die Hand bekommen, um uns Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Aydan noch besser vor diesen Gefährdern zu schützen, liebe Özoğuz. Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Denn wir dürfen aus meiner Sicht nicht akzeptieren, dass Aydan Özoğuz (SPD): unsere Sicherheitsbehörden den Terroristen wegen man- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum gelnder Befugnisse im digitalen Raum hinterherlaufen. Ende der Debatte möchte ich noch mal festhalten: Wir Wir können im Jahre 2020 nicht mit der Gesetzgebung reden in diesem Haus über die zutiefst schockierenden von 1990 gegen Terroristen vorgehen. und furchtbaren Anschläge in verschiedenen Städten Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23829

Aydan Özoğuz (A) Europas. Ich habe aber den merkwürdigen Eindruck, dass Brüder in Frankreich erinnern. Sie haben ja noch mit (C) wir es nicht alle ganz gleich meinen. Das sage ich jetzt in dem Polizisten gesprochen und wussten, dass er ein Mus- aller Deutlichkeit zu Ihnen, Herr Hess. Es war nicht nur lim war. Das hat sie nicht davon abgehalten, ihn kaltblü- Ihre Kriegsrhetorik, die meine Kollegin Ute Vogt schon tig zu erschießen. angesprochen hat. Würden Sie von dieser Stelle aus nur Andersherum halfen zwei türkeistämmige Österreicher einmal vom „Krebsgeschwür des Rechtsterrorismus“ der verletzten älteren Dame und dem Polizisten. Sie sprechen, dann würde ich Ihnen mehr glauben, dass Sie haben sicherlich nicht über Religionszugehörigkeiten es ernst meinen mit Ihrem Kampf gegen Extremismus in nachgedacht, sondern einfach einen Wahnsinnigen gese- all seinen Formen und nicht nur gegen eine Richtung hen, der auf Menschen schießt, und sofort geholfen. So davon. müssen wir miteinander agieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des Auch ich möchte noch einmal festhalten: Wir stehen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) natürlich fest an der Seite unserer französischen und Die Welt der Extremisten und Attentäter ist nicht so österreichischen Freunde. Wir trauern mit den Angehöri- leicht zu zeichnen, wie es einige hier immer wieder glau- gen der Opfer und wünschen allen Verletzten schnelle ben machen wollen. Genau hier, am Punkt der Radikali- Genesung. sierung, müssen wir ansetzen und unsere Bemühungen Wichtig ist aber auch: Wir teilen nicht nur diesen intensivieren. Ob es eine Hasspredigt in einer extremisti- Moment der Trauer, sondern stehen gemeinsam gegen schen Moscheegemeinde ist, ob es wirre Thesen in Extremisten, gegen Terroristen, gegen jeden, der meint, Onlineforen sind ober ob es die Rekrutierung von aus- dass er sich über das Gesetz und das Leben von anderen ländischen Terrororganisationen ist, die Hass in den Köp- stellen dürfe. Das dürfen wir nicht zulassen. Unsere fen dieser Täter säen – wir müssen aufmerksam sein. Zur Innenpolitiker haben schon einiges dazu mit Blick auf Imamausbildung könnte man jetzt eine Menge dazu die Sicherheitspolitik gesagt, so Herr Landesminister sagen, wie viele dicke Bretter wir damals bohren muss- Maier und Herr Bundesminister Seehofer. Wir müssen ten; aber immerhin sind wir ja schon ein paar Schritte hier gemeinsam zusammenstehen und sowohl zu uns als weiter. auch nach draußen immer sagen: Wir lassen nicht nach in Es schockiert mich zutiefst, dass Menschen gerade in unserem Bemühen um unsere Freiheiten, um unser kost- unseren Gesellschaften derart ihre Menschlichkeit verlie- bares und übrigens auch hart erarbeitetes Miteinander. ren und zu solch einer Gefahr für andere werden. Und es Das müssen wir verteidigen. Und das können wir nur schockiert mich, dass sie zur Rechtfertigung ihrer Taten (B) schaffen, wenn wir uns von niemandem dieser Extremis- beispielsweise auch den Islam, meine Religion, nennen. (D) ten in die Irre führen lassen. Ich weiß, dass Sie das eben nicht so gemeint haben, (Beifall bei der SPD) Herr Wendt. Aber es war etwas eigenartig, dass Sie gera- Diese grausamen Taten – es wurde schon gesagt – sol- de ausgerechnet Frau Mohamed Ali angesprochen haben, len uns verunsichern. Die Attentäter und ihr Umfeld zie- (Beifall bei der SPD – Marian Wendt [CDU/ len perfide darauf ab, dass wir uns gegenseitig miss- CSU]: Weil sie es auch angesprochen hat!) trauisch beäugen, nach Herkunft, nach Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften sehen; einige schüren als Sie sich an die Muslime gewandt haben. Ich glaube, das durchaus auch. Die Gefahr für uns alle geht von all Sie haben das anders gemeint. Aber ich wollte sagen: Das denen aus, die bereit sind, gewalttätig zu sein. Ein rechts- ist es ja gerade, was wir nicht wollen. Wir wollen, dass extremer Terrorist in Halle, der plant, eine jüdische wir zusammenstehen. Gemeinde auszulöschen, und dann wahllos Passanten Ich möchte schon auch noch mal sagen, wie widerwär- erschießt, hat das gleiche Ziel wie die IS-Rekruten, die tig das ist. Ich war nie Fan dieser Karikaturen von „Char- wahllos auf Menschen schießen. Was diese völlig unter- lie Hebdo“. Ich möchte es deutlich sagen: Sie stoßen schiedlichen Täter vereint, ist der Wille, zu töten, im mich ab. Das darf ich hier sagen, so wie jemand anderes Namen ihrer jeweils eigenen Radikalität, ihres Fanatis- diese Karikaturen zeichnen darf. Niemand darf sich aber mus und ihrer menschenverachtenden Ideologie. Ob isla- erheben und einen anderen Menschen dafür verfolgen mistischer Attentäter oder Rechtsextremist, jeder Fana- oder gar umbringen. tiker ist Feind unserer Gesellschaft, und dem sollten und müssen wir uns immer gemeinsam entgegenstellen. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende. bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aydan Özoğuz (SPD): Natürlich müssen wir uns auch die Motive sehr genau Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Wir brau- anschauen, schon aus dem Interesse heraus, uns zu schüt- chen gegen Fanatismus ohne Zweifel gut ausgestattete zen. Eines will ich doch noch mal sagen: Dem Attentäter Sicherheitsbehörden. Die stärkste Antwort auf Hass und in Wien beispielsweise war es ja völlig egal, auf wen er Gewalt aber bleibt die Menschlichkeit als Leitbild für geschossen hat. Er hat auch einen Nordmazedonier unser Zusammenleben. Ich möchte an dieser Stelle getroffen, obwohl er selber einer ist; er hat die gleiche erwähnen, dass ich es ganz wichtig fand, dass sich auch Herkunft. Ich möchte auch an die zwei fanatischen islamische Organisationen und Moscheen in all diesen 23830 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Aydan Özoğuz (A) Ländern zu Wort gemeldet haben und deutlich gesagt Wenn wir das akzeptieren möchten oder können – manch (C) haben, wie stark sie diese Taten verurteilen und mit wel- einem wird das vielleicht sogar schwerfallen –, dann cher Abscheu sie sie betrachten. müssen wir diese Debatten ehrlich führen und zu dem Schluss kommen, dass es nicht ausreicht, nur Gesetze Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: zu erlassen und unsere Sicherheitsbehörden zu stärken. Denn was tun wir damit? Wir bekämpfen damit die Frau Kollegin, Sie müssen sich an die Redezeit halten. Symptome.

Aydan Özoğuz (SPD): (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Sie haben völlig recht. Vielen Dank, Herr Präsident. GRÜNEN]: Ja! Vereinsverbote! Los geht’s!) (Beifall bei der SPD) Wir müssen aber an die Ursache heran. Die Ursache liegt im politischen Islamismus, meine Damen und Herren. Das möchte ich hier mal ganz klar so zur Sprache brin- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: gen. Herr Kollege von der AfD, Sie telefonieren jetzt seit fünf Minuten. Wenn Sie telefonieren wollen, gehen Sie (Beifall bei der CDU/CSU) doch bitte raus. Wenn ich sage, dass es vielleicht nicht ausreicht, mit Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Gesetzen und einer Stärkung der Sicherheitsbehörden Christoph Bernstiel, CDU/CSU-Fraktion. gegen dieses extrem gefährliche Phänomen vorzugehen, dann nenne ich auch einige Maßnahmen. Das unterschei- (Beifall bei der CDU/CSU) det uns Regierungsfraktionen – ich schließe die SPD ein – fundamental von der AfD, die hier immer nur Forderun- Christoph Bernstiel (CDU/CSU): gen in den Raum wirft. Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Ich nenne Ihnen ein paar Maßnahmen und möchte aus Kollegen! Viele Menschen in unserem Land haben einem kürzlich in der „Welt“ erschienenen Artikel zitie- Angst, Angst vor Islamismus, vor politischem Terror im ren. Dieser wurde unter anderem von Necla Kelek, Namen des Koran. Diese Angst ist tatsächlich nicht unge- Seyran Ates und Ahmad Mansour gezeichnet. – Dazu rechtfertigt. In Anbetracht der Tatsache, dass wir unge- möchte ich sagen: Ahmad Mansour wäre sicherlich nicht fähr 28 000 islamistische Gefährder in unserem Land stolz darauf, von der AfD zitiert zu werden. – Mitge- zählen, kommt auch der Chef des Bundesamtes für Ver- zeichnet haben ihn auch meine Kollegen Linnemann fassungsschutz zu der Überzeugung – ich zitiere –: (B) und de Vries. Darin stehen einige Forderungen, die ich (D) … wir müssen jeden Tag auch in Deutschland mit gerne hier anführen möchte: Wir brauchen eine Schul- einem islamistischen Anschlag rechnen. studie. Wir brauchen die Erfahrungen der Lehrer im Umgang mit Islamismus im Alltag, in der Schule. Was Ich pflichte ihm bei, dass diese Sorge berechtigt ist. Die ist los, wenn Kinder, die unter dem Einfluss des Islamis- Menschen in unserem Land haben aber nicht nur Angst mus stehen, Frauen nicht die Hand geben wollen, wenn vor islamistischem Terror. Sie haben vor allen Dingen die Kinder nicht zum Schwimmunterricht geschickt werden? Sorge, dass wir in der deutschen Politik – damit meine ich Das sind die ersten Indizien. Wir brauchen eine Doku- den Bund und die Länder – nicht genug tun, wenn es um mentationsstelle für den politischen Islam, die die Finan- die Bekämpfung des politischen Islamismus geht. zierungsströme aufdeckt, die die Strategien und Struktu- Ich kann sagen: Es ist mitnichten so, wie behauptet ren hinter islamistischen Verbänden aufdeckt. Ein gutes wird, dass wir gar nichts tun. Wir haben bereits das Beispiel dafür könnte Österreich sein. Wir brauchen eine Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum, wir haben Einrichtung von Lehrstühlen an den Universitäten zum eine Schwerpunktstelle im Bundesinnenministerium, Thema „politischer Islam“. wir haben das Gemeinsame Internetzentrum und vieles (Dr. [BÜNDNIS 90/DIE mehr. Wir werden in Kürze auch noch die vielfach ange- GRÜNEN]: Machen Sie es doch mal!) sprochene Quellen-TKÜ endlich gesetzlich verankern können, sodass wir Islamisten auch im Internet richtig Wir brauchen endlich ein Ende der Kooperation mit staat- verfolgen können. Das tun wir alles. Doch wenn wir lichen und politischen Vertretern des politischen Islams. ehrlich zu uns sind, dann müssen wir uns die Frage stel- len: Reicht das aus? Ich sage: Es geht noch mehr. Wir (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE müssen anfangen, auch Ross und Reiter zu benennen, und GRÜNEN]: Machen Sie es doch! Saudi-Ara- das ist nun mal der politische Islamismus. bien!) Sehr geehrter Herr von Notz, Sie haben vorhin den – Wir sind doch schon dabei. Warum regen Sie sich denn österreichischen Kanzler Sebastian Kurz zitiert. Ich so auf? habe hier ein weiteres Zitat für Sie: (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Die falsch verstandene Toleranz muss endlich ein GRÜNEN]: Weil Sie regieren! Weil Sie seit Ende haben. Wir müssen der Wahrheit ins Auge 15 Jahren nichts davon tun! Das ist ätzend, sehen, wie gefährlich die Ideologie des politischen echt! Seit 15 Jahren regieren Sie, und Sie haben Islams für unsere Freiheit und für das europäische nichts davon getan! Saudi-Arabien ist das beste Lebensmodell ist. Beispiel!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23831

Christoph Bernstiel (A) Wir brauchen die Einrichtung eines Expertenkreises – Zweite und dritte Beratung des von den Ab- (C) für politischen Islam im BMI; da sehe ich zu unserem geordneten Stephan Brandner, Roman Bundesinnenminister. Ich füge hinzu: Wir brauchen Johannes Reusch, Jens Maier, weiteren Ab- auch die Möglichkeit als Ultima Ratio, Kinder aus geordneten und der Fraktion der AfD einge- schwerstkriminellen Familienclans und aus dem islamis- brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur tischen Milieu herauszunehmen. Genauso – das wurde Änderung des Kreditwesengesetzes (Ge- hier schon vielfach angesprochen; das begrüße ich sehr – setz zur Sicherstellung der Verbraucher- müssen wir darüber reden, die Imamausbildung hier in rechte bei Sparkassennutzung) Deutschland voranzutreiben. Drucksache 19/11943 (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Beschlussempfehlung und Bericht des GRÜNEN]: Wer hat das angefangen? Baden- Finanzausschusses (7. Ausschuss) Württemberg unter grüner Regierung! Da Drucksache 19/24044 waren Sie noch dagegen!) Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten – Jetzt seien Sie doch mal still, Mensch! Hören Sie mal beschlossen. zu. Also wirklich! Ich eröffne die Aussprache. Der erste Redner ist der (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Kollege Johannes Schraps für die SPD-Fraktion. GRÜNEN]: Das ärgert einen! – Heiterkeit (Beifall bei der SPD) und Beifall bei der CDU/CSU)

Selbstverständlich ist nicht jede Muslima und nicht Johannes Schraps (SPD): jeder Muslim ein Terrorist. Auf diese Differenzierung Vielen Dank, Herr Präsident. – Verehrte Kolleginnen kommt es an. Genauso müssen wir aber auch differen- und Kollegen! Die wichtigen Beschlüsse des EU-Banke- zieren, wenn wir sagen: Der politische Islam gehört eben npaketes, die Finanzminister Olaf Scholz auf europä- nicht zu Deutschland. Es kann keine Rechtfertigung für ischer Ebene verhandelt hat, setzen wir heute mit dem eine Gewalttat sein, wenn Satire veröffentlicht wird, auch vorliegenden Risikoreduzierungsgesetz fristgerecht in wenn man selber diese nicht teilt. Wenn religiöse Figuren nationales Recht um. Wie der Titel schon sagt, trägt das in irgendeiner Weise schändlich dargestellt werden, dann Gesetz zur Reduzierung von Risiken im Bankensektor ist das keine Rechtfertigung für irgendeine Form von bei, stärkt aber gleichzeitig die Ausgewogenheit bei der Gewalt. Das müssen wir genauso deutlich aussprechen. Bankenregulierung. Die Risikoregulierung erfolgt unter anderem durch die Stärkung der Kapital- und Liquidität- (Beifall bei der CDU/CSU) (B) sanforderungen für Banken. Die Banken müssen künftig (D) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Verlustpuffer von mindestens 8 Prozent ihrer Bilanzsum- Titel dieser Aktuellen Stunde ist unter anderem: „Unsere me vorhalten und zudem eine verbindliche Verschul- freie Gesellschaft verteidigen“. Wenn wir das wirklich dungsobergrenze von 3 Prozent der Bilanzsumme einhal- ernst nehmen, dann können wir das eben nicht nur mit ten. Gesetzen und einer Stärkung der Sicherheitsbehörden (Beifall der Abg. Ingrid Arndt-Brauer [SPD]) tun; dann müssen wir es mit den von mir genannten Maß- nahmen tun. Wir müssen vor allen Dingen auch lernen, Damit, verehrte Kolleginnen und Kollegen, machen wir konsequent und selbstbewusst unsere Normen und Werte die Banken in Stresssituationen sicherer und widerstands- zu verteidigen und diese auch von den Gegnern dieser fähiger. Werte einzufordern. Eines ist klar: Ein Weiter-so kann (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Sepp es in dieser Form nicht geben. Müller [CDU/CSU]) Herzlichen Dank. Um die Abwicklungsfähigkeit von Banken zu verbes- sern, enthält das Gesetz nun Anforderungen, in welchem (Beifall bei der CDU/CSU) Umfang die Banken künftig Eigenmittel und andere Finanzierungsinstrumente halten müssen, die dann im Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Abwicklungsfall Verluste tragen; denn sollte es doch ein- Vielen Dank, Herr Kollege. – Die Aktuelle Stunde ist mal notwendig sein, dann sollen die Kosten einer Banke- damit beendet. nrettung von den Gläubigern und Eigentümern einer Bank sowie aus dem Bankensektor selbst heraus getragen Wir kommen zum nächsten Tagesordnungspunkt, und werden und nicht vom Steuerzahler, verehrte Kollegin- zwar zu Tagesordnungspunkt 13: nen und Kollegen. – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten desregierung eingebrachten Entwurfs eines der CDU/CSU) Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinien (EU) 2019/878 und (EU) 2019/879 zur Wir müssen dafür Sorge tragen, dass für Kundinnen Reduzierung von Risiken und zur Stär- und Kunden von Banken keine Geschäfte organisiert kung der Proportionalität im Bankense- werden, die mit hohen Risiken verbunden sind und von ktor (Risikoreduzierungsgesetz – RiG) den Bürgerinnen und Bürgern eigentlich gar nicht richtig verstanden werden. Es soll nicht sein, dass der einfache Drucksache 19/22786 Bankkunde denkt, er habe in etwas sehr Sicheres sein 23832 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Johannes Schraps (A) Geld angelegt hat, und im Krisenfall ist sein Geld doch Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (C) als Erstes weg. Solche Anleihen, die sogenannten nach- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rangigen Verbindlichkeiten, sollen größtenteils institu- der CDU/CSU) tionellen Anlegern vorbehalten bleiben, weil diese genau um die Ausfallrisiken wissen, die Anlagen einschätzen können und Verluste im Abwicklungsfall auch tragen Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: müssen. Wir führen deshalb eine Mindeststückelung die- Vielen Dank, Kollege Schraps, und gute Besserung. ser verlusttragenden Finanzierungsinstrumente von 50 000 Euro ein. Beim ergänzenden Kernkapital kleiner Johannes Schraps (SPD): Banken ist eine Mindeststückelung von 25 000 Euro vor- Vielen herzlichen Dank, Herr Präsident. gesehen. Das ist ein guter Schritt, um den Schutz der Verbraucher zu verbessern und zu stärken, verehrte Kol- leginnen und Kollegen. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Liebe Kolleginnen und Kollegen, der nächste Redner (Beifall bei der SPD) wäre jetzt für die AfD-Fraktion der Kollege Dr. Bruno Hollnagel gewesen. Er musste allerdings seine Rede Es geht also bei der Reduzierung von Risiken nicht nur 1) um eine bessere Absicherung für Banken, sondern in krankheitsbedingt zu Protokoll geben. hohem Maße auch um einen deutlich verbesserten Anle- Wir machen jetzt mit der Opposition weiter, und zwar gerschutz. mit der Kollegin Katja Hessel von der FDP-Fraktion. Bei der Eigenmittelzielkennziffer, die als Stresspuffer (Beifall bei der FDP) dient, um Verluste im laufenden Betrieb abzufedern, set- zen wir die EU-Richtlinie eins zu eins um. Das heißt Katja Hessel (FDP): jedoch nicht – das möchte ich hier ausdrücklich beto- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr nen –, dass die Aufsicht nicht die Hinterlegung mit har- Kollege Schraps, so ganz kann ich Ihre Begeisterung für tem Kernkapital einfordern sollte. Denn es ist in völliger das vorliegende Gesetz nicht teilen. Der Titel des Geset- Übereinstimmung mit den EBA-Leitlinien, wenn Bun- zes zur Reduzierung der Risiken und Förderung der Pro- desbank und BaFin hier auch auf hartem Kernkapital portionalität im Bankensektor klingt so, als ob es dem bestehen. Das hat die Bundesbank ja in der Anhörung Bankensektor etwas Gutes tun würde, als ob wir Propor- am Mittwoch noch einmal deutlich gemacht. An dieser tionalität fördern und Risiken senken würden. Ich Stelle kann man ganz grundsätzlich den Sachverständi- befürchte, bei den Betroffenen wird es mehr zu Enttäu- gen aus der Anhörung noch mal ganz herzlich für ihre schung führen als zu Freude über dieses Gesetz. (B) wichtige Expertise danken, verehrte Kolleginnen und (D) Kollegen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sepp Viele Themen, die im Gesetz berücksichtigt werden, Müller [CDU/CSU] und Katja Hessel [FDP]) betreffen hauptsächlich die Finanzmarkttechnik. Nichts- destotrotz würde aber, wenn man über Proportionalität Neben der Risikoreduzierung geht es aber auch – das spricht, vielleicht auch mal der Blick nach Europa habe ich eingangs erwähnt – um eine bessere Ausgewo- notwendig sein. Viele der vorgesehenen Regelungen genheit der Regulierung. Um der Proportionalität Rech- müssten in Europa einmal angegangen werden. Man nung zu tragen, führen wir mit der Umsetzung der euro- muss einheitliche Größenklassen festlegen. Mit einer ent- päischen CRR-II-Verordnung insbesondere für kleine sprechenden Kategorisierung ließe sich auch die Propor- und nicht komplexe Banken zahlreiche administrative tionalität der Banken fördern. Erleichterungen in der Finanzaufsicht ein. Diese Erleich- terungen kommen – neben dem Wegfall der europäischen Ganz besonders bedauerlich ist – Sie haben das auch Bankenabgabe – auch bei den kleinen Förderbanken voll angesprochen –, dass die Richtlinie eben nicht überall zum Tragen. Da die rechtlich selbstständigen Förderban- eins zu eins umgesetzt worden ist, sondern dass ganz ken aus dem Anwendungsbereich der EU-Bankenregu- oft das sogenannte Gold-Plating betrieben worden ist. lierung herausfallen, unterliegen sie nun ausschließlich Wir haben als FDP-Fraktion fünf Änderungsanträge einer nationalen Aufsicht. Diese soll nach dem Kredit- zur – aus unserer Sicht – Schadensbegrenzung einge- wesengesetz durch die BaFin erfolgen. reicht, damit vielleicht doch noch irgendetwas besser wird. Wir bauen also, liebe Kolleginnen und Kollegen, viel Bürokratie ab. Wir tragen zu einer besseren Ausgewogen- Wir wollten einmal die Erweiterung des sachlichen heit der Regulierung bei, und wir reduzieren Risiken im Anwendungsbereiches der Organkredite, die Sie einbezo- Bankensektor. Risiken, liebe Kolleginnen und Kollegen, gen haben, wieder streichen, weil dies aus unserer Sicht gibt es überall. Das sehen wir nicht nur im Bankensystem, nicht notwendig ist. sondern auch beim Fußball. Das ist zum Beispiel beim (Beifall bei der FDP) FC Bundestag der Fall. Im Sport kann man beim nächsten Mal vielleicht durch besseres und intensiveres Warmma- Die Erweiterung ist weder durch die Umsetzung der chen Verletzungsrisiken reduzieren. Im Bankensystem Richtlinie in nationales Recht begründet noch aus den machen wir das mit dem Risikoreduzierungsgesetz. Basler Grundsätzen heraus geboten. Es bedeutet gerade Gute Gründe, um dem Gesetz gleich Ihre Zustimmung zu geben! 1) Anlage 3 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23833

Katja Hessel (A) für die kleinen Banken eine Menge zusätzlicher Arbeit Haus aus gegeben ist. Aber es zeigt auch, dass die Regu- (C) für Vorstände und Aufsichtsräte. Es ist nie belegt worden, lierung auf europäischer und nationaler Ebene entspre- dass gerade bei den Organkrediten in Bezug auf diese chend greift und dass die Flexibilitäten, die hier vorge- Personengruppe und die in Rede stehenden Geschäfte sehen sind, entsprechend angewendet werden können große Missstände zu verzeichnen sind. und dass die Puffer, die von den Banken aufgebaut wur- den, entsprechend positiv genutzt werden. Darum ist es (Beifall bei der FDP) auch logisch, dass wir im Rahmen der Umsetzung der Ein weiteres, besonders schwieriges Thema ist die europäischen Richtlinie auch weiter daran arbeiten, die Mindeststückelung bei den nachrangigen Verbindlich- Stabilität zu verbessern, entsprechende Vorgaben nach- keiten. Wir sehen Verbraucherschutz, insbesondere den zujustieren und letztendlich die Regulierung und damit finanziellen, ein wenig anders. Durch die Mindeststücke- auch den Finanzmarkt krisenfester und zukunftsfähiger lung von 50 000 Euro wird nun genau kleineren Anlegern zu machen, damit nicht wieder eintritt, was wir alle nicht die Möglichkeit nicht gegeben, in momentan noch wollen, dass die Steuerzahler herangezogen werden. renditestarke Produkte zu investieren. Sie können nicht mehr investieren, weil eine Mindeststückelung von (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 50 000 Euro das nicht hergibt. Ich persönlich hätte mir beim Stichwort „Proportiona- (Beifall bei der FDP) lität“ mehr gewünscht. Umso mehr ist es auch unsere Aufgabe, bei zukünftigen Gesetzgebungen auf europä- Der finanzielle Verbraucherschutz ist bereits gut geregelt. ischer und nationaler Ebene darauf zu achten, dass das Hier wäre eine Eins-zu-eins-Umsetzung wichtig gewe- Wort nicht nur vorkommt, sondern auch mit Leben erfüllt sen. Die erhöhte Mindeststückelung ist jedenfalls als wird und entsprechend angewendet wird. Instrument des Verbraucherschutzes ungeeignet. Das ist eine Bevormundung der Verbraucher. Das führt zu einem (Beifall bei der CDU/CSU) Nanny-Staat. Das wollen wir so nicht mittragen. Lassen Sie mich auf ein, zwei, drei Punkte eingehen. (Beifall bei der FDP) Einige wurden schon angesprochen. Eine kleine Erleichterung hat es durch den achten Es geht um die Frage der Stückelungen von Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen noch gegeben. 25 000 Euro und 50 000 Euro. Das wurde auch kontro- Aber auch das können wir nicht ganz verstehen. Es kann vers diskutiert. Ich gehe davon aus, dass nach mir folgen- ja wohl nicht sein, dass das Risiko des Verbrauchers darin de Redner darauf entsprechend eingehen werden. Ich besteht, wie groß die Bank ist, bei der er anlegen will. Im halte es für richtig, dass wir auf der einen Seite die Gren- Übrigen, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir eine ze von 50 000 Euro gezogen haben, dass wir auf der (B) BaFin, die für die Bankenaufsicht zuständig ist. Allein, anderen Seite aber kleinen Banken die Möglichkeit gege- (D) Ihr Gesetzentwurf zeigt mir, dass Ihr Vertrauen in die ben haben, 25 000 als Grenze zu haben, um kleineren BaFin vielleicht nicht das größte ist. Anlegern in ihrem Segment entsprechende Angebote Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden aus die- machen zu können. Letztendlich wollen wir verhindern, sen Gründen den Gesetzentwurf ablehnen. Zu dem Ge- dass sich kleinere Anleger verpflichten, mit einer Summe setzentwurf der AfD braucht man ja nicht viel zu sagen. zu investieren. Darum ist die Grenze von 5 Milliarden Die AfD-Kollegen konnten sich im Ausschuss nicht ein- Euro Bilanzsumme die richtige, um die 25 000-Euro- mal dazu entschließen, ihrem eigenen Gesetzentwurf Grenze einzuziehen. zuzustimmen. Wichtig ist uns auch die entsprechende Umsetzung Vielen Dank. eins zu eins. Diese konnten wir gerade mit Blick auf die Eigenkapitalanforderungen durchsetzen. Letztendlich (Beifall bei der FDP) konnten wir die Verschärfungen herausnehmen. Diese Maßnahmen werden zukünftig – so viel zum Vertrauen Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: in BaFin und EBA – in entsprechenden Grenzen durch Vielen Dank, Kollegin Katja Hessel. – Der nächste die europäischen Aufseher mit aufgenommen. Meine Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Damen und Herren, es ist ein richtiger Schritt, die Richt- Alexander Radwan. linie hier nur eins zu eins umzusetzen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Förderbanken konnten wir auf europäischer Ebene Alexander Radwan (CDU/CSU): nach zähem Ringen aus diesem Anwendungsbereich Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- herausnehmen. Darum ist es auch nur denklogisch, dass ren! In dieser Woche wurde im Ausschuss Frau Professor wir dann natürlich auf nationaler Ebene dieses entspre- Buch von der Deutschen Bundesbank per Video zuge- chend handhaben und nicht durch die Hintertür das eine schaltet. Es ging um das Thema Finanzstabilität. Wir oder andere erschweren. Ich glaube, es ist uns mit ent- konnten erfahren und mit ihr diskutieren, dass die Maß- sprechenden Diskussionen gelungen, auch mit dem BMF nahmen, die wir in den letzten Jahren auf europäischer und den zuständigen Personen, hier den richtigen Weg zu und nationaler Ebene beschlossen haben, dazu geführt finden. Förderbanken sind bei den Offenlegungspflichten haben, dass wir in der jetzigen Phase, der Coronakrise, an den Märkten nicht so gefordert wie andere. Darum von stabilen Banken ausgehen können. Das heißt mit waren wir froh und sind guten Mutes, dass wir das hier Blick auf das kommende halbe Jahr nicht, dass das von herausgenommen haben. 23834 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Alexander Radwan (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und müssen. Das zeigt aus unserer Sicht, dass hier eine durch- (C) der SPD) greifendere Regulierung notwendig ist. Das ist auch mit diesem Gesetzentwurf leider nicht gelöst. Bei den Verwaltungsräten konnten wir die bisherige Praxis entsprechend anwenden. Es war uns wichtig, (Beifall bei der LINKEN) auch aus Compliance-Gesichtspunkten zu sagen: Die Konkret für diesen Gesetzentwurf heißt das: Die Men- Bank an sich ist hier verantwortlich, dass Verwaltungs- ge an Geld und Eigenmitteln – untechnisch gesprochen –, räte, dass Aufsichtsräte entsprechende Qualifikationen die eine Bank im Verhältnis zur Gesamtsumme in ihrer haben, und es werden nicht diejenigen, die zukünftig Bilanz ausweisen muss, muss deutlich höher angesetzt beaufsichtigt werden, herangezogen, über ihre zukünfti- werden. Statt 3 Prozent schlagen wir 10 bis 15 Prozent, gen Aufseher ein Stück weit mitzuentscheiden. je nach Größe der Bank, vor. Diese – jetzt wird es wieder Das waren alles Punkte, meine Damen und Herren, die technisch – sogenannte risikogewichtete Eigenmittelquo- wir im Rahmen der Diskussion weiterentwickelt haben. te muss auch verbindlich vorgegeben werden und darf Letztendlich wird dieses Paket dann auch im weiteren nicht nur ergänzende Kennzahl bleiben. Verlauf der Coronakrise in die Umsetzung kommen. Es (Beifall bei der LINKEN) ist mir schon wichtig, heute klarzumachen: Das, was wir Es ist gut, dass es jetzt einen Mindeststandard für mit- an Erleichterungen in diesen letzten Monaten, im letzten telfristige Planungen gibt, wie eine Bank ihren Zahlungs- halben Jahr geschaffen haben, muss entsprechend über- verpflichtungen immer nachkommen kann. Dieser soge- prüft werden, es muss kontrolliert werden, es muss dage- nannte Net Stable Funding Ratio darf aber nicht dadurch gengehalten werden, um zu sehen, welche Erleichterun- verwässert werden, dass Vermögensgegenstände ange- gen beibehalten werden können, was letztendlich den rechnet werden können, die riskant und deshalb unsicher Banken das Leben erleichtert und wo es notwendig ist, sind oder bei denen eine sofortige Umwandlung in Zah- nachzujustieren. lungsmittel nicht gewährleistet ist. Lassen Sie mich abschließend noch einen Punkt sagen. Auch den neuen Verlustpuffer, den Banken halten müs- Der Kollege Hollnagel ist krankheitsbedingt nicht da. Ich sen, um im Falle einer Insolvenz ohne Schaden für Dritte habe mir aber trotzdem vorgenommen, hier noch einmal abgewickelt werden zu können, begrüßen wir. Allerdings klar zu positionieren, weil er es im Ausschuss entspre- muss auch dieser deutlich höher liegen als die im Gesetz chend gesagt hat: Immer wieder den Vortrag zu bringen, enthaltenen 8 Prozent der Bilanzsumme. man lehne ein Gesetz ab, weil man es für falsch hält, dass die Finanzmärkte in Europa europäisch beaufsichtigt Gerade die Großbanken, die das höchste Risiko tragen, werden, ist ein grundverkehrter Weg. Die Finanzkrise, im Falle einer Finanzmarktkrise vom Steuerzahler geret- (B) (D) die Subprime-Krise, ging auf europäischer Ebene in tet werden zu müssen, weil sie zu groß sind, um scheitern Irland los. Das Problem war, dass die europäischen Auf- zu können, ermitteln ihre Eigenmittelquote durch selbst- seher über die finanzielle Bankenvernetzung nichts erstellte interne Modelle, die auch nicht öffentlich über- gewusst haben und auch nicht gewusst haben, welche prüft werden können. Es besteht also die Gefahr, dass Risiken wo in welchem Land sind. Meine Damen und Risiken kleingerechnet werden. Hier braucht es eine ein- Herren, wenn man dann heute daran arbeitet, die Aufsicht heitliche Orientierung am Standardmodell. wieder zu nationalisieren, ist man ein finanzpolitischer (Beifall bei der LINKEN) Geisterfahrer und ein Risiko für diese Volkswirtschaft. Eigentlich sachfremd im Zusammenhang mit dem (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Bankenpaket wird im Gesetz auch ein Sicherungsfonds BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für private Kranken- und Lebensversicherungen geregelt. Dieser Fonds ist intransparent. Die Beteiligung am Fonds Besten Dank. Wir werden dem entsprechenden Gesetz- ist für die Versicherer freiwillig, sie können sich also um entwurf zustimmen. die Mitfinanzierung herumdrücken. Reichen die Mittel im Fonds nicht aus, sollen die Zahlungen an die Versi- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) cherten um maximal 5 Prozent gekürzt werden, vielleicht geht auch noch mehr. Das darf so nicht bleiben. Wir Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: brauchen eine Kürzungssperre für die Versicherten. Wir Vielen Dank, Kollege Radwan. – Für die Fraktion Die brauchen eine klare Regelung, dass Lebensversicherun- Linke hat das Wort der Kollege Jörg Cezanne. gen endlich finanzielle Eigenverantwortung übernehmen und ihre Belastungen nicht auf Kunden oder Steuerzahler (Beifall bei der LINKEN) abwälzen. Danke schön. Jörg Cezanne (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwölf Jah- re nach der großen Finanzmarktkrise 2008 reden wir auch Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: heute noch über Gesetze, die sichern sollen, dass die Lehren aus dieser Krise gezogen werden. Das an sich Vielen Dank, Herr Kollege Cezanne. – Es macht sich ist schon verwunderlich. Auch mit diesem Gesetzentwurf bereit die Kollegin Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen. geht es immer noch darum, den Anspruch einzuholen, Bitte schön. dass nie wieder mit Steuergeld Banken gerettet werden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23835

(A) Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zweitens fehlen in diesem Gesetz harte Vorgaben zur (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir verab- Begrenzung von Risiken aus Schattenbanken. Aber so schieden heute hier ein Gesetz, das nicht der aktuellen besteht eben weiterhin die Gefahr, dass Teile der Banke- Covid-19-Krise dienen soll, sondern ganz bewusst in ngeschäfte in unregulierte Bereiche des Finanzsystems den guten Zeiten den Puffer aufbauen soll, den wir in abwandern, meine Damen und Herren. Krisen, wie wir sie jetzt zum Beispiel haben, brauchen. Drittens bestehen bei der Abwicklungsfähigkeit von Es geht um die Umsetzung eines Teils des EU-Banken- besonders großen und grenzüberschreitend tätigen Ban- pakets; denn ein stabiles Finanzsystem ist ganz entschei- ken immer noch große Lücken. Mit anderen Worten: dend in jeder Krise. Wir mussten 2008/2009 erleben, in Banken sind immer noch „too big to fail“. Auch deshalb welche Katastrophe uns ein instabiles Finanzsystem brauchen wir dringend ein Trennbankensystem. führt. Es waren 5 000 Milliarden Euro Staatshilfen, die bereitgestellt werden mussten. Die Verschuldung der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN öffentlichen Haushalte in der Europäischen Union stieg sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des um 67 Prozent auf 12 500 Milliarden Euro. Die folgenden Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) Sparprogramme führten in etlichen Ländern zu drasti- Fazit: Wir werden uns bei diesem Gesetz enthalten. schen Einschnitten in die öffentliche Daseinsvorsorge und zu einem massiven Vertrauensverlust der Bevölke- Herzlichen Dank. rung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir erleben umgekehrt in der jetzigen Krise, dass wir Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: es dank einer gewissen Eigenkapitalverbesserung der Vielen Dank, Frau Kollegin Paus. – Der nächste Red- Banken, die in den letzten zehn Jahren tatsächlich erfolgt ner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Lothar Binding. ist, bisher zumindest ökonomisch nur mit einer Wirt- schaftskrise zu tun haben. Die milliardenschweren Ret- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tungspakete stabilisieren derzeit zwar natürlich auch die der CDU/CSU) Banken. Aber bisher sind eben durch das Bankensystem keine zusätzlichen Turbulenzen und keine zusätzlichen Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Dominoeffekte aufgetreten. Das zeigt, wie wichtig diese Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Lie- Reformen sind, über die wir heute reden, meine Damen be Kolleginnen und Kollegen! Wir haben aus der Finanz- und Herren. krise gelernt, dass die Banken zu wenig Eigenkapital haben und dass sie zu kurzfristig finanziert waren, wohl (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN deshalb, weil viele Banken mit wenig Eigenkapital ein (D) sowie bei Abgeordneten der SPD und des großes Rad drehen wollen. Abg. Sepp Müller [CDU/CSU]) Das Ziel dieses Gesetzes ist, die Risiken zu reduzieren. Für wen eigentlich die Risiken reduzieren? Na gut, für die Aber dennoch – Stand heute, im Jahr 12 nach der Banken selbst. Warum wollen wir die Banken schützen? Lehman-Pleite – müssen wir feststellen: Das Versprechen Wir wollen die Einleger schützen. Wir wollen die Kredit- von Angela Merkel: „nie wieder Steuergeld für Banke- nehmer schützen. Wir wollen die Steuerzahler schützen, nrettungen“ ist immer noch nicht wirklich belastbar. Das also den Staat. hier vorliegende Gesetz ist nun zwar wieder ein weiterer Weil dieses Ziel ein sehr hehres Ziel ist, haben mich – Schritt dahin, dieses Versprechen belastbar zu machen. das muss ich sagen – die Aktivitäten verschiedener Lob- Ja, die Richtung stimmt: Risiko durch höhere Eigenkapi- byisten wirklich gestört, die sich gegeneinandergestellt talvorschriften zu reduzieren und kleinere Banken nach haben, die sich gegen uns gestellt haben, die einen sehr dem Prinzip der Proportionalität zu entlasten; das ist rich- merkwürdigen Risikobegriff haben und gar nicht verstan- tig. Aber die Maßnahmen bleiben bei Weitem wieder den haben, worum wir uns eigentlich bemühen, und die hinter dem, was für ein stabiles Finanzsystem nötig uns nicht wirklich unterstützt haben, das Problem zu wäre, zurück. Deswegen werden wir diesem Gesetz heute lösen. Das hat mich gestört. nicht zustimmen, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Wort „Risiko“ ist auch ziemlich schwierig zu defi- Insbesondere aus drei Gründen: nieren. Was ist eigentlich Risiko? Wenn ich weiß: „Es besteht eine Risikowahrscheinlichkeit von 5“, was mache Erstens wird eine Leverage Ratio – wir nennen es ich dann? Kaufe ich ein Produkt, kaufe ich das nicht? Das volkstümlich „Schuldenbremse für Banken“ – zwar ein- ist richtig schwierig. geführt. Sie ist aber zu niedrig – darauf wurde bereits Jetzt gibt es aber Leute, die sagen: kleine Bank, kleines hingewiesen –: Sie liegt nur bei 3 Prozent. Viele Wissen- Risiko. Ich sage: Vielleicht gilt das auch umgekehrt: klei- schaftler sagen, 20 oder 30 Prozent wären nötig. Wir ne Bank, großes Risiko; große Bank, kleines Risiko. Das sagen: Wir wollen einen Risikopuffer von mindestens ist so ohne Weiteres gar nicht zu messen. Ich glaube, das 10 Prozent aufbauen, und dann können auch die Entlas- Risiko hängt vielmehr von Produkten und vom Ge- tungen für viele kleine und mittlere Banken deutlich schäftsmodell ab und davon, wie die Bank agiert. Das umfangreicher ausfallen. macht auch den Begriff der Proportionalität so schwierig. 23836 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Lothar Binding (Heidelberg) (A) Wenn ich „proportional“ sage, dann denke ich immer an standsvorsitzender der kleinsten Raiffeisenbank hier in (C) die Bilanzsumme der Bank, aber diese ist gar kein Maß- unserer Republik war: mit 341 Mitgliedern und stab. Also, das ist richtig schwierig, da kann man schnell 1 000 Kunden. Fehler machen. Wer kann sich nicht noch an den Spruch von Hilmar Insofern war es bestimmt gut, eine essenzielle Größe, Kopper erinnern: Das waren ja alles nur Peanuts. – Damit über die wir schon lang diskutieren, die Verschuldungs- bezeichnete der Vorstandsvorsitzende der Deutschen quote, Leverage Ratio heißt das auch, verbindlich einzu- Bank 50 Millionen D-Mark offene Handwerkerrechnun- führen. Das sind jetzt 3 Prozent der Bilanzsumme. Jetzt gen beim damaligen Finanzierungsskandal in Leipzig. hat Jörg Cezanne in diesem Zusammenhang 15 Prozent Das ist der deutsche Bankenmarkt: von kleinen Volks- gefordert, Lisa Paus hat erklärt, Wissenschaftler halten banken vor Ort, Raiffeisenbanken über Sparkassen und 20 Prozent und mehr für richtig. Es ist schade: Wäre kleine Privatbanken vor Ort bis hin zu global agierenden ich in der Opposition, ich würde auf jede Zahl warten Finanzhäusern wie der Deutschen Bank und der mittler- und sagen: Plus eins! – Also, wenn jetzt jemand 22 Pro- weile teilverstaatlichten Commerzbank. zent nennt, hätte ich eine supergute Idee; denn 23 Pro- In diesem großen Spektrum bewegen wir uns. Deswe- zent – das stimmt – würden die Sache noch sicherer gen ist es richtig, dass wir uns hier als Große Koalition machen. Aber kaum habe ich die Zahl gesagt, käme der auch Gedanken machen, wie wir die Risiken in diesen Jörg Cezanne und würde 24 Prozent fordern. speziellen Bereichen reduzieren können – immer vor Also, die ehrliche Antwort ist – das ist völlig klar –: dem Hintergrund, dass wir ein Auge auf die kleinen und Wir wissen gar nicht, was hinreichend ist. Wir merken mittleren Banken haben, die vor Ort nicht nur Arbeits- das immer erst, wenn ein Problem wirklich auftaucht. Wir plätze erhalten, sondern die sich vor Ort engagieren, die haben nicht nur diese Zahl. Wir haben auch eine lange dem Sportverein den Trikotsatz sponsern und die gleich- Haftungskaskade. Wir haben darüber schon vor einigen zeitig auch in der Covid-19-Krise die Türen offen gehal- Jahren, nämlich 2017, ausführlich gesprochen – ich halte ten haben, ohne dass jemand Angst haben musste, dass er die Übersicht noch mal hoch –: Da sind ganz viele Eigen- kein Bargeld bekommt. mittel, da ist ganz viel Fremdkapital, das man umwandeln kann, um die Bank im Ernstfall retten zu können, um (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Reserven zu haben. ordneten der SPD) Deshalb glauben wir: In Kombination dessen, was wir Lieber Herr Präsident, meine Uhr läuft nicht, aber ich schon gemacht haben, mit dem, was wir heute machen, gehe fest davon aus, dass ich so lange reden darf, bis die sind wir einen Riesenschritt weitergekommen; das hat Uhr irgendwann läuft. (B) auch Lisa Paus gesagt. Da darf ich sagen: Wenn die (Heiterkeit) (D) Opposition sagt: „Das ist ein Schritt in die richtige Rich- tung, nur nicht groß genug“, dann haben wir gut gearbei- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: tet. Wenn eine Opposition das so beurteilt, ist das Vor- haben in Ordnung. Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich sage dann Bescheid. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Heiterkeit) Das heißt aber auch, dass wir fair miteinander umge- gangen sind. Da will ich mich bei allen Kolleginnen und Sepp Müller (CDU/CSU): Kollegen bedanken. Das war eine sehr gute Debatte. Ich Kein Problem. Sie geben dann sicherlich ein Signal. glaube, wir haben an der Sache wirklich ernsthaft gear- Ich habe noch ein bisschen was im Koffer. – Jetzt geht sie. beitet, insgesamt ein gutes Ergebnis erzielt. Wenn das Die Minute haben Sie mir geschenkt; das finde ich gut. nicht genügt, dann befassen wir uns in einigen Jahren Danke schön! wieder damit. Jetzt sagt die Opposition, gerade aus Richtung der Lin- Schönen Dank. ken und auch von den Grünen, wir müssten mehr Eigen- kapital vorhalten, wir müssten eine höhere Leverage (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ratio vorhalten. der CDU/CSU) (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist Ich will das gar nicht übersetzen. Aber vielleicht ist es der Kollege Sepp Müller von der CDU/CSU-Fraktion. wichtig, zu erwähnen: Was bedeutet denn Eigenkapital? Wie schafft denn heutzutage ein Kreditinstitut überhaupt (Beifall bei der CDU/CSU) Eigenkapital? Wenn wir wissen, dass zwei Drittel der Kosten in deutschen Kreditinstituten Personalkosten Sepp Müller (CDU/CSU): sind, dann ist der erste Hebel – das haben wir in den Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- letzten Jahren gesehen – ein massiver Stellenabbau. Das ren! Gestern titelten die „Stuttgarter Nachrichten“, dass muss man jedem Verdi-Mitglied sagen: Wer sein Kreuz der „Bankenrebell aus Gammesfeld“, Fritz Vogt, verstor- bei der Linken macht und bei der Sparkasse arbeitet, ist ben ist. Fritz Vogt ist kurz vor seinem 90. Geburtstag dafür, dass demnächst sein Arbeitsplatz nicht mehr sicher verstorben. Warum war er ein Bankenrebell? Weil er Vor- ist. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23837

Sepp Müller (A) Mit mehr Eigenkapital in diesen Bereichen wird die und Die Linke. Enthaltungen? – Bündnis 90/Die Grünen (C) Forcierung vorgenommen, dass deutlich mehr Arbeits- und AfD. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera- plätze abgebaut werden. Man kann natürlich auch anders tung angenommen. Eigenkapital schöpfen, etwa indem man mehr Erträge Dritte Beratung erzielt. Aber wenn man noch mal Fritz Vogt nimmt, der Geld in der Raiffeisenbank Gammesfeld eingenommen und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem und Kredite herausgegeben hat, dann ist das das Butter- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – und-Brot-Geschäft – davon leben die Sparkassen und Das sind CDU/CSU und SPD. Bitte erheben Sie sich, Volksbanken –, dann ist es die Zinsmarge. Und die Zins- wenn Sie dagegenstimmen wollen. – Das sind FDP und marge – das wissen Sie selber – ist deutlich, deutlich Linke. Enthaltungen? – Bündnis 90/Die Grünen und geschrumpft. Deswegen bin ich auch sehr dankbar, liebe AfD. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. Kollegen der Großen Koalition, dass wir sehr konstruktiv Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf waren und mit zehn Änderungsanträgen das gute Gesetz der Fraktion der AfD zur Änderung des Kreditwesenge- noch viel besser gemacht haben. Wir haben unser Augen- setzes (Gesetz zur Sicherstellung der Verbraucherrechte merk auf Proportionalität gelegt. Die Regelungen zur bei Sparkassennutzung). Der Finanzausschuss empfiehlt Eigenmittelzielkennziffer werden wir jetzt eins zu eins unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf umsetzen. Drucksache 19/24044, den Gesetzentwurf der Fraktion Wir haben gleichzeitig die Förderbanken im Blick, die der AfD auf Drucksache 19/11943 abzulehnen. Ich bitte neben Volksbanken, Sparkassen und Raiffeisenbanken diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sowie Privatbanken ein gesondertes System sind. Warum um das Handzeichen. – Die AfD. Wer stimmt dagegen? – sind die Förderbanken so wichtig? Gerade in der Covid- Das sind alle übrigen Fraktionen des Hauses. Enthaltun- 19-Krise haben viele Unternehmerinnen und Unterneh- gen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mer dort ihren Antrag gestellt, unter anderem, um Staats- abgelehnt. Nach unserer Geschäftsordnung entfällt eine hilfen zu bekommen. Die Förderbanken spielen eine weitere Beratung. gesonderte Rolle. Deswegen bringen wir als Gesetzge- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: ber – ich muss hier ein bisschen technisch werden – zum Ausdruck, dass sie weiterhin als anderweitig system- Erste Beratung des von den Fraktionen FDP, DIE relevante Bank gelten. Uns ist wichtig, dass der Standard LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- BCBS 239 nicht angewendet wird. Förderbanken sind brachten Entwurfs eines Grundsätzegesetzes besondere Banken, und darauf wollen wir unser Augen- zur Ablösung der Staatsleistungen merk legen. Drucksache 19/19273 (B) (D) (Beifall des Abg. Johannes Schraps [SPD]) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Strich darunter. Wir als Große Koalition sagen deut- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz lich: kein Steuergeld mehr für Banken. Wir sagen deut- lich: Wir haben natürlich das Eigenkapital im Blick, Auch hier ist eine Aussprache mit einer Dauer von natürlich muss da mehr gemacht werden. Aber wir sagen 30 Minuten beschlossen. auch: Es ist ein Unterschied, ob Fritz Vogt mit seiner Es beginnt für die Fraktion der FDP der Kollege kleinen Raiffeisenbank in Gammesfeld oder ob Herr Benjamin Strasser. Bitte schön. Kopper als Vorstandssprecher der Deutschen Bank (Beifall bei der FDP) gemeint ist. Hier machen wir als Große Koalition einen großen Unterschied, lieber Kollege. Benjamin Strasser (FDP): Danke. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Kollegen! ordneten der SPD) Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtsti- teln beruhenden Staatsleistungen an die Religions- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: gesellschaften werden durch die Landesgesetzge- Vielen Dank, Kollege Sepp Müller. – Ich beende die bung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Aussprache zu Tagesordnungspunkt 13. Reich auf. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- So lautet Artikel 138 der Weimarer Reichsverfassung, der desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umset- direkt in Artikel 140 unseres Grundgesetzes übernommen zung der Richtlinien (EU) 2019/878 sowie (EU) wurde. 2019/879 zur Reduzierung von Risiken und zur Stärkung Über 100 Jahre nach diesem Auftrag der Nationalver- der Proportionalität im Bankensektor. sammlung und 71 Jahre nach dem erneuten Auftrag durch Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei- den Parlamentarischen Rat legen heute die Fraktionen ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/24044, den von FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache Hohen Haus einen Entwurf eines Grundsätzegesetzes 19/22786 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte vor. Wir machen das, weil wir unseren Verfassungsauf- diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- trag ernst nehmen, den uns die Mütter und Väter der sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind Weimarer Verfassung und des Grundgesetzes ins Stamm- CDU/CSU und SPD. Wer stimmt dagegen? – Die FDP buch geschrieben haben, und wir nehmen ihn genauso 23838 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Benjamin Strasser (A) ernst, wie alle anderen Artikel unseres Grundgesetzes, auch mit den Sprecherinnen und Sprechern der anderen (C) auf die sich diese Fraktionen im Hohen Hause so gerne Fraktionen. Ohne dich wäre dieser Entwurf so nicht mög- berufen. lich gewesen: Dafür vielen herzlichen Dank! (Beifall bei der FDP und der LINKEN) (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Gesetzentwurf Josef Oster [CDU/CSU]) ist ein Kompromiss, ja, und er ist ein faires Angebot, das im Dialog mit den Kirchen über viele Monate und Jahre Heute liegt mit unserem Gesetzentwurf in diesem Haus entstanden ist. Wir machen ein faires Angebot an die zum ersten Mal ein fairer und vor allem realisierbarer Kirchen. Sie haben die historische Chance, um auf Basis Kompromiss vor. Nach hundert Jahren kann man zu eines realistischen Kompromisses mit den Ländern indi- Recht sagen: auch ein historischer. viduelle und passgenaue Lösungen auszuhandeln. Wir Vielen Dank. machen ein faires Angebot an die Länder, um endlich (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem rechtssichere Ablösegesetze mit den Kirchen abschließen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu können, und wir machen ein faires Angebot an die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die noch immer Las- ten aus längst vergangenen Zeiten tragen müssen. Den- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: jenigen, die aus der Kirche ausgetreten sind, können wir Vielen Dank, Kollege Strasser. – Für die Fraktion der auch nicht erklären, warum sie über Umwege die Kirche CDU/CSU hat das Wort der Kollege Hermann Gröhe. mitfinanzieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hermann Gröhe (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Wesen eines Kompromisses ist, dass keine Seite so Der vorliegende Gesetzentwurf der FDP, der Linken, wirklich zufrieden sein kann. Was aber nicht geht, ist, zu von Bündnis 90/Die Grünen zu den Staatsleistungen an unserem Gesetzentwurf Nein zu sagen und selbst keinen Kirchen und Religionsgemeinschaften hat ein Thema Vorschlag vorzulegen. zum Inhalt, das in der öffentlichen Diskussion immer (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem wieder mit großer Polemik angegangen wurde und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wird, weil Staatsleistungen ganz schnell als Privilegien der Kirchen verunglimpft werden, ihr Charakter als Aus- Das richtet sich vor allem an die Kolleginnen und Kol- gleich für Enteignungen der Vergangenheit geflissentlich (B) legen von SPD und Union. Herr Castellucci, Sie haben übersehen wird. Darauf folgt dann regelmäßig – auch das (D) vor einem Jahr zu unserem Vorschlag gesagt, dass – sei zugegeben – geradezu reflexhaft die Verteidigung des Zitat – die Bundesländer kein Interesse an der Ablösung Status quo. Daher ist es mir ein Anliegen, zu Beginn angemeldet hätten. Mit Verlaub: Das ist kein Argument. dieser Debatte durchaus zu würdigen, dass Ihr Gesetzent- wurf einen wichtigen Beitrag zu einer sachlichen Diskus- (Philipp Amthor [CDU/CSU]: Doch!) sion über einen notwendigen Schritt zur Umsetzung eines Diese Ablösung steht nicht im Ermessen der Bundeslän- Verfassungsgebots darstellt. der; das ist ein Verfassungsauftrag. Wir Parlamentarier Ich hätte mir gewünscht, lieber Herr Strasser, Sie haben ihn umzusetzen, Herr Castellucci. wären in Ihrer Rede nicht unnötig hinter die Sachlichkeit (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem Ihres Gesetzentwurfs zurückgefallen; denn, ehrlich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gesagt, eine Entschädigungsleistung als eine einem Nichtgläubigen nicht zumutbare Mitfinanzierung zu Herr Gröhe, Sie haben uns damals wissen lassen, dass bezeichnen, wird der eigenen Beschreibung der Rechts- die Ablösung keine vordringliche Aufgabe sei. Herr grundlagen in Ihrem Gesetzentwurf in keiner Weise Gröhe, ich sage es einmal von Christ zu Christ mit dem gerecht. Buch Kohelet: Alles hat seine Zeit. – Nach 100 Jahren ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- es an der Zeit, Zahlungen von einer halben Milliarde Euro ordneten der SPD) pro Jahr abzulösen. Wir wollen den Verfassungsauftrag ernst nehmen und keine weiteren 100 Jahre warten. Dennoch sei der Gesetzentwurf in seiner Sachlichkeit gewürdigt, und auch von mir sei der Kollege Ruppert (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem gegrüßt. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, Artikel 138 der Weimarer Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss möchte Reichsverfassung und Artikel 140 des Grundgesetzes zie- ich mich nicht nur bei den Kolleginnen und Kollegen von len auf die finanzielle Entflechtung von Staat und Kir- Linken und Grünen bedanken, dass es uns gemeinsam chen bzw. Religionsgemeinschaften. Dieses Verfassungs- gelungen ist, diesen Kompromiss vorzulegen, sondern gebot ist Bestandteil eines Regelungszusammenhangs, ich möchte mich auch bei einem ehemaligen Kollegen der gerade nicht auf eine laizistische, vollständige Tren- dieses Hohen Hauses bedanken, Dr. , der nung von Staat und Religionsgemeinschaften zielt. unsere Debatte jetzt im Fernsehen verfolgt. Lieber Weimarer Reichsverfassung und Grundgesetz – in beiden Stefan, vielen Dank für deinen unermüdlichen Einsatz, Fällen war den Müttern und Vätern dieser Rechtsetzung deine zahlreichen Gespräche mit den Kirchen, aber die laizistische Ordnung, etwa in Frankreich, vor Augen – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23839

Hermann Gröhe (A) verbanden die Trennung von Staat und Kirche und die die Religionsartikel der Weimarer Reichsverfassung Be- (C) daraus gefolgerte religiös-weltanschauliche Neutralität standteil des Grundgesetzes sind. Dieser seit 1919 beste- des Staates mit einem Bekenntnis zum öffentlich-recht- hende Verfassungsauftrag sollte endlich umgesetzt wer- lichen Status der Kirchen und zu einem Rahmen für die den, meine Damen und Herren. Mitwirkung der Kirchen und Religionsgemeinschaften (Beifall bei der AfD) im öffentlichen Bereich, wie er beispielsweise für die Militär- und Anstaltsseelsorge, den Religionsunterricht Staatsleistungen sind Zahlungen der Bundesländer von oder die theologischen Fakultäten geschaffen wurde. derzeit rund 550 Millionen Euro pro Jahr an die katholi- schen Bistümer und an die evangelischen Landeskirchen. Als CDU und CSU bekennen wir uns ausdrücklich zu Diese Leistungen gehen im Wesentlichen zurück auf Ent- diesem Leitbild partnerschaftlicher Kooperation. schädigungen nach Enteignungen von Kirchengütern im (Beifall bei der CDU/CSU) Jahre 1803. Es geht nicht um die 12 Milliarden Euro Kirchensteuer – denn das sind Mitgliedsbeiträge – oder Ohne die Beiträge der Kirchen und Religionsgemein- um Zuschüsse für Kirchenrenovierungen, Diakonie, Kin- schaften zum öffentlichen Leben wäre unser Gemeinwe- dergärten und Ähnliches. Von den Gesamteinnahmen der sen ärmer und wäre es um den gesellschaftlichen Zusam- Kirchen machen die Staatsleistungen nur rund 2 Prozent menhalt schlechter bestellt. In diesem Geiste wollen wir aus. die Ablösung von Staatsleistungen umsetzen. Das bedeu- tet, die Ablösung muss auf die Erfüllung der vollen staat- Seit 217 Jahren werden Zahlungen an die Kirchen lichen Pflicht zielen. geleistet, die seit 100 Jahren beendet werden sollen. Es wird endlich Zeit, dies zu tun, meine Damen und Herren. Das erkennt Ihr Gesetzentwurf, indem er auf das Äqui- valenzprinzip Bezug nimmt, ausdrücklich an. Ich sage (Beifall bei der AfD) das, weil es einen anderen Gesetzentwurf, den wir zu Denn es geht hier um die Glaubwürdigkeit des Gesetzge- anderer Gelegenheit diskutieren werden, gibt, der eine bers und der Kirchen. Es geht um die Entflechtung von bloße Beendigung von Staatsleistungen vorschlägt. Die Staat und Kirche oder, wie Papst Benedikt gefordert hat- Bewältigung früherer Enteignung durch eine neuerliche te, um die Entweltlichung der Kirche. Enteignung beenden zu wollen, wäre geradezu absurd, meine Damen, meine Herren. Nur durch die im internationalen Vergleich gute Finanzausstattung können sich die Kirchen Dinge leisten, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die mit Kirche gar nichts zu tun haben, meine Damen und Die Ablösung betrifft in besonderer Weise das Verhält- Herren. nis von Bund und Ländern. Deswegen erscheint es mir (Beifall bei der AfD – Hermann Gröhe [CDU/ (B) diskussionswürdig, dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf CSU]: Da müssen sie erst die AfD fragen!) (D) einen konkreten Faktor benennen – das 18,6-Fache – So leistet sich zum Beispiel die EKD ein Gender-Institut und nicht einen Korridor für individuelle Lösungen durch und ein Schiff auf dem Mittelmeer, das Migranten nach die Länder vorschlagen, wobei ich anerkenne, dass der Europa bringt. Faktor 18,6 zeigt, dass Sie es mit dem Äquivalenzprinzip ernst meinen. (Philipp Amthor [CDU/CSU]: Und das bei der Debatte! – Dr. Konstantin von Notz [BÜND- Ob es allerdings angemessen ist, den Ländern vor einer NIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich!) umfassenden Konsultation einen Zeitraum von fünf Jah- ren vorzuschreiben, halte ich für fragwürdig. Beide Amtskirchen mischen sich stark in die Politik ein. Eine Konzentration auf das Wesentliche, auf die eigent- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE lichen Aufgaben der Kirche, auf Verkündigung und Seel- GRÜNEN]: Was würden Sie denn machen?) sorge, wäre zum Vorteil für die Gläubigen, meine Damen Deswegen glaube ich: Wir brauchen diese umfassenden und Herren. Konsultationen; wir brauchen weitere Diskussionen. Ihr (Beifall bei der AfD – Dr. Gesetzentwurf gibt dazu weitere gute Gelegenheit. [SPD]: Christliches Verhalten vielleicht auch!) Vielen Dank. Der Gesetzentwurf meiner Fraktion, der ja schon (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und erwähnt wurde, sieht vor, dass nur noch bis zum der SPD) 31. Dezember 2026 Staatsleistungen gezahlt werden, also noch sechs Jahresleistungen. Das sind noch rund 3,3 Milliarden Euro. Damit ist hinreichend Planungssi- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: cherheit gegeben. Vielen Dank, Hermann Gröhe. – Der nächste Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Volker Münz. Der Entwurf der anderen Oppositionsfraktionen sieht vor, dass eine Summe in Höhe des 18,6-Fachen der (Beifall bei der AfD) aktuellen Jahresleistung als Einmalzahlung oder Raten- zahlung geleistet wird. Das wären rund 10 Milliarden Volker Münz (AfD): Euro. Das halten wir nicht zuletzt wegen der angespann- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit ten Haushaltslage der Länder, die die Zahlungen ja auf- über 100 Jahren gibt es den Verfassungsauftrag, die so- bringen müssen, für überzogen. Der Faktor 18,6 ent- genannten Staatsleistungen an die Kirchen zu beenden. stammt dem Bewertungsgesetz und damit dem Dieser Auftrag wurde bis heute nicht umgesetzt, obwohl Steuerrecht. Dieses ist hier jedoch nicht anwendbar. 23840 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Volker Münz (A) Die Frage, ob und in welcher Höhe ein Ablösebetrag (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (C) zu zahlen ist, ist umstritten. Wir schließen uns der Rechts- CDU/CSU – Christine Buchholz [DIE LIN- auffassung an, dass der Staat die Kirchen mit den seit KE]: Aber darum geht es doch nicht!) nunmehr über 200 Jahre lang geleisteten Zahlungen be- reits vollständig für historische Enteignungen entschädigt Bei dem, was miteinander verrührt wird, ist dann auch hat. Wir werden dies sicher weiter in den Ausschüssen immer die Rede von der Kirchensteuer. An dieser Stelle beraten. Ich hoffe, dass die Koalitionsfraktionen ihre sei klar gesagt: Heute geht es nicht um die Kirchensteuer; Blockadehaltung aufgeben werden, damit der seit Lan- die Kirchensteuer ist der Mitgliedsbeitrag, und der Staat gem offene Verfassungsauftrag endlich erfüllt wird. hat den Kirchen nur angeboten, dass diese Mitgliedsbei- träge über die Steuer erhoben werden können, (Beifall bei der AfD) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was er sich teuer bezahlen lässt!) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Lars und kassiert dafür sogar Verwaltungsgebühren. Das ist Castellucci, SPD-Fraktion. nicht zu kritisieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Kirchen selber müssen entscheiden, ob sie bei der CDU/CSU) diesem Modell bleiben wollen. Aber ich erinnere an eine andere Debatte, die wir heute geführt haben: Da war die Frage, wie wir mit der Imam-Ausbildung weiter- Dr. Lars Castellucci (SPD): kommen. Das sage ich als ein Beispiel: Wenn wir wollen, Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten dass Kirchen und Religion in diesem Land nicht dem Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zugriff ausländischer Staaten unterliegen, dann müssen Herr Münz, bis jetzt haben wir alle gewusst, dass Sie wir ihnen auch helfen, auf eigenen Füßen zu stehen, und muslimfeindlich sind. Seit dieser Rede wissen wir auch, möglicherweise ist die Kirchensteuer ein Modell, das dass Sie kirchenfeindlich sind. Ich hoffe, diese Rede auch für alle anderen Religionsgemeinschaften Pate ste- haben viele gehört. hen kann und mit dem wir werben können. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Aber es geht hier um die Staatsleistungen an die Kir- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuru- chen, etwa 500 Millionen Euro jedes Jahr. Auch hier ist fe von der AfD) gesagt worden: Wir haben einen Verfassungsauftrag, sie Bevor ich über die Staatsleistungen an die Kirchen abzulösen. Aber gleichzeitig – und das sollten wir nicht vermengen – haben die Kirchen einen Anspruch auf diese (B) spreche, möchte ich gerne über die Kirchenleistungen (D) an den Staat sprechen. Es lohnt an dieser Stelle, den Staatsleistungen. Es ist kein Privileg der Kirchen, dass sie großen sozialdemokratischen Rechtsgelehrten Ernst- Gelder bekommen, sondern sie erhalten diese Gelder auf- Wolfgang Böckenförde zu zitieren, der gesagt hat: „Der grund von Recht, weil sie im 19. Jahrhundert in Teilen freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzun- enteignet worden sind, und in diesem Staat gilt selbstver- gen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Diesen Satz ständlich das Recht, auch in Richtung der Kirchen. Des- sollten wir uns alle in diesem Parlament gut merken. wegen ist es auch keine so ganz einfache Sache, hier zu einer Lösung zu kommen. Wir haben Rechtsansprüche (Volker Münz [AfD]: So ist es!) auf der einen Seite und das Gebot der Ablösung auf der Wir haben ganz konkret zu danken für jede Stunde anderen Seite. Singen im Chor, für jede Stunde Besuchsdienst, häufig bei Menschen, die sonst überhaupt keine Ansprache mehr Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: haben. Wir haben zu danken für ein Schiff, das auf dem Herr Kollege Castellucci, der Kollege Münz würde Meer Leben rettet, da, wo die Staatsleistungen ein kom- gerne eine Zwischenfrage stellen. pletter Ausfall sind. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD) GRÜNEN]: Er hat doch gerade geredet! – Für dieses Engagement haben wir den Kirchen zu dan- [SPD]: Hat schon genug ken. Unser Land wäre kälter, unser Land wäre ärmer ohne Unsinn erzählt!) sie. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dr. Lars Castellucci (SPD): DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Das erlaube ich nicht. CDU/CSU und der FDP) Hier möchte ich jetzt den drei Oppositionsparteien – Ich sage das, weil wir zu unserem Thema immer wie- der Linken, den Grünen und vor allem der FDP – danken. der viel Post bekommen von Menschen, die mit Kirchen Denn ich glaube, wir sind durch die Vorlage Ihres Gesetz- oder mit Religion nichts am Hut haben – das ist ihr gutes entwurfs tatsächlich weitergekommen – schauen wir mal, Recht –, die das aber in einer Weise betreiben, als wäre es wie die Debatte heute noch weiter vonstattengeht –; denn eine Ersatzreligion, und dann alles Mögliche verrühren zumindest in den genannten Parteien – CDU, CSU und und zum Kirchenkampf aufrufen. Da will ich für meine wir – stellt niemand von uns mehr infrage, dass es diesen Fraktion klar sagen: Wir sind kampferprobt, aber bei Anspruch gibt – ganz im Gegensatz zu dem, was wir von diesem Kampf muss man auf die SPD verzichten. Herrn Münz gehört haben. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23841

Dr. Lars Castellucci (A) Wenn jemand früher zur Miete wohnte und nach zehn (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) Jahren Miete seinem Vermieter gesagt hätte: „Hör mal zu, der CDU/CSU) ich zahle jetzt lange genug Miete, irgendwie reicht das jetzt; eigentlich habe ich das Recht, da zu wohnen, damit Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: abgegolten“, dann hätte der mir doch auch gesagt: in Nachdem Sie den Kollegen Münz direkt angesprochen Deutschland nicht. – Das gilt natürlich in Richtung Kir- haben, erteile ich ihm das Wort zu einer Kurzinterven- chen in gleicher Weise. Die Ablösung bedeutet, dass wir tion. noch mal Geld in die Hand nehmen müssen, und nicht, dass bereits getilgt wäre. Über die Höhe, wie viel abgelöst werden muss, ist ja Volker Münz (AfD): hier heute auch schon gesprochen worden. Dazu möchte Vielen Dank, Herr Präsident, für das Wort. – Herr ich sagen: Die Kirchen müssen mit dem Geld, das sie Castellucci, wir kennen uns ja nun auch schon ein paar dann bekommen, in die Lage versetzt werden, die Ein- Jahre. Ich finde es menschlich äußerst unanständig nahmen zu erzielen, die sie heute auch haben. Das nennt man Äquivalenzprinzip, und dieses Äquivalenzprinzip ist (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE uns als Sozialdemokraten wichtig. GRÜNEN]: Oh Mann! – Philipp Amthor [CDU/CSU]: Das sagt die AfD!) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Dann zustimmen, Herr Kolle- – ja –, dass Sie mich als kirchenfeindlich bezeichnen. Sie ge!) wissen ganz genau: Ich bin der kirchenpolitische Spre- Ich würde dieses Äquivalenzprinzip auch in einen Ge- cher, und wir waren oft bei Veranstaltungen dabei. Das ist setzentwurf hineinschreiben und mich nicht als Bundes- schon, finde ich, ein starkes Stück. gesetzgeber aufmachen, eine konkrete Zahl – Fak- Wenn ich diesen Gesetzentwurf meiner Fraktion hier tor 18,9 – in so einem Verfahren hier festzulegen, vertrete, dann geht es mir dabei, wie ich gesagt habe, (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE insbesondere um die Glaubwürdigkeit der Kirche. Außer- GRÜNEN]: Hätte, hätte, Fahrradkette! Wo ist dem gibt es Kirchen und christliche Gemeinschaften, die denn Ihr Entwurf?) kein Geld vom Staat bekommen, die keine Kirchensteuer einziehen und auch keine Staatsleistungen bekommen. sondern das ist aus meiner Sicht eine Aufgabe, die mit Also, das muss man trennen. den Ländern verhandelt werden muss. Ich bin Mitglied einer Landeskirche, und wenn ich (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (B) meine Kirche kritisiere, dann deswegen, weil ich nicht (D) GRÜNEN]: Warum denn?) möchte, dass sich meine Kirche unglaubwürdig macht. Das ist auch der Knackpunkt, warum wir heute nicht Ich habe auch gesagt: Es geht darum, dass die Kirche zustimmen können, und da spreche ich jetzt als Vertreter sich wieder ihren eigentlichen Aufgaben zuwendet und einer Partei, die immer noch die meisten Ministerpräsi- nicht Politik macht zum Beispiel. dentinnen und Ministerpräsidenten oder Regierenden Bürgermeister in diesem Land stellt. Von uns wird es (Beifall bei Abgeordneten der AfD – selbstverständlich keine Gesetzgebung gegen die Bun- Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE desländer geben, sondern wir müssen bei diesem Gesetz- GRÜNEN]: Das entscheiden die Kirchen gebungsvorhaben die Bundesländer mitnehmen. selbst!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das kann die Kirche nur, weil sie diese Geldmittel zur der CDU/CSU) Verfügung hat. Deswegen ist es durchaus angemessen, zu Bei Ihnen kommt es mir so vor, als ob Sie eine Lokal- sagen: Was über 100 Jahre der Verfassungsauftrag ist, runde schmeißen wollen, und wenn alle besoffen sind, sollte endlich beendet werden, wegen der Glaubwürdig- dann merken Sie plötzlich: Die, die die Rechnung zahlen keit der Kirche, und das ist auch meine Kirche. wollten, sind ja schon längst aus der Kneipe verschwun- Danke. den, und Sie müssen die Rechnung selber bezahlen. Das funktioniert so nicht. Wir brauchen hier jetzt eine Abstimmung – (Beifall bei der AfD)

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Herr Castellucci. Herr Castellucci, der Kollege Strasser hätte auch noch eine Kurzintervention. Wollen Sie beide zusammen?

Dr. Lars Castellucci (SPD): – und ein gutes Benehmen mit den Kirchen und mit Dr. Lars Castellucci (SPD): den Bundesländern. Diese nächste Runde müssen wir Wir können das nacheinander machen. miteinander noch drehen, und das wird dann auch die weiteren Beratungen nach sich ziehen. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Ich danke für die Aufmerksamkeit. Bitte schön, dann haben Sie das Wort. 23842 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

(A) Dr. Lars Castellucci (SPD): Dr. Lars Castellucci (SPD): (C) Herr Münz, die eigentliche Aufgabe der Kirche ist die Lieber Herr Strasser, in aller Kürze: Wir regieren in Liebe, und Ihre eigentliche Aufgabe ist der Hass, und das den Bundesländern in verantwortlicher Position. passt einfach nicht zusammen. (Benjamin Strasser [FDP]: Wir regieren auch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten in den Bundesländern!) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Deswegen achten und respektieren wir auch die Arbeit in GRÜNEN – Dr. Götz Frömming [AfD]: Das ist diesen Bundesländern und werden uns mit den Bundes- so billig, selbst für Sie zu billig!) ländern ins Benehmen setzen müssen. Das unterscheidet unsere beiden Parteien; ich glaube, das kommt in dieser Sie haben gesagt, dass wir uns nun schon seit vielen Debatte zum Ausdruck. Jahren kennen. Das habe ich leider nicht vermeiden kön- nen. Dabei ist mir im Übrigen aufgefallen, dass Sie auf Aber ich möchte Ihnen auch entgegenkommen und Empfängen der Kirche, der katholischen wie auch der sagen, dass ich Herrn Ruppert in guter Erinnerung habe; evangelischen Kirche, immer klatschen, wenn die Red- denn als er zu der ersten Runde eingeladen hat, an der wir nerinnen und Redner dort von Dingen sprechen, die eben- ja auch teilnehmen durften, hat er gesagt, er habe hier das zum Ausdruck bringen, was Kirche ausmachen soll – einem Gesetzentwurf der Fraktion der Linken nicht zuge- Menschenrechte, Menschenwürde, die gleiche Würde stimmt, weil er mit ihm unzufrieden war. Er hat dann aller Menschen –, dass Sie aber hier Reden Ihrer Frak- aber, als er nach Hause gegangen ist, gesagt: Wenn man tionskollegen applaudieren, die das genaue Gegenteil hier mit einem Vorgehen und einem Antrag unzufrieden zum Inhalt haben. Deswegen möchte ich sagen, dass ich ist und ihn ablehnt, dann ist man irgendwie auch selber in Sie nicht nur in Ihren Reden hier für kirchenfeindlich der Verantwortung, etwas vorzulegen. Dem stimme ich halte, sondern auch für scheinheilig. ausdrücklich zu. Einen solchen Gesetzentwurf für die SPD-Bundestagsfraktion habe ich längst in der Tasche, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und den werden wir zu gegebener Zeit hier diskutieren des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der können. Abg. Christine Buchholz [DIE LINKE]) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Der Kollege Strasser hat das Wort zu einer Kurzinter- Die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist die vention. Kollegin Christine Buchholz. (B) (D) (Beifall bei der LINKEN) Benjamin Strasser (FDP): Sehr geehrter Herr Castellucci, nach Ihrer Rede bleibt man, ehrlich gesagt, etwas ratlos zurück, weil Sie im Christine Buchholz (DIE LINKE): ersten Teil Ihrer Rede gar nicht zum Thema geredet haben Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir disku- und im zweiten Teil erst mal gesagt haben, was Sie alles tieren heute über den gemeinsamen Gesetzentwurf von nicht wollen bei der Ablösung der Staatsleistungen für FDP, Linken und Grünen zur Ablösung der Staatsleistun- die Kirchen. gen an die Kirchen. Dieser Gesetzentwurf ist wichtig, weil er die Trennung von Staat und Kirche auch finanziell Deswegen müssen wir uns, glaube ich, noch mal die- umsetzen will. sem Henne-Ei-Problem widmen. Die Verfassung schreibt Bei den Staatskirchenleistungen geht es um historisch einen ganz klaren Weg vor: Der Bund stellt ein Grund- gewachsene Entschädigungen, die vom Staat als Aus- sätzegesetz auf, die Länder machen ein Ablösegesetz. gleich für die Enteignung von kirchlichen Ländereien Jetzt kann man natürlich sagen: Wir machen das erst, und Gütern im frühen 19. Jahrhundert gezahlt wurden wenn die Länder das wollen. – Das haben wir die letzten und immer noch werden. Jahrzehnte erlebt. Und die Länder sagen: Wir machen es erst, wenn der Bund ein Grundsätzegesetz vorlegt; erst (Dr. Götz Frömming [AfD]: Ist längst abbe- dann können wir wirklich verhandeln. zahlt!) Deswegen ist die Frage: Was will die SPD? Was sind Es wäre zutiefst ungerecht, wenn die Kirchen bis in alle denn Ihre nächsten Schritte, damit wir nicht noch 100 Jah- Ewigkeit Gelder vom Staat erhalten sollen für Ereignisse, re auf die Ablösung dieser Staatsleistung warten müssen? die mehr als 200 Jahre zurückliegen. Das ist in Ihrer Rede überhaupt nicht erwähnt worden: (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. was Sie eigentlich wollen, wo die Kompromisslinie zu Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Ihnen ist. Ich habe immer nur gehört, Sie wollen nichts. NIS 90/DIE GRÜNEN]) (Ute Vogt [SPD]: Das hat der nicht gesagt!) Auch deswegen enthielt die Weimarer Reichsverfas- sung von 1919 den Auftrag, diese Zahlungen abzulösen. Das ist für mich keine Lösung. Dieser Auftrag wurde ins Grundgesetz übernommen. Der Bund soll Grundsätze für die Umsetzung aufstellen. Das Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: haben wir mit unserem Gesetzentwurf gemacht. Herr Kollege, bitte schön. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23843

Christine Buchholz (A) Die Länder müssen dann mit den Kirchen in ihrem Bun- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. (C) desland Verträge zur Umsetzung vereinbaren, und genau Benjamin Strasser [FDP]) darum geht es, Herr Castellucci. Ich bin gespannt auf den Entwurf der SPD. Schade, dass er heute nicht zur Diskus- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: sion gebracht wurde. Der nächste Redner ist für Bündnis 90/Die Grünen der (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Kollege Dr. Konstantin von Notz. neten der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es wird Zeit, dass der Verfassungsauftrag erfüllt wird und die Staatsleistungen endlich abgelöst werden. Denn wenn man nichts tut, wie CDU/CSU und SPD bisher, Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dann kostet das ewig, und zwar Steuergelder. Das ist nicht NEN): hinzunehmen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt wohl keine Mühle der deutschen Gesetzgebung, die (Beifall bei der LINKEN) so langsam mahlt wie diese hier. Über 100 Jahre alt ist der Die Linke setzt sich seit Jahren für eine Regelung ein. Verfassungsauftrag nun, umgesetzt wurde er nie. Deswe- 2012 haben wir einen Gesetzentwurf eingebracht – das gen ist es gut, dass diese Baustelle nun endlich angegan- wurde eben schon erwähnt – und 2015 die Einsetzung gen wird, und es ist gut, dass wir hier heute einen kon- einer Expertenkommission beantragt, die einen Vor- kreten gemeinsamen Vorschlag aller demokratischen schlag erarbeiten sollte. Beides wurde abgewiesen. Oppositionsfraktionen haben, meine Damen und Herren.

Seitdem ist vonseiten der Parteien der Großen Koali- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tion nichts passiert, und das kommt die Steuerzahlerinnen und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten und Steuerzahler teuer zu stehen. Momentan werden der FDP) Staatsleistungen in Höhe von einer halben Milliarde Euro jährlich an die beiden großen christlichen Kirchen Nach den vielen qualifizierten Beiträgen spare ich mir gezahlt. Seit unser Gesetzentwurf hier im Bundestag alle historischen Exkurse. Klar ist: Staat und Kirche abgelehnt wurde, sind rund 4 Milliarden Euro geflossen. haben in Deutschland eine bewegte Trennungs- und Deswegen haben wir gehandelt. Beziehungsgeschichte. Wenn wir heute über unseren Nach der letzten Bundestagswahl haben Konstantin Gesetzesentwurf zur Ablösung der Staatsleistungen spre- von Notz und ich zusammengesessen, und bald war chen, reden wir nicht über die Legitimität der Möglich- Stefan Ruppert von der FDP mit an Bord. Gemeinsam keit zur Erhebung von Kirchensteuern, die selbstver- (B) (D) haben wir diesen Gesetzentwurf erarbeitet. Wenn es ständlich bleibt. Wir rütteln auch nicht am bewährten, nach der Linken gegangen wäre – das wurde schon ge- gerade in diesen Zeiten erfolgreichen verfassungsrecht- sagt –, wäre die an die Kirchen zu zahlende Ablösesum- lich gesicherten kooperativen Grundverständnis von Kir- me deutlich geringer ausgefallen. Die Forderung aus dem che und Staat in Deutschland. Uns geht es nur um die Gesetzentwurf von 2012 bleibt unsere inhaltliche Posi- Ablösung der Staatskirchenleistungen, und das „nur“ in tion; diesem Satz ist eine harte Untertreibung; denn seit 100 Jahren hat sich niemand gekümmert, nichts hat sich (Beifall bei der LINKEN) bewegt, nichts Belastbares wurde hingekriegt.

aber der jetzige gemeinsame Gesetzentwurf bietet eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grundlage, auf die sich eine Mehrheit im Bundestag ein- und bei der FDP) lassen könnte. SPD und CDU/CSU müssen erklären, ob sie den Ver- Ein Grundlagengesetz schafft Grundlagen. Wir zeigen fassungsauftrag weiterhin ignorieren und aussitzen wol- einen machbaren, verfassungskonformen und angemes- len oder ob sie sich für eine Lösung starkmachen, die im senen Weg auf. Wir wollen die Abhängigkeit der Kirchen Übrigen dem Gleichbehandlungsgebot gegenüber allen von der staatlichen Abhängigkeit in diesem Bereich Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in unse- beenden, und wir wollen die staatlichen Haushalte ent- rer zunehmend plural geprägten Gesellschaft entspricht. lasten; auch das ist richtig. Wir wollen keinen Kahlschlag bei Kirchen, kirchlichen Krankenhäusern, Schulen und Herr Gröhe, es ist gut, zu reden, aber ich glaube, jetzt Sozialeinrichtungen; denn sie sind ein wichtiger Teil ist es an der Zeit, zu handeln. der sozialen Infrastruktur dieses Landes, gerade in der (Beifall bei der LINKEN, der FDP und dem Fläche. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende, bitte. Dafür will ich an dieser Stelle allen kirchlichen Mitarbei- terinnen und Mitarbeitern und den Kirchen selbst sehr herzlich danken. Christine Buchholz (DIE LINKE): Das mache ich jetzt. – Handeln Sie jetzt! Wir sind (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bereit, Schritte mit Ihnen zu gehen, aber nur in die rich- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und tige Richtung. der FDP) 23844 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Dr. Konstantin von Notz (A) Wir haben den wichtigen Dialog mit den betroffenen schädigungszahlungen des Staates. Diese Leistungen (C) Kirchen geführt. Für uns ist zentral, dass bei der Ablö- erhalten die Kirchen aufgrund von Vermögensverlusten, sung durch Geldleistungen das Äquivalenzprinzip die sie im Zuge der Säkularisierung erfahren haben. zugrunde gelegt wird; das wurde vielfach gesagt. Wir Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 wurde stellen damit sicher, dass diese Ablösung verfassungs- heute schon genannt. Schon 1803 hat man sich für einen konform – verfassungskonform! – geschieht und keine klugen Grundsatz entschieden, der heute immer noch im illegitime Herabsetzung der wirtschaftlichen Grundlagen Grundgesetz verankert ist, nämlich dass es keine staat- der Kirchen darstellt. lichen Vermögenseingriffe ohne Entschädigungszahlun- In Richtung GroKo sage ich: Es ist eben nicht ein gen gibt. Diesem zentralen Gedanken, dass man für Ent- Zeichen der besonderen Solidarität mit den Kirchen, eignungen entschädigt, müssen wir auch in der wenn wir dieses Abhängigkeitsverhältnis in diesem Rechtsnachfolge des Reiches folgen. Das ist unsere klare Punkt bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag aufrechterhalten Überzeugung. Ich glaube, daran darf man auch nicht rüt- und unseren Verfassungsauftrag ignorieren. Lars teln, liebe Kolleginnen und Kollegen. Castellucci, ins Benehmen setzen ist immer gut, aber (Beifall bei der CDU/CSU) dafür hatten wir jetzt 100 Jahre Zeit. Es wäre einfach ein guter Zeitpunkt, das anzugehen und sich nicht nur Die Frage ist – das führt dann ein Stück weit zu den ins Benehmen zu setzen. Unterschieden –: Welche Rolle soll der Bund dabei über- nehmen? Es wurde schon verschiedentlich gesagt: Wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, reden heute auch über die Rechtsposition Dritter, nämlich bei der FDP und der LINKEN) über die Rechtsposition der Länder. – Am Ende schulden Ich komme zum Schluss. Alles hat seine Zeit. Der nicht wir als Bund diese Entschädigungszahlungen, und Kollege Strasser hat es gesagt: Der Gesetzgeber sollte wir werden sie auch nicht zahlen, sondern das Grund- die Dinge regeln, wenn er es unbefangen und selbstbe- gesetz und die Weimarer Reichsverfassung haben uns stimmt kann. Die Zeit ist jetzt. Ich danke der Kollegin die Rolle eines neutralen Mittlers zugewiesen. Das heißt, Buchholz und dem Kollegen Strasser, und auch von mir wir müssen auch bedenken, dass die Länder bisher in gehen liebe Grüße an den Kollegen Ruppert. keiner Weise ihren klaren Willen artikuliert haben. Erst Geben Sie sich einen Ruck, Große Koalition! Kommen dann, wenn dieser klare Wille artikuliert worden ist, wäre Sie endlich aus dem Knick! Dann kriegen wir das hin. aus dem Bundesstaatsprinzip heraus eine Verpflichtung aus dem Prinzip der Bundestreue zu sehen, dass wir diese Vielen Dank. Regelung erlassen. Bis dahin ist es unser freies Ermessen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, wann wir diese Regelung treffen und wann nicht. (B) bei der FDP und der LINKEN) Wir müssen auch sehen, dass es in der aktuell durch (D) Corona angespannten Haushaltslage auch andere Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Schwerpunkte in den Ländern gibt, als jetzt zwingend Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der innerhalb der nächsten fünf Jahre diese Staatsleistungen Kollege Philipp Amthor. Bitte schön. mit einer Höhe von 10 Milliarden Euro zu regeln. Das müssen wir auch berücksichtigen, liebe Kolleginnen und (Beifall bei der CDU/CSU) Kollegen. (Beifall bei der CDU/CSU) Philipp Amthor (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Zum Inhalt des Ablösungsgebots wurde schon einiges diskutieren hier häufig über Verfassungsrecht. Aber ich gesagt. Ich finde es richtig, dass Sie sich zum Äquiva- gestehe zu: Es ist in der Tat besonders, dass wir über die lenzprinzip bekennen. Das ist dem Verfassungsrecht Weimarer Reichsverfassung und über einen über 100 Jah- geschuldet, und das erkennen wir an. Aber man muss re alten Verfassungsauftrag reden, nämlich über den in auch sagen: Es greift vielleicht etwas stark in die Position Artikel 140 Grundgesetz inkorporierten Auftrag zur der Länder ein, wenn Sie den Ablösefaktor so konkret Regelung der Ablösung der Staatsleistungen an die Kir- vorgeben wollen. Sie sprechen vom 18,6-Fachen des Jah- chen in Deutschland. Ich knüpfe gerne an das an, was der reswertes und orientieren sich, um auf diese Zahl zu kom- Kollege Hermann Gröhe schon gesagt hat – und das sage men, an dem Bewertungsgesetz. Das kann man tun. ich nicht oft –: Das ist wirklich ein guter und ein vernünf- Aber Sie müssen auch bedenken, dass dieses Gesetz tiger Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, und sicher- aus einer Zeit mit einem Zinsumfeld von 5 Prozent lich eine passable Grundlage, über die wir reden können. stammt und nicht aus unserer aktuellen Niedrigzinssitua- (Beifall bei der FDP) tion. Deswegen glaube ich, dass der von Ihnen vorge- Vor der Ausschussdebatte möchte ich aber doch noch schlagene Faktor zu gering ist. Gerade als Abgeordneter einige Anmerkungen zum Rechtsgrund der Staatsleistun- aus Ostdeutschland sage ich Ihnen auch: Die Bedeutung gen, zur Rolle des Bundes und zum Inhalt des Ablösungs- der Staatsleistung ist in manchen Diözesen, in manchen gebots machen. Wenn wir über diese Staatsleistungen Landeskirchen in Ostdeutschland durchaus höher. Des- reden, ist es, glaube ich, wichtig, dass in dieser Debatte wegen müssen wir darauf achten, dass wir hier eine solide kein falscher Zungenschlag entsteht: Diese Staatsleistun- Lösung finden. gen sind keine Geschenke und keine herkömmlichen (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Subventionen, sondern sie sind – das muss man so klar GRÜNEN]: Ja, mehr geht immer, auch nach kommunizieren – verfassungsrechtlich geschuldete Ent- unserem Vorschlag!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23845

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: Dennoch sollten wir uns mit den Ländern ins Beneh- (C) Damit sind Sie am Ende. men setzen, inwieweit diese einen Zeitplan aufstellen können, um diese Staatsleistungen abzulösen. Der Punkt ist: Wenn wir 500 Millionen Euro jährlich an Staatsleis- Philipp Amthor (CDU/CSU): tungen an die Kirchen bezahlen, dann wäre es bei dem Es geht für uns darum, dass wir hier gemeinsam ver- Faktor 18,6 im Prinzip nur zehn Jahre lang das Doppelte. nünftig diskutieren. Ich kann sagen: Das ist ein solider Es ist insofern auch wichtig, dass wir eine zeitliche Antrag, und wir werden schauen, dass wir zu einer ver- Abfolge für diese Ablösung hinbekommen. Deswegen nünftigen Lösung kommen. Ich freue mich auf die Dis- meine Bitte, mit den Ländern zu sprechen. kussionen im Innenausschuss. Was bleibt, ist Folgendes: Wir halten fest an dem Kon- Herzlichen Dank. zept der weltanschaulichen, religiösen Neutralität und (Beifall bei der CDU/CSU) auch an der Staatsferne der Kirchen; der Staat hat sich da nicht einzumischen. Aber wir haben auch das Konzept einer wohlwollenden Begleitung von Kirche und Staat. Vizepräsidentin Claudia Roth: Uns ist nicht gleichgültig, wie sich die Menschen organi- Vielen Dank, Philipp Amthor. – Einen schönen Nach- sieren; deswegen wird diese Gesellschaft auch nach wie mittag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist die zwei- vor auf diese Prägungen setzen. Die Ablösung der Staats- te Runde für mich, und die dritte kommt bestimmt noch. leistungen bedeutet nicht, dass diese gewachsene Verbin- Um es aber abzukürzen, wird es jetzt strenger mit den dung zwischen Staat und Kirche in Deutschland aufhört, Redezeiten. sondern sie wird weiter vorhanden sein und noch wach- sen. Deswegen: Lassen Sie uns über diese Fragen kon- Der nächste Redner ist Dr. Volker Ullrich von der struktiv diskutieren. CDU/CSU-Fraktion. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Vizepräsidentin Claudia Roth: Herren! Die in Artikel 138 der Weimarer Reichsverfas- Vielen Dank, Dr. Volker Ullrich. – Damit schließe ich sung benannten Staatsleistungen sind eine Entschädi- die Aussprache. gungspflicht des Staates für die Abgabe von kirchlicher, Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs (B) staatsrechtlich begründeter Herrschaft im Jahr 1803. Die auf Drucksache 19/19273 an die in der Tagesordnung (D) Ursache liegt also nicht in der Religion an sich, sondern aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine in der Aufgabe staatlichen Besitzes und staatlicher Herr- weiteren Vorschläge. Dann wird genau so vorgegangen. schaft. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 c auf: Gerade weil von 1803 bis 1919 nichts passiert ist, hat die Weimarer Reichsverfassung diesen Anspruch in die a) – Zweite und dritte Beratung des von der Verfassung aufgenommen. Man möchte heute fast mei- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs nen, dass sich diese Ablöseverpflichtung der Staatsleis- eines Gesetzes zur Änderung des Wind- tungen zu einer Art Institutionsgarantie gewandelt hat, energie-auf-See-Gesetzes und anderer weil beinahe 200 Jahre lang nichts passiert ist. Deswegen Vorschriften müssen wir sehr sorgfältig mit dieser Frage umgehen. Drucksachen 19/20429, 19/22081, Aber in der Tat: Es besteht ein verfassungsrechtlicher 19/22346 Nr. 1.22 Anspruch auf die Staatsleistungen, und für uns als Gesetzgeber besteht eine verfassungsrechtliche Ver- Beschlussempfehlung und Bericht des pflichtung, sie abzulösen. Daran halten wir auch fest. Ausschusses für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) Der entscheidende Punkt ist, wie hoch zunächst einmal diese Ablösungen zu bemessen sind. Die Konstruktion, Drucksache 19/24039 dass das Reich oder der Bund die Grundsätze aufstellt – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- und die Länder davon betroffen sind, ist deswegen ge- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung wählt worden, weil man verhindern wollte, dass die Län- der aufgrund einer möglicherweise angespannten Haus- Drucksache 19/24046 haltslage im Jahr 1919 – möglicherweise auch heute – eine Entschädigungsregelung wählen, die unter dem b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wert bleibt, den die Kirchen damals verloren haben. Des- Steffen Kotré, Tino Chrupalla, Enrico wegen ist es richtig – auch wegen der Einheitlichkeit der Komning, weiterer Abgeordneter und der verfassungsrechtlichen Ordnung –, hier zu einer ord- Fraktion der AfD nungsgemäßen Bewertung zu kommen, die mir mit dem Strompreise effektiv senken – Energiever- Faktor von 18,6 nach dem Bewertungsgesetz angemes- sorgung wieder auf marktwirtschaftliche sen, fair und gerecht erscheint. Basis stellen (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Drucksache 19/23953 23846 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Überweisungsvorschlag: – Ja, das sage ich immer wieder mal bei Ihnen, zu Recht, (C) Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) und dann gilt es für die anderen genauso. – Entschuldigen Finanzausschuss Haushaltsausschuss Sie, Frau Kollegin. – Liebe Abgeordnete, es wäre übri- gens nett, wenn Sie der Rednerin mal zuhören würden. c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Frau Winkelmeier-Becker, Sie sind dran. Energie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Julia Verlinden, Dr. Ingrid Nestle, Annalena Baerbock, weiterer Abge- Elisabeth Winkelmeier-Becker, Parl. Staatssekretä- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE rin beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie: GRÜNEN Ich hatte gerade die industriepolitische Wichtigkeit des Vorhabens unterstrichen. Mit dem Gesetz schaffen wir Ausbau der Offshore-Windenergie zuver- die Voraussetzungen dafür, dass diese vielen Aspekte lässig, naturverträglich und kostengünstig zusammenkommen, um die Ausbauziele zu erreichen. absichern Drucksachen 19/20588, 19/24027 Für die Ausschreibungen, die die Bundesnetzagentur ab dem nächsten Jahr durchführen wird, muss das Bun- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten desamt für Seeschifffahrt und Hydrographie, BSH, dem- beschlossen. – Ich bitte Sie, zügig Platz zu nehmen. nächst vorab tätig werden. In einem zentralen Verfahren Dann eröffne ich die Debatte. Das Wort hat die Parla- muss das Bundesamt voruntersuchen, welche Flächen mentarische Staatssekretärin Elisabeth Winkelmeier- denn konkret in Betracht kommen. Damit wird dann Becker für die Bundesregierung. auch Klarheit erzielt, auf welchen Flächen weiter geplant werden kann. Die Übertragungsnetzbetreiber müssen (Beifall bei der CDU/CSU) dann die Netzanbindungen umsetzen.

Elisabeth Winkelmeier-Becker, Parl. Staatssekretä- Das Gesetz schafft die Grundlagen für diese Prozesse. rin beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie: Es fängt bei den erforderlichen Stellen und Mitteln an, die Frau Präsidentin! Lieber Herr Minister! Liebe Kolle- dafür bei den entsprechenden Behörden geschaffen wer- ginnen und Kollegen! Wenn Strom aus Windenergiean- den müssen, und es erfüllt damit die Zusage der Bundes- lagen auf See durch unsere Steckdosen fließen soll, dann regierung aus der Offshore-Vereinbarung, die Minister muss viel zusammenkommen. Da muss einer die Wind- Altmaier mit den Energieministern der Küstenländer, energieanlagen auf See erstellen und darin investieren. mit dem BSH, mit der Bundesnetzagentur und den Über- Da müssen die Leitung und der Anschluss bis hin zum tragungsnetzbetreibern im Mai dieses Jahres getroffen (B) (D) Verbraucher geschaffen werden. Wir brauchen Behörden, hat. die planen und genehmigen. Und wenn es zum Streit Unser Ausschreibungssystem bietet damit auch weiter- kommt, dann brauchen wir auch noch Gerichte, die die- hin verlässliche und attraktive Bedingungen als Grund- sen Streit lösen. lage für diese erforderlichen Investitionen; denn die Wie das alles zusammenpasst und wie damit klare Bieter erhalten alle nötigen Daten der Voruntersuchun- Mengenvorgaben realisiert werden, das ist Gegenstand gen, und sie erhalten, je nachdem, wie der Zuschlagswert des Windenergie-auf-See-Gesetzes, das seit dem Jahr dann aussieht, auch eine Förderung im Rahmen der glei- 2017 in Kraft ist und das wir heute noch besser machen. tenden Marktprämie. Wir setzen das Ganze noch konsequenter um. Wir erhö- Wir haben dafür auch den Höchstwert für Ausschrei- hen das Ausbauziel für die Offshorewindenergie von bungen angepasst, der ansonsten nach den letzten Aus- 15 Gigawatt auf 20 Gigawatt Leistung bis zum Jahr schreibungen bei null gelegen hätte. Wir haben in diesem 2030 und setzen damit um, was die Bundesregierung im Zusammenhang auch den Umgang mit 0-Cent-Geboten Klimaschutzprogramm 2030 beschlossen hat. in den zukünftigen Ausschreibungen intensiv diskutiert. Zum ersten Mal verankern wir auch ein Langfristziel Das Gesetz, wie es heute vorliegt, enthält dazu eine Eva- von 40 Gigawatt bis zum Jahr 2040. Damit setzen wir ein luierungsklausel, die die erneute Prüfung im Jahr 2022 Signal, dass Deutschland weiterhin ein führender Markt vorsieht. Im Fall mehrerer 0-Cent-Gebote wird bis dahin in der Offshorewindenergie ist und bleiben wird. Das das Los entscheiden. schafft Planungssicherheit für die Unternehmen. Das schafft auch gute Rahmenbedingungen für Wertschöp- Aus unserer Sicht ist wichtig, dass wir bei dem fung und Arbeitsplätze in unserem Land und hat deshalb bewährten System der gleitenden Marktprämie bleiben. auch eine industriepolitische Dimension. Das ist ausge- Die 0-Cent-Gebote aus den Übergangsausschreibungen sprochen wichtig. belegen doch gerade den Erfolg dieses Fördersystems. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mit dem Gesetz erhöhen wir zugleich das Tempo. Wir werden zukünftig nicht nur das Jahr, sondern auch das Vizepräsidentin Claudia Roth: konkrete Quartal der Inbetriebnahme von Offshorewind- parks und Anbindungsleitungen festlegen. Dadurch wird Entschuldigen Sie bitte. – Herr Kollege Linnemann, der Ablauf besser koordiniert, und das ermöglicht dann hier wird nicht fotografiert; das müssten Sie langsam auch, dass die entsprechenden Realisierungsfristen kür- wissen. Das gilt für alle. zer werden. Außerdem erweitern wir die erstinstanzliche (Zuruf von der AfD) Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts auf Kla- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23847

Parl. Staatssekretärin Elisabeth Winkelmeier-Becker (A) gen gegen die Offshoreanbindungsleitungen. Auch das nichts! Denn wenn wir die Rechnung machen, wie viel (C) wird deutlich dazu beitragen, dass wir die Verfahren ver- Temperaturerhöhung wir dadurch verhindern können, kürzen. dann zeigt sich: Das sind wenige Tausendstel Grad. Mit diesem Gesetz schaffen wir also die Grundlage für Also, für nichts und wieder nichts verschleudern wir eine zunehmend bedeutende Funktion der Windenergie hier Volksvermögen. auf See zum Erreichen unserer Energie- und Klimaziele. Der Ausbau der Windenergieanlagen geschieht ohne Gleichzeitig trägt die Offshorewindenergie dazu bei, dass Grundlage. Wir haben kein Fundament. Fundament die Strompreise bezahlbar und die Stromversorgung wäre die Speicherfähigkeit; aber die haben wir nicht. sicher bleiben. Nicht zuletzt schaffen wir damit auch Das ist so, als wenn Sie ein Haus ohne Fundament bauen gute Rahmenbedingungen für Arbeitsplätze und Wert- würden. schöpfung in Deutschland und bringen so Wirtschaft und Klima zusammen. (Beifall bei der AfD – [SPD]: Sie sind nicht auf dem Stand der Technik! Mein Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. lieber Mann!) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben die Speicherfähigkeit nicht im groß- industriellen Maßstab und vor allen Dingen nicht so, Vizepräsidentin Claudia Roth: dass es ökonomisch sinnvoll ist. Wir brauchen am Tag Vielen Dank, Frau Winkelmeier-Becker. – Nächster 1,7 Milliarden Kilowattstunden elektrischen Strom. Den Redner: für die AfD-Fraktion Steffen Kotré. können wir natürlich in Lithiumbatterien speichern. Aber (Beifall bei der AfD) wenn wir das tun würden, dann würden wir hier zusätz- lich Investitionskosten von 4,8 Billionen Euro haben: 4,8 Billionen Euro, 4 800 Milliarden Kilowattstunden. Steffen Kotré (AfD): Damit würden wir dann diese Dunkelflaute von 14 Tagen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen abdecken können, und Herren! Mit diesem Gesetz schaffen wir die Grund- lagen für Umweltzerstörung und für die Verschleuderung (Timon Gremmels [SPD]: Die einzige Dun- von Volksvermögen. Windindustrieanlagen im Meer sind kelflaute redet gerade!) umweltschädlich. 200 Euro an Investitionskosten zur Speicherung für (Timon Gremmels [SPD]: Legen Sie mal eine 1 Kilowattstunde. Aber das sind natürlich Irrsinnszahlen, neue Platte auf!) und daran kann man erkennen, dass das gar nicht funk- tionieren kann. (B) Sie beeinträchtigen die Meerestiere, sie verändern die (D) Ökosysteme und die Strömungen, und das in stärkerem Dann kommt man auf die Idee, dass es Wasserstoff Ausmaß als bisher gedacht. Ich zitiere einen Umwelt- richten kann. Aber auch da brauchen wir exorbitante schutzverband: Kapazitäten an Elektrolyse, die wir gar nicht haben. Ich Der Bau, Betrieb und die Wartung von Offshore- glaube, das sind auch noch mal 70 Terawattstunden, die Windkraftanlagen sind mit schädlichen Auswirkun- wir in Form von Wasserstoff bevorraten müssten. Wir gen auf Meeressäuger, Vögel, Fische und die wissen, wir müssen 3 Kilowattstunden aufwenden, um Lebensgemeinschaften am Meeresboden … verbun- anschließend 1 Kilowattstunde zu haben. Wir vernichte- den. … See- und Zugvögel werden beeinträchtigt. ten im Prinzip zusätzlich 2 Kilowattstunden, wenn wir … Rast- und Nahrungsgebiete gehen verloren … diesen Strom dort speichern wollten. Also, Wasserstoff ist in diesem großen industriellen Maßstab der Energie- Aber das scheint die Bundesregierung nicht zu interes- erzeugung für die Katz. Das ist Wolkenkuckucksheim, sieren. Sie haben ja auch gar kein Konzept für den Arten- und das sind Luftschlösser, auf Sand gebaut, meine schutz, für den Naturschutz. Sie handeln damit umwelt- Damen und Herren. schädlich, und dies leider mit steigender Tendenz. (Beifall bei Abgeordneten der AfD) (Beifall bei der AfD) Meine Damen und Herren, nur noch mal kurz zur Ver- Wenn sich die Politik und die Verantwortlichen weiter- deutlichung, warum das alles so geschieht: Sie wollen ja hin so wissenschaftsfrei und technikfrei bewegen und die Verdummung in unserem Lande weiter antreiben, dann CO2 einsparen. reiben wir uns demnächst die Augen und finden uns in (Timon Gremmels [SPD]: Deswegen ist viel zu einem Entwicklungsland wieder. Deindustrialisierung hat tun!) im energieintensiven Bereich schon eingesetzt; das kön- Wir wollen uns die Verhältnisse mal vergegenwärtigen. nen Sie nachlesen. Wir haben die unsozialen Preise: Beim weltweiten CO2-Ausstoß entfallen circa ein Drittel 30 Cent. Das wird natürlich nur nach oben gehen. Legen auf die USA, circa ein Drittel auf China und 1,9 Prozent Sie da noch mal 10, 15 oder 20 Cent drauf. Dann landen auf Deutschland. wir bei bis zu 50 Cent die Kilowattstunde, wenn das hier so weitergeht mit Ihrer Energiewende, – Um diesen Ausstoß jetzt zu verringern, verschleudern wir insgesamt 2 Billionen Euro – 2 Billionen Euro! Das bedeutet, dass die Bundesregierung mit der Energiewen- Vizepräsidentin Claudia Roth: de jedem Menschen hier in diesem Lande 25 000 Euro Kommen Sie bitte zum Schluss. Sie sind deutlich drü- aus der Tasche zieht – 25 000 Euro für nichts und wieder ber. 23848 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

(A) Steffen Kotré (AfD): Wenn wir uns auf internationaler Ebene umschauen, (C) – die aber alles andere als vernünftig ist. Deswegen: sehen wir, dass zum Beispiel Großbritannien die Off- Wir sollten wieder hin zur Energieversorgung des Mark- shoreenergie stark ausbaut. Großbritannien erreicht das tes, weg von subventionierten Energieträgern. 40-Gigawatt-Ausbauziel übrigens schon 2030. Die Briten Danke. machen das über das Modell „Contract for Difference“. Wir regeln das über eine Klausel im Gesetz. Wir sehen (Beifall bei der AfD – Zuruf von der AfD: Die ein Monitoring vor, sodass wir in den nächsten zwei Jah- Kernenergie nicht vergessen!) ren schauen können, wie sich der Markt entwickelt. Wir haben sicherlich die Möglichkeit, diese Komponente Vizepräsidentin Claudia Roth: auch im weiteren Verlauf ins Gesetz aufzunehmen. Danke schön. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Wir schaffen bzw. sichern damit industrielle Struktu- Bernd Westphal. ren und sichere Arbeitsplätze an den Küsten. Wir tragen dem Umweltschutzgedanken Rechnung, und vor allen (Beifall bei der SPD) Dingen sorgen wir für Realisierungssicherheit bei diesen Projekten. Sonst wäre im Zuge einer Ausschreibung Bernd Westphal (SPD): womöglich ein Projekt zwar bezuschlagt worden, aber Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten es hätten große Risiken für die Realisierung bestanden. Damen und Herren! Zurück zum Thema. Das, was wir Mit diesem Konzept ist es gelungen, diese Planungs- und eben vom Vorredner hören mussten, ist sicherlich nicht Investitionssicherheit herzustellen. das, was uns nach vorne bringt, sondern wir handeln auf Wir sind davon überzeugt, dass wir mit diesem Gesetz der Basis internationaler Verträge, zum Beispiel des Pari- gute Rahmenbedingungen und eine gute Basis für den ser Klimaschutzabkommens. weiteren Ausbau der Windenergie schaffen, auch mit (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Blick auf die Einspeisung der offshore erzeugten Ener- giemengen in das Stromnetz und mit Blick auf die Erzeu- Das scheint Sie nicht zu interessieren. Für uns ist das gung von Wasserstoff, vielleicht sogar schon auf See. Richtschnur unserer Politik; wir fühlen uns da verpflich- Deshalb bitte ich Sie, diesem Gesetz zuzustimmen. Das tet, und deshalb handeln die Bundesregierung und diese ist ein gutes Gesetz, das Perspektiven für Innovationen Große Koalition genau auf dieser Basis. Es gilt, dem und Investitionen schafft. Klimaschutz gerecht zu werden. Vielen Dank. Genau dieses Gesetz, das wir hier beraten und heute beschließen wollen, betrifft den Bereich, den wir mit der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) Offshorewindenergie ausbauen, und zwar in erheblichem der CDU/CSU) (D) Maße. Zurzeit sind diese Technologien international am Start, und Deutschland kann einen enormen Beitrag leis- Vizepräsidentin Claudia Roth: ten, weil wir national jetzt dafür den Rahmen schaffen, Vielen Dank, Bernd Westphal. – Die nächste Rednerin: 40 Gigawatt bis 2040 auszubauen. Im Moment sind für die FDP-Fraktion Sandra Weeser. 7,7 Gigawatt installiert. Bis zum Jahr 2030 wollen wir den Zwischenschritt vollziehen und 20 Gigawatt bei uns (Beifall bei der FDP) installieren. Dies ist also ein erheblicher Beitrag, womit wir Planungssicherheit, Investitionssicherheit für neue Sandra Weeser (FDP): Technologien, für industrielle Strukturen, die dort entste- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und hen, schaffen. Deshalb ist das etwas, meine Damen und Kollegen! Ich bin, vielleicht weil ich Deutsch-Französin Herren, womit wir uns dem 65-Prozent-Ziel bis 2030 auf bin, aus tiefstem Herzen Europäerin. Deswegen freut es jeden Fall weiter nähern. mich immer wieder besonders, wenn europäische Länder gemeinsam Projekte vorantreiben. Dafür ist für mich die (Beifall bei der SPD) Windenergie auf See ein Paradebeispiel, weil sie zeigt, Das Windenergie-auf-See-Gesetz erzeugt Rahmenbe- wie Energiepolitik europäisch gedacht in der Praxis aus- dingungen dafür, dass wir die Technologie dort in Nord- sehen kann. und Ostsee bauen, wo der Wind am meisten weht. Des- Schon heute haben wir Windparks in der Nordsee und halb sind es sehr hohe und effiziente Anlagen, die dort an in der Ostsee, die ein enormes Potenzial aufzeigen. Wind- den Start gehen. Wir haben verhindert, dass mit diesem energie auf See hat einen ganz großen Vorteil: Die Men- Gesetz eine zweite Gebotskomponente eingeführt wird. schen akzeptieren sie dort deutlich besser als Windkraft- Diese zweite Gebotskomponente wäre immer bei 0-Cent- anlagen an Land. Geboten zum Einsatz gekommen, um zu differenzieren und auszuwählen. Wir haben entschieden, dass mit die- (Beifall bei der FDP) sem Gesetz eine zweite Gebotskomponente nicht einge- Und so sage ich auch ganz klar: Offshore muss vor ons- führt wird, weil das die Anlagen verteuert hätte, weil das hore stehen. die Projekte und damit den Strom für die Verbraucher- Bei der Windkraft an Land haben wir vielerorts die innen und Verbraucher verteuert hätte. In der parlamen- Schmerzgrenze der Menschen erreicht. Den weiteren tarischen Beratung ist es gelungen, diese Komponente Ausbau sehe ich sehr kritisch. Offshore hingegen leistet rauszunehmen. einen erheblichen Beitrag, um uns sicher mit Energie zu (Beifall bei der SPD) versorgen. Deshalb begrüßen wir Freien Demokraten, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23849

Sandra Weeser (A) dass sich die Koalition jetzt endlich geeinigt hat, dass es ihre Profite retten. Die Geschichte der erneuerbaren Ener- (C) Klarheit beim weiteren Ausbau gibt, auch wenn wir an gien in Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte, und das der Einigung einiges zu kritisieren haben. ist gut so. Ich werde nicht müde, zu sagen: Die deutsche Energie- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- wende muss viel stärker europäisch gedacht werden, und neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sie muss sich vor allen Dingen dem europäischen Klima- schutz widmen. Deswegen, Herr Altmaier, nutzen Sie die Doch wenn wir die Klimaziele einhalten wollen, müs- deutsche Ratspräsidentschaft! Lange dauert sie nicht sen wir die Erneuerbaren viel schneller als bisher aus- mehr. bauen. Dafür brauchen wir nicht nur die Solarenergie und die Windkraft an Land. Nein, wir brauchen auch (Beifall bei der FDP) die Windkraft in Nord- und Ostsee. Deshalb begrüßen Bringen Sie die europäische Energiewende voran, und wir als Linke ausdrücklich, dass die Bundesregierung machen Sie sich vor allen Dingen für die Ausweitung ihre Ausbauziele für Windkraft auf See für 2030 und des europäischen Emissionshandels stark. 2040 deutlich erhöht. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD) Isolieren Sie uns hier in Deutschland nicht weiter mit Ihrer national ausgerichteten Energiewende. Wir sagen auch: Die Offshorewindenergie leistet einen Herr Altmaier, ich muss Sie noch mal ansprechen: wichtigen Beitrag für die Versorgungssicherheit bei uns Isolieren Sie uns auch nicht bei den Energiepreisen. in Deutschland; denn der Wind weht auch dann auf dem Meer, wenn wir an Land vielleicht längst Flaute haben. (Christian Dürr [FDP]: Ja!) Deswegen ist sie so wichtig. Ein französischer Mittelständler zahlt mittlerweile nur Auf der anderen Seite haben wir in Nord- und Ostsee noch die Hälfte von dem, was ein deutscher Unternehmer große Nutzungskonflikte, beispielsweise mit dem auf der Stromrechnung hat. Das ist staatlich verursachte Schiffsverkehr, der Fischerei oder auch dem Militär. Wettbewerbsverzerrung, die Sie abstellen können. Meeresschützerinnen und Meeresschützer sagen uns, (Beifall bei der FDP) dass Nord- und Ostsee bereits jetzt deutlich überlastet sind. Deshalb sagen wir als Linke: Wir brauchen auch Die Windenergie auf See ist ein schönes Beispiel, wie eine Antwort auf diese Naturschutzaspekte. Wir müssen die Energiewende insgesamt funktionieren kann: Wir Nord- und Ostsee auch für kommende Generationen haben Strom, der vor der Küste produziert wird, er wird erhalten. Deswegen sagen wir als Linke ganz klar: Wir mit einem vernünftigen Netzausbau zum Verbraucher (B) wollen zum einen den Schiffsverkehr in diesen Regionen (D) gebracht, und über Ländergrenzen hinweg entstehen reduzieren, und wir müssen selbstverständlich auch eine immer neue Projekte, von denen wir gemeinsam profitie- Reduzierung des Militärs in diesen Regionen haben. ren können. Das heißt, die Produktion, die Speicherung und der Transport von Energie werden so immer effizien- (Beifall bei der LINKEN) ter. – Da muss doch die Reise hingehen, meine Damen Wir müssen uns vor Augen führen, dass das Militär einer und Herren. der größten Klimazerstörer ist. Deshalb ist es gut, wenn Deshalb fordern wir Freien Demokraten Sie auf: Sor- wir die militärische Präsenz in Nord- und Ostsee reduzie- gen Sie dafür, dass Deutschland ein Signal Richtung ren. Europa setzt, und bauen Sie eine Energiepolitik mit einer Wir sagen aber auch: Der Netzanschluss und der Netz- Brücke nach Europa. Ich glaube, damit ist uns allen geh- ausbau, der für die Offshorewindenergie notwendig ist, olfen, Herr Altmaier. wird von der Allgemeinheit finanziert, auch über die Danke schön. Strompreise. Die Netze sind in der Hand von vier großen (Beifall bei der FDP) Netzbetreibern in Deutschland. Diese Netzbetreiber sind private Monopole, und sie haben garantierte Gewinne. Das ist eine Folge des Privatisierungswahns in den Vizepräsidentin Claudia Roth: 1990er-Jahren. Das war ein fataler Irrweg. Vielen Dank, Sandra Weeser. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Lorenz Gösta Beutin. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Deshalb sagen wir als Linke: Folgen wir doch einfach dem Beispiel Dänemarks. Dänemark macht es klüger – es liegt übrigens bei der Energiewende mittlerweile weit Lorenz Gösta Beutin (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In vor Deutschland –: In Dänemark sind die Netze zu hun- 2020 hatten wir bis jetzt mehr als 50 Prozent Ökostrom dert Prozent in der Hand des Staates. Also, verstaatlichen im gesamten deutschen Stromnetz. Erinnern Sie sich wir die Stromnetze, noch an die 1990er-Jahre, in denen die deutschen Ener- (Beifall bei der LINKEN) giekonzerne großformatige Anzeigen geschaltet haben, und verstaatlichen wir die Stromnetzbetreiber! Für die mit denen sie gesagt haben: „4 Prozent Ökostrom, und Energiewende der vielen, demokratisch und gerecht! Kei- in Deutschland gehen die Lichter aus und die deutsche ne Energiewende der Konzerne! Wirtschaft bricht zusammen“? Heute wissen wir: Das war pure Propaganda; denn die Energiekonzerne wollten Vielen Dank. 23850 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Lorenz Gösta Beutin (A) (Beifall bei der LINKEN) und nicht so ein Hin und Her wie bei Ihnen. (C) Wie begrenzt das Engagement der Union für die Kli- Vizepräsidentin Claudia Roth: maschutzindustrie ist, haben wir auch in der Diskussion Vielen Dank, Lorenz Gösta Beutin. – Nächste Redne- über die Finanzierung erlebt. Mit den Differenzverträgen rin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Dr. Julia lag für dieses Gesetz ein wirklich guter Vorschlag auf Verlinden. dem Tisch. Von Umweltverbänden über die Windbranche bis hin zu Industrievertretern waren alle dafür; doch die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Union hat trotzdem mal wieder ihr Veto eingelegt und diese kostengünstige und kalkulierbare Lösung für die Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Finanzierung blockiert. Sehr, sehr schade! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- ren! Noch eine kurze Ergänzung zu meinem Vorredner: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Auch der Rohstoffabbau in Nord- und Ostsee muss drin- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) gend reduziert werden. Meine Damen und Herren von der Union, lassen Sie die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Investoren nicht länger im Unklaren, wie und wann sie und bei der LINKEN) ihre Milliarden in die Energiewende stecken dürfen; wir haben wahrlich keine Zeit mehr zu verlieren. In der zukünftigen, klimagerechten Energiewelt wird Energie deutlich effizienter genutzt, der Energiebedarf Und um auf die kommenden Wochen zu schauen: sinkt. Weil immer weniger Kohle, Öl und Erdgas ver- Wenn Sie nun festgestellt haben, dass man eigentlich brannt werden, steigt aber selbst bei höherer Energieeffi- die erneuerbaren Energien doch schneller ausbauen soll- zienz gegenüber heute der Bedarf an sauberem Strom: für te, als Sie das in den letzten Jahren geplant hatten – herz- Elektromobilität, Wärmepumpen, Grünen Wasserstoff. lichen Glückwunsch! –, dann nehmen Sie diese Erkennt- Deshalb brauchen wir neben dem Ausbau von Solar- nis doch bitte auch mit in die jetzt aktuellen Beratungen und Windenergie an Land natürlich auch mehr Wind- zum Erneuerbare-Energien-Gesetz. Denn es ist für die strom vom Meer. Das ist nachhaltig und klimaverträglich. Arbeitsplätze, für die Investitionen, für das EU-Klima- ziel, für die künftigen Generationen, für alle besser, Nun legen Sie von der Bundesregierung ein Gesetz wenn Sie jetzt direkt schon einen schnelleren Ausbau vor, das den Ausbau der Offshorewindenergie voranbrin- auch von Wind an Land und Sonnenenergie vorsehen gen soll. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass und damit Planungssicherheit den vielen Menschen darin ja immerhin ein Punkt in die richtige Richtung geht: geben, die bei der Energiewende mitmachen wollen. Sie haben hier nämlich Ihre eigenen, bisher viel zu nied- Denn einen schnelleren Ausbau von Erneuerbaren wird (B) rigen Ausbauziele für die Windenergie auf See angeho- es doch sowieso brauchen. Die fortschreitende Klima- (D) ben. Statt bisher 15 Gigawatt sollen es bis 2030 immerhin krise wird die Regierung zum Handeln zwingen. Also, 20 Gigawatt werden, und zehn Jahre später doppelt so nur Mut: Die richtige Zeit zum Handeln ist jetzt! viel. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Doch wie das mit Zahlen so ist: Sie muss man ins sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Verhältnis setzen, um sie zu bewerten. Und dann kommt das wahre, ernüchternde Bild zum Vorschein, das diese Regierung seit Jahren bei der Energiewende abgibt. 2014 Vizepräsidentin Claudia Roth: nämlich erst hatte diese Koalition aus Union und SPD Vielen Dank, Dr. Julia Verlinden. – Nächster Redner: hier im Bundestag das Ausbauziel für Windenergie auf für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Andreas Lenz. See für das Jahr 2030 von 25 Gigawatt auf 15 Gigawatt (Beifall bei der CDU/CSU) reduziert. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): Hört! Hört!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Mit der im heute vorliegenden Gesetzentwurf neuen Ziel- und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wind offs- marke von 20 Gigawatt bleiben Sie also noch weit unter hore ist ein wichtiger Teil der Energiewende und ein der Messlatte, die vor sieben Jahren schon einmal galt. wichtiger Teil der jetzigen, aber vor allem auch der Sie scheinen eingesehen zu haben, dass Sie damals einen zukünftigen Energieversorgung. Das sage ich als Bayer Fehler gemacht haben. Sie haben wichtige Investitionen auch aus voller Überzeugung. Wir haben es hier schon in in ein stabiles und zukunftsfähiges Energiesystem ver- einigen Beiträgen gehört: Es ist kaum zu leugnen, dass zögert, und nun hoffen Sie, dass die Unternehmen flexi- der Wind – zumindest der physische – an der Küste und bel genug sind, milliardenschwere Projekte auch kurz- auf See etwas heftiger bläst als in Bayern oder anderen fristig noch umzusetzen. Gegenden der Republik. Die Offshorewindenergie kann dauerhaft gut bezahlte (Zuruf der Abg. [BÜNDNIS 90/ Arbeitsplätze schaffen und den Klimaschutz ein gutes DIE GRÜNEN]) Stück voranbringen. Doch dafür braucht sie verlässliche, Deshalb wollen wir hier einen günstigen Ausbau und rechtssichere und naturverträgliche Rahmenbedingungen wirtschaftliche Investitionen in Erneuerbare für alle für Planungssicherheit, Beteiligten. Wir liefern also, und wir erhöhen die Ziele (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kräftig, meine sehr geehrten Damen und Herren. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23851

Dr. Andreas Lenz (A) Momentan liegt die Kapazität im Offshorebereich bei Dr. Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) etwa 7,5 GW; das macht ungefähr 5 Prozent des jähr- Herzlichen Dank. Sie ist auch nur ganz kurz. – Habe lichen Strombedarfs in Deutschland aus. 2030 wird die ich es richtig verstanden, dass Sie sagen, in 2040 würden Nennleistung bereits 20 GW betragen, also etwa 10 bis Sie mit 40 GW Offshore 30 Prozent des Strombedarfs 15 Prozent des jährlichen Strombedarfs. Und 2040 wer- decken? Und heißt das, dass Sie überhaupt nicht von den wir mit 40 GW etwa 30 Prozent des Stroms aus dem einem steigenden Stromverbrauch ausgehen, auch nicht Offshorebereich decken. Das ist ambitioniert, das ist aber bis 2040? auch machbar. Wir brauchen aber immer auch umsetzba- re Projekte, Julia Verlinden. Deswegen sind das eine die Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): umsetzbaren Projekte und das andere die entsprechenden Also, das ist die jetzige Einschätzung. Wir gehen aller- Ziele. dings im Gegensatz zu Ihnen davon aus, Energieeffizien- Wir brauchen natürlich auch einen Leitungsausbau. zen heben zu können. Wir wollen die Energieeffizienz erhöhen, wir wollen beim Stromverbrauch insgesamt (Zuruf der Abg. Lisa Badum [BÜNDNIS 90/ effizienter werden. DIE GRÜNEN]) (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Es wäre wirtschaftlich nicht sinnvoll gewesen, wenn wir NEN]: Da tun Sie aber mal überhaupt nichts!) irgendwelche Projekte realisiert hätten, ohne die ent- sprechenden Leitungen zu haben. Während vor zehn Jah- Insofern ist das eine tragbare Schätzung, die den aktuel- ren noch 19,4 Cent pro Kilowattstunde bezahlt werden len Gegebenheiten entspricht und die auch durchaus rea- mussten, liegt der Höchstgebotspreis jetzt bei 7,2 Cent. listisch ist. Also circa ein Drittel des Strombedarfs 2040 Wir sehen aber auch Ausschreibungen zu 0 Cent, wie ja aus Offshorewindenergie – das ist eine realistische Schät- bekannt ist. zung. Sollte sich daran was ändern, können wir die Stell- schrauben entsprechend anpassen. Aber Sie haben mich (Zuruf der Abg. Dr. Julia Verlinden [BÜND- da richtig verstanden: circa 30 Prozent; das wird auch NIS 90/DIE GRÜNEN]) vom Wirtschaftsministerium entsprechend beziffert. Wir schaffen also mit dem vorliegenden Gesetz Verläss- (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lichkeit für die Hersteller, für die Projektierer, aber vor allem auch für die Stromkunden und die Gesamtwirt- schaft, und das ist ein wichtiges Signal, meine sehr geehr- Vizepräsidentin Claudia Roth: ten Damen und Herren. Gut, vielen Dank. – Es geht weiter mit der Rede. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): (D) Natürlich ist neben dem Leitungsanschluss auch die Wie gesagt: Wind offshore ist eine beeindruckende Weiterleitung, der Netzausbau an Land, wichtig. Wir Technologie. Wir in Deutschland können davon profitie- brauchen die Stromleitungen, und wir brauchen die ren. Es ist ein Wachstumstreiber. Davon profitieren Stromleitungen schnell. Deshalb beinhaltet der Gesetz- Unternehmen im Land, aber natürlich schafft es auch entwurf auch beschleunigende Aspekte hinsichtlich der hochqualifizierte Arbeitsplätze. Wenn man sich diese Planung der Offshoreanbindungsleitungen. Hier werden Technologie etwas näher anschaut, dann beeindruckt bei- die Verfahren letztlich verkürzt. Auch das ist ein wichti- spielsweise ein Projekt in den Niederlanden. Dort wurde ger Schritt in die richtige Richtung. eine 14-Megawatt-Turbine mit einem Rotordurchmesser Offshore hat auch eine industriepolitische Komponen- von 222 Metern installiert. Das ist Hochtechnologie made te. Viele deutsche Unternehmen sind Weltmarktführer in Germany, und das wollen wir natürlich auch in und haben Zugang zu allen Märkten auf der Welt. Das Deutschland umsetzen. globale Wachstum in diesem Bereich beträgt jährlich cir- Wir profitieren also ökonomisch, aber auch ökolo- ca 20 Prozent. gisch, da wir einen Beitrag zur Erreichung der Ziele leis- (Zurufe der Abg. Lisa Badum [BÜNDNIS 90/ ten. Deshalb wollen wir auch den sogenannten Eingriffs- DIE GRÜNEN]) ausgleich für Offshorewindenergie dauerhaft aussetzen. Das stärkt die Fischerei vor Ort, das stärkt aber auch die Die Branche erwartet global bis 2040 jährliche Investitio- Akzeptanz insgesamt. nen in Windprojekte sowohl auf On- als auch auf Off- shoreebene, also an Land und auf See, in Höhe von jähr- Wir schreiben weiterhin aus. Der Zuschlag erfolgt ent- lich 178 Milliarden Dollar. Die Offshoreinstallationen sprechend den abgegebenen Geboten für die Einspeise- steigen global von jährlich 6 GW im Jahr 2025 auf vergütung. Wir glauben, dass es das richtige Instrument 25 GW im Jahr 2030. Deutschland kann und Deutschland ist, dass der Wettbewerb entscheidet, welches Gebot zum muss von diesem Wachstum profitieren. Zug kommt. Wir verzichten überdies auf die zweite Gebotskomponente. Das Ganze werden wir 2022 eva- luieren. Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Es ist ein gutes, es ist aber auch ein wichtiges Gesetz. -bemerkung von Frau Dr. Nestle? Ich bitte um Zustimmung und bedanke mich für die Auf- merksamkeit. Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ja, bitte. Timon Gremmels [SPD]) 23852 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: lisierungsrisiken, die wir uns nicht erlauben können. Wir (C) Vielen Dank, Dr. Lenz. – Jetzt kommen wir vom tiefen müssen jetzt langsam mal PS auf die Straße bringen oder, Süden in den hohen Norden. Letzter Redner in dieser wie wir das sonst in anderem Kontext sagen, einen Debatte: Johann Saathoff für die SPD-Fraktion. Wumms für die erneuerbaren Energien erzeugen. Und wir sahen rechtliche Probleme. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE]) Für uns wäre ein Modell besser gewesen, das den Investoren auf der einen Seite Sicherheit gegeben hätte, auf der anderen Seite aber erstmalig auch die Möglichkeit Johann Saathoff (SPD): einer Entlastung des EEG-Kontos mit sich gebracht hätte. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Das haben wir jetzt nicht geschafft. Die Ausschreibungen Kollegen! Die erste Botschaft vorweg: Wir heben unsere werden in den nächsten zwei Jahren nach dem alten Ver- Offshoreziele an, und zwar deutlich: 5 Gigawatt zusätz- fahren laufen. Das ist auch nur möglich, weil wir das lich bis 2030 auf dann 20 Gigawatt, und wir wollen System für die Höchstpreisregelung verändert haben. 40 Gigawatt in 2040 erreichen. Ich glaube, das ist eine Ich würde mir wünschen, dass die Evaluation in zwei gute Botschaft; die muss vorab erwähnt werden. Jahren auch noch mal den europäischen Aspekt betrach- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe tet: „Wie machen das die anderen Mitgliedstaaten in Schummer [CDU/CSU]) Europa eigentlich?“, und dass wir dann nach der Evaluie- Ich will an dieser Stelle auch erwähnen, dass 1 Giga- rung ein neues Ausschreibungsdesign auflegen können. watt Offshore nicht gleich 1 Gigawatt PV ist, sondern die Ich bedauere, dass wir keine Regelung für das Küsten- Strommenge insgesamt ist viel höher als die Nennleis- meer haben aufnehmen können. 20 Gigawatt in der Aus- tung. 1 Gigawatt Offshoreenergie entspricht ungefähr schließlichen Wirtschaftszone bis 2030 sind ambitioniert, 2 Gigawatt Onshoreenergie oder 4 Gigawatt PV-Energie, und die Potenziale der Küstenmeerregion hätten uns und von daher ist das heute eine doppelt und dreifach gute wirklich geholfen. Vielleicht denken wir noch mal darü- Botschaft. ber nach, wenn wir über die EEG-Novelle miteinander (Beifall bei Abgeordneten der SPD) verhandeln. Es ist auch ein starkes Signal, liebe Kolleginnen und Es gilt in der Energiepolitik wie allgemein im Leben, Kollegen, für den Ausbau der Erneuerbaren. Ich würde wie wir in Ostfriesland sagen würden: Tellt blot, wat mich freuen, wenn es uns gelingt, das auch im Einklang skiert word. – Oder übersetzt, Frau Präsidentin, auf mit den anderen europäischen Anrainern der Nordsee und Schlau: Es reicht nicht das Erzählte, es zählt nur das der Ostsee – Frau Weeser, Sie haben darauf hingewiesen – Erreichte. (B) ein Stück weit miteinander zu vernetzen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (D) Man muss auch dazusagen, dass der Strombedarf für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Elektrolyseure aus der Wasserstoffstrategie noch gar der CDU/CSU) nicht eingerechnet ist. Das heißt, wir brauchen noch mal 5 Gigawatt und müssen – ich hoffe, noch in dieser Legis- Vizepräsidentin Claudia Roth: laturperiode – eine verlässliche Antwort darauf finden, Vielen Dank, auch für den Sprachunterricht, der mir als wie wir diese 5 Gigawatt tatsächlich mit Erneuerbaren Süddeutsche bei Ihnen immer besonders gefällt. darstellen wollen. Ich schließe die Aussprache. (Zuruf der Abg. Dr. Julia Verlinden [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Tagesordnungspunkt 15 a. Wir kommen zur Abstim- mung über den von der Bundesregierung eingebrachten Wir geben der Branche, liebe Kolleginnen und Kol- Gesetzentwurf zur Änderung des Windenergie-auf-See- legen, Planungsperspektiven und -sicherheit, und die Gesetzes und anderer Vorschriften. Der Ausschuss für sozialdemokratische Fraktion hat dabei vor allen Dingen Wirtschaft und Energie empfiehlt in seiner Beschluss- an die vielen Beschäftigten gedacht, die in der Offshore- empfehlung auf Drucksache 19/24039, den Gesetzent- branche um ihren Arbeitsplatz bangen mussten, so wie wurf der Bundesregierung auf Drucksachen 19/20429 einige in der Onshorebranche auch. Diese Beschäftigten und 19/22081 in der Ausschussfassung anzunehmen. haben Zuverlässigkeit und Sicherheit verdient. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- GRÜNEN) entwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Wir halten damit Investoren in Deutschland und reizen Zugestimmt haben die Fraktionen der SPD und von das auch an; denn wir haben für gleiche Finanzbedingun- CDU/CSU, dagegengestimmt hat die AfD-Fraktion, ent- gen gesorgt – das, was man neuerdings auf Neudeutsch halten haben sich die Fraktionen der FDP, von Bünd- Level Playing Field nennt. nis 90/Die Grünen und der Linken. Die SPD war nicht einverstanden mit der zweiten Dritte Beratung Gebotskomponente. Wir sehen mit dem Vorschlag stei- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem gende Investitionskosten verbunden, weil einfach die Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. – Finanzierung von Offshoreparks viel, viel teurer wird, Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- weil das Risiko größer ist. Dadurch sehen wir auch Rea- entwurf ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktio- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23853

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) nen von SPD und CDU/CSU, dagegengestimmt hat die – zu dem Antrag der Abgeordneten Sven (C) Fraktion der AfD, und enthalten haben sich die Fraktio- Lehmann, Anja Hajduk, Markus Kurth, nen der Linken, von Bündnis 90/Die Grünen und der weiterer Abgeordneter und der Fraktion FDP. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Tagesordnungspunkt 15 b. Interfraktionell wird Über- Teilhabe am gesellschaftlichen Leben weisung der Vorlage auf Drucksache 19/23953 an die in garantieren – Regelbedarfsermittlung der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- reformieren gen. – Es gibt keine weiteren Vorschläge. Dann wird Drucksachen 19/23128, 19/23113, genau so verfahren. 19/23124, 19/24034 Tagesordnungspunkt 15 c. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zum Antrag der ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jens Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Ausbau Beeck, Pascal Kober, Michael Theurer, weiteren der Offshore-Windenergie zuverlässig, naturverträglich Abgeordneten und der Fraktion der FDP einge- und kostengünstig absichern“. Der Ausschuss empfiehlt brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/24027 des Gesetzes zur Ermittlung der Regelbedarfe , den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf nach § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetz- Drucksache 19/20588 abzulehnen. Wer stimmt für diese buch Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer Drucksache 19/23938 enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenom- Überweisungsvorschlag: men. Zugestimmt haben die Fraktionen der SPD, der Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) CDU/CSU, der FDP und der AfD, dagegengestimmt hat Haushaltsausschuss die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, und enthalten Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten hat sich die Fraktion der Linken. beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b sowie Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Plätze Zusatzpunkt 5 auf: zügig zu tauschen bzw. einzunehmen, damit wir gleich 16 a) – Zweite und dritte Beratung des von der weitermachen können. Bitte die Debatten draußen wei- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs terführen! eines Gesetzes zur Ermittlung von Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist für die Regelbedarfen und zur Änderung des SPD-Fraktion Dagmar Schmidt. (B) Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (D) sowie des Asylbewerberleistungsgeset- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zes der CDU/CSU) Drucksachen 19/22750, 19/23549, 19/23839 Nr. 6 Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Beschlussempfehlung und Bericht des und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Ausschusses für Arbeit und Soziales beschließen heute die Anpassung und Erhöhung der (11. Ausschuss) Grundsicherungsleistungen in Deutschland und damit Drucksache 19/24034 auch die Erhöhung des Steuerfreibetrags. Zusätzlich zu den Kosten der Unterkunft, das heißt für Miete, Heizung – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- und Warmwasser, erhalten Alleinstehende statt heute schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung 432 Euro dann 446 Euro. Für Kinder zwischen 14 und Drucksache 19/24047 17 Jahren erhöhen wir den Regelsatz sogar um 45 Euro. Und erstmalig berücksichtigen wir Ausgaben für die b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Handynutzung. Berichts des Ausschusses für Arbeit und So- ziales (11. Ausschuss) Ich sage: Man kann immer vieles besser machen. Und so, wie wir die Grundsicherung aktuell in der Krise ange- – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe passt haben – mit der vollen Übernahme der Wohnungs- Witt, Jürgen Pohl, Jörg Schneider, weite- kosten und der Akzeptanz von Vermögen und Altersvor- rer Abgeordneter und der Fraktion der sorge –, ist sie schon deutlich besser geworden. AfD (Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald Taschengeld für die in Heimen leben- [DIE LINKE]: Ein Schritt in die richtige Rich- den Bürger tung, aber reicht nicht!) – zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Auch das will ich ganz zu Beginn sagen: Es ist keine Kipping, Matthias W. Birkwald, Susanne Schande, auf Grundsicherung angewiesen zu sein. Jeder Ferschl, weiterer Abgeordneter und der und jede kann in Not geraten, und es ist das gute Recht Fraktion DIE LINKE von Bürgerinnen und Bürgern, wenn sie in Not sind, Rechentricks überwinden – Regelbe- dieses soziale Recht in Anspruch zu nehmen. Und nie- darfe sauber berechnen mand muss sich dafür schämen. 23854 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Dagmar Schmidt (Wetzlar) (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten damit auch Alleinerziehende ihr Einkommen selber (C) der CDU/CSU) sicherstellen können; und ein Sozialstaat, der als Partner agiert, der Gesundheitsschutz und Qualifikation über das Grundlage für die Berechnung dieser Grundsiche- gesamte Leben gewährleistet, damit so wenige wie irgend rungsleistungen sind die Ausgaben unterer Einkommen. möglich auf Grundsicherung angewiesen sind. Diese statistische Grundlage ist über die Fraktionen hin- weg unbestritten. Es gibt aber an der Aufbereitung viel (Beifall bei der SPD – Zuruf der Abg. Corinna Kritik, und den für mich wichtigsten Punkt möchte ich Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) erwähnen. Wir wollen verhindern, dass Menschen überhaupt in die Grundsicherung rutschen, und wir wollen, dass die, Die Grundidee ist, dass man jeweils die Durchschnitts- die schon lange drin sind, werte der verschiedenen Ausgaben für verschiedene Din- ge nimmt. Damit hat man einen Bedarf insgesamt abge- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE bildet; und anders als bei einem Warenkorbmodell, wo GRÜNEN]: Wir reden jetzt über ein reales Ge- man Butter, Milch und Käse addiert, kann über diese setz und nicht über ein SPD-Papier!) Durchschnittswerte auch ein veganer Haushalt abgebildet wieder einen Weg herausfinden. Ich bin der festen Über- werden, weil alle innerhalb der Gesamtheit der Ausgaben zeugung, dass es für jeden Menschen einen produktiven ihre Schwerpunkte unterschiedlich setzen. Dieses Prinzip Platz, eine gute Arbeit gibt. Man muss sich nur gemein- ist klug und richtig, weil Menschen eben unterschiedliche sam auf den Weg machen, sie zu finden. Und wenn es Prioritäten und Lebensgewohnheiten haben. heute dafür keine Mehrheit gibt, dann vielleicht morgen. Was ein Problem wird, ist, wenn man aus diesem klu- Glück auf! gen Modell Dinge streicht, von denen man glaubt, dass (Beifall bei der SPD) Menschen sie nicht brauchen oder nicht brauchen dürfen. Wir streichen den Weihnachtsbaum, Bier, Schnittblumen, Unterhalt für ein Auto. Es wird angenommen, dass alle Vizepräsidentin Claudia Roth: mit Bus, Bahn oder Fahrrad fahren. Das mag Möglich- Vielen Dank, Dagmar Schmidt. – Nächster Redner: für keiten in großen Städten widerspiegeln; der Lebensreali- die AfD-Fraktion Uwe Witt. tät auf dem Land entspricht es aber nicht. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Uwe Witt (AfD): GRÜNEN) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen (B) und Kollegen! Liebe Zuschauer an den TV-Geräten und (D) Ich schaffe durch die Streichungen – nicht nur auf dem im Livestream! Land – eine soziale Gruppe, die so nicht mehr wirklich in ( [DIE LINKE]: Machen Sie der Lage ist, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben – jetzt mal den Kinomodus aus!) erst recht nicht, wenn sie lange in Grundsicherung lebt –, und die sich so auch vom Arbeitsmarkt entfernt; und das Herr Minister Heil, warum ist Ihr Ministerium nicht in ist nicht gut so. der Lage, einmal einen Gesetzentwurf in den Bundestag einzubringen, der handwerklich und inhaltlich ausgereift Zur Wahrheit gehört aber eben auch: Würden alle Aus- ist? gaben berücksichtigt, die bisher nicht berücksichtigt wer- ( [CDU/CSU]: Sie sind doch den, dann wären das Mehrausgaben von fast 30 Milliar- noch nicht mal in der Lage, ein Konzept vor- den Euro jährlich. zulegen, Herr Witt!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wir mehr Wieder einmal wurde uns hier eine grobe Kladde vorge- Leistungen bei der Grundsicherung, dann muss das also legt, von der Sie selbst wussten, dass massiver Ände- eingebettet werden in eine größere Sozialstaatsreform, rungsbedarf besteht. Der Aufschrei der Sachverständigen wie wir sie in unserem Sozialstaatskonzept beschrieben in der Anhörung ist jetzt noch zu hören. und teilweise auch schon durchgesetzt haben: Dennoch hat der hier vorliegende Änderungsantrag (Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- keine wesentlichen Verbesserungen gebracht, nur kleine NEN]: Da stehen auch keine höheren Regelsät- Detailveränderungen. Dafür öffnen Sie mit dem Omnibus ze drin!) von den bisherigen Leistungsausschlüssen für EU-Aus- länder zu SGB-Il-Leistungen bzw. SGB-XII-Leistungen Kinder raus aus dem SGB II, eine ordentliche Kinder- die Büchse der Pandora. grundsicherung, und dann für die Eltern einen armutsfes- (Beifall bei der AfD – Daniela Kolbe [SPD]: Ist ten Mindestlohn; ein Recht auf Arbeit, statt Arbeitslosig- ein EuGH-Urteil!) keit zu finanzieren, wie wir es mit dem sozialen Arbeitsmarkt sehr erfolgreich machen; dazu die Kinder- Der Gesetzentwurf leitet das Aufenthaltsrecht der betreuung weiter verbessern, wie Franziska Giffey es Eltern als Voraussetzung für den Sozialleistungsbezug gemacht hat, aus dem Schulbesuch der Kinder ab. Im Ergebnis haben arbeitslos gewordene EU-Bürger mit Kindern, die in (Zuruf der Abg. Beate Müller-Gemmeke Deutschland zur Schule gehen, in der Regel ein Aufent- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) haltsrecht und Recht auf deutsche Sozialleistungen wie Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23855

Uwe Witt (A) deutsche Staatsbürger. Damit haben Sie einen weiteren W. Birkwald [DIE LINKE] und Corinna Rüffer (C) Pull-Faktor für die Einwanderung in das deutsche Sozial- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) system geschaffen. – ich weiß, das interessiert Sie nicht, aber ich sage es (Daniela Kolbe [SPD]: So ein Quatsch!) trotzdem –, die ihr Leben in Alten- und Pflegeheimen Bereits jetzt ist das größte Problem in unseren Sozial- sowie in Heimen für Menschen mit Behinderung fristen systemen und auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Und zwar fordern wir eine Gleichstellung mit Flüchtlingen (Zuruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE und Asylbewerbern, LINKE]) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE das nicht mehr vorhandene Lohnabstandsgebot. Nehmen GRÜNEN]: Immer die gleiche Masche! wir zum Beispiel einen ausgelernten Gesellen, verheira- Gegeneinander ausspielen!) tet, fünf Kinder: Bei einem Bruttolohn von 2 500 Euro, was durchaus einem Durchschnittslohn entspricht, blei- die in Deutschland üppig mit dem Taschengeld, das Sie ben dem Gesellen 1 932 Euro netto. hier verabschieden, belohnt werden. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie vie- (Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- le haben denn fünf Kinder? Wo leben Sie denn? NEN]: Es gibt kein Taschengeld! Es gibt ein 1,4 Kinder pro Haushalt! Nicht fünf!) soziales Grundrecht!) Hinzu kommen noch 1 088 Euro Kindergeld. Diese Fa- Dass sich wenigstens wir Oppositionsfraktionen Ge- milie lebt also von insgesamt 3 020 Euro. Eine gleich danken um unsere Mitbürger mit Behinderung machen, große Familie im SGB-II-Bezug, zum Beispiel nach zeigt der Gesetzentwurf der FDP, Beendigung eines Asylverfahrens, erhält durch die Regelbedarfe aktuell 2 222 Euro für Kosten der Lebens- (Zuruf der Abg. Corinna Rüffer [BÜND- haltung. Hinzu kommen Kosten der Unterkunft in Höhe NIS 90/DIE GRÜNEN]) von 1 240 Euro. Diese Familie wird mit sage und schreibe der eine Anpassung der Regelbedarfsstufe für Behinderte 3 462 Euro in die deutsche Sozialhängematte eingeladen. „in besonderen Wohnformen“ vorsieht. Es ist ein sinn- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE voller Gesetzentwurf zugunsten dieser behinderten Men- GRÜNEN]: Das ist widerlich, was Sie sagen! – schen; denn sie bilden in der Regel keine Bedarfsgemein- Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schaften und haben daher auch keine Haushaltsersparnis. NEN]: Sie sollten von diesem niedrigen Satz Die FDP fordert, genau wie wir, die Gleichstellung von behinderten Menschen. (B) mal leben! – Zuruf des Abg. Matthias W. (D) Birkwald [DIE LINKE]) Zu den Anträgen der Linken und Grünen kann ich Bereits jetzt wird Nichtstun gegenüber harter Arbeit mit wieder einmal nur eines sagen: Ihr sozialer Gedanke ist über 400 Euro mehr belohnt, Herr Heil. leider Sozialismus pur (Beifall bei der AfD – Widerspruch bei der (Widerspruch bei der LINKEN und dem LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Steffi Lemke NEN – Kai Whittaker [CDU/CSU]: Sie haben [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können es bei der ersten Familie den Kinderzuschlag und doch nur ablehnen! Sie können doch gar nichts das Wohngeld vergessen! Das ist doch alles planen!) Blödsinn, was Sie da erzählen!) und schießt deutlich über das Ziel hinaus. Dieser Effekt wird sich noch weiter ausdehnen, wenn die (Beifall bei der AfD – Matthias W. Birkwald Änderungen der Regelbedarfe in Kraft treten. [DIE LINKE]: Davon verstehen Sie so viel wie In Anbetracht der 5 Millionen zusätzlichen Arbeits- die Fische vom Fahrradfahren!) losen, die dank Ihrem verheerenden Versagen in der Coronakrise ihren Job verlieren werden, Vizepräsidentin Claudia Roth: (Kai Whittaker [CDU/CSU]: Sie verlieren ihn Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Tobias bei der nächsten Wahl!) Zech. können wir Deutsche uns keine weiteren Anreize erlau- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. ben, sämtliche Wirtschaftsflüchtlinge und Sozialtouristen Dagmar Schmidt [Wetzlar] [SPD]) aus Europa und der ganzen Welt anzulocken. (Beifall bei der AfD) Tobias Zech (CDU/CSU): Ich möchte noch einmal für unseren Antrag „Taschen- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was soll geld für die in Heimen lebenden Bürger“ werben. Hier man danach jetzt noch sagen? fordern wir nichts weiter als die Gleichstellung einer klei- (Zuruf von der AfD: Nichts!) nen Gruppe von sozial schwachen Menschen Wissen Sie, wir haben eine der größten Wirtschaftskrisen (Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- in diesem Land, die größte seit dem Zweiten Weltkrieg. NEN]: Finanziell schwach! Sozial schwach sind Sie! – Weitere Zurufe der Abg. Matthias ( [AfD]: Selber produziert!) 23856 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Tobias Zech (A) Was wir heute machen, ist, dass wir über die Regelsätze (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (C) diskutieren, festlegen, wie sie ermittelt werden, auch alle ordneten der SPD) Regelsätze erhöhen. Das Erste, was mir in den Kopf Ein weiterer Aspekt ist, dass wir hier auch reagieren. kommt, auch wenn ich die ganzen außenpolitischen Wir haben ja die Diskussion: Was macht denn hier das Debatten mitverfolge – keine Ahnung, ob man in Parlament in dieser Coronakrise? Meine Damen und Her- Washington schon weiß, wie die Wahl ausgegangen ist –, ren, wir verlängern heute das SodEG, ein ganz wichtiges (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Kann ich Gesetz. Wir haben eine plurale Landschaft von Sozial- Ihnen sagen!) dienstleistern, die teilweise ihre Leistungen nicht erbrin- in denen über soziale Brennpunkte und Sicherungen dis- gen können, weil sie sie pandemiebedingt zum Beispiel kutiert wird, ist, wie froh ich bin, in einem Land zu leben, in Werkstätten für Menschen mit Behinderung – ich sehe in dem es die Regierung in der größten wirtschaftlichen hier gerade – nicht anbieten können. Um Krise schafft, heute ein Gesetz vorzulegen, durch das alle sie vor Insolvenz zu schützen und um die plurale Land- Regelsätze steigen, das teilweise – in der Regelbedarfs- schaft zu erhalten, machen wir heute dieses Gesetz und stufe der 14- bis 17-Jährigen – eine Erhöhung der Regel- verlängern die Verordnungsermächtigung bis nächstes sätze um 14 Prozent vorsieht, Jahr im März. Und dann, Herr Minister, dürfen nicht Sie über die nächste Verlängerung entscheiden – auch (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Teil- das haben wir geändert –, dann können wir es wieder weise auch nur 1 Euro!) verlängern, weil wir das Parlament sind und wir darüber mit dem wir heute über 1,4 Milliarden Euro für das Exis- zu bestimmen haben. tenzminimum ausgeben. Darüber können wir alle froh Dieses Gesetz ist auch deshalb wichtig, weil wir nicht sein – und darauf kann man auch stolz sein –, nur die Dienstleisterlandschaft schützen, sondern weil (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wir in dem Spannungsfeld von Leistungsträger und Leis- neten der SPD – Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/ tungserbringer auch den Leistungsempfänger in den Mit- DIE GRÜNEN]: Nein, können wir nicht!) telpunkt nehmen müssen und wir mit dem Gesetz auch dazu motivieren, alternative Formen der Leistungserbrin- wie stark unser soziales Netz ist. Und das muss auch gung zum Beispiel bei Sprachkursen anzubieten, um verteidigt werden. So ein soziales Netz bedeutet Verant- somit auch weiter zum Beispiel die Arbeitsförderung auf- wortung. Und Verantwortung bedeutet, dass das Mini- rechterhalten zu können. mum für jeden gelten muss. Dann regeln wir noch ein Drittes: den erleichterten Wir sprechen heute über ein Minimum! Das ist eine Zugang zum SGB II. (B) schwierige Debatte. Und wir werden uns da auch nie (D) einigen können, weil man sich bei einem Minimum nie (Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einigen kann! NEN]: Bis März!) (Zuruf: Schreien Sie nicht so!) – Auch bis März. Dann geht es wieder hierher, weil wir das hier zu entscheiden haben. – Das ist auch eine wich- – Entschuldigung! tige Regelung. Das gibt Sicherheit. Das gibt Sicherheit (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU für die Soloselbstständigen, und das gibt Sicherheit für und der SPD) die Angestellten und Arbeitnehmer, die zum Beispiel pandemiebedingt Aufstockerleistungen beziehen müs- Vizepräsidentin Claudia Roth: sen. Um denen zu helfen und Sicherheit zu geben, auch Der Redner kommt aus Bayern. Planungssicherheit, verlängern wir heute die gesetzliche Regelung mit dem erleichterten Zugang zum SGB II. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Meine Damen und Herren, das Wichtigste aber, was BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf uns als Parlament treiben muss, ist, wenn wir über das des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Minimum sprechen, wenn wir über die Regelsätze spre- chen, über das SodEG oder über den erleichterten Zugang zum SGB II: Eines dürfen wir niemals vergessen: Das Tobias Zech (CDU/CSU): Hauptziel von uns muss sein, dass wir nicht über Regel- Aber es ist richtig. Wo wären wir denn, wenn wir bei sätze und über ein Minimum diskutieren, einer Debatte über das Existenzminimum nicht streiten würden? Da gibt es natürlich unterschiedliche Auffassun- (Zuruf von der AfD: Aha!) gen. sondern darüber, wie wir die Menschen aus der Grundsi- Noch mal: Alle Regelsätze werden steigen. Wir geben cherung herausbekommen, wie wir die Menschen wieder heute noch mal 1,4 Milliarden Euro in das System. Und, zurück in den ersten Arbeitsmarkt bekommen, wie wir Herr Minister, bei allen Unterschieden und Details, über diese Krise überwinden. die man immer streiten kann, muss man festhalten: Das (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Gesetz ist nicht handwerklich schlecht. – Herr Kollege [SPD]) von der AfD, ich weiß nicht, bei welcher Anhörung Sie waren. Ich kann sagen: Wir geben heute ein gutes Gesetz Da muss ich auch wieder sagen: Ich bin froh, in einem so hier ins Parlament, und ich kann jetzt schon nur um starken Sozialstaat zu leben, in einem solidarischen Zustimmung bitten. Sozialstaat. Ich kann nur um Zustimmung bitten. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23857

Tobias Zech (A) Herzlichen Dank. Der Städtetag hat in der Anhörung darauf hingewiesen, (C) dass wir die Mittel und Leistungen für die Kinder im (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Leistungsbezug als Investitionen begreifen müssen. Wir ordneten der SPD) haben vorgeschlagen, dass wir das Bildungs- und Teil- habepaket deutlich erhöhen: bei den Leistungen für Vizepräsidentin Claudia Roth: Sportunterricht, bei den Leistungen für Musikunterricht, Vielen herzlichen Dank, Tobias Zech. – Nächster Red- bei den Leistungen für Schulmaterialien: statt 15 Euro ner: für die FDP-Fraktion Pascal Kober. 30 Euro, statt 150 Euro 170 Euro. Da knausern Sie um jeden Cent, wenn es um die Zukunft der Kinder im Leis- (Beifall bei der FDP) tungsbezug geht. (Christian Dürr [FDP]: Unfassbar!) Pascal Kober (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist unverständlich, das ist unverantwortlich, und das Lieber Herr Bundesminister , wir werden lassen wir Ihnen nicht durchgehen, liebe Bundesregie- dem Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe zustimmen. rung. Die Berechnungsmethode ist in Ordnung. Das Bundes- (Beifall bei der FDP) verfassungsgericht hat das ja auch schon so bestätigt. Auch wenn es um Weiterbildung geht, wenn es um Gleichwohl sehen wir als Freie Demokraten in dem Bildung der Menschen geht, um Qualifizierung: Warum ganzen Kontext von SGB XII und SGB II dringenden genehmigen Sie nicht in Zukunft auch dreijährige Handlungsbedarf. Ich möchte daran erinnern, was der Umschulungen? Warum bauen Sie nicht Teilqualifizie- gesetzliche Auftrag des Sozialgesetzbuchs II ist. Darin rungen aus? Es geht doch darum, die Menschen zu geht es nämlich nicht nur um die Leistungshöhe, sondern ertüchtigen, darum, dass wir den Menschen Chancen es geht auch darum, die Eigenverantwortung der Men- geben. – Herr Zech, Sie haben es angesprochen. schen im Bezug zu stärken. Es geht darum, sie dabei zu unterstützen, ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft und Tun Sie was! Übernehmen Sie unsere Vorschläge! Das mit eigenen Mitteln zu verdienen. Und es geht schluss- würde den Menschen guttun, und das wäre eine sinnvolle endlich darum, dass wir sie dabei unterstützen, wieder in Politik für die Menschen, die heute noch am Rand der Arbeit zu kommen bzw. ihren Arbeitsplatz zu behalten. Gesellschaft stehen. Das sind gesetzliche Vorgaben, liebe Kolleginnen und Vielen Dank. Kollegen, denen sich die Regierung hartnäckig verwei- gert. Das geht nicht so weiter. (Beifall bei der FDP) (B) (D) (Beifall bei der FDP) Vizepräsidentin Claudia Roth: Deshalb haben wir zu diesem Gesetz im Ausschuss Vielen Dank, Pascal Kober. – Nächste Rednerin: für einen Entschließungsantrag vorgelegt, in dem wir wich- die Fraktion Die Linke Katja Kipping. tige Dinge benannt haben. Lieber Herr Bundesminister, (Beifall bei der LINKEN) ich weiß, der Tag hat nur 24 Stunden; aber er hat 24 Stun- den, und wenn Ihnen die Zeit nicht reicht, dann nehmen Sie einfach unsere Vorschläge, und stimmen Sie Ihnen Katja Kipping (DIE LINKE): zu! Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Rund 700 Abgeordnete könnten heute, wenn sie alle da wären, (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist über diesen Gesetzentwurf abstimmen. Direkt davon eine Vorstellung von Arbeitszeiten! – Matthias betroffen sind über 7 Millionen Menschen in diesem W. Birkwald [DIE LINKE]: Das könnte dir so Land. Also stimmen rund 700 Leute, die jeden Monat passen, Pascal!) eine stattliche Diät bekommen, darüber ab, was den ärms- Wir werden Sie nicht wegen Copy-and-paste verklagen. ten 7 Millionen Menschen in diesem Lande zusteht. Das Wir wären froh; denn es würde den Menschen helfen. Es ist ein bemerkenswerter Vorgang. würde sie in Arbeit bringen und ihre Eigenverantwortung (Kai Whittaker [CDU/CSU]: Ein demokrati- stärken, liebe Freundinnen und Freunde. scher Vorgang! Ich fasse es nicht!) (Beifall bei der FDP – Zuruf des Abg. Matthias Wir sollten nie vergessen, welche Auswirkungen unse- W. Birkwald [DIE LINKE]) re Entscheidungen auf die Ärmsten im Land haben. Da geht es zunächst einmal darum, dass wir die Zuver- (Beifall bei der LINKEN) dienstgrenzen verbessern. Es kann nicht weiter angehen, dass wir den Menschen im Grundsatz 80 Cent von jedem Wenn man Geld hat, kann man sich das kaum vorstellen: verdienten Euro wegnehmen. wie viel ein paar Euro bedeuten können, wie viel die Dinge bedeuten, die einem das Gefühl geben, ein Mensch Auch beim SGB XII sollten wir endlich mal an die zu sein, der es verdient, Glück zu empfinden. – Diese Zuverdienstmöglichkeiten rangehen. Es wäre mehr als Worte stammen von der Autorin Anna Mayr, die unter gerecht, wenn die Menschen mehr von ihrem selbstver- den Bedingungen von Hartz IV aufwuchs. dienten Geld behalten dürften. Das ist ein Auftrag, dem Von dem Gefühl, ein Mensch zu sein, dem es zusteht, Sie sich leider hartnäckig verweigern. Glück zu empfinden, sind wir natürlich weit weg, wenn (Beifall bei der FDP) wir über diese Regelbedarfe reden; da reden wir eher über 23858 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Katja Kipping (A) Mangel. Die Hartz-IV-Aktivistin Inge Hannemann, Sach- (Zuruf von der AfD: Das ist nicht so gefährlich! (C) verständige bei der Anhörung, brachte es wie folgt auf Macht nichts!) den Punkt: Leben mit Hartz-IV-Regelsätzen bedeutet, – Ach je! dauerhaft mit einem Taschenrechner im Kopf zu leben. – Wir als Linke wollen das ändern. Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Sven Lehmann. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Mit Rechenschiebern?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Doch die Bundesregierung aus Union und SPD hat politische Festlegungen getroffen, die die Regelbedarfe Sven Lehmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): weiter klein halten. Sie legen dabei unter anderem fest, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! welche Ausgaben Sozialleistungsbeziehern faktisch nicht Der Gesetzentwurf der Bundesregierung, der heute hier zustehen. Darunter fallen Haltungskosten für ein Auto, zur Abstimmung vorliegt, zementiert in der Tat Armut auch im ländlichen Raum, Campingurlaub mit der Fami- und soziale Ausgrenzung, und das mitten in der Corona- lie, eine Tasse Kaffee, wenn man sich mit Freunden in krise, wo die Ärmsten der Gesellschaft besonders hart einem Café trifft, oder eine Haftpflichtversicherung. getroffen sind. Dass Sie dieses Gesetz trotzdem so ver- abschieden wollen, ist eine Bankrotterklärung der Sozial- Jetzt habe ich das zuständige Ministerium gefragt, politik der Großen Koalition, liebe Kolleginnen und Kol- warum es der Meinung ist, dass Sozialleistungsbezieh- legen. enden nicht eine Haftpflichtversicherung zusteht. Die Antwort des Ministeriums lautete – Zitat –: Es besteht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) keine gesetzliche Verpflichtung dazu. – Diese Logik ist Wir sind mitten in einer Krise, die nicht nur eine Pan- entlarvend. Es besteht ja auch keine gesetzliche Ver- demie ist, sondern auch eine Krise der sozialen Siche- pflichtung dazu, sich gesund und vollwertig zu ernähren, rung. Denn Millionen von Menschen in Deutschland keine gesetzliche Verpflichtung, sich mit Freunden zu sind nicht ausreichend abgesichert: Erwerbslose, Kinder, treffen. Mit der Methode kann man die Regelbedarfe Rentnerinnen und Rentner, Geflüchtete. Schon in der ers- wahrlich kleinrechnen. ten Welle waren Menschen in Armut besonders betroffen. Seien Sie doch einfach ehrlich: Für die Union ist jede Tafeln haben geschlossen. Lebensmittel wurden deutlich Erhöhung für die Ärmsten einfach ein No-Go. Offen- teurer. Nebenverdienste fielen weg. Deswegen gab es sichtlich ist Ihnen die gute Laune des Koalitionspartners einen breiten Aufruf von Sozialverbänden, von Gewerk- wichtiger als die täglichen Nöte von 7 Millionen Men- schaften, von Kinder- und Familienverbänden, die alle schen im Land. Ich finde das beschämend. einen Aufschlag auf die Grundsicherung gefordert haben. (B) Das haben Sie ignoriert (D) (Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE], an die CDU/CSU (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Wir haben gewandt: Ihr gönnt denen nicht das Schwarze die Mehrwertsteuer gesenkt!) unter dem Fingernagel! – Gegenruf des Abg. und gleichzeitig milliardenschwere Hilfspakete Kai Whittaker [CDU/CSU]: Blödsinn!) geschnürt. Wie erklären Sie aber bitte einer alleinerzieh- Wir als Linke haben mit anderen politischen Setzungen enden Mutter, die sich mit Grundsicherung und Minijobs eigene Berechnungen beim Statistischen Bundesamt in durchschlägt, dass sie auch künftig leer ausgeht? Ich fin- Auftrag gegeben. Demnach müsste der Regelsatz im de, das kann man nicht erklären. Das müssen wir hier und Monat bei 658 Euro liegen, plus Wohnkosten, plus heute ändern, liebe Kolleginnen und Kollegen. Stromkosten in tatsächlicher Höhe. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jeder von Ihnen, der im Anschluss diesen Gesetzent- und bei der LINKEN) wurf durchwinkt, ist am Ende mitverantwortlich dafür, Als Begründung sagen Sie dann immer – das kam eben dass über 7 Millionen Menschen gezielt in Armut gehal- auch wieder von der CDU/CSU –, dass Sie Menschen ten werden, darunter arme Rentnerinnen und Rentner, nicht alimentieren wollen, sondern aus der Grundsiche- Asylbewerberinnen und Asylbewerber, Menschen mit rung in den Arbeitsmarkt holen wollen. Erstens. Wie Behinderungen, die in Werkstätten arbeiten. Sie könnten zynisch ist dieses Argument eigentlich angesichts von aber auch heute und hier zeigen, dass der Bundestag eben Corona, wo massenweise Arbeitsplätze wegfallen? nicht einfach durchwinkt, dass ihm die Sorgen und Nöte der Ärmsten nicht egal sind. Es geht um nicht weniger als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN um Millionen Menschen in diesem Land, und es geht am und bei der LINKEN) Ende um ihre leise Hoffnung darauf, sich als ein Mensch Zweitens. Wenn Sie das wollen, dann erhöhen Sie hier zu fühlen, der es einfach nur verdient, Glück zu emp- und heute oder in den nächsten Wochen den Mindestlohn. finden. Da sind wir sofort dabei. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der LINKEN) und bei der LINKEN) Dann schaffen Sie eine Kindergrundsicherung. Da sind Vizepräsidentin Claudia Roth: wir sofort dabei. Aber solange wir das nicht haben, ist es Vielen Dank, Katja Kipping. – Ihre Maske, genau! doch so: Die Menschen in der Grundsicherung haben jetzt Danke schön. Hunger. Die Menschen müssen jetzt Winterkleidung für Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23859

Sven Lehmann (A) ihre Kinder kaufen. Die Menschen müssen jetzt ihre Regelbedarfsermittlungsgesetz gewählt – vollkommen zu (C) Stromrechnungen bezahlen. Wenn wir die Regelsätze Recht. Ich finde es auch richtig, dass immer wieder jetzt nicht deutlich erhöhen, dann werden die Armen darauf geguckt wird, an welchen Stellen nachjustiert wer- noch ärmer, und das dürfen wir nicht zulassen, liebe den muss, wo sich die Lebensrealität ändert. Ich finde es Kolleginnen und Kollegen. richtig, dass endlich auch Mobilfunkkosten dazugerech- net werden und Eingang in die Regelbedarfe finden. Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN führt dazu, dass wir jetzt eine signifikante Erhöhung der sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Regelbedarfe sehen. Und ja, bei vielen Anliegen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ist es tatsächlich die Union, die auf der Durch die Berücksichtigung des Änderungsantrags aus Bremse steht. Aber, liebe SPD, ihr könnt euch hier und der Ausschussberatung haben wir auch noch einen Infla- heute nicht hinter der Union verstecken. tionsausgleich. Dadurch, dass das erste Halbjahr ange- guckt wird, ist die Mehrwertsteuersenkung auch nicht (Beifall der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE]) drin. Das heißt, wir haben tatsächlich einen Inflationsaus- Ihr seid mitverantwortlich; denn ihr habt nicht einmal gleich. Deswegen steigt die Regelbedarfsstufe 1 um versucht, die Regelsätze nennenswert zu erhöhen. Und 14 Euro. Man kann sagen, dass das nicht so viel ist. das gilt vor allem für den Minister Hubertus Heil. So Aber wenn man sich die Regelbedarfe zum Beispiel für gut viele Dinge sind, die er in der Arbeitsmarktpolitik kleine Kinder bis zum 6. Geburtstag anguckt, stellt man anpackt: Bei der Bekämpfung von Armut ist dieser fest, dass es dort um 33 Euro pro Monat steigt. Für die Minister ein Totalausfall, liebe Kolleginnen und Kolle- großen Kinder über 14 Jahre steigt es sogar um 45 Euro. gen. Man kann sagen, dass das nichts ist. Ich sage: Das ist schon was. Es hilft Familien, die eben wirklich wenig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Geld haben, und gerade Familien mit Kindern. und bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir Grüne werden Ihren Gesetzentwurf ablehnen. Wir der CDU/CSU) werden ihn ablehnen, weil er methodisch schlecht ist, weil er keine Teilhabe garantiert, weil er Menschen in Wir haben im Ausschuss mit dem Koalitionspartner Armut ausgrenzt. Wir stellen heute unser eigenes Kon- zusammen noch andere Wünsche deutlich gemacht, die zept zur Abstimmung. Wir wollen mit unserem Antrag wir bezüglich der EVS haben. Wir wollen, dass dort mehr verhindern, dass Menschen in der Grundsicherung abge- Familien mit Kindern mitmachen, dass – Thema „weiße hängt werden vom Rest der Gesellschaft. Mit unserem Ware“ – Leistungsbezieherinnen und -bezieher nicht Modell garantieren wir Teilhabe und erfüllen den Auftrag immer den billigsten Kühlschrank kaufen müssen, (B) der Verfassung, ein menschenwürdiges Existenzmini- obwohl dieser viel Strom verbraucht, sondern dass klarer (D) mum zu sichern. Ihr Gesetz erfüllt leider beides nicht. wird, dass ein energiesparender nicht nur Sinn macht, sondern auch irgendwie finanzierbar sein muss. Ich hoffe, Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. dass wir da auch Handlungen seitens der Bundesregie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rung sehen. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es sind aber noch jede Menge andere, positive Dinge in diesem Gesetz enthalten: die Verlängerung des verein- Vizepräsidentin Claudia Roth: fachten SGB-II-Zugangs immerhin bis zum 31. März Vielen Dank, Sven Lehmann. – Nächste Rednerin: für 2021. Ich hätte es auch weiter verlängert; so ist das die SPD-Fraktion Daniela Kolbe. nicht. – Der Minister, der auch hier ist, nickt jetzt auch dazu. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Daniela Kolbe (SPD): Es ist wichtig für viele, die jetzt von der Krise gebeutelt Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und sind: Kurzarbeiter, die vorher wenig Geld verdient haben, Kollegen! Regelbedarfsermittlungsgesetz – das klingt so Soloselbstständige, die keine Aufträge mehr haben. Es trocken und ist doch so wichtig, weil es um die Unter- wird nicht geguckt: In welcher Wohnung lebst du? Es stützung für Familien geht, für Menschen, die – vielleicht wird nicht geguckt: Was hast du auf dem Konto? Das auch nur zeitweise – nicht in der Lage sind, für ihren ist gut für die von der Krise Gebeutelten, und es ist Lebensunterhalt und den ihrer Familie aufzukommen. auch gut für die Verwaltungen. Insofern ist es richtig, Die Höhe der Regelsätze – das ist ganz klar – prägt natür- dass wir das in dieser Krise tun. lich die Lebenssituation dieser Menschen. Wir reden von (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie 7,2 Millionen Leistungsbezieherinnen und -beziehern. lange gilt das denn, Frau Kollegin?) Was mir besonders wichtig ist: Es ist beileibe nicht so, dass alle Menschen erwerbsuntätig wären, sondern viele Außerdem passen wir das Sozialdienstleister-Einsatz- von diesen Menschen arbeiten und versuchen, ihren gesetz, SodEG, an. Auch darauf sind wir stolz; denn für Lebensunterhalt auch selbst zu bestreiten. uns Sozialdemokraten sind soziale Dienstleister system- relevant. Wir wollen, dass die Wohlfahrtsverbände diese Vollkommen zu Recht wird um die Höhe der Regel- Krise gut überstehen. Deswegen ist dieses Gesetz so sätze gerungen und auch gestritten. Es ist klar, dass wir wichtig. Ich kann nur dafür werben: Stimmen Sie dem zu! ein Verfahren haben, das dem Verfassungsgericht stand- hält. Dieses Verfahren haben wir auch dieses Mal beim Vielen Dank. 23860 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Daniela Kolbe (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herr Lehmann, ist völlig klar: Unsere Vorstellung des (C) der CDU/CSU) notwendigen Minimums ist nicht verfassungswidrig oder gerade mal so mit der Verfassung vereinbar. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vielen Dank, Daniela Kolbe. NEN]: Das hat auch niemand behauptet!) (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Stell das mal Unsere Vorstellung ist verfassungsgerecht. richtig, Matthias! – Gegenruf des Abg. Kai Whittaker [CDU/CSU]: Dann braucht er dop- (Beifall bei der CDU/CSU) pelt so viel Redezeit! – Gegenruf des Abg. Meine Damen und Herren, eine zweite Vorgabe, die Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir machen, lautet: Wir wollen einen gewissen Abstand NEN]: Hat er auch!) wahren, und zwar einen Abstand zwischen denjenigen, – Hat er auch. die Leistungen erhalten, und denen, die sie finanzieren müssen. Letzter Redner in dieser Debatte: für die CDU/CSU- Fraktion Dr. Matthias Zimmer. (Beifall der Abg. Franziska Gminder [AfD]) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir wollen keine Anreize setzen, nicht zu arbeiten. Wir wollen nicht, dass diejenigen, die für wenig Geld arbei- Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): ten, den Eindruck haben: Wir sind diejenigen, die jeden Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin Tag aufstehen und nur wenig mehr bekommen als der Kollegin Daniela Kolbe sehr dankbar, dass sie in ihrer Hartz IV; wir sind doch eigentlich Deppen. – Das wäre, ruhigen und sehr nachdenklichen Art auch die positiven glaube ich, schädlich für die Solidarität. Solidarität geht Aspekte dieses Regelbedarfsermittlungsgesetzes einmal nämlich davon aus, dass ein System als gerecht empfun- aufgeführt hat. Es ist, glaube ich, für keinen besonders den wird. Ein System ist nicht gerecht, in dem jemand, vergnügungssteuerpflichtig, ein solches Gesetz erlassen der arbeitet, ebenso viel oder weniger erhält als jemand, zu müssen. Wir rechnen ja nicht selber als Politiker. der nicht arbeitet. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Doch, die Bun- NEN]: Aber die arbeiten doch ganz vielfach! – desregierung rechnet!) Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir sind keine Statistiker. Aber wir machen Vorgaben NEN]: 1 Million Menschen arbeiten und sind trotzdem in Hartz IV!) (B) über die Art und Weise, wie wir das gerne sehen wollen. (D) Darum geht es. Nun sagen einige: Lasst uns doch die Löhne erhöhen, Die erste und wichtigste Vorgabe ergibt sich aus dem (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Es gibt Grundgesetz. Da ist von der Würde des Menschen die doch kein Lohnabstandsgebot mehr!) Rede und davon, dass wir daran gebunden sind, die Wür- de des Menschen zu achten und zu schützen. durch mehr Möglichkeiten etwa, die Allgemeinverbind- lichkeit von Tarifverträgen festzustellen, oder durch (Zuruf von der LINKEN: Da hat er recht!) einen höheren Mindestlohn. Offen gesagt: Ich bin damit Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu gesagt: Die im Grunde einverstanden. Würde des Menschen erfordert, dass wir ein soziokultu- relles Existenzminimum definieren. – Das ist auch für (Beifall der Abg. Gabriele Katzmarek [SPD] – uns von der Union verbindlich für die Frage, wie der Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Regelbedarf berechnet wird. Sagen wir es ganz deutlich: GRÜNEN]: Ja, dann machen wir es doch ge- Dass den Menschen ein soziokulturelles Existenzmini- meinsam! Finde ich gut!) mum gewährt wird, ist nicht nur das Recht der Menschen, Ich wünsche mir eine höhere Tarifbindung, und ich wün- sondern es ist auch die Pflicht unserer Gemeinschaft. Das sche mir auch, dass wir die Möglichkeiten erweitern, ist gelebte Solidarität und verpflichtet uns auch. Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Meine Damen und Herren, in den vergangenen Jahren GRÜNEN]: Können wir alles machen!) hat uns das Bundesverfassungsgericht immer wieder Dafür haben wir in vielen Bereichen auch gearbeitet. Ich bestätigt: Die Art und Weise, wie wir das berechnen las- denke etwa an die Pflege. sen, ist durchaus in Ordnung. – Die Kollegin Kolbe hat darauf auch hingewiesen. Nun sagt die Opposition, der Kollege Lehmann, die Kollegin Kipping: Das ist alles zu Vizepräsidentin Claudia Roth: wenig. – Der Meinung kann man sein. Man kann auch Herr Dr. Zimmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage großzügiger sein und mit anderen Annahmen arbeiten oder -bemerkung von Matthias W. Birkwald? und Statistiker beauftragen, das dann einmal entspre- chend durchzurechnen. Dann haben Sie ein etwas weite- Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): res Verständnis von dem, was das Existenzminimum aus- Da er diesmal keine Redezeit bekommen hat, gerne. macht. Auch das ist eine politische Vorgabe, mit der man zu anderen Zahlen kommt. Aber eines, Frau Kipping und (Heiterkeit) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23861

(A) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): höheren Mindestlohn gönnen und dass wir ihnen nicht (C) Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, lieber gute Tarifabschlüsse gönnen. Es ist doch selbstverständ- Kollege Matthias Zimmer, dass die Zwischenbemerkung lich, dass wir das wollen. Es ist selbstverständlich, dass zugelassen wird. – Zunächst einmal möchte ich festhal- wir für gute Arbeit auch guten Lohn haben wollen. ten: Nach geltendem Recht gibt es keine Konstellation, bei der jemand, der oder die alle rechtlich bestehenden (Beifall bei der CDU/CSU) Möglichkeiten wahrnimmt, in Erwerbsarbeit mit niedrig- em Einkommen ist und ergänzende Sozialleistungen Vizepräsidentin Claudia Roth: bekommt, weniger hat als jemand, der in Hartz IV ist. Weiter in der Rede. Das gibt es nicht. Das ist ein Märchen.

Zweitens. Ich habe gehört: Der Kollege Matthias Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Zimmer von der CDU/CSU ist für einen gesetzlichen Danke schön, Frau Präsidentin. – Meine Damen und Mindestlohn, der höher ist als der heutige. Herren, dann gibt es auch noch die AfD. Ich weiß nicht, (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Mit Tarifbin- was sie in der Frage so genau will. Ich glaube, das wissen dung!) die Kolleginnen und Kollegen auch nicht. Ein Teil der AfD will mehr Sozialismus, mehr Umverteilung. Ein Das klingt wunderbar. Ich habe gehört: mehr Tarifautono- zweiter Teil will das auch, aber nur für Deutsche. Ein mie und vor allen Dingen mehr und bessere Allgemein- dritter Teil ist völlig anders unterwegs. Die befürworten verbindlichkeitserklärungen. Das alles sind Punkte, für jeden Abbau von Schutzrechten. Ich habe in einer ande- die nicht nur Matthias Zimmer, sondern die Fraktion ren Anhörung vor einigen Tagen einen Sachverständigen Die Linke, große Teile der SPD, große Teile der Grünen gehört – der Mann hatte weder von der Sache Ahnung, sind. noch war er verständig –, der unter dem Beifall der AfD (Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sogar Kinderarbeit gerechtfertigt hat. NEN]: Alle Grünen!) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was? Ich frage jetzt mal: Wie viele Kolleginnen und Kol- Unglaublich!) legen der CDU/CSU-Fraktion sind dafür, dass wir das gemeinsam verabschieden? Den Vorschlag „12 Euro Und das Schlimme bei der AfD ist – ob mehr Sozialis- gesetzlicher Mindestlohn“ hat Die Linke bereits auf mus, mehr Sozialismus nur für Deutsche oder Kinder- ihrem Bundesparteitag in Magdeburg im Jahr 2016 vor- arbeit für alle –: Der Vorsitzende der Fraktion sitzt immer gelegt. Ich fordere Sie alle auf: Erhöhen Sie den gesetz- in der ersten Reihe und klatscht freundlich. Sie müssen sich schon entscheiden: Sind sie Gobineau-Deutscher, (B) lichen Mindestlohn einmalig auf 12 Euro, damit die Min- (D) destlohnkommission dann die weiteren Erhöhungen Strasser-Jünger oder darwinistisch inspirierter Manches- machen kann. Gehen Sie da mit? ter-Liberaler? Oder haben Sie einfach Ihren Kompass verloren und damit auch jeden Sinn für Unterschiede? (Beifall bei der LINKEN) Sind Sie einfach ein Meister Yoda des Unbestimmten?

Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Erst einmal danke, lieber Kollege Birkwald, für die Nun, egal: Der Kollege Witt hat die Büchse der Pan- Frage. Ich hätte diese Frage auch im Fortgang meiner dora erwähnt. Die Büchse der Pandora hat bekanntlich Argumentation beantwortet. Jetzt kann ich sie beantwor- auf ihrem Grund die Hoffnung. Über die Hoffnung, ten, ohne dass es bei meiner Zeit zu Buche schlägt. dass Sie alle bald in diesem Parlament nicht mehr ver- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Gern treten sein werden, kann die Büchse der Pandora ruhig geschehen! – Kai Whittaker [CDU/CSU]: Das offen bleiben. Vielleicht werden sich eines Tages Histo- war abgesprochen!) riker erbarmen und etwas über die Enthemmung des poli- tischen Konservativismus schreiben, für die Sie ein gutes Insofern haben wir beide etwas von der Zwischenfrage. Beispiel sind. Die Sache ist eigentlich relativ einfach. Ich habe gar nichts dagegen, dass der Mindestlohn auf 12 Euro erhöht (Zuruf des Abg. Volker Münz [AfD]) wird. Es geht doch um das Verfahren. Das Verfahren, das Sicherlich wird ein Historiker auch einmal über die wir verabredet haben, lautet: Wir sind diejenigen, die das, Ermittlung der Regelbedarfssätze schreiben und feststel- was die Tarifparteien in der Mindestlohnkommission ver- len: Das haben die in der Großen Koalition ganz gut einbart haben, umsetzen. Wir sind nicht diejenigen, die gemacht. die politische Setzung machen. Ich glaube, dass es ein sehr gutes Verfahren ist; denn keiner kann garantieren, Danke schön. dass es nicht das letzte Mal gewesen ist, dass hier Kol- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- legen aufstehen und sagen: Na ja, noch einmal werden neten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE wir den Mindestlohn erhöhen. – Dann kommt es zu einem LINKE]: Das hättest du gerne!) weiteren Mal und vielleicht zu noch einem weiteren Mal. Dann sind wir im Geschäft, den Mindestlohn politisch festzulegen. Das wollten wir ganz bewusst nicht. Das Vizepräsidentin Claudia Roth: haben wir abgelehnt. Aber das heißt doch nicht, dass Vielen Dank, Dr. Matthias Zimmer. – Damit schließe wir den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern keinen ich die Aussprache. 23862 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Weil sie hier so nett sitzt, möchte ich einer lieben Leben garantieren – Regelbedarfsermittlung reformie- (C) Kollegin zum Geburtstag gratulieren, ganz sicher im ren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Namen des Hauses. hat nämlich heute Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be- Geburtstag, und den feiert sie mit uns. Alles Gute! schlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen von SPD, CDU/CSU, FDP und AfD. (Beifall) Dagegengestimmt hat die Fraktion von Bündnis 90/Die Tagesordnungspunkt 16 a. Wir kommen zur Abstim- Grünen, und enthalten hat sich die Fraktion Die Linke. mung über den von der Bundesregierung eingebrachten Zusatzpunkt 5. Interfraktionell wird die Überweisung Gesetzentwurf zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/23938 an die in Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch sowie der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- des Asylbewerberleistungsgesetzes. Der Ausschuss für gen. – Weitere Vorschläge liegen uns nicht vor. Dann Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner wird genau so verfahren. Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/24034, den Ge- setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 sowie Zusatz- 19/22750 und 19/23549 in der Ausschussfassung anzu- punkt 6 auf: nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in 17 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- neten Dr. Irene Mihalic, Luise Amtsberg, Canan zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Kei- Bayram, weiteren Abgeordneten und der Frak- ne. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen der Entwurfs eines Gesetzes zur fortlaufenden SPD, der CDU/CSU und der FDP. Dagegengestimmt Untersuchung der Kriminalitätslage und haben die Fraktionen der Linken, von Bündnis 90/Die ergänzenden Auswertung der polizeilichen Grünen und der AfD. Kriminalitätsstatistik (Kriminalitätsstatistik- Dritte Beratung gesetz – KStatG) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Drucksache 19/2000 Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Der Ge- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- setzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben die ses für Inneres und Heimat (4. Ausschuss) Fraktionen von FDP, CDU/CSU und SPD. Dagegenge- Drucksache 19/15259 stimmt haben die Fraktionen der AfD, von Bündnis 90/ Die Grünen und der Linken. ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin (B) Hess, Dr. Bernd Baumann, Dr. Gottfried Curio, (D) Tagesordnungspunkt 16 b. Wir setzen die Abstimmung weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 19/24034 fort. Der Aus- Mehr Transparenz bei der Analyse und öffent- schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp- lichen Darstellung von Kriminalität im Kon- fehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der AfD text von Migration zur verbesserten Evaluie- auf Drucksache 19/23128 mit dem Titel „Taschengeld für rung der Sicherheits-, Integrations- und die in Heimen lebenden Bürger“. Wer stimmt für diese Migrationspolitik Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Drucksache 19/23952 tungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenom- Überweisungsvorschlag: men bei Gegenstimmen der AfD-Fraktion. Alle anderen Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Fraktionen des Hauses haben der Beschlussempfehlung Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz zugestimmt. Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp- beschlossen. – Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak- Platz zu nehmen und Debatten im Bedarfsfall draußen zu tion Die Linke auf Drucksache 19/23113 mit dem Titel führen. „Rechentricks überwinden – Regelbedarfe sauber Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die CDU/ berechnen“. CSU-Fraktion der Kollege Axel Müller. (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE (Beifall bei der CDU/CSU) LINKE]) Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer Axel Müller (CDU/CSU): stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegin- empfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die nen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her- Fraktionen von SPD, CDU/CSU, FDP und AfD. Dage- ren! Wir debattieren heute erneut über einen Gesetzent- gengestimmt hat die Fraktion der Linken, und enthalten wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der die hat sich die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen. gesetzliche Festschreibung zur Erstellung eines Periodi- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d schen Sicherheitsberichtes unter genauen Vorgaben zum seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags Gegenstand hat; schon einmal so geschehen am 28. Sep- der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache tember 2018 mit anschließender Beratung und Ableh- 19/23124 mit dem Titel „Teilhabe am gesellschaftlichen nung im Innenausschuss am 15. November 2019. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23863

Axel Müller (A) Die Antragsteller sind offensichtlich nicht bereit, zu (Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) akzeptieren, dass wir nicht den von ihnen vorgeschriebe- NEN]: Das war schon so vor fünf Jahren!) nen Weg einer gesetzlichen Festschreibung des Berichtes insbesondere auch, um das sogenannte Dunkelfeld zu mitgehen möchten, verbunden mit engen Vorgaben für erhellen, wenn es um unangezeigte oder nicht bekanntge- die Sicherheitsbehörden, beispielsweise in welcher wordene Straftaten geht. Form oder in welcher Häufigkeit ein solcher Bericht durchzuführen ist. Kurzum: Die Grünen wissen wieder Nach alledem braucht es Ihren Antrag also nicht mehr. einmal alles besser. Daran halten sie fest, obwohl wir Um es mit Montesquieu zu sagen: „Wenn es nicht not- nach zwei in dieser Form erstellten Periodischen Sicher- wendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, heitsberichten aus den Jahren 2001 und 2006 feststellen kein Gesetz zu machen.“ mussten, dass diese, was Zustandekommen, Umfang und (Beifall bei der CDU/CSU) Kosten anbelangt, zu umständlich, unhandlich und zu teuer waren. Noch weniger kann ich allerdings den Antrag der AfD gutheißen: „Mehr Transparenz bei der Analyse und (Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- öffentlichen Darstellung von Kriminalität im Kontext NEN]: Ist Ihnen die Sicherheit in Deutschland von Migration“ wollen Sie, wohl wissend, dass die Poli- nichts wert?) zeiliche Kriminalstatistik zwischen Delinquenten mit Weitestgehend Konsens in diesem Hause ist, Frau deutscher und nichtdeutscher Staatsangehörigkeit unter- Dr. Mihalic, dass es eines solchen regelmäßigen Sicher- scheidet, ja sogar die Gruppe der Migranten seit 2015 heitsberichtes neben der jährlich erscheinenden Polizei- besonders erfasst. lichen Kriminalstatistik zur Erfassung von Kriminalitäts- Sie wollen aber eine genaue Zuordnung nach Nationa- lage, Bekämpfung und ihrer Ursachen bedarf. litäten, um dann ganze Gruppen von Menschen unter (Zuruf der Abg. Dr. Irene Mihalic [BÜND- Generalverdacht zu stellen und nach Staatsangehörigkeit NIS 90/DIE GRÜNEN]) von oder aus Deutschland fernzuhalten. Und wieder ein- mal möchten Sie – das finde ich besonders perfide – Das war auch die allgemeine Meinung der dazu gehörten zwischen Deutschen mit deutschen Vorfahren und Deut- Sachverständigen; das ist auch meine ganz persönliche schen mit Migrationshintergrund unterscheiden. Sie wol- Überzeugung nach mehr als zwei Jahrzehnten strafrich- len offenbar Deutsche unterschiedlicher Kategorien terlicher Tätigkeit. schaffen. Das hatten wir schon einmal, und das wollen Straftaten sind nicht nur zu verfolgen und zu ahnden. wir in diesem Hause und darüber hinaus nie wieder Es muss auch nach ihren Ursachen geforscht werden, um haben. (B) neuerlichen Taten vorbeugen zu können. Allerdings Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (D) haben sechs von sieben Sachverständige, überwiegend (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Praktiker, die Periodizität von vier Jahren als ausreichend neten der SPD und der FDP – erachtet. Dieser, auch unserer Meinung haben sich die [AfD]: Unterste Schublade! – Dr. Alexander Antragsteller zwischenzeitlich angeschlossen. Gauland [AfD]: Wie immer unterste Schubla- (Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- de!) NEN]: Dann können Sie ja jetzt zustimmen!) Sie sind also lernfähig, jedenfalls bis zu einem gewissen Vizepräsidentin Claudia Roth: Grad. Vielen Dank, Axel Müller. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Martin Hess. Nach unserer Ansicht muss der Bericht aber von unab- hängigen staatlichen Institutionen geprägt werden, und (Beifall bei der AfD) das läuft bereits. Federführend ist das Bundesinnenminis- terium, an seiner Seite das Bundesjustizministerium, das Martin Hess (AfD): Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Justiz. Es Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- wurde eine gemeinsame Geschäftsstelle eingerichtet, nen und Kollegen! An diesem Wochenende griffen Grup- die arbeitet. Die Ergebnisse werden gegenwärtig zusam- pen von Gewalttätern in Frankfurt wiederholt die Polizei mengetragen; das verzögert sich coronabedingt noch an: Am Freitag wurden Streifenpolizisten mit Steinen etwas. Vor der Sommerpause 2021 – da kann ich Sie und Flaschen attackiert, als sie die Personalien eines beruhigen – wird der Periodische Sicherheitsbericht vor- Gewalttäters aufnehmen wollten. Am Samstag sah sich gelegt werden. die Polizei dann über 800 Randalierern gegenüber, und (Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auch im nahen Darmstadt griffen 100 Jugendliche die NEN]: Na toll!) Polizei an. In deutschen Städten häufen sich solche Tumultlagen Das BKA lässt darüber hinaus auch durch das Institut für angewandte Sozialwissenschaft eine empirische Stu- wie auch in Stuttgart am 21. Juli dieses Jahres. Auch dort leisteten Personen bei einer Kontrolle massiven Wider- die zum Thema „Sicherheit und Kriminalität in Deutsch- stand und griffen Polizisten mit Flaschen und Steinen an. land“ erstellen und dazu eine Bevölkerungsbefragung mit Der Widerstand gegen die Staatsgewalt war der Start- immerhin 120 000 Personen durchführen. Abgefragt wer- schuss für Ausschreitungen, den das Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung, die Quali- tät des Kriminalitätsschutzes und die Arbeit der Polizei, (Zuruf der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE]) 23864 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Martin Hess (A) die 500 Einsatzkräfte bis weit in den nächsten Morgen Die Bürger dort draußen können Informationen näm- (C) nicht in den Griff bekamen. Die Stuttgarter Innenstadt lich sehr wohl richtig einordnen. Hören Sie also auf, war über Stunden hinweg ein rechtsfreier Raum. ihnen latenten Rassismus zu unterstellen; das ist eine Unverschämtheit und eine Beleidigung. Behandeln Sie Im Oktober waren dann 100 Tatverdächtige identifi- die Bürger wie mündige Menschen, und nennen Sie end- ziert: etwa ein Drittel davon Nichtdeutsche, 17 Prozent lich alle Fakten! Deutsche ohne und ganze 50 Prozent Deutsche mit Migrationshintergrund. Über die Herkunft der Gewalttä- (Beifall bei der AfD) ter von Frankfurt und Darmstadt erfahren wir im Polizei- bericht nichts. Allein schon diese Nichterwähnung reicht Hören Sie auf, der Bevölkerung die reale Sicherheits- aus, dass die Bürger mittlerweile von Migranten ausge- lage zu verschweigen! Ihr Märchen vom ach so sicheren hen. Die Bürger wissen aus eigener Erfahrung: Auch in Deutschland und einer heilen Multikultiwelt nimmt Ihnen der zweiten und dritten Generation legt eine beachtliche doch sowieso keiner mehr ab. Die Realität lässt sich eben Zahl deutscher Staatsbürger mit Migrationshintergrund nicht verheimlichen. mangelnde Bereitschaft oder Fähigkeit zur Integration Wir brauchen dringend ein ungeschöntes, realistisches an den Tag. Kriminalitätslagebild, das eben auch Herkunftsländerbe- züge bei Migranten umfasst. Nur so können wir im Be- (Beifall bei der AfD) reich der Sicherheits-, der Migrations-, der Integrations-, Aber anstatt der Realität ins Gesicht zu sehen, ver- der Bildungs- und der Sozialpolitik sachgerechte und harmlosen und relativieren Sie das Problem nach dem zielführende Entscheidungen treffen. Unser Antrag leis- Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. – Wer tet dazu einen wesentlichen Beitrag. Stimmen Sie ihm aber das Problem verharmlost, statt es zu lösen, der ver- deshalb zu. größert es nur. Deshalb muss damit Schluss sein. Nur eine (Beifall bei der AfD) ideologiefreie und faktentreue Problemanalyse schafft die Grundlage für eine wirksame Gegenstrategie, und genau darum geht es in unserem Antrag. Vizepräsidentin Claudia Roth: Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Susanne Bisher wird in der Polizeilichen Kriminalstatistik nur Mittag. zwischen „deutsch“ und „nichtdeutsch“ unterschieden; das ist unseres Erachtens unzureichend. Wir müssen (Beifall bei der SPD) zukünftig bei deutschen Tatverdächtigen Herkunftslän- derbezüge ermitteln und diese auch in der Polizeilichen (B) Kriminalstatistik darstellen. Nur so kann das Problem in Susanne Mittag (SPD): (D) seinem vollen Umfang erfasst und dargestellt werden. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als langjährige Polizeibeamtin weiß ich, wie (Beifall bei der AfD) wichtig es ist, eine Lage richtig einzuschätzen, um erfolg- reich handeln zu können. Noch besser ist es, wenn es Kommen Sie jetzt nicht wieder mit der sachfernen Ermittlern gelingt, im Vorfeld bereits vor die Lage zu Polemik wie nach Stuttgart. Die Erfassung des Migra- kommen, also im besten Fall präventiv zu handeln und tionshintergrundes von Straftätern hat mit „Stammbaum- Verbrechen zu verhindern. Das gelingt nur, wenn ich ein forschung“, wie es damals hieß, nicht das Geringste zu detailliertes, umfassendes Bild von der Kriminalitätslage tun. Es geht um die Schaffung einer sicherheitspolitisch habe. Und es stimmt: Dabei reicht es nicht, nur Zugang zu zwingend notwendigen, differenzierten Datengrundlage. Kriminalitäts- und Strafverfolgungsstatistiken zu haben. Nur wenn wir die Fakten kennen, können wir die auch zur Nein, um vor die Lage zu kommen, braucht es zum Bei- Verbesserung der Sicherheitslage erforderlichen Korrekt- spiel Einblicke in das sogenannte Dunkelfeld, also in uren vornehmen und wirksame Gegenstrategien entwi- Straftaten, von denen die Polizei nie oder nur erst sehr, ckeln. sehr spät erfährt. Auch die Berichterstattung der Polizei ist dringend Wir brauchen die Stimmen der Opfer, die sich viel- optimierungsbedürftig. Das Verschweigen von Nationa- leicht gescheut oder geschämt haben, Fälle zur Anzeige lität oder Migrationshintergrund von Gewalttätern passt zu bringen, oder die dachten: Ach, das bringt ja doch nicht zu einer aufgeklärten Gesellschaft. Wie sollen sich nichts! – Außerdem müssen wir in der Lage sein, Krimi- die Bürger eine politische Meinung zur realen Lage bil- nalitätstrends und neue Entwicklungen auszumachen. den, wenn ihnen Fakten systematisch vorenthalten wer- Dazu bedarf es wissenschaftlicher Analysen der Krimi- den? nalitätsdaten und auch deren Fortschreibung, sodass man (Beifall bei der AfD) erkennen kann, welche Vergehen und Verbrechen ver- stärkt begangen werden, bei welchen und warum sich Eine Selbstzensur, wie sie etwa der Presserat den Journa- ein abnehmender Trend verzeichnen lässt und welche listen empfiehlt, darf es in unseren Behörden nicht geben. Auswirkungen gesellschaftlich neue Straftaten haben. Man kann den Bürgern nicht Informationen mit der Nur ein solch umfassender Blick auf die Kriminalitäts- Unterstellung vorenthalten, dass diese Diskriminierung lage ermöglicht uns eine zeitgemäße und wirksame befördern könnten. Weder die Presse noch die Polizei Bekämpfung von Straftaten und damit auch eine sichere hat einen Auftrag zur Volkserziehung. Gesellschaft. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23865

Susanne Mittag (A) So weit stimmen wir mit dem Antrag der Grünen übe- Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie (C) rein; aber trotzdem werden wir ihm nicht zustimmen. sehen also: Was Sie fordern, tun wir bereits. Wir haben mit unserem Koalitionspartner darüber hinaus vereinbart, (Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einen solchen Bericht alle zwei Jahre zu verfassen, NEN]: Ja so ein Mist!) (Zuruf der Abg. Dr. Irene Mihalic [BÜND- Da stellt sich natürlich die Frage: Und warum nicht? Weil NIS 90/DIE GRÜNEN]) wir keinen Gesetzentwurf brauchen, der etwas fordert, was wir ohnehin schon tun. auch deshalb, weil sich die Kriminalitätsentwicklung beschleunigt hat und wir schneller Trends erkennen müs- (Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sen, um erfolgreich gegenzusteuern. Der zweijährige Tur- NEN]: Das ist das Argument?) nus passt insofern auch gut, weil das BKA beschlossen hat, seine Hell- und Dunkelfeldforschung alle zwei Jahre Wir verwirklichen das, was schon im Koalitionsvertrag durchzuführen. steht, und was Sie auch in Ihrem Gesetzentwurf fordern. Noch ein abschließendes Wort zum Antrag der AfD. Zunächst einmal beginnt genau in diesen Tagen, Ich finde es langsam wirklich ermüdend, dass Sie jedes, Anfang November, eine groß angelegte Dunkelfeld- aber auch jedes Thema, das man konstruktiv besprechen studie des Bundeskriminalamts. Dafür werden über könnte, instrumentalisieren, um es gegen Geflüchtete und 120 000 Menschen angeschrieben, die in Deutschland Menschen nichtdeutscher Herkunft zu wenden. Ich gemeldet sind. Damit handelt es sich um die größte Dun- möchte inhaltlich gar nicht weiter darauf eingehen. Nur kelfeldstudie, die es jemals in Deutschland gab. Also, wer so viel: Wenn es Ihnen wirklich um Fakten und nicht um angeschrieben wird: Bitte antworten, es ist ganz wichtig. Stimmungsmache gehen würde, hätten Sie sich längst mit einem Blick in das Lagebild des BKA schlaumachen (Beifall bei der SPD) können; es gibt nämlich ein aktuelles von Mitte Septem- Ziel ist, genau die Bereiche auszuleuchten, in denen Ver- ber zu „Kriminalität im Kontext von Zuwanderung“. Wir gehen und Verbrechen häufig geschehen, ohne zur Anzei- können nur froh sein, dass dieses Lagebild nicht so ten- ge zu kommen: Raub, Körperverletzung, Wohnungsein- denziös ist wie Ihr überflüssiger Antrag. brüche, aber auch Gewalt in der Partnerschaft, sexuelle Herzlichen Dank. Belästigung, Vergewaltigung, um nur einige zu nennen. Die Reihe kann man endlos fortsetzen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Erste Ergebnisse dieser Dunkelfeldstudie werden auch (B) in den neuen Periodischen Sicherheitsbericht Eingang (D) finden. Und damit kommen wir zum Kern Ihres Entwurfs Vizepräsidentin Claudia Roth: und unseres Handelns, dem Periodischen Sicherheitsbe- Vielen Dank, Susanne Mittag. – Nächster Redner: für richt. Dessen erster Entwurf wird gerade unter Federfüh- die FDP-Fraktion Benjamin Strasser. rung des Bundesjustizministeriums und des Bundesin- (Beifall bei der FDP) nenministeriums erarbeitet und soll den Ministerien zum Jahresende vorliegen, uns dann hoffentlich frühzei- tig vor der Sommerpause. Und er unterscheidet sich von Benjamin Strasser (FDP): einer bloßen Kriminalitätsstatistik genau durch die Din- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und ge, die auch Sie angesprochen haben, nämlich durch Kollegen! Vorneweg gesagt: Als Fraktion der Freien einen breiten analytischen Blick auf die Kriminalitätslage Demokraten werden wir uns heute bei diesem Gesetzent- im Land, der uns längerfristig geplantes und voraus- wurf enthalten. Die Sachverständigenanhörung des schauendes Handeln ermöglicht. Innenausschusses hat Kritik, auch handwerkliche Kritik, und Mängel an der Vorlage der Grünen dargelegt. Diese Neben der allgemeinen Kriminalitätsentwicklung wird Mängel konnten leider nicht behoben werden, sodass wir der Bericht besonders auf aktuelle Themen wie zum Bei- diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen können. spiel Gewaltkriminalität, Cyberphänomene und rechts motivierte Kriminalität eingehen. Damit die Analyse Was wir als Freie Demokraten allerdings grundsätzlich möglichst umfassend und fundiert ist, beteiligen sich an teilen, ist das Grundanliegen der Grünen, das in diesem diesem Bericht unter anderem die Bundeszentrale für Gesetzentwurf zum Ausdruck kommt. Wir brauchen be- politische Bildung, das Bundesamt für Verfassungs- lastbare Erkenntnisse über die Kriminalitätslage und die schutz, das Statistische Bundesamt und das Amt für Kriminalitätsentwicklung in unserem Land; das ist über- Sicherheit in der Informationstechnik, also das BSI. Da- fällig. Fakt ist, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik mit gehen wir übrigens über Ihre Forderungen hinaus. dafür allein nicht geeignet ist. Es muss uns zu denken geben, dass der Vorsitzende des Bundes der Kriminalbe- (Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- amten, Sebastian Fiedler, warnt, die Kriminalstatistik für NEN]: Das stimmt überhaupt nicht!) das Jahr 2020 werde die schlechteste sein, die es je gege- ben hat, weil sie keine Aussagekraft über die reale Sicher- So wird aus dem Bericht nicht nur eine hilfreiche Quelle heitslage besitzen wird. Das ist die Analyse eines Profis, für die repressive und präventive Kriminalitätsbekämp- liebe Frau Mittag, und deswegen sind wir aufgefordert, fung; der Periodische Sicherheitsbericht wird auch für endlich etwas dagegen zu tun. uns Politikerinnen und Politiker ein beratendes Instru- ment sein. (Beifall bei der FDP) 23866 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Benjamin Strasser (A) Die bisherige Kriminalstatistik muss also um Perspek- Welche Gründe führen dazu, dass manche Straftaten (C) tiven ergänzt werden, die ihr bislang verborgen bleiben. gar nicht erst angezeigt werden, und wie reagiert man Genau deshalb fordern wir Freie Demokraten einen darauf? Ich denke hier etwa an Straftaten gegen beson- regelmäßigen Periodischen Sicherheitsbericht, der uns ders marginalisierte Bevölkerungsgruppen wie Drogen- einen geschärften Blick auf bestehende Dunkelfelder abhängige, Obdachlose, Prostituierte oder Menschen erlaubt – diese Dunkelfelder existieren. Ich finde es ohne Papiere; Kollege Strasser hat eben schon angespro- beschämend und unerträglich, wenn mir Jüdinnen und chen, dass bestimmte Gruppen genauer betrachtet werden Juden erzählen, dass sie Straftaten teilweise gar nicht müssen. Auch die Stichwörter „Racial Profiling“ und mehr zur Anzeige bringen. Solche Dunkelfelder gehören „rechtswidrige Polizeigewalt“ müssen hier fallen; diese ins Hellfeld geholt, damit wir hier dafür passgenaue poli- Bereiche gehören zu einem seriösen Sicherheitsbericht tische Lösungen finden können. dazu.

(Beifall bei der FDP) (Beifall bei der LINKEN) Das Bemerkenswerte ist, dass die Bundesregierung selbst diesen Periodischen Sicherheitsbericht will; er Das Manko an dem Entwurf der Grünen ist leider, dass steht im Koalitionsvertrag. Das ist ja nicht mal ein Spalt- sie darin keine unabhängige wissenschaftliche Untersu- pilz der Opposition, wo man schön reingrätschen kann; chung fordern, sondern die Untersuchung allein dem Sie haben es 2017 in Ihren Koalitionsvertrag geschrieben Innenministerium überlassen möchten; die Wissenschaft und bis heute nicht geliefert. Frau Mittag, wir sind sehr, soll nur beratend hinzugezogen werden. Das ist für uns sehr gespannt, was Sie uns da jetzt noch auf den letzten nicht ausreichend. Metern vorlegen wollen und ob das wirklich den Namen Wohin das führen wird, wissen wir – auch die Grünen Periodischer Sicherheitsbericht verdient hat. Wenn ich wissen es ganz genau – aus der Erfahrung, die wir höre, was da hineinsoll, habe ich so meine Zweifel. gemacht haben: Das Ministerium setzt der Untersuchung In der ersten Lesung hat der Kollege Müller noch ge- inhaltlich einen engen Rahmen, sodass das Ergebnis sagt, alle zwei Jahre seien utopisch, teuer und übertrie- eigentlich schon vorher feststeht. Denken Sie nur an die ben. Jetzt will die Koalition das plötzlich machen. Ich Beispiele, die wir jüngst hin und her diskutiert haben! glaube, das wird ein „Sicherheitsbericht light“, und der Herr Seehofer selbst hat mehrfach klargestellt, dass er ist sicher nicht angemessen, diese Probleme zu bekämp- eine Untersuchung zum Rassismusproblem in der Polizei fen. Wenn Sie es nicht tun, tut es eine andere Bundesre- nicht ernsthaft zulassen will. Eine Studie, in der das gierung. Wir stehen dafür sehr gerne bereit. Innenministerium sich selbst untersucht, ist die Mühe Vielen Dank. eines Gesetzgebungsverfahrens nicht wert. Deswegen (B) werden auch wir uns bei der Abstimmung zu diesem (D) (Beifall bei der FDP – Susanne Mittag [SPD]: Gesetzentwurf nur enthalten. Das haben Sie das letzte Mal auch gesagt!) Schönen Dank.

Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall bei der LINKEN) Danke schön, Benjamin Strasser. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Ulla Jelpke. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall bei der LINKEN) Vielen Dank, Ulla Jelpke. – Nächte Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Irene Mihalic. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Grü- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nen fordern einen regelmäßigen Sicherheitsbericht, der eine Analyse der Polizeilichen Kriminalstatistik vorn- Dr. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): immt. Diesem Anliegen stimmen wir zu. Sicherheitspo- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und litik darf nicht nach Bauchgefühl betrieben werden. Kollegen! Wenn man Ihnen, Herr Müller und Frau Wenn es um die öffentliche Sicherheit geht, aber auch Mittag, so zuhört, dann kann man sich eigentlich nur um Grundrechtseinschränkungen durch verschärfte noch verwundert die Augen reiben, insbesondere wenn Gesetze, sind seriöse Grundlagen dringend nötig. man die Debatte um diesen Periodischen Sicherheitsbe- (Beifall bei der LINKEN) richt in der Vergangenheit verfolgt hat. Denn die Kriminalstatistik verrät uns ja nichts über die Wir haben unseren Gesetzentwurf vorgelegt und darin tatsächliche Kriminalität in Deutschland, sondern nur gesagt: Wir brauchen alle zwei Jahre eine verlässliche darüber, ob mehr oder weniger mutmaßliche Straftaten Berichtslegung über die subjektive und objektive Sicher- angezeigt werden. heitslage in Deutschland. – Daraufhin kam von Ihnen, Zu untersuchen wären also unserer Auffassung nach wie ich im Nachhinein finde, der durchaus berechtigte folgende Fragen: Wie steht es zum Beispiel um die Rück- Vorwurf: Zwei Jahre, das ist alles viel zu kurz; das kann fallquote? Welchen Erfolg bzw. welche Probleme hat die man niemals seriös innerhalb von solchen Intervallen Bewährungshilfe? Inwiefern führen strengere Strafen machen. – Wir haben also gesagt: „Prima, wir greifen wirklich zu weniger Straftaten? Welche sozialen und Ihre Anregung auf, machen das alle vier Jahre“ und einen strukturellen Ursachen haben bestimmte Straftaten, und Änderungsantrag geschrieben. Jetzt kommt Frau Mittag wie lässt sich dem begegnen? hierher ins Plenum, stellt sich hier vorne hin und sagt: Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23867

Dr. Irene Mihalic (A) Nein, nein, alle zwei Jahre war doch eine ganz gute Idee; Innenausschuss kennen eine solche Ankündigung ja nun (C) das wollen wir so umsetzen. – Also, ich kann mich da auch schon wirklich geraume Zeit. Aber schön, wenn da wirklich nur noch wundern, meine Damen und Herren. noch mal was kommt, werden wir uns das selbstverständ- lich anschauen. Aber allein die Ankündigung einer Studie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) macht uns noch nicht schlauer, meine Damen und Herren. Dabei haben Sie selbst gesagt, dass wir uns ja in dem Ziel alle einig sind: dass es eine regelmäßige Berichtsle- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gung in diesem so wichtigen Themenfeld der Politik Wir haben es ja alle mitbekommen: Ankündigungen braucht, damit man eben verlässliche und wirklich wis- von wissenschaftlichen Untersuchungen werden in die- senschaftlich fundierte Sicherheitskonzepte erarbeiten sen Tagen vom Innenministerium oder von der Bundes- kann. Sinngemäß steht das ja auch so im gemeinsamen regierung so oft, wie sie gemacht werden, auch wieder Vorwort von Brigitte Zypries und Dr. Wolfgang Schäuble geändert oder zurückgenommen. Ich möchte Sie deswe- zum Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht, der vor gen noch mal inständig bitten, unserem Gesetzentwurf 14 Jahren letztmalig vorgelegt worden ist. zuzustimmen, wenn Sie nicht weiterhin eine bestenfalls Sie wissen auch, dass es seinerzeit nicht viel gebracht wissenschaftsferne Innenpolitik hier im Deutschen Bun- hat, sich das mal so vorzunehmen; denn seitdem ist eben destag machen wollen. nichts mehr passiert. Es hat keinen weiteren Periodischen Ganz herzlichen Dank. Sicherheitsbericht gegeben. Und wenn Sie jetzt ankün- digen: „Alle zwei Jahre machen wir das jetzt“, dann frage (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ich mich: Wer oder was kann eigentlich die nächste Bun- sowie bei Abgeordneten der FDP) desregierung dazu verpflichten, wenn wir dazu kein Ge- setz machen? Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vielen Dank, Dr. Irene Mihalic. – Nächster Redner: für sowie bei Abgeordneten der FDP) die CDU/CSU-Fraktion Marc Henrichmann. Deswegen ist Ihr Einwand, Herr Müller und auch Frau (Beifall bei der CDU/CSU) Mittag, dass es das von uns vorgeschlagene Gesetz gar nicht bräuchte, nicht richtig. Es wäre wesentlich über- Marc Henrichmann (CDU/CSU): zeugender, wenn Sie auf eine kontinuierliche Berichtsle- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! gung in diesem Bereich wenigstens alle vier Jahre ver- Wie kämpft man effektiv gegen Kriminalität? Als Erstes, weisen könnten; aber das können Sie nun mal nicht. Ich glaube ich: mal ohne Schaum vorm Mund und ohne Ideo- (B) hoffe nicht, dass, wenn niemand die Bundesregierung logie. Insofern erspare ich mir jetzt die Ausführungen (D) dazu verpflichtet, noch mal 14 Jahre vergehen, bis der zum Antrag von Rechtsaußen und sage nur: Monothema- nächste Periodische Sicherheitsbericht dann im Jahre tisch wie immer. 2035 vorgelegt wird; das reicht bei Weitem nicht. Aber was wir brauchen, ist eine gut ausgestattete und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor allem motivierte Polizei. Natürlich brauchen wir auch und bei der FDP) Statistik. Und es ist gut, dass im Koalitionsvertrag die Unser Gesetzentwurf beschränkt sich ja auch gar nicht Überarbeitung des Periodischen Sicherheitsberichts ver- darauf, einen regelmäßigen Bericht zu fordern, sondern einbart worden ist, und – Axel Müller hat es gesagt – er ist er bildet auch die Grundlage dafür, dass nach dem Vorbild ja auf dem Weg. des Sachverständigenrats der sogenannten Wirtschafts- Der letzte hatte 830 Seiten. Dass er zu knapp gehalten weisen ein entsprechendes Gremium aus fünf unabhängi- war, kann man ihm nicht vorwerfen. Ich glaube, wir müs- gen Expertinnen und Experten gebildet werden kann, das sen auch bei der Statistik sehen, dass wir noch fokussier- über besondere wissenschaftliche Sachkunde im Bereich ter werden. Die Aufblähung der Studienlandschaft, wie der Kriminalität und Sicherheit verfügt. Auch im Fall der wir Sie jetzt auch im Gesetzentwurf der Grünen sehen, fünf Wirtschaftsweisen gibt es ein solches Gesetz. Des- wird diesem Ziel einfach nicht gerecht. wegen verstehe ich die Kritik an unserem Gesetzentwurf auch nicht. Wenn Sie von den Grünen von „vertiefter Berichtsle- gung über die Kriminalitätslage“ sprechen und man die Bei der Anhörung im Innenausschuss – Sie haben diese Meldewege kennt, dass nämlich die einfachen – in eben angesprochen, Herr Müller – war es mitnichten so, Anführungsstrichen – Beamtinnen und Beamten in Amts- dass die meisten Sachverständigen den Sinn darin nicht stuben melden, was sie im Alltag erleben, dann ist das, gesehen haben. Im Gegenteil – lesen Sie ruhig noch mal was Sie vorschlagen, ein Mehr an Schreibtischarbeit, ein das Protokoll! –: Es gab für unseren Vorschlag sehr viel Mehr an Dokumentation und damit auch mehr Bürokra- Zustimmung aus dem Kreise der Sachverständigen, und tie. In anderen Bereichen wie beispielsweise der Pflege die Kritikpunkte haben wir aufgenommen und unseren sind wir uns alle einig, dass wir weniger Dokumentation Gesetzentwurf noch mal verändert. brauchen, um mehr Power an den Menschen zu bringen. Ich bitte Sie daher sehr darum, unseren Gesetzentwurf Gerade hier wollen wir es andersherum machen; ich halte nicht deshalb abzulehnen, weil da in dieser Legislatur- das für falsch. periode irgendwann noch mal was von Ihnen kommt. (Beifall bei der CDU/CSU) Das glaube ich erst, wenn das Ding auf dem Tisch liegt. Mindestens die Kolleginnen und Kollegen aus dem Wir brauchen Beamte auf der Straße. 23868 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Marc Henrichmann (A) (Zuruf der Abg. Dr. Irene Mihalic [BÜND- einfach einmal in Entlastung unserer Polizeibeamten zu (C) NIS 90/DIE GRÜNEN]) stecken, wie wäre es, wenn wir das Geld für überborden- de Studien einsparen Denn da sorgen sie für Sicherheit und erzeugen auch das Gefühl von Sicherheit. (Benjamin Strasser [FDP]: Wer stellt denn den Innenminister?) Diese Misstrauensdokumentation – anders kann ich persönlich diesen Gesetzentwurf nicht empfinden – ist und in bessere Arbeitsbedingungen und weitreichendere handwerklich mau und auch in Teilen widersprüchlich; Befugnisse unserer Sicherheitsbehörden investieren? denn Sie fordern die Beteiligung der Wissenschaft – die Zu den Bevölkerungsbefragungen, die Sie ja auch in erfolgt ja auch; wir haben es gehört –, aber auch der Ihrem Gesetzentwurf erwähnen, Zivilgesellschaft. Was das heißen soll, ist derart unbe- stimmt, dass es sich mir nicht erschließt. Sollen sich in (Zuruf der Abg. Dr. Irene Mihalic [BÜND- Zukunft Kriminalbeamte mit Professoren, die das von der NIS 90/DIE GRÜNEN]) Materie her können, mit gewaltaffinen Antifagruppen sage ich Ihnen ganz eindeutig: Auch die brauchen wir oder Sozialarbeitern zusammensetzen, eigentlich nicht. Wir hatten im Sommer 2020 eine Umfra- (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ge von Statista, wie sehr die Bundesbürger der Polizei NEN]: Oh, Mann!) vertrauen. 84 Prozent haben – vollkommen zu Recht – gesagt, sie haben Vertrauen in unsere Polizei. Insofern die mit der Materie nicht vertraut sind? Ich weiß nicht, braucht es diesen Gesetzentwurf in dieser Form jeden- was das bringen soll. falls nicht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Vielen Dank. Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU) NEN]: Keine Ahnung!) Auch über den Datenschutz müssen wir mal reden. Wir Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: haben gehört, dass allein 2017 8 400 Hinweise auf Kin- Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist derpornografie durchgesickert sind, weil keine Speiche- der Kollege Michael Kuffer. rung von IP-Adressen erfolgt – Stichwort „Onlinedurch- suchung“, Stichwort „Vorratsdatenspeicherung“. Sie (Beifall bei der CDU/CSU) bekämpfen und fürchten all das wie der Teufel das Weihwasser. Aber Sie haben hier keine Hemmungen, Michael Kuffer (CDU/CSU): (B) der Zivilgesellschaft Einblick in strafrechtlich und ermitt- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich (D) lungstechnisch sensible Daten zu geben. Auch das halte glaube, Sie haben spätestens in der Debatte gemerkt, dass ich für hoch widersprüchlich. sich zumindest weite Teile Ihres Antrags wahrscheinlich erledigt haben. (Beifall bei der CDU/CSU) (Zuruf der Abg. Dr. Irene Mihalic [BÜND- Der größte Widerspruch für mich ist aber: Wenn eine NIS 90/DIE GRÜNEN]) Ermittlungsbehörde eine Fahndung ausschreiben und da- bei auf Nationalität, Hautfarbe etc. abheben würde, dann Die Koalition ist über die Aktualisierung des Periodi- wären Sie die Ersten, die hier Zeter und Mordio schreien schen Sicherheitsberichts im Gespräch, und Sie sehen, würden. Sie fordern jetzt aber, dass sich der Sicherheits- dass wir an der Stelle deutlich mehr anstreben, als Sie bericht Kriminalitätsformen widmen soll, zu denen die es fordern. PKS keine hinreichenden, spezifischen Merkmale Ich bitte Sie aber trotzdem, nicht weiter so zu tun, als erfasst. Wenn wir einmal an Clankriminalität denken, ob der Periodische Sicherheitsbericht die einzige Quelle sehen wir, dass es da gerade auch um die Differenzierung wäre, aus der seriöse Erkenntnisse gewonnen werden nach Nationalitäten, nach Herkunft geht. Da müssen Sie könnten. Es ist auch nicht so, dass wir für all das unbe- sich schon die konkrete Frage gefallen lassen: Geht es dingt Gesetze brauchen. Bitte trauen Sie unseren Sicher- hier um eine Haltung, oder geht es hier nur um Miss- heitsbehörden und dem Innenministerium zu, Statisti- trauen gegenüber unserer Polizei? ken – so wie bisher auch – weiterzuentwickeln. Das ist (Beifall bei der CDU/CSU) eine der Kernaufgaben der Exekutive. Insofern gibt es nicht nur den Periodischen Sicherheitsbericht, wenn- Ich frage abschließend, ob Sie sich im Vorfeld dieses gleich, wie gesagt, wir da in der grundsätzlichen Frage Gesetzentwurfes einmal die Mühe gemacht haben, mit nicht auseinanderliegen – übrigens auch nicht, was die den Basiskämpfern, der Polizei in den Kreispolizeibehör- Frage der Dunkelfeldausleuchtung betrifft. den, zu sprechen. Ich mache das regelmäßig, auch nächs- (Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- te Woche wieder. Die schildern mir immer wieder, dass NEN]: 14 Jahre!) sie Hunderte Überstunden vor sich herschieben, auch durch Einsätze wie im Hambacher Forst, in Lügde oder Demgegenüber ist die Initiative der AfD wirklich völ- in Münster, dass Kriminalbeamte beispielsweise audiovi- lig überflüssig. Ich möchte auch da noch mal daran erin- suelle Vernehmungen durchführen und danach noch nern: Die Polizeiliche Kriminalstatistik liefert ein detail- selbst das Protokoll tippen. Wie wäre es, die Millionen liertes und differenziertes Bild über die Sicherheitslage in von Euro, die Sie für Ihren Gesetzentwurf jetzt verplanen, Deutschland, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23869

Michael Kuffer (A) (Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dieren. Und dort, wo Sie selbst Verantwortung tragen, ist (C) NEN]: Nein! Das behauptet nicht einmal das das Gegenteil Realität. Ich sage nur: geringste Polizei- BKA!) dichte im ganzen Bundesgebiet in Baden-Württemberg. übrigens auch über die Herkunft der Täter. Diese Infor- So werden Sie es nicht schaffen; da hilft Ihnen auch keine mationen sind selbstverständlich – auch über die Ereig- Statistik. nisse in Frankfurt – vorhanden; man muss sie nur lesen. Vielen Dank und einen schönen Abend. Insgesamt sind wir der Meinung, dass der Sicherheit in (Beifall bei der CDU/CSU) Deutschland durch Investitionen in Personal und Ausstat- tung unserer Beamten und durch Kompetenzanpassungen Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: an die aktuellen Erfordernisse des Kriminalitätsgesche- hens mehr geholfen ist als durch Investitionen in Papier. Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Ich will in Richtung der AfD noch sagen: Ich bin sehr dafür, dass wir im polizeilichen Berichtswesen weiterhin Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf ehrlich bleiben und auch der Öffentlichkeit wichtige der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur fortlaufenden Informationen über den Täter und seine Herkunft nicht Untersuchung der Kriminalitätslage und ergänzenden verschweigen. Man braucht schon viel grünen Humor, Auswertung der polizeilichen Kriminalitätsstatistik. Der um es lustig zu finden, dass in Baden-Württemberg ein Ausschuss für Inneres und Heimat empfiehlt in seiner gestandener Polizeipräsident dazu gebracht worden ist, Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/15259, den Ge- Horden von Gewaltverbrechern als „Partyszene“ zu eti- setzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grüne auf kettieren. Drucksache 19/2000 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf der Grünen zustimmen wollen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- um das Handzeichen. – Das sind – nicht überraschend – ordneten der AfD) die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Es stimmen dagegen Aber worum es Ihnen geht, ist wirklich völlig aber- CDU/CSU, SPD und AfD. Enthaltung? – FDP und Linke. witzig, und es zeigt auch Ihre Besessenheit. Sie gehen Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung abge- ja in Ihrem Antrag schon so weit, dass Sie selbst Deutsche lehnt. Nach unserer Geschäftsordnung entfällt damit die unter Generalverdacht stellen, nach dem Motto: Wer kri- weitere Beratung. minell ist, kann nicht rein deutsch sein; das ist der Duktus Zusatzpunkt 6. Interfraktionell wird Überweisung der Ihres Antrags. Vorlage auf Drucksache 19/23952 an die in der Tages- (Widerspruch bei der AfD – Stephan Brandner ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Gibt (B) [AfD]: So ein Quatsch!) es andere Überweisungsvorschläge? Das ist nicht der (D) Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. Dazu sage ich Ihnen wirklich: Werden Sie doch bitte ein- fach mal Ihre Reflexe los, und beziehen Sie in Ihre politi- Tagesordnungspunkt 20: schen Handlungen wieder den Denkapparat mit ein! Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Denn – und das will ich zum Schluss sagen – wozu führt regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes der ganze Irrsinn, den Sie hier vorschlagen? zur Modernisierung des Berufsqualifikations- (Stephan Brandner [AfD]: Für den Irrsinn sind feststellungsgesetzes und des Fernunterrichts- Sie verantwortlich, Sie und Ihre Kanzlerin! Da schutzgesetzes kommt der Irrsinn her!) Drucksachen 19/21980, 19/22818, 19/23054 Da sind Sie, zumindest in der Folge, in guter Gesellschaft Nr. 13 mit den Grünen: Sie beide wollen, dass der polizeiliche Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Alltag in seinem Großteil von statistischer Erfassung ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- geprägt wird. schätzung (18. Ausschuss) (Zuruf von der AfD: Kaum!) Drucksache 19/24045 Ich sage Ihnen auch – weil vorhin angesprochen wur- Für die Aussprache sind wiederum 30 Minuten be- de, dass bestimmte Opfergruppen dazu übergegangen schlossen. sind, Straftaten gar nicht mehr anzuzeigen –: Niemand Ich eröffne die Aussprache. Wir warten noch einen zeigt eine Straftat wegen der Statistik an, sondern des- Moment, bis die Lage übersichtlicher wird. – Der Kollege halb, damit sie aufgeklärt wird und weil dadurch Präven- hat das Wort für die CDU/CSU-Frak- tionsarbeit geleistet wird. tion. Und das geht am ehesten durch Personal. Deshalb ist unser Ansatz der letzten Jahre: weniger Personal in der (Beifall bei der CDU/CSU) Verwaltung zugunsten von mehr Personal im Vollzug. Norbert Maria Altenkamp (CDU/CSU): (Stephan Brandner [AfD]: Und Grenzen auf Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- und alle rein!) ren! Deutschland ist einer der stärksten Wirtschaftsstan- Dort, wo Sie von den Grünen Verantwortung tragen – dorte der Welt und braucht eine Menge gut qualifizierter oder es gerne täten –, haben Sie einen ganz anderen Fachkräfte, um fit für die Zukunft zu bleiben. Ganz Ansatz. In Bayern sind Sie dauernd dabei, das zu torpe- besonders dringend brauchen wir Fachkräfte im Bereich 23870 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Norbert Maria Altenkamp (A) IT, im Handwerk, auf dem Bau, in den technischen Beru- Damit das Fachkräfteeinwanderungsgesetz optimal (C) fen und in der Pflege. Studien zufolge gibt es in rund wirken kann, werden wir dem Anerkennungsgesetz heute 400 Berufen Engpässe. Um den wachsenden Fachkräfte- noch einen weiteren Feinschliff verpassen. bedarf zu decken, sind wir deshalb auch auf die Zuwan- derung ausländischer Fachkräfte aus aller Welt angewie- (Beifall des Abg. Dr. Stefan Kaufmann [CDU/ sen. Gerade zur Ankurbelung der Wirtschaft nach der CSU]) Coronakrise brauchen wir qualifizierte Fachkräfte mehr denn je. Wir müssen die Anerkennung bundesweit einheitlich, verlässlich und gleichzeitig flexibel gestalten. Die Ver- (Beifall bei der CDU/CSU) fahren des Bundes und der Länder, die alle eigene Aner- Ingenieure aus Russland, Krankenschwestern von den kennungsgesetze haben und die inzwischen ein Muster- Philippinen, Konditormeister aus Chile, Industriemecha- Änderungsgesetz unter anderem zum beschleunigten niker aus Syrien, IT-Spezialisten aus Indien – hier kommt Fachkräfteverfahren abgestimmt haben, dürfen nicht aus- das Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz ins Spiel, das einanderdriften. wir 2012 als Kernstück des Anerkennungsgesetzes ein- geführt haben. Es ist ein Gesetz mit einem schwierigen Erstens. Wir werden deshalb die Rolle der Ausländer- Namen; aber dass es ungemein erleichternd wirkt, wenn behörden im neuen beschleunigten Fachkräfteverfahren es um die Anerkennung und Gleichwertigkeit ausländ- als Schnittstelle zum Arbeitgeber stärken. ischer Berufsabschlüsse in rund 600 bundesrechtlich geregelten Berufen geht, ist unbestritten. Denn das ist Zweitens. Ein ganz wesentlicher Punkt ist für mich, die Voraussetzung dafür, dass ausländische Fachkräfte dass wir einen neuen separaten Feststellungsbescheid unseren Unternehmen dabei helfen können, wettbewerbs- zur Gleichwertigkeit der ausländischen Qualifikation fähig zu bleiben. Das gibt den Fachkräften auf dem deut- bei reglementierten Berufen – also unter anderem in schen Arbeitsmarkt zudem eine sichere Perspektive und Gesundheitsberufen – einführen, um flexibler reagieren eröffnet interessante Karrierechancen, und auch die zu können und um die Angleichung an berufsrechtliche Integration von qualifizierten Geflüchteten wird durch Fachgesetze zu fördern. Bisher wurde die Gleichwertig- die Anerkennung erleichtert. keit nur im Berufszugangsverfahren geprüft, das neben dem Berufsabschluss weitere Anforderungen an die Erst im März haben wir an dieser Stelle darüber disku- Berufserlaubnis stellt, zum Beispiel gesundheitliche Eig- tiert, dass das Anerkennungsgesetz seit 2012 eine ganz nung, Zuverlässigkeit, Sprachkompetenzen. Künftig soll wichtige und erfolgreiche Waffe im Kampf gegen den deshalb eine separate Gleichwertigkeitsprüfung beantragt Fachkräftemangel ist. Seit 2012 wurden allein für die werden können, bei der es nur um die Qualifizierung (B) bundesrechtlich geregelten Berufe rund 175 000 Aner- geht. Der neue Feststellungsbescheid wird es zum Bei- (D) kennungsanträge gestellt. Über die Hälfte wurden positiv spiel Gesundheits- und Pflegefachkräften erleichtern, beschieden, in fast allen anderen Fällen wurden die Qua- unter bestimmten Bedingungen auch hier in ihrem erlern- lifikationen als teilweise gleichwertig anerkannt oder die ten Beruf zu arbeiten. Er ebnet den Weg in Qualifizie- Auflage einer Nachqualifizierungsmaßnahme gemacht. rungsmaßnahmen zur Erlangung der vollen Gleichwer- Auch die neuen Zahlen aus dem letzten Jahr sprechen tigkeit, und er erhöht die Chancen auf ähnliche, nicht für sich: 2019 haben die Anerkennungsverfahren einen reglementierte Tätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt. neuen Höchststand erreicht, besonders in den Gesund- Drittens. Wir brauchen aussagekräftige Daten, um die heits- und Pflegeberufen. Hier wurden zwei Drittel der Wirkung der neuen Maßnahmen zu evaluieren und insbe- über 33 000 Anträge gestellt, und die Zahl der Anerken- sondere unser erklärtes Ziel zu erreichen, die Fachkräfte- nungen hat sich seit 2016 fast verdreifacht. zuwanderung weiter zu optimieren und zu beschleunigen. (Beifall bei der CDU/CSU) Deshalb werden wir die statistische Erhebung zu den Anerkennungsverfahren noch konkreter gestalten. Des- Drei Viertel aller Anträge zu Berufen in Bundeszustän- digkeit kamen außerdem aus Nicht-EU-Staaten. Mit dem halb werden wir als neue Merkmale das Datum der Emp- Anerkennungszuschuss, der zentralen Informationsplatt- fangsbestätigung, das Datum und die Vollständigkeit der vorzulegenden Unterlagen sowie Besonderheiten im Ver- form „Anerkennung in Deutschland“, dem Programm IQ, „Integration durch Qualifizierung“, und anderen Initiati- fahren erfassen. ven haben wir zudem die Hilfen für die Antragsteller Diese Änderungen sind wichtig, auch wenn wir leider immer weiter ausgebaut. feststellen müssen, dass durch die coronabedingten welt- Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das am weiten Lockdowns viele Maßnahmen, die die Anerken- 1. März in Kraft getreten ist, haben wir die Möglichkeiten nung der ausländischen Qualifikationen und die Fach- des Aufenthalts zur Arbeitssuche und zur beruflichen kräftezuwanderung erleichtern sollen, zurzeit nicht ihre Anerkennung erweitert. Die neue Zentrale Servicestelle volle Wirkung entfalten können; auch das beschleunigte Berufsanerkennung bei der BA in Bonn lotst die zuwan- Fachkräfteverfahren nicht, denn in den Visastellen stauen derungsinteressierten Fachkräfte zudem seit Februar sich die Anträge. Umso dringender ist es deshalb, nicht schnell und sicher durch die komplexen Verfahren. nur die Gesetze weiter zu optimieren, sondern auch die Besonders das neue beschleunigte Fachkräfteverfahren Visaverfahren schnell weiter zu digitalisieren. im Rahmen des Anerkennungsgesetzes wird helfen, viele bürokratische Hürden bei der Fachkräfteeinwanderung (Beifall des Abg. Dr. Stefan Kaufmann [CDU/ zu umschiffen. CSU]) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23871

Norbert Maria Altenkamp (A) Umso dringender wird es, dass die Bundesregierung Die Regelungen auf Bundesebene zur Berufsanerken- (C) ihren umfassenden Plan für eine Digitaloffensive zur nung werden an die Regelungen der Länder angeglichen; Integration so schnell wie möglich umsetzt, die auch bei dies schafft Transparenz für den Bürger. Die erweiterte der schnellen Anerkennung ausländischer Berufsab- statistische Aufarbeitung bezüglich der Anerkennungs- schlüsse greifen muss. verfahren ist zur Auswertung und gegebenenfalls Verbes- serung der Verwaltungsverfahren unbedingt sinnvoll. Die Herzlichen Dank. Ermöglichung der gesonderten Gleichwertigkeitsprüfung ausländischer Abschlüsse bei auf Bundesebene regle- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. mentierten Berufen wie Ärzte, Apotheker, Notare, Pfle- Ulrike Bahr [SPD]) geberufe etc. ist überfällig.

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Das wichtigste Argument aber, warum es sich hier um Die nächste Rednerin ist für die Fraktion der AfD die einen sinnvollen Gesetzentwurf handelt, ist, dass er dem Kollegin Nicole Höchst. Bürger und der Wirtschaft Geld spart. Das ist das Topar- gument in Zeiten, in denen die Regierung durch ihre (Beifall bei der AfD) unverhältnismäßigen Coronamaßnahmen das Geld der Bürger nicht nur verbrennt, sondern auch noch dafür sorgt, dass sich geschredderte Wirtschaftszweige zukünf- Nicole Höchst (AfD): tig gar nicht mehr am Steueraufkommen beteiligen kön- Herr Präsident! Werte Kollegen! Liebe Bürger! Selten nen und viele Familien in staatliche Abhängigkeit gera- kommt es in diesem Hause vor, dass sich alle Fraktionen ten. Werte Bundesregierung, kümmern Sie sich doch einig sind. Beim vorliegenden Gesetzentwurf ist dies zukünftig häufiger um solche Art nutzbringende Dinge. offenbar der Fall – nicht dass Frau Bundeskanzlerin hie- Es gibt so vieles, was Sie zum Wohle des deutschen rin ein Problem sieht, das analog zur demokratischen Volkes beherrschen könnten, wenn Sie nur wollten. Ministerpräsidentenwahl Anfang des Jahres in Thüringen wieder rückgängig gemacht werden muss. Die AfD-Fraktion stimmt dem vorliegenden Gesetz- entwurf zu und fordert Sie zusätzlich unmissverständlich Die Modernisierung des Berufsqualifikationsfeststel- auf, die widersprüchlichen, rechtswidrigen und unver- lungsgesetzes und des Fernunterrichtsschutzgesetzes hältnismäßigen Coronamaßnahmen sofort zu beenden. räumt endlich mit überflüssigen und überholten Regel- ungen auf. Geradezu widersinnig war die bisherige (Beifall bei der AfD) Gesetzeslage im Fernunterrichtsschutzgesetz. So konnte Bitte gehen Sie den Weg der Angstmache und der Zer- Fernunterricht, beispielsweise ein Onlinevorbereitungs- (B) störung nicht weiter. Bitte kehren Sie um. (D) kurs oder eine Fortbildung nach Handwerksordnung, nicht online gebucht oder gekündigt werden. Es bedurfte Vielen Dank. hierzu bis dato eines schriftlichen, eigenhändig unter- schriebenen Vertrags oder einer ebensolchen Kündigung. (Beifall bei der AfD) Diese musste auf dem Postweg versandt werden. Dass man dies erst jetzt, im Jahr 2020, endlich auch online Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: durchführen können soll, zeigt, wie schlecht es um die Die nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Bahr, Digitalisierung in Deutschland bestellt ist. SPD-Fraktion. Ist das das Ergebnis jahrelangen Schnarchens auf der (Beifall bei der SPD) Regierungsbank, oder haben Sie vielleicht einfach die falschen Prioritäten gesetzt? Beispielsweise spielen Sie zurzeit das letzte Bollwerk zwischen den Menschen und Ulrike Bahr (SPD): der herbeihysterisierten PCR-Test-Pandemie. Sie jagen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kol- dabei mit großem Halali nach einer kleinen Spinne im leginnen! Die Koalition hat im Bildungsbereich bereits Geschirrschrank, zerschlagen das gesamte Porzellan viel auf die Schiene gebracht, um dem Fachkräftemangel und zerlegen den Schrank gleich mit. Absicht oder ein- in Deutschland entgegenzuwirken. Wir haben das Berufs- fach Lebensferne? So mancher Vertreter dieser und ver- bildungsgesetz novelliert und mit der Reform unter ande- gangener Regierungen war in seinem Leben noch nie rem eine Mindestausbildungsvergütung erstmals gesetz- etwas anderes als Berufspolitiker und/oder Lobbyist. Da- lich verankert. Der SPD-Bundestagsfraktion war dies bei hätte es sicher einigen gutgetan, etwas anderes vor besonders wichtig; denn die Mindestvergütung für Aus- dem Eintritt in den Mikrokosmos Bundestag gesehen zu zubildende ist für uns nicht einfach nur die Bezahlung haben. Stimmt nicht? Ich bitte Sie. von Arbeit, sondern auch ein Ausdruck von Respekt gegenüber der Leistung, die Auszubildende jeden Tag (Beifall bei der AfD) erbringen. Hier im Bundestag muss bis heute vieles noch gefaxt (Beifall bei der SPD) werden. In der Schlüsselstelle werden Karteikarten sogar noch nostalgisch mit einer Schreibmaschine beschrieben. Eine Ausbildungsvergütung ist ein wichtiger Anreiz für Bei den vorgeschlagenen Änderungen im BQFG handelt junge Menschen, sich überhaupt für eine berufliche Aus- es sich also um nichts weniger als ein kleines Wunder, das bildung zu entscheiden. Das neue Berufsbildungsgesetz wir gerne bestaunen und mittragen. ist seit dem 1. Januar dieses Jahres in Kraft. 23872 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Ulrike Bahr (A) Neben der Stärkung der beruflichen Ausbildung haben Auch das Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz steht (C) wir mit der Reform des Aufstiegs-BAföG ein staatliches seit 2012 für eine gelebte Anerkennungskultur in Förderinstrument neu aufgestellt, das massiv bei den Deutschland. Im Rahmen des Fachkräfteeinwanderungs- anfallenden Kosten für eine berufliche Fort- und Weiter- gesetzes muss es nun marginal geändert werden, wofür bildung unterstützt. Die Botschaft des neuen Aufstiegs- ich heute um Ihre Zustimmung bitte. Verfahrensvereinfa- BAföG ist klar: Für Beschäftigte lohnt es sich in jedem chungen senken bürokratische Hürden. Weitere Änderun- Fall, sich beruflich weiterzuentwickeln. Der Staat unter- gen ermöglichen den Antragstellern eine Qualifizie- stützt sie bei ihrem Vorhaben. Auch das wirkt sich auf das rungsmaßnahme zur Erlangung einer Berufserlaubnis. Fachkräfteangebot positiv aus. Das Gesetz ist somit zentral, damit Menschen die (Beifall der Abg. Dr. Astrid Mannes [CDU/ Möglichkeit bekommen, entsprechend ihrer Qualifika- CSU]) tion bei uns zu arbeiten. Viel zu oft sind Beschäftigte aus dem Ausland noch unterhalb ihres Qualifikationsni- Das neue Aufstiegs-BAföG ist seit dem 1. August dieses veaus angestellt. Mit dem Anerkennungsgesetz bekom- Jahres in Kraft. men sie echte Zukunftschancen und werden bei ihrer (Beifall bei der SPD) beruflichen Weiterentwicklung nachhaltig unterstützt. Angehende Akademiker schließlich hat die Koalition (Beifall bei der SPD) mit der BAföG-Novelle im Blick: Höhere Zuschüsse zu Auch wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Wohn- und Lebenshaltungskosten wirken Finanzierungs- Anerkennung der Schlüssel zu deutlichen Einkommens- ängsten entgegen und erleichtern so die Entscheidung für zuwächsen und zu Beschäftigung ist. So steht es im Aner- ein Studium. Auch wenn die versprochene Trendwende kennungsbericht der Bundesregierung, und das unterstüt- noch nicht erreicht wurde, so bleibt das BAföG das zent- ze ich ausdrücklich. rale Förderangebot für Studierende. Was gut ist, kann aber noch besser werden. Meine (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das ist lächer- Fraktion ist nach wie vor der Meinung, dass es einen lich! 11 Prozent, sage ich nur!) Rechtsanspruch auf eine unabhängige Beratung für alle In Zeiten sinkender Antragszahlen kann man das nicht oft Anerkennungssuchenden braucht; denn damit steht und genug in Richtung der Bildungsministerin sagen; das fällt ein erfolgversprechendes Anerkennungsverfahren. muss sie im Blick haben. Die angepassten BAföG-Regel- Sobald ein solcher Rechtsanspruch verankert ist, könnte ungen sind seit dem 1. September 2019 in Kraft. es unserer Meinung nach auch mehr Anerkennungsver- fahren geben und das Gesetz seine volle Wirkung ent- Kurz skizziert, sind das drei ganz konkrete und bereits falten. Damit könnten wir dem Fachkräftemangel noch beschlossene Gesetze, welche die Aus- und Weiterbil- (B) besser begegnen. (D) dung stärken und das Fachkräfteniveau steigern. Aber nicht nur wir Bildungspolitikerinnen und -politiker arbei- Weiterhin setzen wir uns auch für eine finanzielle Ent- ten daran, dem Mangel an gut ausgebildeten Arbeitneh- lastung bei den Lebenshaltungskosten ein, wenn eine merinnen und Arbeitnehmern entgegenzutreten, sondern Nachqualifizierung nötig wird. Denn viele Anerken- auch SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil hat mit seinem nungssuchende befürchten, sich diese nicht leisten zu Qualifizierungschancengesetz und dem Arbeit-von-mor- können und nehmen stattdessen lieber weniger gut gen-Gesetz zentrale Schritte unternommen, um Betriebe bezahlte Jobs an; darauf hat mein Kollege Karamba sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu unter- Diaby im Ausschuss schon hingewiesen. Und das ist stützen, sofern sie in das berufliche Fortkommen inves- mehr als ärgerlich; denn an solchen Kosten sollte kein tieren. Verfahren scheitern. Somit wäre hier eine Investition sinnvoll, um Anerkennungssuchenden Planungs- und So rücken wir alle die Aus- und Weiterbildung zentral Rechtssicherheit zu gewähren. in unser gemeinsames Handeln, und trotzdem reichen diese Anstrengungen nicht immer vollumfänglich aus. Zum Schluss aber noch etwas Erfreuliches. Letzten Deutschland benötigt zusätzliche Fachkräfte; das ist Montag war ich virtuell mit dem Bundesverband der eine gesicherte Erkenntnis. Das wissen wir alle. Und des- Fernstudienanbieter verbunden. Man hat mich ganz zu wegen müssen wir den Arbeitsstandort Deutschland Recht darauf hingewiesen, dass es längst überfällig gewe- attraktiv auch für ausländische Arbeitnehmerinnen und sen sei, was wir heute noch beschließen möchten, näm- Arbeitnehmer gestalten und ausbauen. lich den Austausch eines einzigen Wortes im Fernunter- richtsschutzgesetz. Mit der Text- statt der Schriftform Mit dem im März dieses Jahres in Kraft getretenen machen wir das Gesetz ein klein wenig moderner. Und Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist uns ein zentraler es stimmt: Man soll für einen Onlinekurs einen Printver- Schritt dafür gelungen. Mit einem einheitlichen Fachkräf- trag unterschreiben und analog verschicken, damit er tebegriff stellen wir klare Regeln auf, wer zu Erwerbs- beim Anbieter am Ende wieder digital eingescannt zwecken zu uns einwandern darf. Gleichzeitig wurde der wird? Das ist Unsinn, und das braucht kein Mensch. Da Arbeitsmarkt geöffnet, damit auch ausländische Fach- stimmt mir vielleicht sogar der Kollege Brandenburg zu. kräfte mit einer Berufsausbildung die Möglichkeit haben, sich bei uns eine Existenz aufzubauen, ohne den Zugang Was in anderen Branchen längst Standard ist, machen auf Mangelberufe zu beschränken. Das ist ein Novum, wir nun also auch für den Fernunterricht möglich. Damit das unterstreicht, dass Deutschland ein Einwanderungs- haben Interessierte ab dem 1. Januar 2021 die Möglich- land ist und, ganz nebenbei gesagt, schon lange war – ob keit, rechtssicher und schnell ein digitales Weiter- es der AfD gefällt oder nicht. bildungsangebot wahrzunehmen und den entsprechenden Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23873

Ulrike Bahr (A) Vertrag dafür online abzuschließen oder zu kündigen. nationalen ANABIN-Datenbank, und schaffen wir end- (C) Das ist nicht nur während der andauernden Pandemie lich ein liberales Einwanderungsrecht aus einem Guss zu begrüßen, sondern unterstützt eine ganz wichtige mit einem echten Spurwechsel für gut integrierte Asyl- Branche in unserem Land. suchende und anerkannte Flüchtlinge. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ein paar E-Mails und statistische Kennzahlen sind ja ganz nett. Und solche Kleinigkeiten können wir hier heu- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: te auch sehr gerne beschließen. Lassen Sie uns dabei aber die großen Aufgaben bitte nicht aus den Augen verlieren: Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Jens die Anerkennungspraxis deutlich zu vereinfachen und ein Brandenburg, FDP-Fraktion. echtes liberales Einwanderungsrecht zu schaffen. Das (Beifall bei der FDP) wäre eine wirkliche Modernisierung der beruflichen internationalen Mobilität. Sie hätte es verdient. Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar) (FDP): (Beifall bei der FDP) Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Frau Ministerin! Wir entscheiden heute über das Gesetz zur Modernisierung des Berufsqualifikationsfeststellungsge- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: setzes und des Fernunterrichtsschutzgesetzes. Das ist ein Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Birke Bull- langer Titel für ein Gesetz mit relativ wenig Inhalt; im Bischoff, Fraktion Die Linke. Kern geht es nur um ein paar technische und statistische (Beifall bei der LINKEN) Anpassungen. Und ja, dem stimmen wir als FDP-Frak- tion natürlich gerne zu. Dr. Birke Bull-Bischoff (DIE LINKE): Künftig soll es beim Abschluss von Fernunterrichts- Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen verträgen – Frau Bahr, da stimme ich Ihnen auch sehr und Kollegen! In diesen Zeiten ist mir zunächst eine gerne zu – möglich sein, Belehrungen über Kündigungs- grundsätzliche Bemerkung sehr wichtig: Menschen, die und Rücktrittsrechte sogar per E-Mail zu verschicken. nach Deutschland kommen, haben in ihrer allergrößten (Zurufe von der FDP: Irre! – Wow!) Mehrheit den Wunsch, sich hier in unsere Gesellschaft einzubringen; sie bringen berufliche Erfahrungen mit, Wahnsinn! Dass die Bundesregierung in diesem Kontext und sie wollen ihr Einkommen selbst finanzieren, im gar von Modernisierung und im Ausschuss von einem Idealfall mit sozialversicherungspflichtiger Beschäfti- (B) Digitalisierungsschub sprach, das ist schon ein bisschen gung. (D) übertrieben. Frau Karliczek, ich begrüße wirklich Ihren neuen Digitalisierungseifer, ich würde mich allerdings (Beifall bei der LINKEN) freuen, wenn Sie damit nicht schon bei der Legalisierung Und deshalb werden wir jeden Schritt unterstützen, der einer Technologie aus den 80er-Jahren Schluss machten. dazu beiträgt, durch die Anerkennung beruflicher Erfah- (Beifall bei der FDP) rungen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu verbessern. Das Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz hilft deut- (Beifall bei der LINKEN) schen Unternehmen, im Ausland erworbene Qualifikatio- Mir ist aber auch ein Blick über den Tellerrand des nen ihrer Bewerber und Bewerberinnen transparent ein- Gesetzes wichtig. Zum Ersten: Die Anerkennung ist zuschätzen und vergleichbar zu machen. Das ist also ein gewissermaßen ein Werkzeug auf dem Weg in eine ange- großer, wichtiger Beitrag für die internationale berufliche messene Beschäftigung von Menschen, die zu uns kom- Mobilität und auch zur Minderung des deutschen Fach- men wollen. Sie schafft Rechtssicherheit, Orientierung kräftemangels. für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für Unterneh- Es ist ein gutes Gesetz, aber es hakt an vielen Stellen an men, und sie sichert fachliche Augenhöhe innerhalb der der praktischen Umsetzung. Die Verfahren dauern zu Arbeitnehmerschaft. Aber das alles ist nur für diejenigen lange, sie sind oft intransparent und mit unklaren Zustän- möglich, die hier erwünscht sind, die kommen dürfen, digkeiten. Je nach Bundesland und zuständiger Stelle gibt wohlgemerkt. Und es ist kein Geheimnis, dass wir den es unterschiedliche Anforderungen an Sprachnachweise Kreis derer, die hier ihren Lebens- und Arbeitsmittel- und weitere vorzulegende Dokumente. Allein 317 ver- punkt suchen, öffnen möchten. Immerhin, wir sind mitten schiedene Stellen sind bundesweit für die Anerkennung in der zweiten Welle. von Fahrlehrerabschlüssen zuständig. Solche Kompeten- ( [AfD]: Was ist ein Arbeits- zen müssen wir stärker bündeln. mittelpunkt?) (Beifall bei der FDP) Die Frage ist nicht mehr vordergründig, ob wir ausrei- Schaffen wir doch eine einzige zuständige Stelle bun- chende, genügende intensivmedizinische Betreuung desweit für jeden Beruf. Die IHKen machen es mit der haben, sondern die Frage ist mittlerweile: Haben wir FOSA bereits vor und das Handwerk mit den Leitkam- genügend Fachkräfte, um intensivmedizinisch zu mern. Sorgen wir für online zugängliche, transparente betreuen? Bewertungsparameter. Setzen wir auch Legal Tech ein Das Anerkennungsverfahren selbst muss verbessert zur Bewertung von häufig vorkommenden Berufsab- werden. Einheitlichkeit und Transparenz sind auch hier schlüssen. Sorgen wir für eine bessere Pflege der inter- ein Thema. Die Übernahme der Kosten für diejenigen, 23874 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Dr. Birke Bull-Bischoff (A) die beantragen, und für diejenigen, die zusätzliche Qua- Darüber hinaus wissen wir bereits seit Langem, dass (C) lifikationsmaßnahmen vorlegen müssen, muss weiter die Fachkräfte hier in Deutschland allein nicht ausrei- verbessert werden. chen, um den Fachkräftebedarf zu decken. Wir brauchen also zusätzlich zur besseren Berufsqualifizierung junger Zum Zweiten ist noch etwas wichtig. Das ist die Kultur Menschen auch die Zuwanderung von qualifizierten der Vielfalt in den Unternehmen. Fachlich ist eine gewis- Fachkräften aus anderen Ländern. Und da haben Sie ja se Augenhöhe durch die Gleichstellung der Berufsab- jetzt die ersten Schritte auf jeden Fall schon gemacht, schlüsse hergestellt; aber auf personeller und auf zwi- Frau Karliczek. Mit dem Anerkennungsgesetz haben schenmenschlicher Ebene ist da noch einiges zu tun. Fachkräfte aus anderen Ländern das Recht auf ein zügi- Ein produktiver Umgang mit Unterschiedlichkeit, mit ges Anerkennungsverfahren, und damit wurde ein über- Diversität ist, denke ich, eine ganz wichtige Aufgabe im fälliger Schritt auf dem Weg in eine offene und moderne Personalmanagement von Unternehmen. Einwanderungsgesellschaft vollzogen. Das begrüßen wir Gestatten Sie mir aber noch eine Bemerkung zum auch ganz klar. zweiten Teil des vorliegenden Artikelgesetzes, der sich mit dem Fernunterricht beschäftigt. Genauer gesagt, Das allerdings sollte Sie, die Regierung, jetzt nicht, so möchte ich zu dem sprechen, womit er sich leider nicht finde ich, zum Eigenlob verleiten. Die Anerkennungs- beschäftigt. praxis bei uns reicht nämlich bei Weitem nicht aus, um den Fachkräftebedarf zu decken. Das sollten wir schleu- Lernen im digitalen Zeitalter, organisiertes und institu- nigst ändern. tionelles Lernen im digitalen Zeitalter wirft neue Fragen auf: Was ist eigentlich Unterricht, wenn Teilnehmende (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) selbstorganisierend lernen? Wann gilt was als Teilnah- Schauen wir doch noch mal auf die Anerkennungs- me? Welche Standards für digitalen Unterricht müssen quote; wir haben es heute schon gehört. Wir können es geregelt werden? Dazu gehören Interoperabilität – das ja auch andersherum sehen: Über die Hälfte der Anträge heißt, die Systeme müssen miteinander funktionieren, wird abgelehnt. Das ist ein sehr hoher Prozentsatz, ich müssen vereinbar sein –, die Offenheit der Systeme für finde, ein zu hoher Prozentsatz. die Nutzung von Open Educational Resources, die Platt- formunabhängigkeit, sodass Lernmaterialien nicht nur an (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- eine Plattform gebunden sind. Wer sichert die Qualität? SES 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf von der AfD: Wo bleibt der Lehrer?) Und woran liegt das? Das Anerkennungsgesetz ist heute Im Übrigen sind dies alles Fragen, die sich auch an immer noch zu stark vom prüfungs- und abschlussbezo- (B) Schulen richten, nicht nur in Coronazeiten. Und hier, genen Denken in Deutschland geprägt; wir haben das (D) meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol- auch gerade schon gehört. Mit Blick auf alternative Bil- legen, fehlt ein größerer Wurf, um eben auch dort Rechts- dungsmodelle muss endlich auch die Anerkennung non- sicherheit und Orientierung zu schaffen. Ich denke, da formaler und informeller Kompetenzen in Angriff haben Sie noch einiges an Hausaufgaben zu erledigen. genommen werden. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist also jetzt an der Zeit, die richtigen Schlüsse aus Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: den Erfahrungen der letzten Jahre zu ziehen; denn bei der Nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Walter- Umsetzung des Einwanderungsgesetzes ist definitiv noch Rosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen. Luft nach oben. Die Bundesregierung hat es hier eben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht geschafft, das größte Hindernis bei der Fachkräf- teeinwanderung aus dem Weg zu räumen, nämlich das komplexe Verfahren zur Anerkennung der Berufsab- Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/DIE schlüsse. Das haben Sie gar nicht angetastet. GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Kollegen und Kolleginnen! Deutschland braucht Fach- SES 90/DIE GRÜNEN) kräfte, auch aus dem Ausland. Das ist schon lange kein Geheimnis mehr. Der Mangel an Fachkräften darf nicht Dazu kommt: Jedes Anerkennungsverfahren kostet zu einer Wachstumsbremse werden. Deshalb müssen wir Geld. Das Nachholen erforderlicher Qualifizierungen klar gegensteuern. kostet noch mehr Geld. Das wollen wir in Zukunft för- dern. Damit kein Talent verloren geht, wollen wir das Es braucht gute Konzepte, um Fachkräfte erstens aus- Aufstiegs-BAföG auch für Anpassungs- und Nachquali- zubilden und zweitens zu gewinnen. Chancengerechtig- fizierungen öffnen und die Unterstützung für die Kosten keit und Teilhabe sind hier die wichtigsten Stichworte. des Anerkennungsverfahrens verbessern. Ich frage mich, wie es sein kann, dass Jahr für Jahr junge Menschen abgehängt werden, nicht in Ausbildung kom- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- men und deshalb nicht am qualifizierten Berufsleben teil- SES 90/DIE GRÜNEN) nehmen. Das können wir uns schlicht und einfach nicht Wege vereinfachen, Hürden abbauen, Qualität sichern, mehr leisten. Anstrengungen belohnen: Das kann ein guter Weg für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mehr Fachkräfte in unserem Land sein. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23875

Beate Walter-Rosenheimer (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so wie wir heutzutage selbstverständlich auch andere (C) sowie der Abg. Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE Produkte online oder digital erwerben. Wieso soll ein LINKE]) Teilnehmer eines Fernunterrichts nicht mittels Fernkom- munikationsmittel verbindlich buchen dürfen, während er Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: bei der Deutschen Bahn seine BahnCard für ein Jahr online buchen kann oder einen Stromliefervertrag ab- Die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist schließen darf? die Kollegin Dr. Astrid Mannes, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir nutzen die Chancen der elektronischen Kommuni- kation, um den Zugang zu Bildungsangeboten zu verein- fachen. Damit wollen wir vor allem die junge Generation Dr. Astrid Mannes (CDU/CSU): ansprechen. Schließlich wollen wir alle Altersgruppen Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- für Bildungsangebote begeistern. nen und Kollegen! Die Arbeitswelt verändert sich immer schneller. Automatisierung, Digitalisierung, künstliche Gerade die derzeitige Situation mit ihren Herausforde- Intelligenz führen dazu, dass das Wissen, das man in rungen auch für die Wirtschaft führt uns vor Augen, wie der Berufsausbildung oder auch im Studium erworben wichtig gut qualifizierte Fachkräfte für unser Land und hat, nicht mehr durch das gesamte Berufsleben trägt. wie wichtig digitale Lernangebote sind. Die Antwort auf die aktuellen Herausforderungen kann nur ein effizientes Wer den sich ständig ändernden technisch-digitalen Weiterbildungsangebot sein, das die Menschen gerne Anforderungen und dem Wandel an seinem Arbeitsplatz annehmen, um ihre Möglichkeiten, Fähigkeiten und gewachsen sein will, der wird sich immer wieder fort- Begabungen im Einklang mit dem technischen Fortschritt bilden müssen. Nur durch zielgerichtete Qualifizierungs- weiterzuentwickeln. maßnahmen kann die langfristige Beschäftigungsfähig- keit gesichert werden. Die Bundesregierung hat in Die Änderung des Fernunterrichtsschutzgesetzes stärkt dieser Legislaturperiode daher auch einen großen Verbraucherrechte, baut Bürokratie ab und baut digitale Schwerpunkt auf die Weiterbildung gesetzt und hat unter Bildungsangebote aus. Ich habe herausgehört, dass wir anderem zusammen mit den Sozialpartnern und den Län- uns hier einstimmig für eine Zustimmung begeistern kön- dern eine große nationale Weiterbildungsstrategie erar- nen. Es freut mich sehr, dass wir das jetzt auf den Weg beitet. bringen. Bund, Länder, Wirtschaftsverbände und auch die Ich danke herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. Gewerkschaften arbeiten sehr effektiv und eng in der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (B) Allianz für Aus- und Weiterbildung zusammen. Aber (D) nicht nur die Bundesregierung, sondern auch wir Mitglie- ordneten der SPD) der der CDU/CSU-Bundestagsfraktion treten für eine Kultur der Weiterbildung ein. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Weiterbildung muss etwas Selbstverständliches sein, Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich schließe die Aus- und sie darf nicht als Muss empfunden werden. Lebens- sprache zu TOP 20. langes Lernen soll nicht als etwas empfunden werden, das zwangsweise über einen verhängt wird. Lebensbeg- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- leitendes Lernen soll etwas sein, dem man sich gerne desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Moderni- stellt, was Freude bereitet, weil Wissen ein Reichtum ist sierung des Berufsqualifikationsfeststellungsgesetzes und weil Weiterbildung als Chance empfunden wird – zu und des Fernunterrichtsschutzgesetzes. Der Ausschuss Recht, denn Weiterbildung ist der Schlüssel zu Aufstieg für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung und Erfolg. empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/24045, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf (Beifall bei der CDU/CSU) den Drucksachen 19/21980 und 19/22818 anzunehmen. Wenn wir die Weiterbildung stärken wollen und uns Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wünschen, dass die Menschen sich mit großer Begeiste- wollen, um das Handzeichen. – Das ist einstimmig, keine rung weiterbilden, dann darf Weiterbildung keine Hemm- Gegenstimmen, keine Enthaltungen. Der Gesetzentwurf schwellen haben. Sie muss attraktiv und modern sein, und ist damit in zweiter Beratung angenommen. sie muss die Menschen ansprechen. Mit dem Gesetzent- Dritte Beratung wurf, mit dem wir das Fernunterrichtsschutzgesetz modernisieren, soll Bürokratie beim Abschluss eines und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Fernunterrichtsvertrages abgebaut und damit der Zugang Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – zu digitalen Bildungsangeboten erleichtert werden. Künf- Das ist wieder einstimmig. Gegenstimmen? – Sieht nicht tig soll – wir haben das jetzt schon mehrfach gehört – das so aus. Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit Schriftformerfordernis bei Vertragsabschluss oder bei angenommen. Kündigung eines solchen Vertrages entfallen und durch Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 und Zusatzpunkt 7 die Textform, die auch die Kommunikation per E-Mail auf: ermöglicht, ersetzt werden. Damit wird es nicht mehr erforderlich sein, den Vertrag auszudrucken, zu unter- 19 Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole schreiben und dann zur Post zu bringen oder in den Brief- Gohlke, Dr. Petra Sitte, Doris Achelwilm, wei- kasten zu werfen. Dies wird künftig digital möglich sein, terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE 23876 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Krisensichere Unterstützungsangebote zur ihren Sorgen und Nöten alleine. Ich finde, das ist (C) Verbesserung der sozialen Lage der Studieren- unglaublich, das ist Arbeitsverweigerung, und das ist aus- den gesprochen empathielos. Drucksache 19/23931 (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Und wie schon im Frühjahr kommt die Große Koali- ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hagen tion auch jetzt wieder mit Lösungen daher, die einfach Reinhold, Dr. Jens Brandenburg (Rhein- keine sind; zum Beispiel die Bildungskredite, die die Neckar), Frank Sitta, weiterer Abgeordneter und Studierenden einfach nur in die Verschuldung treiben, der Fraktion der FDP oder die sogenannten Überbrückungshilfen, die vorne und hinten nicht zum Leben reichen und die am Ende Gemeinsam leben, gemeinsam lernen – Eine nicht mal diejenigen, die sie wirklich brauchen, errei- Bauoffensive für Studierende und Auszubil- chen. Mehr als ein Drittel der Anträge ist abgelehnt wor- dende unter einem Dach den. Der Grund für die Ablehnungen war nicht etwa, dass die Studierenden nicht bedürftig gewesen wären, sondern Drucksache 19/23927 der Grund lag in über der Hälfte der Ablehnungen darin, Überweisungsvorschlag: dass die Notlage der Studierenden schon vor der Pande- Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung mie bestanden hat. So lautete die Begründung. Das heißt im Klartext also: Wenn man schon länger und schon vor Für die Aussprache sind 30 Minuten beschlossen. der Pandemie existenzielle Nöte hatte, dann kann das Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der ruhig so bleiben. – Ja, wie zynisch ist das denn, Kollegin- Kollegin Nicole Gohlke, Fraktion Die Linke. nen und Kollegen? (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (Beifall bei der LINKEN) NIS 90/DIE GRÜNEN) Ich finde, das ist keine Hilfe mehr, sondern das ist, ehrlich Nicole Gohlke (DIE LINKE): gesagt, unterlassene Hilfeleistung. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss als Erstes sagen: Ich bin ein bisschen irritiert, dass (Beifall bei der LINKEN) die Ministerin genau jetzt geht. Ich finde, das Thema Und dann kommt noch dazu, dass Sie das BAföG in könnte sie interessieren. Ich finde, ehrlich gesagt, das den letzten Jahren so richtig heruntergewirtschaftet (B) ist eine unmögliche Geste. – Das musste ich jetzt einfach haben. Gerade mal 11 Prozent der Studierenden bekom- (D) loswerden. men noch BAföG, obwohl ja die Große Koalition groß getönt hat, jetzt die Mittelschicht mal so richtig erreichen (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- und entlasten zu wollen. Das ist doch wirklich nur noch NIS 90/DIE GRÜNEN – Kai Gehring [BÜND- ein schlechter Scherz. Man muss ganz klar sagen: Wegen NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das passt ins Bild!) Ihrer Politik haben wir es auch an den Hochschulen mit Ich fange noch einmal an. Herr Präsident! Liebe Kol- einer massiven sozialen Spaltung zu tun. Ein Teil der leginnen und Kollegen! Der zweite Lockdown, seit Studierenden lebt schon seit Jahren in sogenannter struk- Beginn dieser Woche, fällt wie schon der Lockdown im tureller Armut. 28 Prozent der Studierenden leben von Frühjahr fast genau auf den Semesterstart an den Hoch- weniger als 700 Euro im Monat, 14 Prozent von weniger schulen. Das Wintersemester hat gerade vor drei Tagen als 600 Euro. Ich finde, das sind alarmierende Zahlen, begonnen. insbesondere weil die Mieten beständig weiter steigen. Und nichts, wirklich nichts hat diese Bundesregierung Das heißt, für die Studierenden wird das wieder ein dagegen gemacht. Ich finde, das ist ein Versagen sonder- Digitalsemester: vor dem PC zu Hause anstatt mit Vor- gleichen. lesungen im Hörsaal. Viele werden wieder ihre Neben- jobs in Cafés oder bei Veranstaltungen verlieren und (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- geraten damit, wie schon im Frühjahr, wieder in finanz- NIS 90/DIE GRÜNEN) ielle Schwierigkeiten. Das sind teilweise recht düstere Eine anständige Bildungspolitik wäre, dafür zu sorgen, Aussichten. Aber überraschend kommt das alles nicht; dass die soziale Herkunft nicht immer weiter vererbt denn dass uns eine zweite Pandemiewelle ziemlich genau wird. zu Beginn des Winters erwischen könnte, das war ja wirklich seit dem Frühjahr klar. (Dr. Götz Frömming [AfD]: Das stimmt doch gar nicht!) Trotzdem stehen wir jetzt, im November, quasi vor Darum muss es doch heutzutage gehen. Wir müssen die derselben Situation wie im Frühjahr. Wie im März wissen Hochschulen für diejenigen öffnen, die bisher keinen wieder viele Studierende nicht, wie sie die Miete oder den oder nur schweren Zugang dazu haben, und dafür sorgen, Internetanschluss bezahlen sollen, sparen vielleicht am dass eine Pandemie nicht dazu führt, dass genau diejeni- Essen und haben am Ende sogar Angst, ihr Studium viel- gen die Hochschulen wieder verlassen müssen. Das wäre leicht abbrechen zu müssen. Und wie im März lassen eigentlich Ihre Aufgabe! diese Ministerin, die jetzt leider gerade den Platz verlas- sen hat, und diese Regierung die jungen Menschen mit (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23877

Nicole Gohlke (A) Die Linke beantragt heute eine krisensichere soziale Wir, liebe Frau Gohlke, lassen niemanden allein, um das (C) Unterstützung für Studierende. Es braucht öffentlich hier mal deutlich zu sagen. finanzierte Wohnheimplätze, damit die Studierenden (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das spüren die nicht in einen Verdrängungswettbewerb mit anderen Studierenden!) geraten, die auch über nur wenig Einkommen verfügen. Mit der aktuellen, 1,3 Milliarden Euro schweren (Stephan Brandner [AfD]: Beispiele?) BAföG-Reform haben wir die Unterstützungsangebote Und machen Sie sich endlich daran, das BAföG zu für Studierende deutlich verbessert. Die Maßnahmen reformieren. Es muss die echten Kosten für Miete, für hierzu werden in drei Etappen umgesetzt. Wir befinden Krankenversicherung und für Essen decken und nicht uns gerade erst am Anfang der zweiten Etappe. Wir haben die vom Ministerium imaginierten Kosten, die nichts beschlossen, die Einkommensfreibeträge in den Jahren mit der Realität zu tun haben. 2020 und 2021 um insgesamt weitere 9 Prozent zu erhö- hen. Wir werden auch die Freibeträge für anzurechnendes (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Vermögen deutlich anheben. Wir haben den Onlineant- NIS 90/DIE GRÜNEN) ragsassistenten „BAföG Digital“ in der letzten Woche auf Und die Freibeträge vom Einkommen der Eltern müssen den Weg gebracht, der erhebliche Erleichterungen bei der so spürbar angehoben werden, dass die Mittelschicht tat- Antragstellung mit sich bringt. sächlich mal erreicht wird. Es droht sonst eine verlorene (Dr. [DIE LINKE]: Kriegst Generation von Studierenden zu entstehen, die Sie zu du zwar immer noch kein Geld, aber sei es verantworten haben. drum!) Vielen Dank. Das sind richtige und wichtige Maßnahmen, um die Zahl (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- der Geförderten zu erhöhen, meine Damen und Herren. NIS 90/DIE GRÜNEN) Aber sie brauchen auch Zeit, um Wirkung zu zeigen. Jetzt, noch vor Ende der Legislatur und obwohl die Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: BAföG-Reform gerade erst im letzten Sommer in Kraft Der Kollege Dr. Stefan Kaufmann ist der nächste Red- getreten ist, eine neue, umfassende BAföG-Reform zu ner für die CDU/CSU-Fraktion. fordern, wie Sie das tun, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, ist schlicht und einfach nicht zielfüh- (Beifall bei der CDU/CSU) rend. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wir (B) Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): warten aber schon viele Jahre!) (D) Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Lassen Sie uns doch bitte erst einmal die Wirkungen der Kollegen! Meine Damen und Herren! Beste Bildungs- aktuellen BAföG-Novelle abwarten und dann entschei- chancen für alle zu schaffen und dafür zu sorgen, dass den, welche weiteren Änderungen beim BAföG vorzu- jeder junge Mensch in diesem Land studieren kann, unab- nehmen sind. hängig vom Einkommen der Eltern, ist ein zentrales Ver- sprechen unserer sozialen Marktwirtschaft. Und dieses (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Auf was wollen Versprechen werden wir als Union und werden wir als Sie warten?) Regierungskoalition auch zukünftig halten. Denn entscheidend, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist (Beifall bei der CDU/CSU – Nicole Gohlke doch, dass wir den Studierenden zielgerichtete Lösungen [DIE LINKE]: Dann mal los! Viel Zeit haben für ihre Finanzierungsprobleme anbieten, statt einfach Sie nicht mehr!) nur, wie Sie es fordern, Fördersätze nach Bauchgefühl zu erhöhen. Das maßgebliche Instrument hierfür ist das BAföG. Es war die Union, meine Damen und Herren, die stets Trei- (Beifall bei der CDU/CSU) ber der Weiterentwicklung des BAföG war Meine Damen und Herren, Deutschland hatte im Übri- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gen vor dem Ausbruch der Coronapandemie eine sehr Seit 16 Jahren!) gute wirtschaftliche Ausgangslage. Sie wissen ganz genau, dass das der Hauptgrund dafür ist, dass die Zahl und in unterschiedlichsten Koalitionen mehrere – zuletzt der Geförderten derzeit nicht steigt oder sogar gesunken auch immer größere – Reformen auf den Weg gebracht ist. Wir erwarten, dass die derzeitige angespannte wirt- hat. Wenn jemand etwas für die Ausbildungsförderung schaftliche Lage eine erhöhte BAföG-Nachfrage mit sich und das BAföG in diesem Land getan hat, meine Damen bringen wird. Diese werden wir aber dank unserer und Herren, dann war es die Union. BAföG-Reform vom letzten Jahr gut meistern, und wir (Lachen bei der LINKEN und dem BÜND- werden den Studierenden hier eine krisensichere Unter- NIS 90/DIE GRÜNEN – Nicole Gohlke [DIE stützung anbieten können. LINKE]: Das glaubt Ihnen keiner im Haus!) Wir haben frühzeitig an mehreren Stellen nachjustiert, Ich finde, es würde Ihnen gut zu Gesicht stehen, wenn Sie als die Coronapandemie begann, damit die BAföG-Leis- das auch endlich einmal anerkennen, liebe Opposition. tungen eben auch während der Pandemie verlässliche und schnelle Unterstützung für Studierende bieten. Wir haben (Beifall bei der CDU/CSU) den BAföG-Vollzug erleichtert. Wir haben BAföG- 23878 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Dr. Stefan Kaufmann (A) Berechtigten und vor allem denen, die wegen veränderter Abschließend möchte ich sagen: Unser Ziel als Koali- (C) eigener oder elterlicher Einkommensverhältnisse kurz- tion und als Union ist es – darin sollten wir uns jedenfalls fristig BAföG beantragen müssen, möglichst schnell in diesem Hause einig sein –, künftig immer mehr jungen finanzielle Unterstützung gewährt. Und wir haben dafür Menschen zu ermöglichen, ein Studium aufzunehmen gesorgt, dass BAföG-Leistungen während der Corona- oder eine Ausbildung zu beginnen und dabei die Zahl krise ungekürzt weiter ausgezahlt werden, wenn sich der BAföG-Empfänger zu steigern. Lassen Sie uns daran der BAföG-Empfänger in dieser Zeit für die Gesellschaft gemeinsam sachlich arbeiten – aber bitte ohne Aktionis- engagiert hat. Und all das in einem Rekordtempo! Das mus und ohne Vorwahlkampfgetöse. sollten Sie wirklich auch mal anerkennen, liebe Opposi- Danke sehr. tion. (Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring (Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die erste Wel- über die aktuelle Krise! Wenn Sie schon im le war fast rum! Das ist ein Witz! Das ist doch Wahlkampf sind, selbst schuld!) nicht schnell!)

Uns ist es ein besonderes Anliegen gewesen, auch den- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: jenigen zu helfen, die keinen BAföG-Anspruch haben, Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Götz Frömming die zur Finanzierung eines Studiums jobben müssen von der AfD-Fraktion. und ihren Job in der Krise verloren haben. Für diese Studierenden in einer nachweislich akuten Notlage haben (Beifall bei der AfD) wir als Regierungskoalition sehr rasch ein umfangreiches Unterstützungshilfepaket auf den Weg gebracht. Dr. Götz Frömming (AfD): (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Sehr rasch? Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Nach dreieinhalb Monaten! Das ist ein Witz!) Herren! Liebe Kollegin Gohlke, Sie haben beklagt, dass die Ministerin vor der Debatte den Plenarsaal verlassen – Liebe Frau Kollegin Gohlke, Sie wissen genau: hat. Ich muss sagen, ich kann sie ein Stück weit verste- 135 000 Anträge wurden seit Juni bewilligt. 60 Millionen hen; denn in Ihrem Antrag steht nun wirklich nichts Neu- Euro sind hierfür in Rekordzeit geflossen. es. Es ist die gleiche Platte, die Sie hier schon mehrfach (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: 600 000, die aufgelegt haben. ihren Job verloren haben! Das ist doch (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Umso schlim- Quatsch!) mer, dass wir sie immer wieder auflegen müs- (B) Das können Sie nicht einfach wegdiskutieren. sen!) (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie predigen erneut Umverteilung, Gleichmacherei und Ich bin Ministerin dankbar dafür, stellen eine sozialistische Vollkasko-Mentalität in den Raum, die wir als AfD nicht mittragen. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist sie eigentlich? Ist doch zentrales The- (Beifall bei der AfD – Zuruf der Abg. ma! – Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Ja, wo ist Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]) denn eigentlich die Ministerin?) Meine Damen und Herren, nicht nur das: Ihr Antrag ist dass sie aufgrund des neuerlichen Lockdowns entschie- auch in sich widersprüchlich. Sie beklagen sich, den Stu- den hat, die Überbrückungshilfe für Studierende in pan- denten würde es so schlecht gehen, sie hätten kaum was demiebedingter Notlage für den Monat November wieder zu essen, sie wüssten nicht, wo sie wohnen sollen – kurz- einzuführen. Die Gespräche zwischen dem Haus, dem um: Sie wären in einer „prekären Lage“, heißt es in Ihrem DSW und auch den Studentenwerken vor Ort laufen be- Antrag. reits auf Hochtouren. Ich bin zuversichtlich, dass wir hier (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Lesen Sie sehr schnell zu einer Einigung kommen und dass Studie- eigentlich manchmal? Da stehen sogar Zahlen rende auch in dieser aktuellen Lockdown-Situation bald drin!) ihre Anträge stellen können. Wie passt das denn damit zusammen, dass wir derzeit (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: eine Rekordzahl an Studenten haben – 3 Millionen junge Seit Montag haben wir Lockdown!) Menschen studieren –, und es werden immer mehr. Der- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Sie sehen, haben zeit sind es 500 000 Erstsemester, bis 2030 ist ein Anstieg wir als Regierungskoalition umfangreiche Maßnahmen um 100 000 auf 600 000 Erstsemester prognostiziert; die auf den Weg gebracht, um die soziale Lage der Studie- Zahl nennen Sie selbst in Ihrem Antrag. Ja, wie kann es renden in Deutschland zu verbessern. Wir stehen weiter- denn sein, wenn es so schlimm ist, zu studieren und an der hin an der Seite der Studierenden, um sie auch in diesen Uni zu sein, dass immer mehr Menschen dort hinstreben? Krisenzeiten zu unterstützen. Dazu – das möchte ich heu- Ganz so schlimm kann es dann ja nicht sein. te betonen – könnte auch beitragen, die Antragsverfahren Was fordert nun die Linke konkret? Sie wollen mehr für Tatbestände, die eine BAföG-Förderung über die Wohnheimplätze schaffen. So weit, so gut. Sie berück- Regelstudienzeit hinaus ermöglichen, über Pauschalisie- sichtigen aber nicht, dass in den letzten zwölf Jahren die rungen zu vereinfachen. Vielleicht können wir darüber Kapazität der Wohnheimplätze ausgebaut worden ist, und nachdenken. zwar um immerhin 16 000 Plätze; derzeit haben wir Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23879

Dr. Götz Frömming (A) 240 000 Wohnheimplätze bundesweit. Interessanterweise Ich danke Ihnen. (C) sind alle neuen Wohnheimplätze nicht im Osten unseres (Beifall bei der AfD) Landes entstanden, also in den Ländern, wo die Linke Regierungsverantwortung hatte oder hat, sondern im Westen unseres Landes. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Ich erteile das Wort dem Kollegen Oliver Kaczmarek, (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Mein SPD-Fraktion. Gott!) (Beifall bei der SPD) Wenn wir uns das genau angucken, stellen wir fest, dass es noch interessanter wird. In Berlin regieren Sie ja mit. Dort liegt die Unterbringungsquote bei bescheide- Oliver Kaczmarek (SPD): nen 5,8 Prozent. Ähnlich auch in Bremen: 6,6 Prozent; Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war gut, Linke an der Regierung. In Sachsen, meine Damen und dass wir in den letzten Tagen über Gastronomen, Schau- Herren, haben wir 15,4 Prozent Unterbringungsquote, in steller, Kulturschaffende, Veranstalter gesprochen haben. Baden-Württemberg immerhin 13 Prozent. Was haben Das alles sind Branchen, die in der Krise berechtigte diese beiden Länder gemeinsam? Richtig: Sie sind dort Interessen an uns formulieren und Unterstützungsbedarf nicht an der Regierung. Ist ja interessant. artikulieren, was auch richtig ist. Des Weiteren fordern Sie mal wieder das BAföG für Jetzt ist es aber auch richtig, darüber zu sprechen, wie alle, sozusagen ein Grundeinkommen für Studenten. die berechtigten Interessen der jungen Generation in der Elternunabhängig soll es natürlich sein; Krise berücksichtigt werden. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: So ein (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Schmarrn! Sie haben es wirklich nicht verstan- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE den!) GRÜNEN) da hat sich die FDP inzwischen ja auch angehängt. Es geht darum, wie diejenigen berücksichtigt werden, die in der Schule sind, die sich in der betrieblichen Ausbil- (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: An dung befinden oder die eben ein Studium absolvieren; welcher Stelle steht das denn?) denn die Herausforderung, vor der wir stehen, ist: Die Wo ist das denn bitte schön sozial gerecht? Elternunab- Pandemie darf für die junge Generation nicht zum Chan- hängiges BAföG heißt nichts anderes, als dass auch die cenrisiko werden. Wir müssen in den nächsten Tagen und Tochter, der Sohn des wohlhabenden Zahnarztes oder des Wochen alles dafür tun, damit es keine Coronageneration (B) wohlhabenden Linken-Abgeordneten BAföG beantragen gibt. (D) kann. Meine Damen und Herren, das ist nicht sozial (Beifall bei der SPD) gerecht, das ist sozial höchst ungerecht. Es ist gut, dass wir feststellen können: Der größte Teil (Beifall bei der AfD – Dr. Jens Brandenburg der Studierenden kommt durch die Krise. Die meisten [Rhein-Neckar] [FDP]: Eigenständige erwach- werden von ihren Eltern unterstützt, sie verbrauchen ihr sene Personen!) Vermögen, sie leihen sich Geld bei Freunden. Das alles Natürlich kommt hinzu, dass Sie die Altersgrenze sind aber Ressourcen, die endlich sind. Über zwei Drittel abschaffen wollen, sozusagen Studieren bis zur Rente. aller Studierenden haben einen Nebenjob, und wir müs- Und natürlich sollen auch sämtliche Ausländer BAföG sen feststellen, dass gerade in den Branchen, in denen sie beziehen können. Sogar für Geduldete, also Menschen, tätig sind, im November keine Möglichkeit besteht, Ein- die unser Land eigentlich verlassen müssen, bei denen die künfte zu erzielen. Was es jetzt braucht, sind Hilfen für Abschiebung nur ausgesetzt ist, fordern Sie das BAföG. Notlagen, um das Studium beenden zu können. Wer dabei Sie verkennen aber, dass das im BAföG längst geregelt allein auf individuelle Verschuldung als Nothilfe setzt – ist: § 8 Absatz 2a. Das kann man natürlich kritisieren; das war ja der Ursprungsvorschlag der Ministerin, und aber da steht das längst drin. Lesen Sie es bitte nach. die FDP ist ja auch auf diesem Weg –, der riskiert, dass Sie sehen auch an dieser Stelle: Ihr Antrag ist handwerk- genau die besonders hart getroffen werden, die ohnehin lich höchst schlecht gemacht. am wenigsten haben. Das ist weder besonders mitfühlend noch besonders schlau; denn die Folgen wären Ausbil- Fazit, meine Damen und Herren: Studium ist kein dungsabbrüche und Fachkräftemangel, und genau dage- Beruf. Schulen und Universitäten sind keine Fabriken, gen müssen wir präventiv vorgehen. aber auch kein Sozialamt. Sie sind Ausbildungsstätten, und das ist auch gut so. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Ganz kurz zum Abschluss noch etwas dazu, was wir GRÜNEN) eigentlich in den Mittelpunkt stellen müssten: Wir müs- Zur Erinnerung: Die SPD war und ist für Nothilfen im sen den Leistungsgedanken ausbauen. Wir brauchen mehr Leistungsstipendien. Wir sollten auch das duale BAföG; sie ist nicht für eine Verteilung mit der Gieß- kanne an Betroffene und auch nicht für ein bedingungs- Studium ausbauen; das ist eine sinnvolle Einrichtung. loses Grundeinkommen. Das BAföG ist der richtige Ort Und wir sollten endlich die Inflation der Hochschulzu- gangsberechtigung beenden. Das Abitur, meine Damen für diese Hilfen für diejenigen, die Unterstützung brau- chen, um ihre Ausbildung zu Ende führen zu können. und Herren, muss wieder zu einem echten Leistungsnach- weis werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 23880 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Oliver Kaczmarek (A) Deshalb hat es für diese Forderung ja auch große Unter- helfen, damit sie ihre Ausbildung erfolgreich beenden (C) stützung gegeben, vom Deutschen Studentenwerk bis hin können; denn wir brauchen sie als Fachkräfte, wenn wir zur Hochschulrektorenkonferenz. Diese Lösung bleibt gut aus dieser Krise rauskommen wollen. richtig. Wir, die SPD, sind für eine Lösung im BAföG. Die SPD fordert daher nach wie vor einen dauerhaften Es gibt aber eben Situationen, in denen man als poli- Notfallmechanismus im BAföG. Wie gesagt: Es geht tisch Verantwortlicher entscheiden muss: Kapituliert man nicht um eine Verteilung mit der Gießkanne, sondern vor ideologischen Festlegungen – einer Ministerin bei- um gezielte Hilfen für diejenigen, die in einer Notlage spielsweise –, sind und ihre Ausbildung an der Universität ansonsten (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: nicht beenden können. Auch dafür haben wir prominente Na, wer ist hier im Wahlkampf? Ist ja span- Unterstützer, beispielsweise das Deutsche Studenten- nend!) werk. oder versucht man, unter den gegebenen politischen Ver- Und wieder muss man sich entscheiden, wenn man hältnissen das Beste für die Betroffenen herauszuholen? politisch in Verantwortung ist: Ist jetzt der richtige Zeit- Wir haben uns fürs Helfen entschieden. Deshalb bin ich punkt, vor ideologischen Vorbehalten zu kapitulieren? Ist auch sehr selbstbewusst und sage: Ohne die SPD, ohne es der Zeitpunkt, wegzurennen, wie andere das machen? Olaf Scholz – wir wissen ja, wie die Gespräche gelaufen Oder will man vielleicht doch noch was für die Betroffe- sind – hätte es diese Überbrückungshilfe nicht gegeben, nen bewegen? Die SPD hat sich immer für Verantwor- hätte es keine Alternative zum KfW-Studienkredit gege- tung entschieden. Sie hat sich immer dafür entschieden, ben. Jetzt gibt es eine Hilfe als Vollzuschuss mit Zugang unter den gegebenen politischen Umständen so viel wie für viele, die sonst gar keine Hilfe bekommen hätten. Es möglich für die Betroffenen – gerade für die, die sozial war gut, dass wir das noch riskiert haben. schwach sind – rauszuholen. Meine Bitte an die Ministe- rin, auch wenn sie jetzt nicht hier ist – Herr Rachel, Sie (Beifall bei der SPD) können es vielleicht an sie weitergeben –, ist, das jetzt Ich will an dieser Stelle auch ein Dankeschön an die nicht stur durchzuziehen. Das klappt sowieso nicht; das Studentenwerke sagen, die das zusätzlich zu ihrer Arbeit wissen wir. Wenn wir die Übergangshilfen wieder in abgewickelt haben, die sie ohnehin zu erledigen haben, Gang setzen, brauchen wir eine bessere Lösung, eine und jetzt, da wir im Wintersemester damit starten und die unbürokratischere Lösung, vielleicht auch eine Auswei- ganzen BAföG-Anträge dort eingehen, an ihre Belas- tung der bisherigen Hilfen, und das schnell; denn die tungsgrenze kommen. Es war großartig, dass sich die Betroffenen haben keine Zeit. Sie müssen die richtigen Studentenwerke daran beteiligt haben. Sie haben ihre Lehren aus der Überbrückungshilfe I ziehen. Die SPD ist bereit dazu. Wir müssen jetzt nur schnell sein und dürfen (B) Studenten nicht hängen lassen. Herzlichen Dank dafür! (D) vor allen Dingen keinen Zweifel daran lassen: Wir kämp- (Beifall bei der SPD) fen dafür, dass es keine Coronageneration geben wird. Wer will, der kann aus der ersten Phase der Überbrü- Das werden wir jetzt auch dokumentieren. ckungshilfen auch etwas lernen. Es besteht nämlich über- Herzlichen Dank. haupt kein Zwang, alles genau so zu machen wie beim ersten Mal. Man kann zum Beispiel lernen, dass es viel zu (Beifall bei der SPD) viele Nachweise gebraucht hat, um einen Antrag bewil- ligt zu bekommen. Man kann zum Beispiel lernen, dass Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: der Antrag zu oft gestellt werden musste, nämlich monat- Für die Fraktion der FDP hat das Wort der Kollege lich, was viel Arbeit bei den Studentenwerken verursacht Dr. Jens Brandenburg. hat. Wer ein Betätigungsfeld für Bürokratieabbau sucht, der findet hier eines. Wir können die Überbrückungshil- (Beifall bei der FDP) fen bürokratieärmer gestalten und damit auch einfacher zugänglich machen. Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar) (FDP): Vor allem aber müssen wir erkennen – das ist hier Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau schon genannt worden –: Fast die Hälfte aller abgelehn- Ministerin, ich vermute, Sie sind gerade am Bildschirm, ten Anträge ist abgelehnt worden, obwohl eine Notlage um diesen Koalitionskrach nicht hier vor Ort erleben zu nachgewiesen werden konnte, müssen; aber hoffentlich hören Sie zumindest zu. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Ja, genau!) Mit dem zweiten Shutdown in der Coronazeit verlieren viele Studierende ihre Nebenjobs, auf die sie dringend die aber nicht pandemiebedingt eingesetzt hat. Mit ande- angewiesen sind, um ihr Studium zu finanzieren. Immer- ren Worten: Die Lehre aus der Überbrückungshilfe ist, hin die Wiederauflage der Überbrückungshilfe hat Frau dass es viel zu viele Studierende in Not gibt, und zwar Karliczek ja angekündigt. Im Frühjahr hat sie mehrere unabhängig von der Pandemie. Monate vertrödelt, bis ihre Viel-zu-spät-Hilfe irgend- (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie wann geflossen ist. Jetzt ist sie wieder in Gesprächen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE mit offenem Ausgang. Es rächt sich, dass sie bis heute GRÜNEN) keine krisenfeste Studienfinanzierung geschaffen hat. Das ist eine Erkenntnis, die wir nicht einfach schulter- Frau Karliczek, Sie verweisen ja so gerne auf die Bil- zuckend zur Kenntnis nehmen dürfen. Wir dürfen diese dungshoheit der Länder. Die Studienfinanzierung ist ganz Studierenden jetzt nicht hängen lassen. Wir müssen ihnen allein Ihre Aufgabe. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23881

Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar) (A) (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Genau!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr braucht das (C) Es war absehbar, dass wir jetzt, im November, wieder in BAföG zur Kürzung!) genau dieser Lage sein würden. Die Zeit drängt. Lieber – Sorry, aber ich höre hier nur Gebabbel. Wir können uns Kollege Stefan Kaufmann, Abwarten ist in der Krise gerne gleich genauer austauschen, aber akustisch kommt gerade keine Lösung. hier gerade nicht mehr an. – Es ist höchste Zeit, das end- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten lich zu beschließen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Beifall bei der FDP) Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE]) Ein letzter Punkt zu unserem Antrag heute. Bezahlbare Die Nothilfe ist ausgelaufen, die Zinsen für den KfW- Ausbildung setzt auch bezahlbaren Wohnraum voraus. Studienkredit werden schon im April wieder auf über Mehr Wohnungen und niedrige Mieten wird es erst 4 Prozent ansteigen, und schon heute stehen wieder etli- geben, wenn Bauen wieder attraktiver wird. che Studierende im Regen. Warum öffnen Sie, liebe (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Öffentlich! Unionsfraktion und auch lieber Koalitionspartner SPD, Nicht profitorientiert!) denn nicht zumindest das BAföG-Volldarlehen für alle Studierende, die in der Krise ihre Nebenjobs verloren Dabei sollten wir auch Auszubildende aus der berufli- haben? Das könnten wir schnell beschließen, die Gelder chen Bildung nicht vergessen. Die Voraussetzungen für wären kurzfristig bereit, und die Rückzahlung ist zinsfrei gemeinsame Wohnheime für Studierende und Auszubil- und erst nach dem Studium fällig. Warum stellen Sie auch dende wollen wir Freien Demokraten schaffen. den Studierendenwerken vor Ort nicht endlich eine unbü- (Beifall bei der FDP) rokratische Nothilfe zur Verfügung? Warum versperren Sie sich bis heute einer strukturellen Reform des BAföG Dann kommen Theorie und Praxis in der Etagenküche zu einer elternunabhängigen Förderung? Der Zugang zusammen. Ich werbe heute um Unterstützung unseres zum Studium darf nicht länger vom Geldbeutel der Eltern Antrags. abhängen. Es ist Ihre Verantwortung, das zu gewährleis- Herzlichen Dank. ten. Also handeln Sie endlich! (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP – Kai Gehring [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie steht die FDP Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: denn zu Studienkrediten? Die findet sie immer so toll! Wieso mag die FDP Studienkredite so Der nächste Redner ist der Kollege Kai Gehring, sehr?) Bündnis 90/Die Grünen. (B) (D) Diese Krise hat nur offenbart, was vorher eigentlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) längst allen klar war: Trotz finanzieller Nöte fallen beim BAföG weiterhin wahnsinnig viele Studierende Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): durch das Raster. Die größten finanziellen Sorgen haben Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stu- ja gerade die, deren Eltern für das BAföG zu viel, aber für dierende sind vom Lockdown besonders betroffen. Sie die volle Studienfinanzierung zu wenig verdienen, und es leben häufiger allein, durch Onlinesemester haben sie sind ausgerechnet die Nicht-BAföG-Empfänger und weniger Austausch, studentische Nebenjobs brechen wie- -Empfängerinnen, die am meisten auf umfangreiche der reihenweise weg. Darum müssen wir uns als Parla- Nebenjobs angewiesen sind. Deshalb auch liebe Grüne, ment doch kümmern. Wir können uns keine perspektiv- liebe Linke: Erste Priorität sollte gerade nicht ein bedin- lose Generation Corona erlauben. gungsloses Grundeinkommen für bisherige BAföG-Voll- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN empfänger haben, sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Wollen wir ja Dass die Hochschulen mit ihren 3 Millionen Studie- auch nicht! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ renden und über 400 000 Beschäftigten bei den Wellen- DIE GRÜNEN]: Wollen wir doch gar nicht! – brecherbeschlüssen mit keiner Silbe auftauchen, ist für Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Kein Mensch mich unerträglich ignorant. Einmal mehr hat Ministerin fordert das!) Karliczek geschlafen. Wenn die Ministerin einmal so flott sondern eine elternunabhängige, faire Unterstützung und handeln würde, wie sie vorhin den Plenarsaal verlassen Chance für alle. hat, dann wäre so viel für Bildungsaufstiege im Land (Beifall bei der FDP) erreicht. Der Zugang zum Studium darf nicht länger von der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unterstützungskraft und auch nicht von der Unterstüt- sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- zungsbereitschaft der Eltern abhängen. Ein gegenfinan- KEN) ziertes Konzept für eine strukturelle Reform haben wir Die Überbrückungshilfe für Studierende hat die Minis- Freie Demokraten schon vor Monaten vorgelegt; das kön- terin kurz vor Semesterbeginn, mitten in der Pandemie nen Sie auch gerne mal lesen. ersatzlos auslaufen lassen, Ja wie geizig und wie instinkt- (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Gegenfinanzie- los ist das eigentlich? rung heißt Umverteilung! Das ist nur Ihr ideo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN logisches Denken! – Kai Gehring [BÜND- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) 23882 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Kai Gehring (A) Dieses Provisorium Überbrückungshilfe und ihre Stu- Niemand weiß zurzeit, wie viele im Onlinesemester (C) dienkredite mit Schuldenberg, von denen eigentlich nur aus finanziellen oder psychosozialen Gründen ihr Stu- die FDP ein Fan ist, müssen durch eine wirksame Unter- dium abbrechen werden oder schon aufgegeben haben. stützung für alle Studierenden in finanzieller Not ersetzt Wir müssen Studierenden jetzt Halt und Sicherheit werden. geben; denn sie sind die Fachkräfte von morgen. Deshalb ist ein Neustart beim BAföG so überfällig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frau Karliczek scheint aber jede Empathie zu fehlen, um sich in die Situation von Studierenden hineinzuver- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: setzen. Den Eindruck teilen die demokratischen Opposi- Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist tionsfraktionen im Bundestag und sogar ihr Koalitions- der Kollege Karsten Möring, CDU/CSU-Fraktion. partner SPD, bei dem man schon dachte: Was für eine (Beifall bei der CDU/CSU) tolle Oppositionsrede! – Ja, machen Sie doch endlich! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, legen Sie los! Wieso öffnen Sie für Studis in Coronanöten nicht Karsten Möring (CDU/CSU): zeitweise das BAföG? Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gehring, ich habe manchmal den Eindruck, dass Sie nur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dann zufrieden sind, wenn wir regelmäßig eine Quote sowie der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE]) von, sagen wir mal, 50 Prozent BAföG-Empfängern Wachen Sie endlich auf! Sorgen Sie dafür, dass aus der haben. Coronakrise keine Bildungskrise wird! (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Wie wäre es Die Pandemie macht die Defizite der Studienfinanzie- mal mit denen, die es brauchen? Das wäre ein rung doch brutal sichtbar. Die Regierung muss endlich Anfang!) aufhören, das kleinzureden. 16 Jahre CDU, zig Novellen, Sie ignorieren dabei, warum diese Quote sinkt. Sie sinkt, und das BAföG hat in den letzten Jahren weiter massiv an weil die Eltern im Laufe der Jahre immer höhere Ein- Bedeutung verloren. 89 Prozent der Studierenden kriegen künfte haben und leistungsfähiger sind. keins mehr. Das ist doch bildungs- und sozialpolitisch (Beifall bei der CDU/CSU) fatal. Das ist der eigentliche Grund, und es ist ein guter Grund (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dafür, dass die Quote sinkt. sowie der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE] – (B) Zuruf von der CDU/CSU: So ein Quatsch!) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (D) Wissen Sie, wie die Mieten in Hochschulstäd- Nach den letzten Zahlen des Statistischen Bundesamtes ten gestiegen sind?) bekommen nur noch 11 Prozent der Studierenden BAföG. Ja, da müssen Sie doch mal handeln und zumin- Herr Dr. Brandenburg, ich bin Ihnen außerordentlich dest die Statistiken, die es gibt, wahrnehmen. dankbar, dass Sie am Ende Ihrer Rede tatsächlich noch zwei Sätze auf den Antrag der FDP verwendet haben. Ich ( [CDU/CSU]: Es geht den hatte nämlich schon befürchtet, dass ich bei diesem Eltern besser! Deswegen brauchen es weni- Tagesordnungspunkt als Vertreter des Ausschusses für ger!) Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen fehl Den BAföG-Bericht verzögern Sie bis heute. Der Neu- am Platz bin. Aber immerhin haben Sie mich noch daran start beim BAföG ist wirklich überfällig. erinnert, dass es tatsächlich einen FDP-Antrag gibt. Da- bei ist das Thema Wohnen für Studenten in der Tat wich- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tig und auch nicht unproblematisch. Wir haben schon sowie der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE]) öfter darüber gesprochen, und wir haben auch über Wenn selbst die ärmsten Studis häufig auf die Eltern und Lösungsansätze gesprochen. den Nebenjob zurückgreifen, dann ist da doch wirklich Aber was ist Ihr Lösungsansatz für das Problem, dass was faul. es zu wenige Plätze in Wohnheimen für Studierende gibt? Eine mutige Weiterentwicklung des BAföG wäre eine Sie möchten die Azubis auch noch da reinbringen. Das Grundsicherung für Studierende und Auszubildende, wie hat mich jetzt wirklich überrascht. Und überrascht hat wir sie konzipiert haben. Wir schlagen vor, allen einen mich dann auch die Begründung, dass Sie in der Etagen- Garantiebetrag zu zahlen. Dazu käme ein Bedarfszu- küche die Theorie und die Praxis, die Wissenschaft und schuss, den Studierende bedarfsabhängig erhalten. Mit die Praxis, zusammenbringen und einen Austausch er- beiden Zuschüssen zusammen erhielten Studierende möglichen wollen. Abgesehen davon, dass ich nicht mehr als die heutigen BAföG-Sätze und müssten hinter- weiß, ob die sich dann wirklich immer in der Etagen- her keine Hypothek abstottern. Das wäre Existenzsiche- küche unterhalten würden – vielleicht doch eher abends rung für alle. Denn ob Krise oder nicht: Alle jungen beim Bier, wenn überhaupt –, Menschen sollen sorgenfrei ihr Studium oder ihre Aus- (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: bildung absolvieren können. Das ist ja auch gut!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bleibt das Problem, dass Sie auf diese Weise die eine Not sowie bei Abgeordneten der LINKEN) nicht mit einer anderen vertreiben können. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23883

Karsten Möring (A) Im Übrigen – auch das ist richtig – ist die Situation Fragen Sie mal Ihren Generalsekretär in Rheinland-Pfalz, (C) nicht überall so. was er davon hält, ob er bereit ist, das zu tun, und wie man das abgrenzen könnte. – Lassen wir mal die Details weg. (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: Aktuell gibt es an vielen Orten Leerstände!) Dann zum Thema Baukostensenkung. Soll man denn für Studentenwohnheime oder Auszubildendenwohnhei- Ich las vor zwei, drei Tagen in der Zeitung, dass das me weniger Dämmung vorsehen, Studierendenwerk Mainz beklagte, dass es mehrere Hun- dert Wohnheimplätze nicht vermieten kann – warum, (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: weiß ich nicht. Offensichtlich muss es neben den Heimen Weniger Parkplätze!) eine Wohnraumversorgung geben, die funktioniert. keinen Fahrstuhl im Hochbau, oder was soll man da eigentlich weglassen, um die Baukosten zu senken? Azubis und Studierende gemeinsam unterzubringen, ist vielleicht nicht die ideale Lösung. Vor allen Dingen – ( [FDP]: Den Keller!) Sie sind ja sonst eigentlich immer sehr marktorientiert – – Ich glaube, Studenten brauchen auch Keller. Wenn sie ist es heutzutage ein Problem, Azubis zu bekommen. ein kleines Zimmer haben, brauchen sie Platz zum Bei- Warum? spiel für ihre Koffer. (Dr. Götz Frömming [AfD]: Zu viele Studen- Jetzt zu den Stellplätzen. Nordrhein-Westfalen hat die ten!) Stellplatzregelungen den Kommunen überlassen. In Unter anderem, weil man tatsächlich mit der Unterbrin- Münster gibt es pro fünf Wohneinheiten einen Stellplatz, gung Probleme hat. Aber deswegen gibt es bei den Kran- Köln hat pro vier Einheiten einen. Das ist woanders kenhäusern schon seit Dutzenden von Jahren Schwes- Luxus. ternwohnheime, und darum haben großen Firmen Alles, was Sie sonst zur Digitalisierung und Ähnlich- Wohnheime für ihre Auszubildenden. Und wenn Sie em sagen, ist wunderbar und richtig, hat aber nichts mit mal auf die Seite der IHK Köln gehen und gucken, was dem Thema zu tun. Das Ganze gipfelt dann in der Forde- es dort für Angebote gibt, dann werden sie da Jugend- rung nach einem elternunabhängigen Baukasten-BAföG. wohnheime für Auszubildende von verschiedenen Trä- Baukasten-BAföG! Da habe ich gedacht: Ein solcher gern und einiges mehr finden. Das ist nicht nur in Köln Baukastenantrag, wie Sie ihn hier gestellt haben, mit so; das gibt es auch in anderen Städten einer so schlechten Begründung ist etwas für den Spiel- platz, aber nicht fürs Parlament. Das lehnen wir ab. (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Viel zu selten!) (D) in größerem Umfang. Es gibt diese Angebotssituation, weil die Firmen Auszubildende haben wollen – und mög- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: lichst anschließend auch Fachkräfte. Ich schließe die Aussprache zu TOP 19. Was bieten Sie angesichts Ihrer Problembeschreibung Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf für ein Instrumentarium an? Die Öffnung von Wohnhei- den Drucksachen 19/23931 und 19/23927 an die in der men für Auszubildende habe ich schon genannt. Da sol- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. len dann zwei Gruppen miteinander konkurrieren. Und Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – Das ist nicht dann kommen Sie auf die geniale Idee, Belegungsrechte der Fall. Dann verfahren wir so. anzukaufen. Ich wusste gar nicht, dass Sie für die Bewirt- Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 22 a und schaftung von Wohnraum sind. Die Belegungsrechte, die 22 b: wir haben, sind jene, die die Kommunen kaufen, damit sie Personen unterbringen können, die sie unterbringen a) Zweite und dritte Beratung des von den müssen. Dazu gehören bisher sozial Schwache, aber nicht Fraktionen der CDU/CSU und SPD einge- unbedingt Studenten und Auszubildende. Wen wollen Sie brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ent- denn auf diese Weise noch begünstigen? fristung von Vorschriften zur Terroris- musbekämpfung Es geht noch weiter. Dann haben Sie die tolle Idee, die Drucksache 19/23706 Mittel für den sozialen Wohnungsbau langfristig abzu- schmelzen. Das sind Mittel der Länder, mit denen man Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- auch Wohnheime bauen kann. Sie wollen diese Mittel schusses für Inneres und Heimat (4. Aus- abschmelzen, sagen aber gleichzeitig: Ja, aber bis das schuss) passiert, sollten diese Mittel bitte genommen werden, Drucksache 19/24008 um mehr Wohnheime zu bauen. – Konsistente Politik stelle ich mir anders vor. b) Zweite und dritte Beratung des von den Ab- geordneten Roman Johannes Reusch, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Stephan Brandner, Fabian Jacobi, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der AfD ein- Und dann haben Sie noch Ideen wie diese: Man sollte gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur eine Begünstigung des Wohnheimbaus bei der Grund- Änderung des Strafgesetzbuchs erwerbsteuer vorsehen. – Abgesehen davon, dass auch dies eine Empfehlung an die Länder ist, bitte ich Sie: Drucksache 19/22542 23884 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (Beifall bei der CDU/CSU) (C) schusses für Recht und Verbraucherschutz Vor diesem Hintergrund finde ich, dass auch die Grü- (6. Ausschuss) nen einem Gesetz, das einst von ihnen selbst mitbeschlos- Drucksache 19/23244 sen wurde, Wenn Sie bitte Platz nehmen. – Für die Aussprache zu (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE diesem Tagesordnungspunkt ist eine Dauer von 30 Minu- GRÜNEN]: Ja!) ten beschlossen. gerade unter den aktuellen Sicherheitsbedingungen heute Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt der Kollege durchaus zustimmen könnten. Das betrifft im Übrigen Michael Brand, CDU/CSU-Fraktion. auch die Frage, ob man als derzeit zweitstärkste politi- sche Kraft in unserem Land Regierungsverantwortung (Beifall bei der CDU/CSU) auch in solchen Bereichen mit übernehmen will, die nicht sofort Beifallsstürme bei allen auslösen, die aber geregelt Michael Brand (Fulda) (CDU/CSU): sein müssen. Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen Lieber Herr Strasser, an die FDP gerichtet: Herr und Kollegen! Wir beraten heute einen nicht unwesent- Lindner ist ja jemand, der auch gerne mal die Backen lichen Beitrag zum Schutz unseres Landes vor terroristi- aufbläst und meint, es müsse dort ganz hart regiert wer- schen und anderen schwerwiegenden Gefahren. Dabei den. Das kann man auf der einen Seite natürlich fordern. haben wir als CDU/CSU-Fraktion mit der SPD darum Aber sich bei einer maßvollen Regelung wie der heute in gerungen, wie die immer wieder zu prüfende Grundfrage die Büsche zu schlagen, das ist wirklich ein Armutszeug- von Sicherheit und Freiheit in bester Art und Weise aus- nis. tariert werden kann. Das ist uns mit dem heutigen Gesetz, das bekanntlich von SPD und Grünen im Jahr 2002 auf (Beifall bei der CDU/CSU – Benjamin Strasser den Weg gebracht worden war, gelungen, weil wir uns [FDP]: Sie entfristen verfassungswidrige 20 Jahre später die richtigen, die notwendigen Fragen Regelungen!) gestellt und sie auch richtig beantwortet haben. Als CDU/CSU verstehen wir uns aus gutem Grund als (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Partei von Recht und Ordnung; denn wir wollen, dass die GRÜNEN]: Na dann!) innere Sicherheit und die freiheitliche Grundordnung ver- teidigt werden und das Leben von Menschen effektiv Wir wissen heute – das ist ein Beispiel von mehreren –: geschützt wird. Recht und Ordnung sind ein Zwillings- Ohne dieses Gesetz hätte es vor wenigen Jahren in Köln paar; das ist zentral für uns als Rechtsstaatspartei. Innere (B) wahrscheinlich einen schrecklichen Giftgasanschlag mit Sicherheit und Freiheit gehören untrennbar zusammen. (D) vielen Toten gegeben. Allein mit polizeilichen Mitteln Innere Sicherheit schützt die Freiheit. Deshalb sorgen hätte die Aufklärung nicht funktioniert; das hat das wir für die Ausstattung unserer demokratisch legitimier- BKA in der Anhörung am Montag im Bundestag deutlich ten Institutionen im Bereich der inneren Sicherheit – von gemacht. Erst durch die Möglichkeiten der Überwachung der Bundespolizei über BKA, BND bis zum Verfassungs- und Übermittlung von Daten aus dem Bereich Telekom- schutz – mit allen notwendigen Mitteln, damit sie diese munikation und anderen Bereichen konnten die Täter Aufgabe gut erfüllen. Ich danke allen, die diesen Dienst noch rechtzeitig überführt und konnte ein brutaler tun. Anschlag verhindert werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Man muss nicht erst nach Österreich oder Frankreich schauen, um zu erkennen: Die terroristische Bedrohung Wir tragen dazu bei, dass schwerste Gefahren für die ist eine nach wie vor sehr hohe und eine sehr akute – auch innere Sicherheit in unserem Land frühzeitig identifiziert in unserem Land. Die jetzt festgeschriebene Befristung und mögliche Risiken frühzeitig entschärft werden kön- von Befugnissen im Bundesverfassungsschutzgesetz, im nen. Dabei wird nicht übertrieben, wie die Statistik zeigt, MAD- und im BND-Gesetz soll nun aufgehoben werden, sondern sehr zielgenau und im Übrigen auch sehr restrik- weil es dafür schwerwiegende Gründe gibt. Es handelt tiv und über allem rechtsstaatlich gehandelt. Unsere Poli- sich insbesondere um Auskunftsregelungen für Luftfahrt- zei und unsere Sicherheitsbehörden haben bewiesen, dass unternehmen, Banken, Telekommunikationsanbieter, sie unser Vertrauen in vollem Umfang verdienen. Dies Ausschreibungen im Schengener Informationssystem, möchte ich hier für die CDU/CSU ausdrücklich feststel- Übermittlungsregelungen beim BAMF oder Sicherheits- len. überprüfungen von Personen bei kritischer Infrastruktur. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben als Deutscher Bundestag einer Evaluierung Keine Pauschaldiffamierung, sondern Rückendeckung! durch eines der renommiertesten Institute in unserem Auch die notwendigen Kompetenzen und Arbeitsmittel Land zugestimmt. Wir haben sie danach bewusst als für diejenigen, die jeden Tag den Kopf hinhalten für Drucksache des Parlaments der ganzen Öffentlichkeit unsere Freiheit und Sicherheit! zugänglich gemacht. Wir haben hier im Deutschen Bun- destag mehrfach debattiert: Anhörung am Montag, vier- (Beifall bei der CDU/CSU) mal Evaluation. Mehr Transparenz geht kaum, lieber So, liebe Kolleginnen und Kollegen, darf ich Sie Kollege Herr von Notz. Wer da noch behauptet, Befug- abschließend dazu einladen, dieser Entfristung zuzustim- nisse würden „aus dem Bauch“ oder „mit einem Feder- men und die Grundlage dafür zu schaffen, dass wir auch strich“ entfristet, der spricht wider besseres Wissen. in Zukunft darauf vertrauen, dass unsere Sicherheitsinsti- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23885

Michael Brand (Fulda) (A) tutionen die Gefahrenabwehr und die neuen Herausforde- schwersten Straften aufgerufen wird und Straftaten gefei- (C) rungen und, besonders fordernd, auch die Gleichzeitig- ert werden, gestern von allen Parteien, auch der CDU/ keit von Bedrohung – islamistischer Terror, Rechtsextre- CSU, im Innenausschuss abgelehnt wurde. mismus, Linksextremismus – bewältigen. (Zuruf von der AfD: Pfui!) Vielen Dank. „Der Staat soll destabilisiert werden“, sagt Hans-Georg (Beifall bei der CDU/CSU) Maaßen, der gehen musste, weil die linke Fraktion dieses Hauses seinen Kopf forderte.

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Benjamin Strasser [FDP]: Herr Maaßen hat doch das Prüfverfahren gegen Sie eingeleitet!) Der nächste Redner ist für die AfD-Fraktion der Kolle- ge Dr. Christian Wirth. Es ist der reichlich mit sogenannter Staatsknete bewäs- serte Sumpf einer linksradikalen Gesellschaft, aus dem (Beifall bei der AfD) die hässliche Pflanze des linken Terrorismus empor- wächst. Die Verantwortlichen dafür sitzen auch in diesem Dr. Christian Wirth (AfD): Haus. Herr Präsident! Werte Kollegen! Dem hier vorliegen- (Beifall bei der AfD) den Gesetzentwurf der Koalition stimmen wir zu. Die Zum Problem gehört auch, dass die mediale Empörungs- unglaublichen Bilder vom Montagabend aus der Wiener maschine eben nicht anläuft, wenn Linksterroristen sen- Innenstadt machen einmal mehr deutlich, dass wir ohne gend und brennend durch unsere Städte ziehen. Nachrichtendienste und die technischen Überwachungs- mittel leider nicht mehr auskommen. Aber nicht dass wir Und was diesen Staat tatsächlich gefährdet, das ist der nicht mehr ohne diese Überwachungsmittel auskommen, islamistische Terror, der regelrecht herangezüchtet wor- ist die Frage, sondern warum wir nicht mehr ohne sie den ist. Denn so ernst wie wir diese Bedrohung jetzt auskommen. nehmen müssen: Diese barbarischen Menschen könnten uns nicht gefährlich werden, wenn wir ihnen nicht in Zur Bekämpfung des Terrorismus ist erforderlich, dass jeder erdenklichen Hinsicht den Weg geebnet hätten, man das Problem ehrlich betrachtet. Es macht aber nach- wenn die Bundesregierung sie nicht förmlich zu uns ein- denklich, wenn ein Gesetz, das eindeutig auf die geladen hätte. Die Unterstützung radikaler Islamverbän- Bekämpfung des islamistischen Terrors ausgerichtet de durch Bundesregierung und Bundesländer hat dazu war, ausweislich der nun vorliegenden Begründung ent- geführt, dass nach den Anschlägen in Nizza, Dresden fristet werden soll, um aktuellen Herausforderungen des und Wien radikale Islamisten diese Anschläge auf unse- (B) internationalen und des Rechtsterrorismus zu begegnen. ren Straßen und in den sozialen Medien feiern konnten. (D) Erstens berührt es eigenartig, wenn statt von „internatio- Wo waren die Demonstrationen gemäßigter Muslime? nalem islamistischen“ beschönigend nur noch vom Richtig, die verstummen schon lange in diesem Land, „internationalen“ Terror die Rede ist. Zweitens ist es in dem längst radikale Muslime den Ton angeben und irreal, den Rechtsterrorismus, den wir alle verurteilen, wirkliche Flüchtlinge ihre Folterknechte und Vergewalti- als eine ernsthafte Gefahr für den Bestand der Bundesre- ger in Auffanglagern und auf den Straßen Deutschlands publik Deutschland hinzustellen. treffen. (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der AfD) NEN]: Da sind wir ganz anderer Meinung!) Es ist menschlich ja sogar verständlich, dass die Union Nein, meine Damen und Herren, die verwerflichen in der Großen Koalition dem linken Meinungs- und Einzeltaten – warten Sie! – der Desperados von Kassel, Medienmonopol nach dem Mund redet. Da wird man Halle und Hanau können unseren Staat nicht gefährden. dann von den Medien plötzlich viel nachsichtiger behan- Dazu fehlt diesen Leuten Gott sei Dank der gesellschaft- delt. Und diese unselige Kollaboration erstreckt sich heu- liche Rückhalt. te in diesem Haus bis zur Linkspartei. Die Union muss sich aus der babylonischen Gefangenschaft der Linken (Beifall bei der AfD) befreien. Auch zahlenmäßig spielt der Rechtsterrorismus nach ( [DIE LINKE]: Der war gut!) Auskunft von Europol eine untergeordnete Rolle. Wäh- Sonst hat unser Staat keine Zukunft oder nur eine sehr rend der Jahresbericht für 2019 26 linksterroristische und düstere. Die Gefahr droht von links und vom Islamismus. 21 dschihadistische Anschläge aufführt, werden 6 rechts- Der Bürger wird das begreifen, hoffentlich nicht erst, terroristische Anschläge gezählt – natürlich zu viel. Wer wenn es zu spät ist. diesen Staat tatsächlich gefährdet, das ist der Linksterro- rismus, das sind die Anschläge der Antifa, das ist deren Vielen Dank. Straßenkampf in Berlin, Hamburg, Leipzig und anders- (Beifall bei der AfD) wo. (Zuruf von der AfD: So ist es!) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Bezeichnend, dass die linken Terroristen „Aktivisten“ Es macht sich bereit der Kollege Uli Grötsch von der genannt werden. Bezeichnend auch, dass der Antrag der SPD-Fraktion. AfD, Indymedia zu verbieten, auf deren Seite zu (Beifall bei der SPD) 23886 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

(A) Uli Grötsch (SPD): können, wenn es für die Aufklärung extremistischer und (C) Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und terroristischer Netzwerke von zentraler Bedeutung ist. Kollegen! Herr Wirth, zu dem in Rede stehenden Punkt Ich glaube, dass es uns allen, egal welcher Couleur wir haben Sie in Ihrer Rede nichts gesagt. Ich habe schon hier angehören, in den letzten Jahren klar geworden ist, überlegt, ob ich etwas dazu sagen soll, dass Sie hier wie wichtig es ist, dass die Sicherheitsbehörden solche Rechtsterrorismus verharmlosen. Befugnisse haben. Wenn man darüber hinaus bedenkt, (Dr. Christian Wirth [AfD]: Erzählen Sie nicht über welche technischen Möglichkeiten wir heute disku- solchen Unsinn!) tieren – Mitlesen von verschlüsselten Messenger-Chats, Stichwort „Quellen-TKÜ“, das heimliche Durchsuchen Ich dachte mir dann aber: In Anbetracht der fortgeschrit- und Überwachen von Computern oder die aktive Abwehr tenen Zeit und der Tatsache, dass Sie es immer wieder von Cyberangriffen –, dann merkt man, dass wir im Ge- versuchen, mache ich es vielleicht beim nächsten Mal. gensatz dazu bei dem vorliegenden Entwurf eines Geset- Ich bleibe beim Thema, um das es hier geht. zes zur Entfristung von Vorschriften zur Terrorismusbe- (Beifall bei der SPD) kämpfung über nicht sehr grundrechtsintensive Eingriffe reden. Wir wollen hier heute beschließen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir wichtige Befugnisse, insbesonde- Bei der einen oder anderen Regelung – das haben wir re Befugnisse für das Bundesamt für Verfassungsschutz, am Montag in der Anhörung auch besprochen – gibt es verstetigen, die wir nach den islamistischen Terroran- womöglich aufgrund von gerichtlichen Urteilen noch schlägen vom 11. September 2001 in den USA eingeführt Anpassungsbedarf. Dazu sage ich: Eine Entfristung der haben, Regelungen also, die sich seit fast 20 Jahren in Vorschriften bedeutet nicht, dass wir die Gesetze nie wie- Deutschland bewährt haben, Regelungen, die für unsere der außer Kraft setzen können. Sollte es in Deutschland Sicherheitsbehörden und die Nachrichtendienste unver- einmal eine Bundesregierung und eine Koalition geben, zichtbar geworden sind, Regelungen, die heutzutage so die tatsächlich der Meinung sind, dass man diese Vor- etwas wie Standards sind, wenn es um die Arbeit im schriften nicht mehr braucht, dann kann man sie jederzeit Bereich der Terrorismusbekämpfung geht. mit Mehrheit abschaffen. Auch das ist bestimmt kein Argument gegen die Entfristung dieser Vorschriften. Wichtig ist: Es geht heute nicht um neue Befugnisse in der Terrorbekämpfung, sondern nur um die Frage: Müs- Allerdings ist es definitiv eine Mammutaufgabe, all die sen wir die Regularien, über die wir heute reden, nach fast Antiterrorgesetze, die wir im Bundestag in den letzten 20 Jahren weiterhin befristen und dann immer wieder Jahren gemacht haben, auf die Probe zu stellen. Realisti- aufs Neue beschließen, oder können wir davon ausgehen, scherweise können wir das in dem fortgeschrittenen Sta- (B) dass wir diese Befugnisse für unsere Sicherheitsbehörden dium, in dem sich unsere Koalition befindet, nicht mehr (D) dauerhaft brauchen? Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Gerade leisten. Ich glaube, wir sind uns einig, dass eine so große nach den jüngsten Terroranschlägen von Dresden, von Aufgabe am Anfang einer neuen Wahlperiode in Angriff Nizza und jetzt in Wien fehlt mir schlichtweg der Glaube, genommen werden muss. dass wir auch nur eine Minute auf diese Regelungen, auf Ich möchte noch sagen, dass es ein großes Kompliment diese Befugnisse verzichten können. an unsere Nachrichtendienste ist, wenn wir feststellen, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) dass die Befugnisse da, wo sie erforderlich und verhält- Der islamistische Terrorismus, aufgrund dessen wir nismäßig waren – das ist das Ergebnis, zu dem wir durch damals diese Vorschriften eingeführt hatten, ist heute die unabhängigen Evaluierungen gekommen sind; sie komplexer und unberechenbarer denn je. Damals galt waren unabhängig, auch wenn man noch zehnmal etwas die ganze Aufmerksamkeit al-Qaida mit Osama Bin anderes behauptet –, immer mit Augenmaß angewendet Laden. Wir haben in Wien wieder schmerzhaft erfahren wurden. Bestimmte Befugnisse unterliegen ja auch der müssen, wie vielfältig – im schlechtesten Wortsinn – Ter- Kontrolle durch das Parlamentarische Kontrollgremium rorismus im Jahr 2020 geworden ist. oder durch die G 10-Kommission. Diese hat bekanntlich auch schon einmal Anträge abgelehnt. Also unterliegt Am Montag bei der öffentlichen Anhörung haben uns auch das einer eingehenden Prüfung. die Sachverständigen bestätigt: Nicht nur alleine wegen, aber auch dank der Befugnisse für die Nachrichtendienste Man kann deshalb sagen: Unsere Sicherheitsbehörden ist es uns in der Vergangenheit gelungen, zahlreiche beweisen einen sehr sensiblen Umgang mit den ihnen Terroranschläge zu verhindern. Wenn es diese Befugnisse eingeräumten Befugnissen. Der Entwurf eines Gesetzes nicht mehr gäbe, hätten wir sie spätestens nach dem ers- zur Entfristung bzw. Verstetigung der vor 20 Jahren in ten Terroranschlag eingeführt. Eine Verstetigung sei Kraft getretenen Befugnisse, über den wir heute in zwei- daher – so haben es uns die Sachverständigen überein- ter und dritter Lesung abschließend beraten, soll zeigen: stimmend gesagt – aus heutiger Sicht folgerichtig. Wir haben auch nach der Entfristung vollstes Vertrauen, dass der sensible Umgang, von dem ich eben gesprochen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hatte, auch in Zukunft fortbestehen wird. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich möchte kurz darauf eingehen, um welche Vor- der CDU/CSU) schriften es sich handelt. Es geht zum Beispiel darum, dass unsere Nachrichtendienste jederzeit Auskünfte Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben heute über Personen bei Luftfahrtunternehmen, Banken, Tele- Nachmittag in der Aktuellen Stunde über die gegenwär- kommunikations- und Telemedienanbietern verlangen tige Bedrohung aus dem islamistischen Bereich in Euro- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23887

Uli Grötsch (A) pa gesprochen. Genauso wenig wie der Rechtsterroris- Wand. Das ist keine kluge Sicherheitspolitik und schon (C) mus lässt uns der islamistische Terrorismus zur Ruhe gar keine Sicherheitspolitik, die auch die Bürgerrechte im kommen. Wir sind mitten in den Haushaltsberatungen, Blick hat. und ich bin froh, dass diese terroristische Herausforde- rung im Haushaltsbereich „innere Sicherheit“ abgebildet (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ ist. Ich zähle jetzt nicht mehr alles auf, was wir gemacht DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulla Jelpke haben. 7,5 Milliarden Euro – das ist 1 Milliarde Euro [DIE LINKE]) mehr für den Bereich „innere Sicherheit“ – soll die ein- Liebe Kolleginnen und Kollegen, reflexartig wird die zige Zahl sein, die ich noch nenne. Union jetzt kommen – neuerdings auch die SPD – und Zum Ende. Hundertprozentige Sicherheit gibt es trotz- sagen, dass all das, was wir entfristen, das ist, was die dem nicht. Dessen müssen wir uns alle immer klar sein. Behörden wollen, und dass die Maßnahmen nicht über- Aber es gibt noch unsere Leute in den Sicherheitsbehör- mäßig genutzt wurden. Das habe die Evaluation deutlich den. Das sind die bestmöglichen Mitarbeiterinnen und gemacht. Wo ist denn die unabhängige Evaluation? Das, Mitarbeiter, die man in Sicherheitsbehörden haben was Sie uns vorgelegt haben, war ein Wunschzettel von kann. Deshalb lassen wir uns auch nicht einschüchtern Nachrichtendiensten, der das Wort „Evaluation“ nicht oder auseinanderdividieren, von welchen Terroristen verdient. auch immer. Das würde den Demokratiefeinden in die (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Hände spielen. Angst müssen in diesem Land vor allem GRÜNEN]: Da hat er recht!) Terroristen und Demokratiefeinde haben, liebe Kollegin- nen und Kollegen. Solange Sie die Evaluation hier nicht vorlegen, werden wir gar nichts entfristen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD) Ich bin der Überzeugung, dass die Befristung der Maß- nahmen auch dazu beigetragen hat, dass man sie nicht Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: exzessiv nutzt. Gerade diese Sicherheitsbremse lockern Der nächste Redner ist einmal mehr der Kollege Sie jetzt, und das ist unverantwortlich. Benjamin Strasser, FDP-Fraktion. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Debatte macht (Beifall bei der FDP) die ganze Misere Ihrer Sicherheitspolitik deutlich: immer neue Maßnahmen und Gesetze obendrauf. Dabei wäre es gerade jetzt an der Zeit, endlich einmal auf das Bundes- (B) Benjamin Strasser (FDP): (D) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und verfassungsgericht zu hören. Das fordert genauso wie wir Kollegen! Wer am Montag die Anhörung zu diesem Ge- Freie Demokraten eine Überwachungsgesamtrechnung. setzentwurf verfolgt hat, der reibt sich etwas verwundert Das heißt, bevor es neue Überwachungsbefugnisse gibt, die Augen, warum die Große Koalition diesen Tagesord- müssen wir eine Bilanz ziehen: Welche Wirksamkeit nungspunkt heute nicht abgesetzt oder die Entscheidung haben die bestehenden Überwachungsbefugnisse? Wie zumindest verschoben hat. Herr Grötsch war offensicht- wirken sie auf die Bürgerrechte von Menschen in diesem lich in einer ganz anderen Anhörung als der Rest dieses Land? Hauses. (Beifall bei der FDP und der LINKEN) (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Ulla Lassen Sie es sich gesagt sein: Wahre Sicherheit in Jelpke [DIE LINKE]) einer freien Gesellschaft schafft nur, wer auch die Rechte Bis auf den Vertreter des BKA, der im Übrigen mit einer der Bürgerinnen und Bürger sichert. Befristung sehr gut weiterarbeiten könnte, hat keiner der Vielen herzlichen Dank. anderen Sachverständigen ein gutes Haar am Vorhaben der Regierungsfraktionen gelassen. Alle anderen Sach- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ verständigen waren sich in zwei Punkten völlig einig: DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulla Jelpke Warum jetzt entfristen? Warum überhaupt entfristen? [DIE LINKE]) (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Ulla Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Jelpke [DIE LINKE] und Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke. Das ist keinem zu erklären, gerade wenn man weiß, dass das Bundesverfassungsgericht einzelne Maßnahmen, die (Beifall bei der LINKEN) Sie jetzt entfristen, für verfassungswidrig erklärt hat. Ulla Jelpke (DIE LINKE): (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regie- GRÜNEN]: Der Mann hat recht!) rungskoalition will Regelungen aus dem Terrorismusbe- Diese Koalition erzählt uns in den letzten Monaten der kämpfungsgesetz entfristen lassen. Konkret geht es etwa Pandemie immer: Wir fahren auf Sicht. – Ich wäre froh, um die Geheimdienstüberwachung von Telekommunika- Sie würden das hier auch beherzigen. Aber mit diesem tion, Bank- und Postverkehr. Wir sehen hier Grundrechte, Gesetzentwurf fahren Sie sehenden Auges voll gegen die wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, 23888 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Ulla Jelpke (A) verletzt. Außerdem wird das als Lehre aus dem Faschis- Danke für die Aufmerksamkeit. (C) mus geltende Gebot der Trennung zwischen Polizei und Geheimdiensten unterlaufen. (Beifall bei der LINKEN) Das Massaker eines Faschisten in Hanau und jetzt die islamistischen Morde in Frankreich, Wien und Dresden Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: haben die Gefahr des Terrorismus erneut verdeutlicht. Der Kollege Dr. Konstantin von Notz spricht erneut für Doch diese Anschläge, werte Kollegen Brand und Gröt- Bündnis 90/Die Grünen. sch, können gerade nicht als Beleg für die Notwendigkeit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – der Antiterrorgesetze herhalten. Tatsächlich gibt es kei- Dr. [CDU/CSU]: Willst du nerlei Nachweis für die Wirksamkeit dieser Gesetze. auch den Verfassungsschutz abschaffen?) Als diese Gesetze nach dem Jahr 2001 verabschiedet wurden, hieß es von Regierungsseite, dass sie nur Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- befristet gelten sollten. Jede Verlängerung war an eine NEN): Evaluationspflicht geknüpft. Doch bis heute hat die Bun- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir desregierung keine umfassende, unabhängige, wissen- sprechen zu fortgeschrittener Stunde und sprachen vor schaftliche Auswertung veranlasst. Bisherige Evaluatio- wenigen Tagen über das Thema. Es gibt nichts zu beschö- nen waren von der Logik der Geheimdienste geprägt und nigen – das haben wir damals festgehalten – bezüglich beinhalteten keine verfassungsrechtliche Bewertung. der sicherheitspolitischen Lage. Damals Paris, Dresden, (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Fachlich Nizza, inzwischen ist Wien dazugekommen. Wir hatten exzellent!) heute hier im Hohen Hause eine Aktuelle Stunde dazu Ich weiß nicht, auf welcher Anhörung der Kollege und haben der Opfer und deren Angehörigen gedacht. Grötsch am Montag war, Wir haben das schnelle und entschlossene Handeln der Polizei gemeinsam begrüßt. Ich kann nur sagen: Das Ziel (Benjamin Strasser [FDP]: Das fragen wir uns der effektiven Terrorismusbekämpfung eint alle demo- auch!) kratischen Fraktionen hier im Haus, meine Damen und ich habe jedenfalls genau wie der Kollege Strasser fest- Herren. gestellt, dass die Sachverständigen und auch Ihr Sach- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verständiger, der Vizepräsident des BKA, keine Nach- und bei der FDP sowie des Abg. Dr. Patrick weise über den Nutzen der Gesetze bringen konnten, Sensburg [CDU/CSU]) die hier vorliegen. Kritisiert wurde stattdessen von den (B) Sachverständigen – von vielen, nicht von allen –, dass die Der Kollege Strasser ist auf das Verfahren eingegan- (D) Überwachungsbefugnisse der Geheimdienste an zu gen. Herr Kollege Brand, 30 Minuten Debatte letzte geringe Bedingungen geknüpft und sogar verfassungs- Woche, 30 Minuten Debatte diese Woche. Wenn ich widrig sind. höre, wie bedeutungsschwanger Sie diese rot-grüne Gesetzgebung finden, dann hätte es mehr Debattenplatz Statt einer Ewigkeitsgarantie für die Grundrechtsein- verlangt. griffe brauchen wir einen Rückbau des Überwachungs- potenzials. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall bei der LINKEN) bei der FDP und der LINKEN) Die unkontrollierbaren Geheimdienste, die selbst mit Das ist schon erstaunlich. Natürlich haben Sie nach der ihren V-Leuten tief im faschistischen und dschihadisti- Anhörung, die gut war – die war gut! – und auf die wir schen Sumpf stecken, sind ungeeignet zur Terrorismus- bestanden haben, keinen Änderungsantrag gestellt, kei- bekämpfung. nerlei Anpassung gemacht, nichts, wie es ein Sachvers- tändiger so schön gesagt hat, aus dem Sack herausge- (Beifall bei der LINKEN) nommen. Gar nichts kam. Bei Ihnen wird immer nur Stattdessen müssen wir viel stärker auf Präventionsarbeit draufgesattelt. Das ist nicht gut. setzen, auf Deradikalisierungsprojekte, auf Opferbera- tungsstellen und auf antifaschistische Rechercheprojekte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP) (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Also lieber erst Opfer schaffen! Ganz toll!) Seit bald 20 Jahren gibt es diese rot-grünen Antiter- rorpakete, die Otto-Kataloge. Sie haben sie nicht einmal Noch eines möchte ich den Regierungsfraktionen mit unabhängig evaluieren lassen. Ich frage Sie: Warum auf den Weg geben. Erst kürzlich hat der Regierungs- eigentlich nicht? berater Guido Steinberg im „Tagesspiegel“ öffentlich erklärt, dass der türkische Präsident Erdogan die Dschi- (Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]: Stimmt hadisten in Europa zu entsprechenden Anschlägen doch nicht!) antreibt. Das wäre beispielsweise ein Punkt, den man Wovor hat das BMI Angst, wenn alles so schnieke ist? Es mit in die Evaluierung einbeziehen müsste. Man muss ist vollkommen unverständlich. sich ernsthaft fragen: Warum bekommen solche Schergen wie Erdogan Waffen, die sie an Dschihadisten weiter- Um mit einer Sache aufzuräumen, weil es mehrfach geben? Das wäre ein wichtiger Punkt in der Terrorismus- gesagt wurde: Niemand, den ich kenne, der hier ernsthaft bekämpfung. in der Debatte unterwegs ist, möchte, dass das ganze Ding Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23889

Dr. Konstantin von Notz (A) vom Tisch kommt, sondern es geht um eine maßvolle Christoph Bernstiel (CDU/CSU): (C) Gesetzgebung, und der verweigern Sie sich. Das ist Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und schlecht. Kollegen! Wir sprechen heute in zweiter und dritter Lesung über die Entfristung von Vorschriften zur Terro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rismusbekämpfung. und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Herr von Notz, Sie haben es selbst gesagt: 2001 ist dieses Gesetz unter der Ägide von Rot-Grün in Kraft Herr Kollege Brand, die Otto-Kataloge – das eint uns, getreten. Seitdem haben wir es dreimal verlängert und glaube ich – haben die Anschläge vom Breitscheidplatz, ganze vier Mal evaluiert. Die Vorschriften haben dazu in Hanau und Halle nicht verhindern können. Ich glaube, beigetragen, dass seit 2016 insgesamt neun Anschläge wir sind einig, dass es bei den Regelungen zur Terroris- verhindert werden konnten. Jeder einzelne dieser An- musbekämpfung rechts wie links tatsächlich Probleme schläge war es schon wert, dieses Gesetz weiter in Kraft gibt, die bis heute nicht behoben sind. Da hätte eine unab- zu halten; das müssen Sie bitte einmal zur Kenntnis neh- hängige wissenschaftliche Evaluierung, was wir haben, men, lieber Herr von Notz. was wir können und wo vielleicht noch Raum ist, geh- olfen. Der haben Sie sich verweigert, (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Was ich nicht verstehen kann oder, viel besser, was und bei der FDP) sich an dieser Debatte zeigt, ist doch diese Zwiespältig- keit, manch einer würde auch sagen: diese Doppelzün- zumal – der Kollege Strasser hat es erklärt – das Fenster gigkeit von FDP und von Grünen – es tut mir leid, dass immer schmaler wird: Je mehr sie draufsatteln, desto ich es so deutlich sagen muss –: Immer wenn ein mehr verbauen sie sich aufgrund der Überwachungsge- Anschlag passiert ist, dann sind Sie die Ersten, die nach samtrechnung, den Spielraum anzupassen. mehr Maßnahmen schreien. (Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]: Es wird Lieber Kollege Strasser nicht draufgesattelt!) (Zuruf des Abg. Benjamin Strasser [FDP]) Das ist eine kurzsichtige Politik, die wir so nicht mit- machen, meine Damen und Herren. – hören Sie mir zu! –, Sie haben sich heute in der „FAZ“ zusammen mit Ihrem Kollegen Kuhle explizit dazu geäu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ßert, dass die Sicherheitsbehörden viel mehr tun könnten, und bei der FDP) um solche Anschläge, wie wir sie kürzlich erlebt haben, (B) zu verhindern. (D) Es gibt viele gute Vorschläge. Ich nenne mal ein schwarz-gelbes Projekt, nämlich die Regierungskommis- (Michael Theurer [FDP]: Sehr guter Beitrag!) sion zur Überprüfung der Sicherheitsgesetzgebung aus dem Jahre 2013: Die Professores Bäcker, Harms, Hirsch Herr von Notz, Sie loben hier in Ihrer vorherigen Rede Ihr und Wolff haben gute Sachen aufgeschrieben. Sie haben eigenes Gesetz, und eine Minute später sagen Sie, dass nichts daraus gemacht, den Bericht mit spitzesten Fingern man das Gesetz nicht einfach verlängern kann etc., etc. in die Schublade gepackt. – So geht es nicht, meine Das passt einfach nicht zusammen. Nehmen Sie das doch Damen und Herren. mal zur Kenntnis. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Konstantin und bei der FDP) von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich sage, es muss evaluiert werden!) Zum Schluss haben Sie auch noch ein gutes Instrument für Koalitionsverhandlungen und Koalitionen diskredi- Im Übrigen ist in diesem Gesetz nichts neu. Es ist seit tiert. Wer soll denn jetzt bitte noch einmal evaluationsbe- 2001 genau dasselbe Gesetz. Was wir jetzt machen, ist: fangen und befristet etwas miteinander vereinbaren, Wir entfristen es einfach, wir entschlanken das Verfahren wenn es mal schwierig wird? Also, auch unter dem etwas. Es kommt überhaupt nichts Neues dazu. Im Übri- Gesichtspunkt ist das, was Sie hier machen, sehr, sehr gen kann das Parlament hier jederzeit das Gesetz wieder kurzfristig. Das ist schade. ändern, wenn Sie die dazu nötigen Mehrheiten haben. Aber das ist eben der Unterschied zwischen Opposition Vielen Dank. und Regierung, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aber eines möchte ich noch sagen: Wenn es wirklich und bei der FDP) um Prävention geht, dann geht es nicht nur darum, dieses Gesetz zu verlängern, sondern wir brauchen noch ein paar Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Befugnisse mehr. Und ja – dazu stehe ich auch selbst- bewusst –: Dazu gehört die Vorratsdatenspeicherung, Der nächste Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist und dazu gehört auch die Onlinedurchsuchung; der Kollege Christoph Bernstiel. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Hoffentlich war der in denn das bezieht sich auf die Medien, mit denen Terroris- der richtigen Anhörung!) ten heutzutage ihre Straftaten vorbereiten. 23890 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Christoph Bernstiel (A) Wenn Sie zu Recht sagen, der Anschlag von Halle Sie müssen sich hinterfragen, ob die Maßnahmen, die (C) konnte nicht verhindert werden, und auch beim Anschlag Sie in den 90er-Jahren schon vorgeschlagen haben, wirk- in Dresden haben die Regelungen vielleicht nicht richtig lich noch die Maßnahmen sind, die wir heute brauchen, gegriffen, dann heißt das: Das sind genau die Instrumen- oder ob wir uns nicht dem Grundproblem der Sicherheits- te, die fehlen. Herr Strasser, Herr von Notz, Sie waren architektur in Deutschland widmen sollen, wie es unter diese Woche im Innenausschuss. Herr Münch hat ganz anderem als Vorkämpfer gemacht hat. klar gesagt, dass die Instrumente, die uns zur Verfügung Schade, dass er nicht mehr hier ist. stehen, nicht ausreichen, um den Terrorismus im Internet und auch abseits des Internets effektiv bekämpfen zu (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ können. Deshalb müssen wir darüber ernsthaft reden. DIE GRÜNEN) Ich glaube, dieses Thema ist bei uns in der Union in guten Händen. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall bei der CDU/CSU) Wollen Sie darauf antworten? – Bitte schön. Meine Damen und Herren, man soll aufhören, wenn es am schönsten ist. Das ist ein gutes Gesetz. Die Entfris- Christoph Bernstiel (CDU/CSU): tung ist längst überfällig; Sie können bedenkenlos zu- Lieber Kollege Strasser, ich schätze Ihre Beiträge mehr stimmen. Deshalb werbe ich dafür, diese Entfristung heu- oder weniger häufig schon sehr. te auch durch das Parlament zu bringen. Herzlichen Dank. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen Sie aber zu selten!) (Beifall bei der CDU/CSU) Aber ich muss Ihnen wirklich sagen: Diese Doppelzün- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: gigkeit ist unglaublich. Wenn Sie hier von einem „Bulls- Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege hit-Bingo“ sprechen und ich Ihnen zwei Sekunden vorher Benjamin Strasser. noch gesagt habe, dass diese Gesetze dazu beigetragen haben, neun Anschläge zu verhindern, dann ist das nicht verhältnismäßig. Dann ist das sogar eine Frechheit und Benjamin Strasser (FDP): eine Beleidigung gegenüber unseren Sicherheitsbehör- Die Union freut sich schon. Es freut mich, dass Sie den, die genau diese Anschläge verhindert haben und offensichtlich meine Gastbeiträge lesen. Sie sollten sie damit konkret Menschenleben gerettet haben. Das kön- nur korrekt zitieren oder zumindest verstehen. Ich hatte (B) nen Sie hier in diesem Hause nicht so einfach sagen; das (D) den Eindruck, dass Sie ihn nicht verstanden haben. muss ich Ihnen wirklich mitteilen. Der Kollege Kuhle und ich haben nämlich in diesem Gastbeitrag mitnichten nach mehr Überwachung gerufen, Das Nächste ist: Wissen Sie, Sie stellen sich hierhin sondern angemahnt, dass wir uns dem Grundproblem des und sprechen von mehr Integration, Sie sagen, wir müs- Islamismus aus verschiedenen Perspektiven nähern soll- sen unsere Sicherheitsbehörden mit mehr muslimischem ten und unter anderem auch die Union sich mal einem Sachverstand aufrüsten; ich habe Ihren Artikel gelesen. echten Einwanderungsgesetz stellen sollte, was sie bis Aber wissen Sie: Sprechen Sie doch mal mit den Opfern, heute verweigert. mit den Hinterbliebenen von Terroranschlägen. (Beifall bei der FDP) (Benjamin Strasser [FDP]: Habe ich!) Das sind so Maßnahmen, die wir vorschlagen. Die sagen Ihnen, das Wichtigste für sie wäre, dass diese Gehen wir mal in den Sicherheitsbereich. Das, was Sie Menschen noch am Leben wären. Dazu brauchen wir machen, ist so ein Reflex, ein Bullshit-Bingo an Maß- eben die Prävention. Wir müssen nicht nur dafür sorgen, nahmen nach jedem Anschlag, ohne mal zu schauen: diese Anschläge im Nachhinein aufzuklären, sondern Was war wirklich das Problem? Ich empfehle Ihnen: Set- dafür, dass sie erst gar nicht stattfinden. Dafür brauchen zen Sie sich einfach eine Stunde in den parlamentarischen wir genau diese gesetzlichen Befugnisse, für die die Untersuchungsausschuss zum Anschlag auf dem Berliner Union schon seit Jahren kämpft. Ihre Partei stellt sich Breitscheidplatz. Die Behörden hatten vor diesem immer wieder hin und sagt: „Nein, das gibt es nicht“, Anschlag alle Informationen. Die Behörden hatten Tele- und hält den Datenschutz hoch. Wissen Sie, was Sie gram-Chats des Attentäters, die, oh Wunder, nach dem hochhalten sollten? Das Leben deutscher Bürgerinnen Anschlag ausgewertet worden sind. Ihre Antwort auf sol- und Bürger. Das sollte Ihre erste Priorität sein. Wenn es che Anschläge ist mehr Überwachung? Ist das wirklich darum geht, Kriminalität zu verhindern, dann brauchen Ihre Antwort? wir diese Gesetze. Kümmern Sie sich mal um die Sicherheitsarchitektur Danke schön. in Deutschland. Schaffen Sie weniger Behörden, die mehr verantwortlich sind. Schauen Sie, dass Sie endlich (Beifall bei der CDU/CSU) ein europäisches FBI bekommen, wenn wir ein Problem mit einem europaweit bis international vernetzten Terro- rismus haben. Wo ist da die Initiative der Union? Ich sehe Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: nichts. Also, Herr von Notz zu einer kurzen Kurzintervention. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23891

(A) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU) (C) NEN): Herr Präsident! Es ist sehr freundlich und kollegial, Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: dass Sie diese Kurzintervention zulassen. Der nächste Redner ist der Kollege Alexander Ich nenne nur einen Gedanken, um zu schlichten. Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion. (Philipp Amthor [CDU/CSU]: Wie edel! – (Beifall bei der CDU/CSU) Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) – Ich moderiere Schwarz-Gelb. Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Das Problem ist, Herr Bernstiel: Sie wissen nicht, was Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen in diesem Gesetz neun Anschläge in Deutschland ver- und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! hindert hat. Sie wissen nicht, welches Instrument von Am Ende der Debatte den vielen Instrumenten, die darin enthalten sind, es (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE war. Und genau das ist das Problem. Sie wissen nicht, GRÜNEN]: Sagen Sie doch mal was Neues!) was funktioniert und was nicht funktioniert. Deswegen brauchen wir eine Evaluation. beschäftigen mich drei Worte: aktuell, angemessen und bezeichnend. Wir müssen als Gesetzgeber grundrechtsschonend und maßvoll sein. Deswegen: Lassen Sie uns das Gesetz eva- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) luieren und auch Sachen aus dem Sack wieder rausneh- Das Wort „aktuell“ betrifft den tragischen Teil. Nach men. Dieser Gedanke sollte uns hier verbinden. Dresden, nach Nizza und nach Wien: Schauen wir zurück (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bis ins Jahr 2001, und uns wird auf tragische Art und sowie bei Abgeordneten der FDP) Weise vor Augen geführt, dass wir uns bedauerlicher- weise bis heute mit solchen Instrumenten beschäftigen müssen, wie sie der vorliegende Gesetzentwurf zum Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Gegenstand hat. War das versöhnlich, oder wollen Sie antworten? Ich komme zum Wort „angemessen“. Gerade bei der (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frage, welche Instrumente wir einsetzen wollen und zur Er ist nicht versöhnlich!) Verfügung haben wollen – darum geht es nämlich auch –, um internationalen Terrorismus zu bekämpfen, wollen Christoph Bernstiel (CDU/CSU): wir es uns gerade nicht leicht machen. Man muss sich (B) Sehr geehrter Herr Kollege von Notz, vielen Dank für das vor Augen führen: Wir haben dieses Gesetz dreimal (D) Ihren Schlichtungsversuch. Ich glaube, er war durchaus verlängert, wir haben es viermal evaluiert, und trotzdem sachdienlich. Aber Sie unterstellen mir, dass ich nicht führen wir hier in diesem Haus eine wahnsinnig ideolo- weiß, was in dem Gesetz steht. gische Diskussion. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU) GRÜNEN]: Nein! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bei der Frage, ob es angemessen ist, geht es letztend- lich rein juristisch darum, ob wir ein ausgewogenes Ver- – Gut. Jetzt lassen Sie mich doch mal darüber reden. hältnis zwischen den Grundrechten der Betroffenen, in Selbst wenn ich Ihrer Annahme folgen würde, dass wir die eingegriffen wird, und dem Sicherheitsbedürfnis der nicht wissen, welche Maßnahmen von den vielen Maß- Gesellschaft und der Allgemeinheit herstellen können. nahmen, die darin enthalten sind, konkret dazu beigetra- Und da haben wir aus der Evaluation sehr wohl die Bestä- gen haben, einen Anschlag zu verhindern, dann muss ich tigung, dass das eben kein Instrument der Massenüber- doch sagen: Wieso ist das relevant? Wenn es dazu beige- wachung ist, sondern dass wirklich nur in Einzelfällen tragen hat, einen einzigen Anschlag zu verhindern, dann sehr gut begründet davon Gebrauch gemacht wird. hat das Gesetz doch Wirksamkeit. Es hat dazu beigetra- Jetzt bin ich beim dritten Punkt. Das ist das Wort gen, Menschenleben zu retten. Darum geht es, und um „bezeichnend“, man könnte auch sagen „entlarvend“, lie- nicht weniger. be Kolleginnen und Kollegen. Nach diesen Fällen, begin- (Zurufe von der FDP) nend 2001, wo wir merken, dass sich internationaler Ter- rorismus, Rechtsterrorismus, islamistischer Terror weiter Im Übrigen teile ich – die FDP sollte jetzt vielleicht ausbreiten, immer wieder neue Mittel und Wege finden, auch zuhören, wenn ich rede – nicht die Auffassung, dass führen wir hier – Entschuldigung – ideologische Debat- unsere Sicherheitsbehörden dieses Gesetz in irgendeiner ten. Form benutzen, um unbescholtene Bürger zu kontrollie- ren oder auszuspionieren. Das ist nicht deren Interesse. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn daran ideologisch?) Es geht darum, Terroranschläge und schwerste Straf- taten zu verhindern. Dafür ist dieses Gesetz da. Deshalb Da ist dann von einer wissenschaftlichen Auswertung die entfristen wir es heute. Wenn Sie irgendwann in der Bun- Rede, von Präventionskonzepten. desregierung sein sollten, dann können Sie das Gesetz (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE wieder abschaffen, wenn es Ihnen nicht gefällt. GRÜNEN]: So machen wir Gesetze! So macht Herzlichen Dank. man Gesetze!) 23892 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Alexander Hoffmann (A) Es mag sein, dass das alles Bausteine sind; aber dass Sie Tagesordnungspunkt 22 b. Abstimmung über den Ge- (C) das tatsächlich als Argument verwenden, um solche setzentwurf der Fraktion der AfD zur Änderung des Instrumente abzulehnen, lassen wir als Union Ihnen nicht Strafgesetzbuchs. Der Ausschuss für Recht und Verbrau- durchgehen. cherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/23244, den Gesetzentwurf der Fraktion (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – der AfD auf Drucksache 19/22542 abzulehnen. Ich bitte Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, GRÜNEN]: Dürfen wir nicht mehr mit Wissen- um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Ich stelle fest, schaftlern reden? Das haben die Sachverständi- dass dieser Gesetzentwurf gegen die Stimmen der AfD- gen gesagt!) Fraktion mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Und dann kommt am Ende die Behauptung: Es wird Hauses abgelehnt worden ist. Damit entfällt nach unserer aufgesattelt. – Ich habe es schon gesagt: Es wird nicht Geschäftsordnung die weitere Beratung. aufgesattelt, es wird entfristet. – Vielleicht hilft es an Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: dieser Stelle, einfach mal den Titel des heutigen Tages- ordnungspunktes zu lesen. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Ich sage Ihnen – auch wenn es der Opposition nicht Zusammenarbeit und Entwicklung (19. Aus- gefällt –: Sie müssen lernen, dass wir internationalen schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Terrorismus, islamistischen Terror, Rechtsterrorismus Kekeritz, Lisa Paus, , weiterer nur mit betroffenen Mienen und Stuhlkreisen nicht Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ bekämpfen können, DIE GRÜNEN (Otto Fricke [FDP]: Wer will denn das? – Schuldenerlass statt Schuldenfalle – Über- Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das war schuldungskrisen im Globalen Süden mit jetzt nicht ideologisch, oder wie?) einem Staateninsolvenzverfahren begegnen sondern wir brauchen dafür wirksame Instrumente. Dazu Drucksachen 19/20789, 19/23319 dient diese Entfristung. Deswegen bitte ich um Zustim- mung. Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten beschlossen. Danke. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, den Platz- (Beifall bei der CDU/CSU) wechsel zügig vorzunehmen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- (B) Vizepräsident : ner dem Kollegen Volkmar Klein, CDU/CSU-Fraktion, (D) Vielen Dank, Herr Kollege Hoffmann. – Damit schlie- das Wort. ße ich die Aussprache. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir kommen zur Abstimmung über die Tagesord- nungspunkte. Volkmar Klein (CDU/CSU): Tagesordnungspunkt 22 a. Wir kommen zur Abstim- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- mung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und ren! Im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Entfristung von und Entwicklung haben wir in der Tat den Antrag schon Vorschriften zur Terrorismusbekämpfung. Der Ausschuss beraten und festgestellt, dass seine Analyse eigentlich für Inneres und Heimat empfiehlt in seiner Beschluss- sehr korrekt ist. empfehlung auf Drucksache 19/24008, den Gesetzent- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- wurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Druck- SES 90/DIE GRÜNEN – Ottmar von Holtz sache 19/23706 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und gut!) dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- chen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Keine. Dann ist Die Analyse! Wenn es um die Umsetzung und um Lösun- dieser Gesetzentwurf mit den Stimmen von CDU/CSU, gen geht, dann gibt es in diesem Antrag allerdings mas- SPD und AfD gegen die Stimmen der Fraktion der FDP, sive Defizite. der Fraktion Die Linke und von Bündnis 90/Die Grünen (Ottmar von Holtz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- angenommen. NEN]: Nein!) Wir kommen damit zur Die Analyse ist richtig. Die wirtschaftlichen Folgen der Coronapandemie für die Menschen in ärmeren Län- dritten Beratung dern werden dramatisch sein; das kann man auch heute und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem schon feststellen. Absatzmärkte brechen weg, Lieferket- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – ten kollabieren: Die Wirtschaft schrumpft. Ich befürchte, Wer stimmt dagegen? – Das ist das gleiche Stimmenver- das wird sogar noch schlimmer. Es wird zu einer Des- hältnis. Dann ist der Gesetzentwurf in der dritten Bera- investition kommen, wie das auch nach der Finanzkrise tung und Schlussabstimmung mit den Stimmen von 2008/2009 der Fall gewesen ist, wie man beispielsweise CDU/CSU, SPD und AfD gegen die Stimmen der Frak- in den Monatsberichten der Bundesbank aus den Jahren tionen von FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen 2010/2011 nachlesen kann. Denn Banken müssen angenommen. Abschreibungen vornehmen, verlieren Eigenkapital, ste- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23893

Volkmar Klein (A) hen unter Konsolidierungsdruck, werden risikoaverser die chinesischen Kredite an die jeweiligen Länder über- (C) und werden weniger grenzüberschreitende Kredite haupt sind. Das ist entscheidend, um eine Lösung zu geben. Darunter werden die Schwellenländer und Ent- finden. wicklungsländer leiden. Aber China zeigt sich nicht besonders kooperativ. Das Die Analyse, dass die Staatshaushalte der Entwick- zeigt sich zum einen daran, dass Staatspräsident Xi beim lungsländer in Mitleidenschaft geraten, ist ebenso richtig. jüngsten Gipfel mit den europäischen Partnern das Ange- Viele Länder brauchen akut Hilfe. Sie brauchen aber vor bot ausgeschlagen hat, an einem gemeinsamen Umgang allen Dingen dauerhafte finanzielle Stabilität. Das ist, mit den verschuldeten Staaten zu arbeiten. Und jetzt beim glaube ich, wichtig für die gesamte Staatengemeinschaft. Moratorium sind die Chinesen beispielsweise der Mei- Das ist aber gerade für uns als Deutschland, als export- nung, dass sämtliche chinesischen Kredite der China orientiertes Land besonders wichtig. Stabilität in aller Development Bank private Kredite seien und deshalb Welt ist am Ende gut für alle. nicht unter das Moratorium fallen; das können wir eigent- Das ist der Staatengemeinschaft auch bewusst. Des- lich nicht akzeptieren. wegen wurde auch schon eine ganze Menge unternom- Wir beobachten gleichzeitig, dass die Chinesen gegen- men. Der Internationale Währungsfonds hat 81 Länder wärtig dabei sind, das Problem noch viel größer zu mit Krediten unterstützt. Die Weltbank hat als Initiative machen; denn die Seidenstraßen-Initiative sorgt ja dafür, ein Schuldenmoratorium gestartet; sie hat 77 der ärmsten dass immer mehr Geld in Länder fließt, die anschließend Länder identifiziert, die berechtigt gewesen wären, an nicht in der Lage sein werden, alles zurückzuzahlen. dieser Stundung von Schuldendienstleistungen teilzuneh- Die Probleme sind groß. Entscheidend ist aber, glaube men. Die Idee ist, Zeit zu kaufen, um Lösungen zu finden. ich, dass ein Schuldenerlass ohnehin ja nur ein Kurieren In der Zwischenzeit wurde dieses Moratorium bis Mit- an Symptomen wäre; dadurch wird das eigentliche Pro- te 2021 verlängert. Allerdings haben von diesen 77 Län- blem längst nicht gelöst. Die verschuldeten Länder brau- dern nur 46 von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. chen funktionierende Wirtschaftssysteme und Wert- Aus guten Gründen: Denn wie vor 20 Jahren bei der schöpfung. Die Menschen brauchen Jobs, Chancen und HIPC-Initiative – einer Entschuldungsinitiative, die Perspektiven, damit sie dann als Steuerzahler in der Lage auch sehr kontrovers diskutiert wurde – wird um die sind, ihre Länder zu finanzieren; darüber müssen wir Bonität gefürchtet. reden. Das heißt, wenn Gespräche über Schulden geführt Ich will drei Probleme nennen: werden, dann müssen gleichzeitig auch Reformgespräche Erstens: die Bonität. Die Länder machen sich Sorgen, stattfinden, damit es eben nicht beim Herumkurieren an dass sie, wenn sie bei dem Moratorium mitmachen, Symptomen bleibt, sondern die eigentlichen Probleme (B) anschließend keine Kredite mehr auf dem internationalen wirklich gelöst werden. (D) Markt bekommen werden, die sie aber unbedingt brau- Herzlichen Dank. chen, um Investitionen zu finanzieren. Das Argument, (Beifall bei der CDU/CSU) das oft zu hören ist, dass ein Schuldenerlass am Ende die Bonität größer mache, ist eigentlich ein Scheinargu- ment. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Ottmar von Holtz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vielen Dank, Herr Kollege Klein. – Nächster Redner NEN]: Weil?) ist der Kollege Markus Frohnmaier, AfD-Fraktion. Denn hier geht es um die Zukunft und nicht um eine (Beifall bei der AfD) Momentaufnahme. Und wenn in der Vergangenheit das Versprechen auf Rückzahlung gebrochen wurde, wie ist Markus Frohnmaier (AfD): es dann in Zukunft? Wer ist denn in Zukunft noch bereit, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 218 Milliar- diesen Ländern Kredit zu geben? Das ist schwierig. den Euro Neuverschuldung, 600 000 Arbeitsplätze, die vernichtet werden, drei muslimische Terroranschläge in Das zweite Problem: private Gläubiger. Sie sind in vier Wochen in Europa: Man könnte meinen, wir haben diesem Moratorium der Weltbank noch nicht einmal vor- genug eigene Probleme vor unserer Haustür. Aber was gesehen. Trotzdem sind die Länder sehr zurückhaltend, legen uns die Grünen heute wieder vor? Sie möchten daran teilzunehmen, weil sie um die Bonität fürchten. Ich der halben Welt die Schulden erlassen. glaube, dass wir für eine komplette Lösung eigentlich die privaten Gläubiger miteinbeziehen müssten; denn es ist Bereits im April wurde ein Zahlungsaufschub für kaum zu vermitteln, dass die öffentlichen Kreditgeber 73 Staaten beschlossen. Ihnen ist das nicht genug. Die und Steuerzahler Ausfälle haben, private Gläubiger aber Grünen wollen es jetzt richtig krachen lassen. Sie wollen nicht. Nur, diesen Wunsch einfach zu beschreiben, reicht für klamme Staaten, die bei uns in der Kreide stehen, jetzt nicht. Leider ist es schwierig, eine entsprechende Lösung ein Insolvenzverfahren einführen. Der Fokus der Grünen zu finden. ist mal wieder antideutsch: antideutsch, weil sie sich Das dritte Problem – auch an dieser Stelle sage ich es nicht um unsere Wirte und Gastronomen sorgen, anti- noch mal deutlich – ist die Einbeziehung Chinas. Die deutsch, weil sie sich nicht um die alleinerziehende Mut- Kooperationsbereitschaft ist fraglich. Das sieht man ter in Kurzarbeit kümmern, und antideutsch, weil sie schon am Moratorium. Es verpflichtet diejenigen, die unsere Landwirte ablehnen. teilnehmen, ihre Zahlen offenzulegen, und es schafft (Beifall bei der AfD – Lachen bei Abgeordne- somit zumindest einmal Transparenz darüber, wie hoch ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 23894 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Markus Frohnmaier (A) Stattdessen konzentrieren sich die Grünen darauf, jetzt Chinesen. China verprasst nicht das Geld der eigenen (C) Schuldenschnitte für korrupte Diktaturen und afrikani- Bürger. China vertritt nationale Interessen. Davon kön- sche Familienclans zu erzwingen. Sie werden die Haltung nen wir lernen, meine Damen und Herren. der AfD gleich wieder als Sozialpopulismus beschimp- (Beifall bei der AfD) fen. Dabei ist doch eines ganz klar: Sich um sein eigenes Volk zu kümmern, ist kein Sozialpopulismus; das ist unsere Pflicht, dafür wurden wir gewählt. Deshalb steht Vizepräsident Wolfgang Kubicki: an unserem Parlament „Dem deutschen Volke“ und nicht Herzlichen Dank, Herr Kollege Frohnmaier. „Dem globalen Süden“. (Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Danke für (Beifall bei der AfD) nichts!) Die nächste Rednerin, die Kollegin Dagmar Ziegler, Deutschland hat selbst über 2 Billionen Euro Staats- 1) schulden. Über uns kreist der Pleitegeier, und Sie wollen SPD-Fraktion, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben. ernsthaft anderen Staaten Schulden erlassen? Vielleicht darf ich an dieser Stelle darauf hinweisen, (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- falls es noch weitere Kolleginnen und Kollegen gibt, die NEN]: Der hat ja überhaupt nichts kapiert!) sich mit dem Gedanken tragen, das auch zu tun: Geben Sie sich einen Ruck, und geben Sie Ihre Rede zu Proto- Das werden unsere Kinder bezahlen müssen. Selbst wenn koll! wir uns das leisten könnten, wäre das überhaupt nicht Als nächster Redner hat der Kollege Olaf in der Beek, zielführend. FDP-Fraktion, das Wort. Warum sind denn viele afrikanische Staaten verschul- (Beifall bei der FDP – Beatrix von Storch det? Sicher nicht, weil wir sie dazu gezwungen haben, [AfD]: Nicht mal die eigene Fraktion hört auf sich Geld zu leihen. Die Schuldenspirale der Entwick- Sie!) lungsländer hat strukturelle Ursachen: Abhängigkeit von Rohstoffexporten, keine funktionierende Infrastruk- tur, keine Rechtssicherheit, schlechte Regierungsfüh- Olaf in der Beek (FDP): rung, Korruption und Gewalt. Unter solchen Bedingun- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- gen kann gar keine Wertschöpfung stattfinden. ren! Wir beobachten seit Jahren eine stetige Zunahme der Verschuldung von Entwicklungsländern mit gravieren- Übrigens hat man diesen Ländern in der Vergangenheit den Folgen. Bereits Ende 2019, also vor der Coronapan- mehrfach Schulden erlassen. Erst im Jahr 2005 gab es demie, galten laut IWF und Weltbank mehr als die Hälfte (B) einen Schuldenschnitt in Höhe von 55 Milliarden US- der Niedrigeinkommensländer als hoch verschuldet. Es (D) Dollar. Und hat es geholfen? Natürlich nicht. Wenn ein geht hier nicht nur um Zahlen, sondern, lieber Herr Schuldner weiß, dass ihm die Bank alle zehn Jahre die Frohnmaier, um Lebensbedingungen von Menschen. Schulden erlässt, warum soll er sich dann anstrengen, Zahlungsausfälle aufgrund von Überschuldung ziehen sein Haus in Ordnung zu bringen? Sie zementieren Ver- gravierende wirtschaftliche und soziale Folgen nach antwortungslosigkeit und eben nicht die viel beschwore- sich. Die Entwicklungserfolge der vergangenen Jahre ne Eigenverantwortung. sind wirklich bedroht. (Beifall bei der AfD – Lachen bei Abgeordne- Diese Situation hat sich durch Corona nachhaltig ver- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schärft. Durch Lockdowns und Reisebeschränkungen sind globale Liefer- und Wirtschaftsketten zusammenge- Besonders perfide am Antrag der Grünen ist, dass sie brochen. Das ist gerade in Entwicklungsländern heftig zu europäische Gläubiger über den ESM entschädigen wol- spüren. Die Finanzminister der G-20-Staaten haben sich len, wenn die Afrikaner nicht zahlen. Heißt also: Der zu Recht zu einem Schuldenmoratorium für die 77 am grüne Schuldenschnitt wird mit dem Geld der deutschen höchsten verschuldeten und ärmsten Entwicklungsländer Steuerzahler finanziert. durchgerungen und dies im letzten Monat sogar bis ins (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nächste Jahr hinein verlängert. NEN]: Unsinn!) Das ist ein erster wichtiger Schritt, um Entwicklungs- Wer profitiert eigentlich von ihrer antideutschen Poli- ländern Liquidität und Handlungsspielraum zu sichern. tik? China. Ich bin froh, dass die Union lernfähig ist; denn Gleichzeitig wird dieser Schritt – das wissen wir alle – dieses Argument habe ich im Ausschuss von der Union aber nicht ausreichen. Auch wenn wir die Pandemie über- nicht einmal gehört; das kam nur von uns, das kann man standen haben, werden unzählige Entwicklungsländer nachlesen. China ist einer der größten Kreditgeber des massiv verschuldet, viele sogar überschuldet sein. Wir globalen Südens. China wird einem Schuldenschnitt wissen also schon heute, dass das derzeitige Schulden- unter keinen Umständen zustimmen. moratorium nicht ausreichen wird. Wenn die Grünen also die Spendierhosen anziehen, Gerade die Bedeutung privater Kreditgeber oder werden deutsche und europäische Gläubiger für ihre anti- scheinprivater Kreditgeber wie chinesische Staatsbanken deutsche Politik büßen. Die Chinesen hingegen werden hat in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen. lächeln und kassieren. Warum lernen die Grünen eigent- Diese werden jedoch nicht vom Schuldenmoratorium lich nicht von China? Haben die Grünen in ihren maoisti- schen K-Gruppen nicht aufgepasst? China hasst nicht 1) Anlage 4 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23895

Olaf in der Beek (A) erfasst. Was bringt uns denn ein Schuldenmoratorium der ländern um 45 Prozent steigen, sagt der IWF. Jetzt schon (C) G-20-Staaten, wenn sich beispielsweise China nicht sterben weltweit pro Minute elf Kinder an Hunger. Das ist daran hält, weil die meisten chinesischen Kredite über eine Katastrophe. Staatsbanken vergeben werden und diese als private (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Gläubiger gelten und damit nicht unter das Moratorium neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE fallen? Nichts. GRÜNEN) Das ist, meine sehr geehrten Damen und Herren, unbe- Es gibt nur einen Ausweg: dass die Gläubiger einen friedigend. Teil der Schulden erlassen, zumal sie das wirtschaftlich (Beifall bei der FDP) fast nicht merken. Aber die Ärmsten wären dann weniger arm. Deshalb ist dem Antrag der Grünen in allen zent- Das wissen wir, und deshalb begrüßen wir die Initiative ralen Punkten zuzustimmen. Wir brauchen dringend eine der Grünen im Grundsatz. Das Thema Staateninsolvenz- neue, nachhaltige Entschuldungsinitiative. Wir benötigen verfahren muss wieder auf die Tagesordnung der inter- ein Staateninsolvenzverfahren, das regelt, wie Staaten nationalen Gemeinschaft. ihre Schuldenlast auf ein verträgliches Maß reduzieren (Beifall bei der FDP) können. Und ja, wir müssen auch private Gläubiger dazu verpflichten, auf einen Teil ihrer Forderungen zu Angesichts der Zunahme privater Kreditgeber aber verzichten. Schuldenerlasse zu fordern, während die Privaten gar nicht mit am Tisch sitzen, bedeutet faktisch – da hat der (Beifall bei der LINKEN) Kollege Volkmar Klein recht – Enteignung. Das machen Zum letzten Punkt ein paar Anmerkungen. Private wir nicht mit. Gläubiger weigerten sich bisher, bei der Entschuldung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mitzuwirken. Staatliche Gläubiger sollen auf ihre der CDU/CSU) Ansprüche verzichten, während private Kredite weiter bedient werden. Denn private Gläubiger profitieren von Damit würden wir Entwicklungsländern einen Bären- der Schuldenkrise vieler Entwicklungsländer. Ganz vorne dienst erweisen, weil private Investitionen ausbleiben mit dabei: der Vermögensverwalter BlackRock, würden. Ohne diese stehen aber gleichzeitig die Chancen zur Erreichung der globalen Nachhaltigkeitsziele eben- (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- falls bei null. NEN]: Der schon wieder!) Wir brauchen ernsthafte internationale Verhandlungen in vielen afrikanischen Ländern der größte private Gläu- biger. Bei den Schuldentiteln dieser Länder wirken Zin- (B) mit allen beteiligten Akteuren. Wir brauchen Entlastung (D) für Entwicklungsländer und gleichzeitig Rechtssicherheit sen von 7 bis 10 Prozent – eine Traumrendite. Ein Super- für alle beteiligten Akteure. geschäft, möchte man meinen, oder? Vielen Dank. (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Für BlackRock!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Nein, sagen wir, es ist eine schamlose Bereicherung auf Abg. Dr. [SPD]) Kosten der Allgemeinheit. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Uwe Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Jetzt geht die Technik wieder, wunderbar. Deutsch- Solange diese Geschäftspraktiken von BlackRock & land 4.0. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva-Maria Co nicht unterbunden werden, ja solange diese Akteure Schreiber, Fraktion Die Linke. sogar auf Rückendeckung von Spitzenpolitikern in (Beifall bei der LINKEN) Deutschland zählen können, solange werden die Ent- wicklungsländer in der Schuldenfalle bleiben. Wenn die Schere zwischen Arm und Reich weiter so auseinander- Eva-Maria Schreiber (DIE LINKE): geht, wenn wir es nicht schaffen, die Ungleichheit zwi- Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle- schen den Staaten zu verringern – das SDG 10 –, werden gen! Viele Entwicklungsländer sind im Würgegriff der wir die Ziele der Agenda 2030 nicht erreichen. Schulden bei Staaten und privaten Gläubigern, und das führt zu Armut, Hunger und Ausbreitung von Krankhei- Ändern wir das! Wir stimmen dem Antrag zu. Liebe ten. Das ist verheerend. Koalition und FDP, im Ausschuss fanden Sie den Antrag eigentlich gut – das habe ich auch den Reden jetzt ent- In Sambia hungern mehr als 2 Millionen Menschen. nommen, – Die Schulden verschlingen 70 Prozent des Haushalts, doch für die Förderung der Landwirtschaft bleiben nur Vizepräsident Wolfgang Kubicki: gut 2 Prozent. Ghana gibt fünfmal mehr Geld für die Tilgung von Zinsen aus als für die Gesundheitsversor- Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte. gung der eigenen Bevölkerung, und das mitten in der Coronakrise. Die Folgen dieser Schieflage sind drama- Eva-Maria Schreiber (DIE LINKE): tisch: Wenn wir keinen Ausweg aus der Schuldenkrise – auch wenn Sie dagegengestimmt haben. Geben Sie finden, könnte die Kindersterblichkeit in Entwicklungs- sich einen Ruck! Stimmen Sie zu! 23896 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Eva-Maria Schreiber (A) Danke. Sobald der Finanzsektor einen fairen Anteil am Risiko (C) der Kreditvergabe trägt, wird sich das Überschuldungs- (Beifall bei der LINKEN) problem mittelfristig erheblich reduzieren. Also ist doch ein regelbasiertes, völkerrechtlich verankertes Staatenin- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: solvenzverfahren die Antwort. Vielen Dank, Frau Kollegin Schreiber. – Nächster Red- Das ist nicht neu: FDP und CDU/CSU hatten das schon ner ist der Kollege Uwe Kekeritz, Bündnis 90/Die Grü- einmal im Koalitionsvertrag, China hat es – Herr nen. Frohnmaier, zuhören! – gefordert, die G 77 hat es vorge- schlagen – und diese Regierung hat von Anfang an blo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ckiert, vor zehn Jahren, vor fünfzehn Jahren und auch heute. Die zentrale Frage – es ist nicht leicht – heißt doch: Wie bekommen wir alle ins Boot, Weltbank, Chi- Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): na – nachdem wir sie frustriert haben –, USA und Priva- Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Eva te? Schreiber, ich kann da gut ansetzen; ich fahre fort. Aber vorher möchte ich noch sagen, Volkmar Klein: Das sind Natürlich ist das ein dickes Brett, das wir bohren müs- doch wirklich abenteuerliche Ausführungen zum Thema sen, liebe SPD. Aber nach 40 Jahren wiederkehrenden Bonität. Stellen Sie sich mal vor, Sie haben zwei Akteure Finanzkrisen müssen wir das Problem endlich angehen mit zu 100 Prozent identischen Bedingungen, und der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine hat 50 irgendwas Schulden, und der andere hat 500 sowie bei Abgeordneten der LINKEN) irgendwas Schulden. Jetzt lassen Sie sich mal von Herrn Klein erklären, warum der mit 500 besser bewertet sein und dürfen nicht auf Kosten der Entwicklungsländer sollte! Mit Volkswirtschaft hat das wirklich nichts mehr kapitulieren. Kapitulieren auf Kosten anderer ist eine zu tun. feine Sache. Fakt ist doch: Im Falle einer Überschuldung zahlen wir alle, und der Preis wird immer höher. Vor (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN allem zahlen wir die Renditen der privaten Kredithändler, und bei der LINKEN – Volkmar Klein [CDU/ und auch das muss geändert werden. CSU]: Leider doch!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Situation ist beschrieben worden. Es gibt aber Ein- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) richtungen, die reagiert haben. Die G 20 hat sogar schnell Es liegt in unserem Interesse: Je schneller ein insolventer reagiert – das loben wir ausdrücklich – und ein Morato- Staat wieder auf die Beine kommt, desto besser für alle. (B) rium erwirkt; das war fantastisch. Aber es muss uns klar (D) sein: Es war nur eine Notoperation. Diese half den Län- Aber es geht uns vor allem um die Menschen vor Ort, dern zwar kurzfristig, Liquidität zu verbessern, sie bringt deren sozial-ökonomische Perspektive durch Überschul- aber nichts in Bezug auf ihre Schuldentragfähigkeit. Und dung zerstört wird. Diese Verschuldung vernichtet Ent- da die wirtschaftliche Talfahrt zunimmt, wird sich diese wicklungserfolge. Überschuldung führt zu Hunger und in Zukunft natürlich verschlechtern. Deshalb kommen auch dazu, dass Staaten instabil werden können; sie wir wieder einmal nicht um einen Schuldenschnitt kann sogar zu Fragilität führen. Wir alle hier wissen, herum; das ist nicht meine Theorie, das ist auch die Theo- welche dramatischen Konsequenzen das für die Men- rie von Weltbank und IWF. schen vor Ort hat. Aber wir wissen inzwischen auch, dass die Fragilität auch auf uns zurückschlägt; die Folgen Die ganz große, zentrale Frage ist doch: Kann ein treffen uns immer härter. Schuldenerlass im Rahmen eines geordneten Insolvenz- verfahrens – Herr Frohnmaier, da sollten Sie sich mal schlaumachen, was das ist – langfristig die Schuldenfrage Vizepräsident Wolfgang Kubicki: verbessern? Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

(Markus Frohnmaier [AfD]: Völkerrecht, Herr Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kekeritz!) Ich bin am Ende. Die Gegner argumentieren ganz primitiv: Das Streichen der Schulden motiviert doch nur, noch mehr Schulden zu Vizepräsident Wolfgang Kubicki: machen. Da könnte was Wahres dran sein; aber das ist Ja, Sie sind am Ende. immer nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit heißt doch: Zur Überschuldung gehören zwei, nämlich der Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schuldner und der Gläubiger. Und solange die Gläubiger Unser Antrag zeigt den Weg aus der Misere, die wir bei der Vergabe von Krediten nicht das geringste Risiko zum großen Teil durch unsere Strukturen mit zu verant- haben, gibt es auch keinen Marktmechanismus, der die worten haben. Deswegen stehen wir auch in der Verant- Kreditvergabe steuert. wortung, zu handeln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Danke. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Genau diesen Mechanismus müssen wir einführen. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23897

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Das ist so. Deshalb sehen viele Staatschefs ein Staaten- (C) Letzter Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Stefinger, insolvenzverfahren kritisch. CDU/CSU-Fraktion. Die Schuldenerlasse in der Vergangenheit – das gehört zur Wahrheit dazu – hatten einen Jo-Jo-Effekt. Deshalb (Beifall bei der CDU/CSU) müssen wir an der Ursachenbekämpfung arbeiten. Dazu möchte ich sagen: Das Wichtigste für die afrikanischen Dr. Wolfgang Stefinger (CDU/CSU): Staaten ist Wirtschaftswachstum. Hier setzt unser Mar- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und shallplan mit Afrika an. Hier setzten auch unsere Initiati- Kollegen! Dass die Coronapandemie Auswirkungen auf ven der Wirtschaftsförderung an, damit wir diese Staaten die ganze Welt und natürlich auch auf den globalen Süden wirtschaftlich entsprechend unterstützen. Es gehören hat, ist uns allen bewusst. Zwar sagen uns die Zahlen natürlich aber auch Good Governance, Korruptionsbe- aktuell, dass insbesondere die afrikanischen Staaten, kämpfung und strukturelle Reformen dazu. was die gesundheitlichen Herausforderungen betrifft, (Dr. Christoph Hoffmann [FDP]: Einfach mal relativ gut durch die Krise kommen – sofern die Zahlen machen!) stimmen –, aber wirtschaftlich haben diese Länder extre- me Schwierigkeiten. Das alles sind Themen, die hier mit diskutiert werden müssen. (Dr. Christoph Hoffmann [FDP]: Warum? Wer Insgesamt bleibt festzuhalten, liebe Kolleginnen und ist daran schuld?) Kollegen, dass Ihr Antrag einige gute Ansätze enthält. Wir müssen die Verschuldung aber ganzheitlich anpa- Es gibt einen Zusammenbruch bei den Lieferketten, es cken. Wir müssen sie nachhaltig anpacken und bekämp- gibt einen Zusammenbruch des Tourismus – allein fen. Ein Zeitfenster bis Januar vorzugeben, ist dann doch 20 Millionen Jobs sind hiervon betroffen –, aber auch etwas knapp. durch die strikten Lockdowns in einzelnen Ländern, Ihr Antrag springt meines Erachtens insgesamt zu (Dr. Christoph Hoffmann [FDP]: Welche Län- kurz, und deshalb lehnen wir ihn ab. der?) (Beifall bei der CDU/CSU – Uwe Kekeritz die mit Militär durchgesetzt wurden, konnten Bauern ihre [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber schwe- Felder nicht bestellen, was wiederum Hungersnöte aus- ren Herzens!) löst. Um diese Probleme zu lindern, haben wir, hat diese (B) Große Koalition, ein Corona-Sofortprogramm auf den Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (D) Weg gebracht. Mein herzliches Dankeschön an das Ent- Herzlichen Dank, Herr Kollege Dr. Stefinger. – Dann wicklungsministerium für die schnelle Umsetzung! schließe ich die Aussprache. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- Dr. Sascha Raabe [SPD]) ses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit Die wirtschaftlichen Probleme führen auch zu finanz- dem Titel „Schuldenerlass statt Schuldenfalle – Über- iellen Problemen. Deshalb müssen wir weiterdenken: schuldungskrisen im Globalen Süden mit einem Staaten- Was ist nach Corona? Deswegen greift der Antrag von insolvenzverfahren begegnen“. Der Ausschuss empfiehlt Bündnis 90/Die Grünen ein wichtiges Anliegen auf. in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/23319 Allerdings ist die Forderung nach einem Staateninsol- , den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf venzverfahren nicht ganz unproblematisch. Es ist schon Drucksache 19/20789 abzulehnen. Wer stimmt für diese angesprochen worden: Dieses Verfahren gibt es interna- Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tional noch nicht – es wäre ein völlig neues Konstrukt –, tungen? – Keine. Dann ist diese Beschlussempfehlung und es ist auch nicht so einfach umsetzbar, wie auch der gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bünd- Wissenschaftliche Dienst des Bundestages ausgearbeitet nis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übrigen Fraktio- hat. nen des Hauses angenommen. Warum? So ein Insolvenzverfahren hat grundsätzlich – Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: wenn wir es mal rein wirtschaftlich betrachten – das Ziel, – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- noch Geld für die Gläubiger zu beschaffen. In der Wirt- desregierung eingebrachten Entwurfs eines schaft wird häufig ein Insolvenzverwalter dafür ein- Gesetzes zur Verschiebung des Zensus in gesetzt. Wir müssen uns auch mit der Souveränität der das Jahr 2022 und zur Änderung des Auf- Staaten beschäftigen. Die Staaten müssen zustimmen. enthaltsgesetzes Viele Staaten sehen aber ein solches Verfahren kritisch. Warum? Es ist schon angesprochen worden: weil es Aus- Drucksachen 19/22848, 19/23566, wirkungen auf die Bonität hat und ein schlechtes Rating 19/23839 Nr. 8 nach sich zieht. Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Inneres und Heimat (4. Aus- (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schuss) NEN]: Aber das habe ich doch versucht zu erklären!) Drucksache 19/24041 23898 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Handlungsfähigkeit und Liquidität von Kommunen, weil (C) schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung amtliche Statistiken für die Berechnung der kommunalen Drucksache 19/24048 Finanzausgleiche benötigt werden. Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten Sie sehen: Amtliche Daten und Statistiken sind zuver- beschlossen. lässig, und sie sind unentbehrlich. Auch deshalb ist der Zensus so bedeutsam. Als Volkszählung ist der Zensus Ich eröffne die Aussprache und erteile der geschätzten mehr als nur eine umfangreiche soziodemografische Kollegin Petra Nicolaisen, CDU/CSU-Fraktion, das Erhebung. Der Zensus bietet die Datengrundlage für die Wort. Zukunftsentwicklung in Deutschland. Die Einwohner- (Beifall bei der CDU/CSU) zahlen und deren demografische Entwicklung sind ein entscheidender Baustein bei der Planung unserer gesam- Petra Nicolaisen (CDU/CSU): ten Infrastruktur sowie bei der Verteilung öffentlicher Sehr geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen Gelder. und Kollegen! Die Verschiebung des Zensus in das Jahr Die Zensusergebnisse geben Aufschluss über die 2022 ist aufgrund der Coronapandemie einfach notwen- Bevölkerungsstruktur und ermöglichen eine genauere dig. In seiner Rede wird mein Kollege Alexander Throm und auf den tatsächlichen Bedarf abgestimmte Politik. gleich unseren Standpunkt zu den im Gesetzentwurf Auch für die Bestimmung von Wahlkreisen für Bundes- ebenfalls enthaltenen Änderungen des Aufenthaltsgeset- und Landtagswahlen, für die Sitzverteilung in Gemeinde- zes darlegen. Ich konzentriere mich jetzt auf den Zensus. , Kreis- und Landräten und unter Umständen auch für die Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verschieben wir Sitzverteilung im Bundesrat sind die Zensusdaten von den Stichtag des Zensus um ein Jahr, nämlich auf den hoher Relevanz. 15. Mai 2022. Ursprünglich war die Volkszählung für Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht um die Frage, das nächste Jahr vorgesehen. So war es geplant und be- wie wir mit dem wichtigen Instrument des Zensus umge- schlossen, nämlich im Zensusgesetz 2021, welches wir hen. Die Entscheidungsträger aller Ebenen profitieren als Deutscher Bundestag bereits am 6. Juni 2019 verab- von einer hohen Datengüte. Um diese zu erreichen, brau- schieden haben. So sieht es das Europarecht vor: Im chen wir mehr Zeit und die entsprechenden Finanzmittel. Abstand von zehn Jahren sollen Daten über die Bevölke- Dabei wird der Bund einen Teil der Zusatzkosten über- rung und die Wohnungssituation bereitgestellt werden. nehmen, die jetzt für die Länder in Höhe von circa 32 Mil- Trotz der Verschiebung werden wir alle Bemühungen lionen Euro entstehen. ergreifen, um auf eine Einhaltung der EU-Zeitvorgaben (B) hinzuwirken. Eine Verschiebung des Zensus ist deshalb unumgäng- (D) Die Pandemie hat die Verwaltung und deren Aufgaben lich. Er bildet die Grundlage für die weiteren zehn Jahre verändert. Die Statistischen Ämter von Bund und Län- kommender Politik. In diesem Sinne bitte ich um Ihre dern müssen ihr Personal für andere Aufgaben einsetzen. Zustimmung für den anstehenden Gesetzentwurf und da- Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstützen unter mit für die Zukunft des Zensus. anderem unsere Gesundheitsämter. Viele notwendige Herzlichen Dank. Vorbereitungsmaßnahmen können nicht mehr wie ge- plant durchgeführt werden. Die Kommunikation mit (Beifall bei der CDU/CSU) anderen Verwaltungen zur Nutzung vorhandener Verwal- tungsregister gestaltet sich einfach schwierig. Vollerhe- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: bungen an Sonderbereichen wie Altenpflegeheimen sind Vielen Dank, Frau Kollegin Nicolaisen. – Nächster unter Pandemiebedingungen nicht möglich. Die Recher- Redner ist der Kollege Dr. Christian Wirth, AfD-Frak- che der Auskunftspflichtigen sowie der Aufbau des not- tion. wendigen Anschriftenbestandes sind erschwert. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Statistischen (Beifall bei der AfD) Ämter von Bund und Ländern leisten wertvolle Arbeit, nicht nur im Gesundheitswesen. Hinter den Zahlen und Dr. Christian Wirth (AfD): den Daten steckt ein enormes Wissen; das sind Informa- Herr Präsident! Werte Kollegen! Es ist schade, dass wir tionen, die auch noch nach der Pandemie wichtig für uns zwei Gesetze lesen, die eigentlich nichts miteinander zu bleiben werden. Die erhobenen Daten bilden die Grund- tun haben – seiʼs drum. Ob wir aber den Zensus über- lage für faktenbasierte Entscheidungen in vielen wichti- haupt jemals durchführen können? Ob wir nach der Coro- gen Fragen und Themenbereichen. Die Daten versorgen nakrise zur Normalität zurückkehren, liegt nicht nur an uns und unsere Kolleginnen und Kollegen in den Landes- den Bürgern, die eine bemerkenswerte Disziplin an den parlamenten, in den Kommunalparlamenten und in den Tag gelegt haben, sondern es liegt vor allem daran, ob die Verwaltungen mit wertvollen Informationen. Das sind Bundesregierung noch einmal in Panik verfällt und ohne zum Beispiel wichtige Gesundheitsdaten auf Landes- Sinn und Verstand und ohne Faktengrundlage nachweis- und Bundesebene über Pflege, Personal sowie Patienten lich sichere Orte schließt und Existenzen ruiniert. und Krankenhäuser. Es sind aber auch Informationen, die unsere Wirtschaftslage beschreiben: wichtige Konjunk- Schon berechtigter ist die Frage, ob es unter den gege- turindikatoren von der Exportquote bis hin zur Zahl der benen Bedingungen notwendig ist, einen Zensus im Jahre Übernachtungen in Hotels. Es geht auch um finanzielle 2021 wie geplant durchzuführen. Vor allem im Hinblick Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23899

Dr. Christian Wirth (A) auf die Haushaltsbelastung aufgrund der Krise sowie die Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) allgemeinen Ausgaben der öffentlichen Verwaltung ist Vielen Dank Herr Kollege Dr. Wirth. das eine Belastung, die man sich einfach ersparen kann. (Beatrix von Storch [AfD]: Herr Wirth hat die (Beifall bei der AfD) Maske auf dem Weg zu seinem Platz nicht auf!) Im Antrag sorgen Sie sich um die von der EU gesetzten – Frau von Storch, vielleicht können Sie Ihren pädagogi- Fristen. Dazu sage ich ganz klar im Namen meiner Frak- schen Einfluss geltend machen, damit das demnächst tion: Es sind genau diese Momente, in denen sich zeigt, beachtet wird. welches Korsett uns dieser undemokratische Verwal- tungsapparat der EU aufzwängt, zumal die EU in der (Heiterkeit) Coronakrise völlig versagt hat. Nächster Redner ist der Kollege Helge Lindh, SPD- Aber ich will nicht nur kritisieren. Wenn ein blindes Fraktion. Huhn mal ein Korn findet, muss man das Huhn auch (Beifall bei der SPD) belohnen, egal wie klein das Korn ist. Die ergänzende Vorbereitungshaft im Aufenthaltsgesetz, das haben Sie, Helge Lindh (SPD): wenn auch nicht ganz vollständig, gut aus den Forderun- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gen der AfD abgeschrieben. Das freut uns wirklich. Nicht allen hat sich der Zusammenhang dieser beiden (Beifall bei der AfD) Gesetze unmittelbar erschlossen. Das einende Band aber ist so etwas wie das Vetorecht der Realität. Das trifft Die einzige Konstanz dieser Bundesregierung war und zu beim Zensus. Ich glaube, allen sollte klar sein, dass ist, dass man die Anträge der AfD ungelesen ablehnt man unter den Bedingungen von Corona – mit Verwal- und sie dann gelegentlich den eigenen Referenten zur tungen, die am Anschlag arbeiten, mit Mitarbeitern aus Inspiration vorlegt. der Statistik, die in Gesundheitsämtern ganz notwendige (Zuruf des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE]) und sehr löbliche, Applaus verdienende Arbeit geleistet Hoffen wir also, dass diese neue Regelung nicht wieder haben – und in diesem Zusammenhang mit allen anderen ein Seehoferʼscher Papiertiger bleibt wie die Schleier- Belastungen, die aufgrund der Unmöglichkeit öffentli- fahndung, die Rückführungsabkommen oder so ziemlich cher Veranstaltungen und der Schwierigkeit von Hausbe- jede „Jetzt greifen wir endlich durch“-Ankündigung des suchen vorliegen, nicht verlässlich einen Zensus realisie- Innenministers. Es ist eigentlich unverständlich, dass wir ren kann. Das ist wohl allen deutlich. uns überhaupt darüber unterhalten müssen, dass diese Deshalb ist die einzig richtige und sinnvolle Entschei- (B) Lücke noch nicht geschlossen ist. Wer nach Deutschland dung die Verschiebung des Stichtages um ein Jahr – alles (D) weder einreisen noch sich dort aufhalten darf, wer schon andere wäre nicht vernünftig und fahrlässig – und gleich- einmal ausgewiesen und abgeschoben wurde, hat kein zeitig eine Verordnungsermächtigung, damit, falls wir es Recht darauf, auch nur einen Tag in Freiheit in Deutsch- noch mit Corona zu tun haben oder andere besondere land zu sein. Das gilt natürlich besonders für all jene, die Ereignisse eintreten sollten, dann die Bundesregierung eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und in Zusammenarbeit mit dem Bundesrat entsprechende Ordnung darstellen, nämlich Verbrecher, Terroristen und Anpassungen vornehmen kann. Das ist eine notwendige, Extremisten. wichtige, dringliche Gesetzgebung. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der SPD) Das muss aber eigentlich für alle Fälle gelten. Wer Kommen wir zum Schwerpunkt, dem wahrscheinlich weiß, dass er sich in Deutschland nicht aufhalten darf heißer diskutierten Thema, nämlich der aufenthaltsrecht- und deutsche Gesetze bereits bei der Einreise wissentlich lichen Frage. Auch hier gilt das Vetorecht der Realität. Es missachtet, ist allein dadurch schon eine erwiesene Ge- geht um eine zielgenaue Regelung, die nicht einfach vom fahr für unser Land. Die Missachtung eines Einreise- und Himmel fiel, sondern die einen klaren Ausgangspunkt Aufenthaltsverbots garantiert, dass der Einreisende wil- hatte: die Entdeckung einer Regelungslücke. Sie wurde lens ist, vorsätzlich deutsches Recht zu brechen. deutlich im Fall Miri. Das werden alle hier im Raum Noch sinnvoller wäre es natürlich, wenn man endlich erlebt haben. den illegalen Grenzübertritt von vornherein verhindern Der Umstand, dass in dem Fall der Straftäter, der abge- würde. Das ist möglich, wie wir in der Coronakrise, schobene Miri, wieder in Haft kam, lag nicht daran, dass beim G-7-Gipfel in Bayern oder beim G-20-Gipfel in es wirklich hinreichende gesetzliche Möglichkeiten Hamburg mit jeweils erheblichen Fahndungserfolgen gegeben hätte, sondern das war eine spezifische Konstel- gesehen haben. Das ist auch im Interesse Deutschlands. lation aufgrund eines Asylfolgeantrages. Wir können uns Das scheint jedoch weiterhin unmöglich und nicht im aber nicht auf solche spezifischen Situationen verlassen, Interesse der Bundesregierung und offensichtlich auch und deshalb ist die Schließung dieser Regelungslücke nicht im Interesse der EU zu sein. Beide setzen nicht notwendig. auf den Schutz der EU-Außengrenzen, sondern auf die (Beifall bei der SPD) Legalisierung illegaler Armutsmigration – mit verheer- enden Folgen. Dies wird die AfD nicht hinnehmen. Worin besteht sie? Es ist der Umstand, dass es Fälle gibt, bei denen ein Einreise- und Aufenthaltsverbot vor- Vielen Dank. liegt, bei denen keine Betretenserlaubnis gegeben ist, bei (Beifall bei der AfD) denen auch Fluchtgefahr besteht, aber folgende Situation 23900 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Helge Lindh (A) eintreten kann: Die betreffende Person ist nicht in Haft In Nordrhein-Westfalen erlebe ich gerade, dass sich die (C) und stellt einen Asylantrag. Genau in dem Moment ist Grünen sehr um Koalitionen bemühen. Also, das wäre eine – in dem konkreten Fall wirklich sinnvolle und gebo- dann der richtige Adressat. Aber Sie müssen schon ein- tene – Abschiebungshaft nach gegebener Rechtslage mal entscheiden, ob Sie grundsätzlich Abschiebungen nicht möglich. Das ist genau die Regelungslücke. Auf- infrage stellen, was ja eine vertretbare Position ist, die grund dessen, dass die Person nicht vollziehbar ausreise- wir aber nicht teilen, oder ob Sie grundsätzlich dafür pflichtig ist, kann sie nicht in Haft genommen werden. sind, wie es Frau Baerbock für Konstellationen unter bestimmten Bedingungen erklärt hat. Dieses Gesetz regelt nichts anderes, und das ist uns als Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen besonders Sie müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass das Praxis wichtig gewesen. Es ging uns gerade nicht – da waren in Bundesländern mit grüner Regierungsbeteiligung ist; wir durchaus erfolgreich in den Verhandlungen – um ein ich kann es nicht ändern. großes neues Migrationspaket, um die weiter gehende (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Otto Verschärfung von Abschiebung und Abschiebungshaft, Fricke [FDP]) sondern um genau diese Fallkonstellation. Ich muss auch zur Kenntnis nehmen, dass die Wirksam- Genau deswegen kommt es jetzt zum § 62c Aufent- keit einer besonders liberalen Asylpolitik sich unter grü- haltsgesetz. Damit soll eine ergänzende Vorbereitungs- ner Beteiligung in europäischen Ländern bisher nicht haft eingeführt werden; zur Vorbereitung einer Abschie- wirksam äußert. bungsandrohung nach § 34 Asylgesetz ist dann eine (Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr!) solche Abschiebungshaft im Sinne einer Vorbereitungs- haft möglich. Daher ist meine Kritik jetzt nicht, dass Sie eine ent- weder besonders liberale oder restriktive Position einneh- Um noch mal etwas zu sagen zu den Aufregungen, die men. Aber die Doppelgesichtigkeit, die ist mein Kritik- gar nicht so sehr aus der Zivilgesellschaft, sondern aus punkt. Wenn man von der SPD etwas fordert und sie einzelnen Teilen des Parlaments deutlich wurden: Nicht anklagt, sie wäre da moralisch fragwürdig und würde allein die Tatsache, dass ein Asylantrag gestellt wurde, ist humanitäre Regeln verletzen, dann sollte man bitte auch Grund für die Abschiebungshaft; das wäre auch absolut auf sich selbst schauen und solche Inkonsistenzen wahr- inakzeptabel, und es wäre verfassungs- sowie europa- nehmen. rechtlich überhaupt nicht vertretbar. Auch ist dafür nicht die Tatsache ausreichend, dass ein Einreise- und Aufent- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten haltsverbot vorliegt, sondern es müssen besondere Haft- der FDP – Otto Fricke [FDP]: Wo er recht hat, gründe vorliegen, und sie sind auch explizit benannt. Da hat er recht!) (B) (D) steht – ich sage das, auch wenn ich jetzt hier womöglich Das halte ich für notwendig. Lachen aus einzelnen Reihen höre – ausdrücklich: „ Deshalb geht es hier nicht um eine entgrenzte Abschie- … wenn von ihm eine erhebliche Gefahr für Leib und bung von Personen – nein, wir haben dafür legale Migra- Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren tionswege; wir haben die Beschäftigungs- und Ausbil- Sicherheit ausgeht oder er auf Grund eines besonders dungsduldung –, sondern es geht hier darum, dass wir schwerwiegenden Ausweisungsinteresses … ausgewie- in solchen Fällen von organisierter Kriminalität und sen worden ist.“ Regelungslücken einen bestimmten, – Wir reden hier nicht über redliche Leute, die sich nie was haben zuschulden kommen lassen, sondern wir spre- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: chen hier über Gefährder oder zutiefst kriminell aktiv Würden Sie bitte zum Schluss kommen. gewordene Personen der organisierten Kriminalität. Ich glaube, das sind nicht die Personen, die im Zentrum unse- rer humanitären Asylpolitik stehen, sondern bei denen Helge Lindh (SPD): wir den Rechtsstaat zur Geltung bringen müssen, und – sehr eng zu umgrenzenden Personenkreis zielgenau das ist die Aufgabe dieser Regelungsvorschrift. erfassen können, und das ist vernünftige, maßvolle und verhältnismäßige Gesetzgebung. (Beifall bei der SPD – Filiz Polat [BÜND- Vielen Dank. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die Unwahr- heit!) (Beifall bei der SPD und der FDP) Deshalb – Frau Polat, Sie echauffieren sich wieder so – Vizepräsident Wolfgang Kubicki: habe ich doch mit großer Verwunderung wahrgenommen, wie Sie auch im Ausschuss besonders die SPD adressiert Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. – Nächster Redner haben. ist der Kollege Stephan Thomae, FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Von zivilgesellschaftlichen Organisationen – ich weiß nicht, wie es Ihnen allen geht – haben mich keine Briefe erreicht, keine großen Klagen, keine Beschwerden. Da Stephan Thomae (FDP): frage ich Sie schon: Warum diese Aufregung, übrigens Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! auch an uns gerichtet? Richten Sie sie an die CDU! Verehrte Kollegen! Wir haben ja schon ein etwas eigen- tümliches Gebinde heute Abend hier zu bewältigen: ein- (Beifall bei der SPD) mal die Zensusverschiebung und dann die Änderung des Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23901

Stephan Thomae (A) Aufenthaltsgesetzes. Ich habe nicht ganz verstanden, wie (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (C) das zusammengehört. Sie haben versucht, es zu erklären, Da würde ich wirklich empfehlen, dass Sie jetzt die Zeit Herr Kollege Lindh. Aber so ganz passt es für mich nutzen, die Sie haben; ich habe extra die Maske mit der immer noch nicht zusammen. Aufschrift „parleu2020.de“ mitgenommen. Wir haben Vielleicht erst mal zum ersten Punkt, der Zensusver- zurzeit die Ratspräsidentschaft, und da sollte man wirk- schiebung. Ich habe das schon verstanden, Herr Lindh, lich die Gelegenheit nutzen, europäisch zu regeln, wie dass Sie sagen: Na ja, man kann jetzt unter diesen wir die Außengrenzen Europas besser schützen. Umständen nicht von Haustür zu Haustür wandern und Vielen Dank. die Daten erheben. – Was ich nicht verstanden habe, ist, warum man wieder alles auf den Verordnungsweg (Beifall bei der FDP) schiebt. Ich habe heute früh gegen zehn Uhr Frühschicht gehabt – ich war einer der ersten Redner heute Vormit- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: tag – und habe da schon bemängelt, dass das Parlament Vielen Dank, Herr Kollege Thomae. alles auf den Verordnungsweg schiebt. Wir sollten die Dinge wieder im Parlament behandeln, (Otto Fricke [FDP]: Das hätte Lindner nicht besser erklären können!) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN) Die Rednerin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke, hat ihre Rede dankenswerterweise zu Protokoll gegeben.1) und jetzt schieben wir der Regierung unnötigerweise wie- Nächste Rednerin ist die Kollegin Filiz Polat, Bünd- der etwas zu, was sie im Verordnungswege regeln soll, nis 90/Die Grünen. obwohl das eigentlich nicht notwendig ist. Zwölf Stunden später muss ich genau das Gleiche in der Spätschicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bemängeln. Das ist im Laufe des heutigen Tages eigent- lich kein Fortschritt gewesen, wie ich finde. Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie der Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Abg. Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/ Kollegen! Die Zensusverschiebung ist richtig und not- DIE GRÜNEN]) wendig; aber die unsachgemäße Verknüpfung mit der Änderung des Aufenthaltsgesetzes lehnen wir ab. Dies Deswegen würden wir im Grunde ganz gerne ablehnen, hat auch hier im Hause schon zu Irritationen geführt. was Sie uns heute hier vorlegen. Deswegen haben Sie, glaube ich, auch keine Zuschriften bekommen, Helge Lindh, weil das, wie meine Kollegin (B) Wenn wir gleichwohl diesem merkwürdigen Gesetzes- (D) gebinde zustimmen werden, dann wegen des zweiten gesagt hat, eine Vernebelungstaktik ist. Teils, weil auch wir der Auffassung sind: Das ist nun Das ist anscheinend die neue Strategie innerhalb der Koa- wirklich eine sinnvolle Geschichte, was Sie hier an echter lition. Regelungslücke schließen. Deswegen stimmen wir heute (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Abend diesem Gesetz auch zu. Denn normalerweise ist es Helge Lindh [SPD]: Das ist eine Verschwö- ja so – Sie haben es auch schon ein bisschen erklärt –, rungsstrategie!) dass während eines noch laufenden Asylverfahrens keine Meine Damen und Herren, diese Themen sind einander Abschiebehaft verhängt werden kann. in Gänze nicht nur wesensfremd – das hat im Übrigen Jetzt haben wir ebendiesen besonderen Fall, den Sie auch der Bundesrat festgestellt –; viel schlimmer noch: auch schon dargestellt haben – eine Art schwerer Fall –: Die Eilbedürftigkeit in der einen Materie auf einen mas- Es besteht ein Einreise- oder Aufenthaltsverbot. Es gibt siven Grundrechtseingriff zu übertragen, ist schlicht eine erhebliche Gefahr für Rechtsgüter Dritter, für Leib unverantwortlich. und Leben oder eine Gefahr für die innere Sicherheit des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Landes, und es gibt ein schwerwiegendes Ausweisungs- interesse und dazu noch den Richtervorbehalt. In Anbe- Vor gerade einmal drei Tagen wurde in der Sachvers- tracht dessen, was wir vor ziemlich genau einem Jahr tändigenanhörung die Regelung zu der sogenannten Vor- beim Fall Ibrahim Miri erlebt haben, halten wir es wirk- bereitungshaft von den Sachverständigen mehrheitlich lich für eine Notwendigkeit, diese Lücke zu schließen kritisiert; denn anstatt die notwendigen Anforderungen an ein solches Gesetz angesichts der Normeingriffstiefe (Beifall bei der FDP) zu würdigen – wir sprechen hier davon, dass jemand und hier zu sagen: In einem solchen Fall soll es wirklich einen Asylantrag aus der Haft heraus stellen soll, obwohl eine vorbereitende Abschiebeanordnung geben können. er keine Straftat begangen hat –, wird das Verfahren ein- Deswegen werden wir heute Abend zustimmen. fach durch das Parlament gepeitscht. Aber der Fall Miri zeigt auch noch etwas anderes: Dass es, wie von Ihnen behauptet – auch von der FDP; Wenn ein bekannter Schwerkrimineller, der in den Liba- ich bin etwas irritiert –, eine Regelungslücke gebe, wurde non abgeschoben worden ist und eine siebenjährige Ein- von den eigenen Sachverständigen der Regierungskoali- reisesperre hatte, schon nach vier Monaten wieder fröh- tion, Herr Throm, verneint. Sie nehmen einen Einzelfall lich in das BAMF in Bremen spaziert und einen neuen zum Anlass, den Fall Miri aus Bremen, der genauso – das Asylantrag stellt, dann funktioniert unser Kontrollsystem an den Außengrenzen nicht. Da müssen wir ran. 1) Anlage 5 23902 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Filiz Polat (A) wurde gesagt – mit den gegenwärtigen Regelungen gelöst Wir haben einen Schwerstkriminellen, der wird nach lan- (C) werden könnte. Sie treffen damit aber nicht nur angeb- gem Verfahren mit großen Mühen – das wissen wir – liche Clanchefs, sondern auch alle anderen Menschen, abgeschoben, er erhält dabei ein Wiedereinreiseverbot, die nach Ihrem Gesetz nun ihren Asylantrag – ich habe und gegen dieses Wiedereinreiseverbot verstößt er vor- es bereits gesagt – aus der Abschiebehaft heraus stellen sätzlich. Schon allein das wäre normalerweise eine Straf- müssen. Das ist absolut unverhältnismäßig, und das Pro- tat. Er ist wieder da, frei nach dem Motto: Und täglich blem daran wird sein, dass wir jetzt schon 50 Prozent aller grüßt das Murmeltier. – Und dann stellt er einen Asyl- Anordnungen zur Abschiebehaft als rechtswidrig fest- antrag. Jetzt ist die Frage, ob wir wollen, dass dieser stellen müssen, und diese Zahl wird auch noch steigen. Asylantrag per se, ohne dass er inhaltlich geprüft wird, Damit wird der starke Rechtsstaat infrage gestellt. verhindert, dass dieser unter Verstoß gegen das Einreise- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) verbot wiedereingereiste Schwerstkriminelle in Siche- rungshaft, in Abschiebehaft genommen werden kann. Zudem riskieren Sie mit Ihrer Gesetzesänderung, dass Das wollen wir nicht. bereits die erste Inhaftierung – das prophezeie ich Ihnen – vor Gericht kassiert wird. Damit verlieren sie auch das (Zuruf der Abg. Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE Vertrauen in den Rechtsstaat, und das ist das Problem an GRÜNEN]) Ihrer vermeintlichen Kriminalitätsbekämpfung; In der Tat, Ausgangspunkt war der Fall Miri. Ich will (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ganz offen gestehen: Wir haben alle ein bisschen denn nicht umsonst stellt die Inhaftierung einen der mas- geschwitzt, als er da war, dass wir ihn zeitnah wieder sivsten Eingriffe des Staates dar. Wenn nun mal keine ins Ausland, in den Libanon zurückbringen können. Straftat vorliegt, ist es auch schwierig, die Abschiebehaft Das hat damals funktioniert, weil ein Richter am Amts- hierfür zu missbrauchen; denn sie dient allein der Durch- gericht Bremen, das BAMF und die Bundespolizei gut setzung der Abschiebung, und die muss unmittelbar kooperiert und gut miteinander gearbeitet haben. Aber bevorstehen. Sie wissen, wenn jemand einen Asylantrag es war letztlich dem Zufall geschuldet; denn es hängt stellt, kann sozusagen diese Prognose nicht festgestellt davon ab, ob dieser neue Asylantrag vor oder nach der werden. Inhaftnahme gestellt wird. Ganz ehrlich gesagt: Bei einem solchen Schwerverbrecher will ich es nicht vom Meine Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf doku- Zufall abhängig machen, ob wir seiner habhaft werden mentiert erneut, dass das Aufenthaltsrecht nicht der rich- oder ob wir ihm erlauben, unterzutauchen. tige Ort für Ihre Kriminalitätsbekämpfung ist. Hören Sie endlich auf, das Aufenthaltsrecht mit dem scharfen (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. (B) Schwert des Strafrechts zu vermengen. Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (D) Frau Kollegin Polat, jetzt wollen wir doch mal Vizepräsident Wolfgang Kubicki: schauen, was in diesem kleinen, schlanken Gesetz genau Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte. drinsteht und geregelt wird: Ein Ausländer mit Einreise- verbot verstößt gegen dieses. Er kann in Haft genommen Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): werden – mit Richtervorbehalt –, „wenn von ihm eine Das ist weder erforderlich noch rechtsstaatlich verant- erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeu- wortbar. Wir lehnen Ihren Gesetzentwurf ab. tende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht“. In diesem Gesetz wird ausdrücklich geregelt, dass, wenn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) es nicht erforderlich ist, keine Haft angeordnet werden darf. Und er kann maximal für vier Wochen – das ist Vizepräsident Wolfgang Kubicki: der Regelungsinhalt: maximal für vier Wochen – in diese Vielen Dank, Frau Kollegin Polat. – Als letztem Red- vorübergehende Sicherungshaft genommen werden, da- ner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Kol- mit in dieser Zeit die Asylbehörden die Möglichkeit legen Alexander Throm, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. haben, seinen neuerlichen Asylantrag zu prüfen und im Zweifel festzustellen, ob er begründet oder offensichtlich (Beifall bei der CDU/CSU) unbegründet ist bzw. ein unzulässiger Antrag ist.

Alexander Throm (CDU/CSU): (Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und aber das ist rechtswidrig!) Kollegen! Manchmal muss man sich schon wundern, worüber sich die Grünen so aufregen können. Ich frage mich wirklich, bei allem guten Willen, auch Ihre Argumente zu werten: Vor welchen Personenkreis (Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: werfen Sie sich hier schützend? Unverschämtheit!) (Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich will mal versuchen, das ein bisschen zur Sachlichkeit Darum geht es nicht! Es geht um den Rechts- zurückzuführen. staat!) Um was geht es denn eigentlich? Es ist nicht mehr nachvollziehbar, was die Grünenfrak- (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tion und Die Linke im Ausschuss und auch hier betreiben. NEN]: Hier geht es schon um Menschenwür- de!) (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23903

Alexander Throm (A) Ich weiß nicht, warum Sie Sachverständigenanhörun- und Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übri- (C) gen beantragen, wenn Sie die Aussagen der Sachverstän- gen Fraktionen des Hauses in zweiter Beratung angenom- digen in diesen Sachverständigenanhörungen nicht zur men. Kenntnis nehmen und hier schlichtweg eine Darstellung Dritte Beratung dieser Anhörung geben, die mit der tatsächlichen Anhö- rung nichts zu tun hat – mit Ausnahme Ihres Sachver- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem ständigen. Alle rechtskundigen Sachverständigen haben Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – konstatiert, dass wir hier für einen kleinen Personen- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Wieder keine. kreis – das ist zugestanden – eine Regelungslücke haben, Dann ist dieser Gesetzentwurf in dritter Beratung und und diese Regelungslücke wollen wir schließen. Das Ein- Schlussabstimmung gegen die Stimmen der Fraktion zige, was Sie uns als Koalition vorwerfen können, ist, Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dass wir das nicht schon gesehen haben, als wir das den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses ange- Geordnete-Rückkehr-Gesetz gemacht haben, sondern nommen. einen solchen Fall Miri brauchten, um diese Lücke zu Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: erkennen. Diese Kritik würde ich akzeptieren; aber nicht die Kritik daran, dass wir das jetzt hier machen. Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (Beifall bei der CDU/CSU) zur Stärkung der Sicherheit im Pass-, Aus- Eine letzte Bemerkung. Ich habe in einer vorangegan- weis- und ausländerrechtlichen Dokumenten- genen Debatte schon mal den Kollegen von Notz zitiert; wesen er ist jetzt nicht da. Vor circa einem Jahr haben wir hier im Drucksachen 19/21986, 19/22783, 19/23054 Plenum eine Aktuelle Stunde zu ebendiesem Fall Miri Nr. 8 gehabt. Das war, glaube ich, ein oder zwei Tage, nachdem er tatsächlich wieder in den Libanon verbracht worden Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- war. Herr Kollege von Notz hat damals gesagt: ses für Inneres und Heimat (4. Ausschuss) Natürlich müssen wir wissen, wer in unser Land Drucksache 19/24007 einreist und wer hier Asyl beantragt, und wir müssen Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten die Einreiseverbote durchsetzen, und Verstöße müs- beschlossen. sen sanktioniert werden. Genau das ist hier gesche- hen. Wenn dieser Fall für Horst Seehofer ein Lack- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- mustest für die wehrhafte Demokratie ist, dann kann ner dem Kollegen Josef Oster, CDU/CSU-Fraktion, das (B) man nur sagen: Der Test ist bestanden. Wort. (D) Der Rechtsstaat ist hierfür „sehr gut gerüstet“. (Beifall bei der CDU/CSU) Recht hat er, der Kollege von Notz! Er hat dabei nur vergessen, dass diese Abschiebehaft, dass diese erneute Josef Oster (CDU/CSU): Abschiebung des Herrn Miri nur deshalb möglich war, Verehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen weil wir vier, fünf Monate vorher das Geordnete-Rück- und Kollegen! Wir entscheiden heute Abend über ein kehr-Gesetz beschlossen haben und dabei die Abschie- Gesetz, das auf der einen Seite mehr Sicherheit bringen behaftregelung gerade bei Verstoß gegen solche Einrei- wird, aber auf der anderen Seite auch mehr Flexibilität für severbote verschärft haben – gegen die Stimmen der die Bürgerinnen und Bürger. Sicherheit und Flexibilität – Grünen und gegen die Stimmen der Linken. Das sollten ich glaube, das ist bei einem Gesetz durchaus eine gute Sie sich überlegen. Kombination. Herzlichen Dank. Worum geht es? Es geht im Grunde um das Vertrauen in die Echtheit von Ausweisen und Pässen. Das ist für (Beifall bei der CDU/CSU) unsere Sicherheitsbehörden natürlich von elementarer Bedeutung. Gerade der Personalausweis ist sozusagen Vizepräsident Wolfgang Kubicki: die Eintrittskarte für unser Land, und er ist der Schlüssel zu vielen staatlichen Dienstleistungen. Deshalb ist das Vielen Dank, Herr Kollege Throm. – Damit schließe Vertrauen in die Echtheit, wie ich schon sagte, von ele- ich die Aussprache. mentarer Bedeutung. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Was ist das primäre Ziel dieses Gesetzentwurfs? Es desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Verschie- geht darum, das sogenannte Morphing zu bekämpfen bung des Zensus in das Jahr 2022 und zur Änderung des und zu verhindern. Morphing, das ist die technische Mög- Aufenthaltsgesetzes. Der Ausschuss für Inneres und Hei- lichkeit, verschiedene Fotos zu einem verschmelzen zu mat empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- lassen. Wir hatten in einer Sitzung unserer Unionsfrak- sache 19/24041, den Gesetzentwurf der Bundesregierung tion eine längere Debatte darüber, wie ein gemorphtes auf den Drucksachen 19/22848 und 19/23566 anzu- Foto von Laschet, Merz und Röttgen aussehen könnte, nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- aber wir sind zu keinem eindeutigen Ergebnis gekom- stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt men. dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist dieser Ge- setzentwurf gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke (Zuruf von der CDU/CSU: Spahn!) 23904 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Josef Oster (A) Nein, Spaß beiseite, es geht natürlich darum, dass diese durchaus gutes und auch notwendiges Gesetz. Ich kann (C) gemorphten Fotos genutzt werden können, um illegale Ihnen allen guten Gewissens Zustimmung zu diesem Ge- Grenzübertritte von verschiedenen Personen zu ermögli- setz empfehlen. chen, und das dürfen wir natürlich nicht zulassen. Wir Vielen Dank. erleben, dass Kriminelle immer neue, zusätzliche techni- sche Möglichkeiten nutzen. Da darf der Staat natürlich (Beifall bei der CDU/CSU) nicht tatenlos zusehen. Vor diesem Hintergrund ist das ein gutes und auch ein notwendiges Gesetz, meine Damen Vizepräsident Wolfgang Kubicki: und Herren. Herzlichen Dank, Herr Kollege Oster. – Nächster Red- ner ist der Kollege Dr. Christian Wirth, AfD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der AfD) In Zukunft wird das Passfoto auf zwei Wegen Eingang in den Personalausweis finden. Der eine Weg ist, das Foto Dr. Christian Wirth (AfD): direkt in der Behörde zu machen. Das wird der neue Weg Herr Präsident! Werte Kollegen! Es sind viele kleine sein, in vielen Fällen jedenfalls. Der andere Weg wird Details, viele kleine Änderungen, um die es in diesem sein, das Foto weiterhin im Fotostudio zu machen, Gesetzentwurf geht, und die sind in den meisten Fällen wenn das Fotostudio den sicheren digitalen Weg des auch sinnvoll. Fotos in die Meldebehörde sicherstellen kann. Das ist, wie ich finde, für die Bürgerinnen und Bürger eine optio- Die weiterhin enggefasste, aber jetzt etwas erweiterte nale Möglichkeit, eine Wahlmöglichkeit. Dementspre- Möglichkeit zur Verwendung der Seriennummer kann chend bedeutet das mehr Flexibilität: Ich kann direkt in man unterstützen. Ebenso sind auch die Ausweispflicht die Behörde gehen, ich kann aber auch weiterhin in mein drei Monate vor Haftentlassung und das bessere Absi- Fotostudio gehen und dort das Foto machen. Meine chern des Passfotos gegen Morphing nützliche Änderun- Damen, meine Herren, mit dieser Option tragen wir ins- gen. Gerade das Thema Morphing zeigt, wie die Sicher- besondere den berechtigten Hinweisen der Fotostudio- heitspolitik auch immer noch ein Rüstungswettstreit mit branche Rechnung. Ich finde, vor diesem Hintergrund der Technologie ist. Die Möglichkeit, aus zwei Fotos ist das ein guter Kompromiss. einen von zwei Personen verwendbaren Pass zu schaffen, war vor wenigen Jahren noch undenkbar. Wir wären ja Wir Koalitionsfraktionen haben darüber hinaus in eigentlich froh, wenn sich Betrüger zu zweit einen Pass einem Entschließungsantrag mit Blick auf den Bereich teilen würden. In der Realität ist es meist andersrum. der Automatenhersteller deutlich gemacht, dass wir Wir wären ja eigentlich froh und es wäre wünschens- (B) (D) auch hier eine marktwirtschaftliche Option haben wollen, wert, wenn die gleiche Sorgfalt, die für Deutsche und ihre mit der wir sicherstellen wollen, dass unsere Gemeinden Pässe gilt, auch für Einreisende gelten würde. Die Bun- eine Auswahlmöglichkeit haben. Also auch Städte und desregierung führt, wie eine Kleine Anfrage unserer Gemeinden haben mehr Flexibilität: Sie können sich ent- Fraktion ergab, keine Statistiken über Mehrfachidentitä- scheiden, das zentrale Angebot der Bundesdruckerei zu ten und den damit einhergehenden Betrug. Wohl aus nutzen, sie können sich aber auch entscheiden, das Ange- gutem Grund. Der Fall des in Bayern aufgegriffenen bot eines privaten Automatenaufstellers zu nutzen. Ich Migranten mit 35 Identitäten vor zwei Monaten ist nur finde, auch hier haben wir einen vernünftigen und guten ein Beispiel von vielen, wie diese Betrüger unseren guten Kompromiss zwischen den Interessen der Privatwirt- Willen in der Krise eiskalt ausnutzen. Ich erinnere auch schaft und den Sicherheitsinteressen der staatlichen Stel- an einen Fall aus den Jahren 2016/2017, als Hunderte len gefunden. Asylbewerber aus dem Sudan Mehrfachidentitäten zum Sozialbetrug nutzten. Dies war auch den zuständigen Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe jetzt Beamten aufgefallen; sie schwiegen aus Angst davor, relativ viel über die praktische Umsetzung gesprochen. als Rassisten gebrandmarkt zu werden. Es ist wichtig, dass man auch dort Klarheit hat, welchen Weg wir gehen wollen. Aber es geht – das will ich noch Neben den Mehrfachidentitäten gibt es aber weiterhin mal betonen – um das Thema Sicherheit. Es geht um ein das verbreitete Phänomen der Nullidentität. Der deutsche Mehr an Sicherheit, und das ist der Hauptzweck dieses Reisepass ist das wertvollste Reisedokument der Welt. Er Gesetzes. Es geht um die wichtigen, sicherheitsrelevan- öffnet die Schlagbäume von 123 Ländern. Mächtiger ist ten Aspekte von Pass und Ausweis. Mit diesem Gesetz nur der, der keinen Reisepass hat und damit die schlag- sorgen wir dafür, dass diese wichtige, sicherheitsrelevan- baumfreie deutsche Grenze überquert. te Funktion erhalten bleibt. Wir sorgen darüber hinaus (Beifall bei der AfD) dafür – das ist ein weiterer Aspekt –, dass auch die Sicherheitsbehörden in Zukunft automatisiert auf die Natürlich kann es bei einer echten Flucht vor Krieg und Lichtbilder zugreifen können. Das war zwar bisher schon Katastrophe dazu kommen, dass man den Pass verliert rechtlich zulässig, aber technisch nicht möglich. Von oder ihn gar nicht erst mitnehmen konnte. Wir tolerieren daher ist auch das ein Beitrag zur sogenannten Register- es aber, ja wir fördern es, wenn Identitätsdokumente modernisierung. bewusst vernichtet oder versteckt werden, wenn die Mit- wirkung an der Identitätsfeststellung verweigert wird und Insgesamt gehen wir hier Wege des technischen Fort- wenn kein Versuch unternommen wird, zum Beispiel in schrittes, der mehr Flexibilität, aber auch mehr Sicherheit Botschaften und Konsulaten neue Dokumente zu erhal- mit sich bringt. Deshalb ist das, wie ich schon sagte, ein ten. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23905

Dr. Christian Wirth (A) Wie fördern wir das? Indem wir erst hinter der Grenze Ich will mich aber nicht zu lange über Sie ärgern, (C) kontrollieren, also die Einreise ohne Papiere aus unseren sondern ich will mich eigentlich freuen – das tue ich sicheren Nachbarländern weder verhindern können noch auch – über diese Gesetzgebung. Deshalb trage ich heute wollen. Indem die Auslesung der Handys erst beim ein Blumenhemd. BAMF erfolgt und nicht durch die Bundespolizei an den Grenzen. Selbst wer bei der hochgelobten Schleier- (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fahndung ohne Papiere erwischt wird, wird nicht in nen- DIE GRÜNEN – Dr. Konstantin von Notz nenswerter Zahl zurückgeschoben. Das gelobte Land [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist mir steht sperrangelweit offen. Es helfen eben der sicherste aufgefallen!) Pass, die höchsten Ansprüche auch an fremde Pässe Denn es war eine sehr intensive, erfreuliche, leiden- nichts, wenn man auch ohne diese ins Land kommt. Der schaftliche Gesetzgebung, in der wir, wie vorhin auch Reisepass ist in Deutschland ein Schlüssel ohne das dazu- bemerkt wurde, sehr viele Details, größere und kleinere, gehörige Schloss. umfangreich im gesetzgeberischen Verfahren geändert (Beifall bei der AfD) haben. Wahrscheinlich hat die Bundesregierung einfach keine (Zuruf des Abg. [AfD]) Zeit, sich um solche Probleme zu kümmern. Sie hatte andere, wichtigere Prioritäten, die auch im vorliegenden Das war wirklich eine gute Stunde des Parlaments in allen Gesetzentwurf wieder vorkommen, zum Beispiel die Ein- Berichterstattergesprächen und Diskussionen. führung des „anderen Geschlechts“ auf den Dokumenten. Und ich trage noch aus einem anderen Grund dieses Das hat die Bundesregierung offenbar um den Schlaf Blumenhemd; denn als Koalition kann man hier wirklich gebracht. Sie ermöglichen auch das Verbergen der neuen sagen: Versprochen, gehalten! Man schaue bitte in das Geschlechtsidentität, damit man auch ohne Todesgefahr Protokoll der ersten Lesung; da stand: Wir gucken uns in die Länder reisen kann, aus denen wir gerade über- genau die Kritikpunkte aus der Wirtschaft und der Zivil- schwemmt werden; denn da muss man ein „anderes Ge- bevölkerung an. Wir prüfen sie und versuchen, salomo- schlecht“ verstecken, denn dort werden die Grenzen kon- nische, sinnvolle Wege zu finden. – Genau das haben wir trolliert. getan; denn das Struck’sche Gesetz hat zugeschlagen. Vielen Dank. Wir haben entsprechend Klärung und Veränderung vor- genommen. Das finde ich gut, und das ist richtig. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der SPD – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht so!) (B) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (D) Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Wirth. – Nächster Red- Hier geht es nämlich – das erschließt sich vielleicht nicht ner ist der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion. jedem bei diesem etwas sperrigen Titel – konkret um die Lebenswirklichkeit von Menschen. (Beifall bei der SPD) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Helge Lindh (SPD): GRÜNEN]: Eben!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor Es sind schon Kommunalwahlen aufgrund von Diskus- vier Minuten war ich noch glücklich; dann kam die Rede sionen über die Situation in Einwohnermeldeämtern ent- von Herrn Wirth. schieden worden. Das ist etwas, was Menschen real be- (Enrico Komning [AfD]: Die war gut!) schäftigt. Und es beschäftigt Menschen real auch, wie sicher ihre Dokumente sind. Genau das ist der Ansatz- Es erstaunt mich doch immer wieder, wie es Ihnen auch punkt: die Unsicherheit, die durch Morphing möglich bei diesem Thema gelingt, auf die Themen „Gender“, geworden ist. Die noch zusätzliche Unsicherheit eines „drittes Geschlecht“ und „Migrationspolitik“ zu kom- möglichen realen Morphings von Herrn Laschet und men. Die einzige Erklärung, die sich für mich logischer- anderen können wir hiermit nicht ausräumen; das über- weise ergibt, ist der klinische Zustand der manischen lasse ich der CDU. Sie sind da sicher auf dem besten Besessenheit von diesen Themen. Anders kann ich das Wege, das im nächsten Jahr zu klären. wirklich nicht nachvollziehen. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Wir (Beifall bei der SPD – Nicole Höchst [AfD]: schicken das Foto vorbei!) Steht in Ihrem Koalitionsvertrag!) Denn es ist absolut vernünftig und richtig, dass die Hier mussten wir Wege finden, wie wir gleichzeitig gesetzgebende Instanz der Vielfalt von Geschlechtsiden- Sicherheit ermöglichen und die Wahlfreiheit der Kom- titäten menschenrechtlich schonend und vernünftig nach- munen und der Bürgerinnen und Bürger gewährleisten. kommt. Das, finde ich, ist notwendig und nicht zu ver- Das war der Dreiklang, der zu leisten war. Die Frage des hetzen. Ebenso ist es wahrlich kein gebotener Moment, Morphings wird angegangen durch die Digitalisierung. um hier Stimmung gegen Migrantinnen und Migranten Dabei ist entscheidend: Sicherheit bei der Produktion zu machen. der Lichtbilder, bei der Übermittlung und auch bei der Herstellung der Dokumente. Es geht um biometrische (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Qualität und Sicherheit. Das alles sind Kriterien, die ge- der LINKEN) währleistet werden mussten. 23906 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Helge Lindh (A) Schon früh in der Gesetzgebung, noch im Entstehen kumente nicht schnell genug durch die Bundesdruckerei (C) des Gesetzentwurfes, haben wir erkannt, dass es notwen- vorlagen, weil gerade jetzt in Zeiten von Corona Ämter dig ist, auch die Interessen der Fotografinnen und Foto- lange brauchen. Deshalb kann die Arbeitserlaubnis jetzt grafen, deren Existenz zum Teil von solchen Aufnahmen direkt in der Fiktionsbescheinigung berücksichtigt wer- abhängt, zu berücksichtigen. Genau aus dem Grunde gibt den. Das ist konkrete Ermöglichung des Fachkräfteein- es eben die Möglichkeit, dass sich Bürgerinnen und wanderungsgesetzes und sinnvoll. Bürger entscheiden können, die Bilder nicht in der Behör- de machen zu lassen, sondern bei privaten Anbietern – Zweite sinnvolle Maßnahme: Der Kommunikationska- wie es im Gesetz heißt –, also bei Fotografinnen und nal zwischen der Ausländerbehörde und der Auslands- Fotografen. Diese wiederum übermitteln das digital vertretung funktioniert jetzt über das Ausländerzentralre- erzeugte Bild an die Behörde. Das Ganze geschieht mit gister. Auch da Entbürokratisierung: keine E-Mails mehr, zertifizierten Geräten, um Sicherheit zu gewährleisten, keine aufwendigen Wege per Post, sondern direkte, ein- und über die Form einer Registrierung. fache Digitalisierung.

(Karlheinz Busen [FDP]: Träum weiter!) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Auch das war uns noch mal in dem parlamentarischen Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte. Verfahren wichtig: Wie ist es für Fotografen praktisch handhabbar, erst recht in der Situation von Corona, wo sie auf jeden Cent achten müssen? – Geräte müssen sicher Helge Lindh (SPD): sein, das Verfahren muss sicher sein. Aber wir wollten So funktioniert intelligente, pragmatische Gesetzge- keine Zertifizierung für Fotografinnen und Fotografen, bung. So hat man einen Grund, Blumenhemden zu tra- die schlicht viel zu aufwendig wäre; daher die Registrie- gen. rung. Trotzdem kann alles genau nachverfolgt werden, Ich wünschen Ihnen allen einen guten Abend. wenn Manipulation vorliegt. Das ist das Ziel: Sicherheit, aber auch Gewährung und Wahrung von Wahlfreiheit. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. Kommen wir zum zweiten Thema im Zusammenhang mit der Wahlfreiheit, das viele intensive Gespräche gefor- Die Kollegen Manuel Höferlin, FDP-Fraktion, und dert hat. Wenn wir entsprechende Möglichkeiten hin- Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke, haben ihre Reden zu 1) (B) sichtlich Fotografinnen und Fotografen einräumen, Protokoll gegeben. (D) muss das auch für die Geräte in den Behörden gelten. Deshalb hat als nächster Redner das Wort der Kollege Deshalb gibt es auch hier wieder zwei Optionen: entwe- Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grünen. der behördliche Geräte – solche, die durch die Bundes- druckerei beschafft werden – oder aber, Variante B, Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schaffung durch die Kommunen über private Anbieter; das ist weiterhin möglich, und das ist gewährleistet. Wir sind sehr zufrieden und stolz darauf, dass uns das gelun- Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen ist; denn es ist eine vernünftige Regelung, die auch NEN): bedeutet, dass dieser Wirtschaftszweig erhalten bleiben Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die kann. Ich glaube, wir alle sollten daran ein Interesse Ankündigung der Bundesregierung, Passbilder zukünftig haben, gerade in den jetzigen Zeiten. nur noch auf der Amtsstube von der Bundesdruckerei anfertigen zu lassen, hat hohe Wellen geschlagen. Unsere Zumal in den Anhörungen – wie ich vorhin hörte, wird Anhörung am vergangenen Montag, Herr Lindh – trotz hier jetzt wieder mehr Wert auf Anhörungen gelegt – sehr Blumenhemd –, die die GroKo nicht wollte, hat noch mal deutlich wurde, dass es keinerlei Sicherheitsdefizite gibt gezeigt, warum das so ist: Diese Reform hat eigentlich bei den Formen, in denen private Anbieter diese Technik nur Verlierer, außer einem Staatsbetrieb; der ist Gewin- bieten. Nein, sie haben teilweise schon die Standards der ner. – Dennoch oder vielleicht gerade deshalb halten die technischen Richtlinien des BSI erfüllt. Das heißt, Sicher- Bundesregierung, die Union und die SPD unbeirrt an heit ist zwingend gegeben. Daher gibt es beide Möglich- diesem Vorhaben fest. Das ist schlecht, meine Damen keiten: behördlich durch die Behörden oder eben privat und Herren. durch Anbieter von Fotoapparaten, von Selfservice-Ter- minals. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich sprach von Lebenswirklichkeiten. Bezüglich der Schlecht ist es; denn in der Anhörung wurden unsere Änderungen im Rahmen des parlamentarischen Verfah- maßgeblichen Kritikpunkte noch mal bestätigt. rens möchte ich noch auf zwei Punkte, die, glaube ich, nicht unbedeutend sind, hinweisen. Wir alle hier wollen, Erstens. Die sicherheitspolitische Notwendigkeit – und dass das Fachkräfteeinwanderungsgesetz funktioniert. damit der Kern Ihres Gesetzes – konnte nicht belegt wer- Das kann aber nur dann funktionieren, wenn wir es prak- den. Wie viele Morphing-Fälle gibt es in Deutschland pro tisch möglich machen. Mittlerweile wurde ja deutlich, Jahr? Niemand weiß es. Es heißt, es ist eine einstellige dass Menschen, die eine Arbeitserlaubnis bekommen haben, teilweise arbeitslos bleiben mussten, weil die Do- 1) Anlage 6 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23907

Dr. Konstantin von Notz (A) Zahl; aber niemand konnte es sagen, und niemand weiß Lesung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen (C) es genau. Deswegen steht die Frage, warum man das die Stimmen von FDP, Fraktion Die Linke und Bünd- überhaupt macht, weiter im Raum. nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der AfD-Fraktion Zweitens. Ein funktionierendes, sicheres System wird angenommen. insofern ohne Not infrage gestellt, und es wird in die Dritte Beratung Wettbewerbsfreiheit von eingerichteten und ausgeübten und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gewerbebetrieben eingegriffen – bei vielen, vielen Betei- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – ligten. Und das ist schlecht. Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser Drittens. Die Bundesdruckerei wird in eine Rolle Gesetzentwurf in der dritten Beratung und Schlussab- gedrängt, die sie voraussichtlich nicht wird ausfüllen stimmung mit den Stimmen von CDU/CSU-Fraktion können oder wollen. Aber als Monopolist ist das ja nicht und SPD-Fraktion gegen die Stimmen von FDP, Linke, so schlimm. Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der AfD-Fraktion angenommen. Die Folgen dieses merkwürdigen Eifers der Großen Koalition: Die Kommunen verlieren erstens relevant Ein- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: fluss und Einnahmen. Zweitens. Die öffentliche Hand Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- muss mindestens 171 Millionen Euro zahlen. Und drit- regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten tens. Für die Bürgerinnen und Bürger wird es teurer, Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Ausfüh- nämlich zusätzlich mindestens 6 Euro pro Ausweis. rung des Protokolls über Schadstofffreisetzungs- Der einzige Gewinner dieser Reform ist die Bundes- und -verbringungsregister vom 21. Mai 2003 druckerei, bei der es – und das ist interessant, da wir über sowie zur Durchführung der Verordnung (EG) zertifizierte BSI-Geräte sprechen; Herr Lindh, da haben Nr. 166/2006 Sie recht – bislang keine solchen Geräte gibt; deren Gerä- Drucksache 19/22846 te sind bisher nicht BSI-zertifiziert. Außerdem ist unklar, ob die Bundesdruckerei in der Fläche den Service über- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- haupt leisten kann, der im Augenblick von privaten schusses für Umwelt, Naturschutz und nukle- Unternehmen geleistet wird. are Sicherheit (16. Ausschuss) All diese Befürchtungen wurden in der Anhörung Drucksache 19/24009 untermauert. Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten vor- Und was machen Sie? Die einzige Neuerung, die Sie gesehen. (B) hier halbgar zu verstecken versuchen, ist ein nochmaliger Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Herrn Par- (D) Entschließungsantrag, den Sie allein im Ausschuss lamentarischen Staatssekretär Florian Pronold für die gestellt haben, damit die Kritik aus den eigenen Reihen Bundesregierung das Wort. während der abschließenden heutigen Beratung nicht all- zu sichtbar wird. So geht es nicht, liebe Kolleginnen und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kollegen! Das ist eben keine gute Gesetzgebung – trotz der CDU/CSU) Blumenhemd. Und dass die vielen negativ Betroffenen das zynisch finden, verstehe ich. Florian Pronold, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- ministerin für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicher- Ganz herzlichen Dank. heit: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich gewusst hätte, dass man über sein Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Hemd sozusagen die Wichtigkeit von Gesetzgebungsver- fahren zum Ausdruck bringt, Vielen Dank, Herr Kollege Dr. von Notz. (Heiterkeit bei der SPD) Der Kollege Hans-Jürgen Irmer, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede zu Protokoll gegeben.1) Deshalb schließe dann hätte auch ich versucht, ein Blumenhemd zu finden. ich die Aussprache. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- steht dir nicht so gut wie dem Kollegen Lindh! – desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE der Sicherheit im Pass-, Ausweis- und ausländerrechtli- GRÜNEN]: Besser nicht!) chen Dokumentenwesen. Der Ausschuss für Inneres und Dieses aktuelle Gesetzgebungsverfahren, das zu später Heimat empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Stunde hier beraten wird, ist ein wichtiger Beitrag. Ich Drucksache 19/24007, den Gesetzentwurf der Bundesre- weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich finde, das Schöne gierung auf Drucksachen 19/21986 und 19/22783 in der an unserem Job als Abgeordnete ist, dass man fast jeden Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Tag etwas dazulernt. Mir ging es so – wie auch vielen dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen Kolleginnen und Kollegen –, als wir uns mit dem Proto- wollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthal- koll über Schadstofffreisetzungs- und -verbringungsre- tungen? – Dann ist dieser Gesetzentwurf in der zweiten gister nach dem Aarhus-Übereinkommen beschäftigt haben. Da habe ich gelernt, dass wir seit 2007 sowohl 1) Anlage 6 in Europa wie auch in Deutschland ein Register haben, 23908 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Parl. Staatssekretär Florian Pronold (A) durch das sich die Bürgerinnen und Bürger über die Frei- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des (C) setzung von Schadstoffen durch Industriebetriebe in Luft, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wasser und Boden sowie über die Verbringung von Im Übrigen wird Frankfurt mit Sicherheit das Rennen Abfällen und Schadstoffen ins Abwasser informieren machen, weil wir zwei Frankfurts haben; es war nicht können. Das kann jeder Bürger und jede Bürgerin im ganz klar, welches Frankfurt Sie meinten, Frankfurt am Internet einsehen. Main oder Frankfurt (Oder). Auf europäischer Ebene sind nun die Berichtspflichten Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rainer Kraft, AfD- zu diesem Übereinkommen geändert worden. Das führt Fraktion. dazu, dass wir den schnelleren Zugang zu Umweltinfor- mationen auch in Deutschland realisieren müssen, damit (Beifall bei der AfD – Michael Theurer [FDP]: die Bürgerinnen und Bürger auch die europäischen Infor- Könnte ja auch mal zu Protokoll geben!) mationen schneller zur Verfügung haben. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stefan Dr. Rainer Kraft (AfD): Müller [Erlangen] [CDU/CSU]) Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Verehr- Wir haben die Fristen im Rahmen dieses Gesetzge- te Gäste an den Bildschirmen! Ja, wir sprechen heute über bungsverfahrens entsprechend verkürzt. Neu ist, dass den Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des zukünftig auch sensible Betreiberinformationen an die Gesetzes zur Ausführung des Protokolls über Schadstoff- Kommission gemeldet werden müssen. Wie bisher wer- freisetzungs- und -verbringungsregister vom 21. Mai den diese Daten aber nicht veröffentlicht, was in den 2003 sowie zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. Beratungen eine gewisse Rolle gespielt hat. 166/2006. Die in diesem Gesetzentwurf geforderten Ver- änderungen betreffen unter anderem die Verkürzung der Dieser Gesetzentwurf begründet keine neuen berichts- Berichtsfristen, die Aufbewahrungsfristen für die Daten pflichtigen Akteure und keine neuen Berichtspflichten, sowie weitere kleinere Verwaltungsänderungen beim was Schadstoffe oder Umstände angeht, sondern ermög- Erheben und Übermitteln dieser Daten. Wie es der Staats- licht es Bürgerinnen und Bürgern, schneller auf aktuelle sekretär angekündigt hat, sind diese Verwaltungsände- Daten in diesem Schadstoffregister zuzugreifen. rungen geringfügiger Natur, und deswegen kann die Die Beratung im Ausschuss hat ergeben, dass fast alle AfD-Fraktion dem Ganzen zustimmen. Fraktionen der Annahme dieses Gesetzentwurfs zuge- (Beifall bei der AfD) stimmt haben. Lassen Sie mich deswegen diese Gelegen- heit nutzen, mich mal ganz herzlich bei allen, die sich an Aber wenn wir schon dabei sind, dann schauen wir uns doch einmal an, ob mit dem Register die Ziele der Ver- (B) der Beratung beteiligt haben, zu bedanken, insbesondere (D) bei den Berichterstatterinnen und Berichterstattern, auch ordnung tatsächlich erreicht werden. Ziele der Verord- bei denen der Großen Koalition, nämlich bei Herrn nung sind unter anderem, Informationen über den Möring und Frau Nissen, die heute nicht hier sein kann Zustand der Umwelt zu sammeln sowie zu einer Verrin- und mir deswegen den Auftrag erteilt hat, an ihrer Stelle gerung von Umweltverschmutzung beizutragen. Wir zu reden. Und da die Frau Kollegin Nissen offensichtlich müssen attestieren, dass eigentlich beide Ziele wenig einen heimlichen Wettbewerb führt, nämlich Frankfurt bis gar nicht von diesem Register berührt werden. zur meisterwähnten Stadt in den Protokollen des Deut- Zum einen liegt das daran, dass alle Emissionen, die in schen Bundestages dieser Legislaturperiode zu machen, diesem Register erfasst werden – seien es Schadstoffe im habe ich ihr versprochen, dass ich Frankfurt in dieser Boden, im Wasser oder in der Luft –, unterhalb der Rede extra noch mal erwähne. gesetzlichen Grenz- und Schwellenwerte liegen. Mithin (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hat der Gesetzgeber den Betrieben bereits attestiert, dass der CDU/CSU – Heiterkeit der Abg. Dr. Anja hier keine Umweltverschmutzung durch den Betrieb der Weisgerber [CDU/CSU] – Ralph Lenkert [DIE Anlagen vorliegt. LINKE]: Was soll man auch sonst bei dem Des Weiteren ist es nicht unbedingt so, dass es der Thema sagen?) Information über den Zustand der Umwelt dient, wenn Ich möchte mich noch mal ganz herzlich für die Bera- ich Informationen darüber zusammentrage, dass ein tungen bedanken und auf den Rest meiner Redezeit ver- Betrieb ungefährliche Abfälle – auch wenn es einige zichten, damit die Beschäftigten des Deutschen Bundes- Tausend Tonnen sein mögen – sammelt und sie dann tages früher nach Hause kommen. innerhalb der nationalen Grenzen an einen Verwerter oder Recycler weiterreicht. Das ist nichts, was der Infor- Herzlichen Dank. mation über den Zustand der Umwelt dient. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Fragen wir doch auch gleich einmal, ob es tatsächlich bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) sinnvoll ist, diese erhobenen Daten zentralistisch in einem Brüsseler Elfenbeinturm von hochdotierten EU- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Beamten zu veröffentlichen. Welches gesteigerte Interes- Herr Staatssekretär, ganz herzlichen Dank für diese se der Öffentlichkeit liegt denn de facto dafür vor, dass innere Einstellung. – Ich kann auch nur empfehlen: ein Bürger, sagen wir, aus Irland oder Portugal wirklich Wenn man schon Blumenhemden tragen will, dann wel- wissen muss, dass in einem bestimmten Betrieb – meinet- che mit Frühlingsblumen, die man als solche erkennen wegen in Litauen, Rumänien oder Griechenland – kann, und nicht mit Herbstblumen. 1 000 Tonnen ungefährlichen Abfalls anfallen, die dann Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23909

Dr. Rainer Kraft (A) zu einem Verwerter oder Recycler gebracht werden? Das (Beifall des Abg. Carsten Träger [SPD]) (C) ist doch ein etwas übersteigertes Informationsbedürfnis, ist die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt die und ich glaube, diese Informationen sollten besser auf Kollegin Dr. Bettina Hoffmann, Bündnis 90/Die Grünen. nationaler, vielleicht sogar auf regionaler Ebene erhoben werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der AfD) Dr. Bettina Hoffmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Womit wir beim letzten und wahrscheinlich wichtigs- NEN): ten Punkt wären, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das (Zuruf von der SPD: Noch wichtiger?) Schadstoffregister ist entgegen der Äußerung von Herrn nämlich der sorglosen und manchmal sogar fahrlässigen Kraft ein wichtiger Baustein für den besseren Zugang zu Veröffentlichung dieser Daten. Die Veröffentlichung Umweltinformationen. Dieses wichtige Instrument wird dieser Daten führt nämlich dazu, dass fachkundige Inge- jetzt noch weiter gestärkt. Zukünftig werden den Bürger- nieure oder fachkundige Wissenschaftler aus diesen ver- innen und Bürgern aktuellere Daten als bisher zur Ver- öffentlichten Abfalldaten Rückschlüsse auf die Zustände fügung gestellt. Das ist eine Weiterentwicklung im Sinne der Betriebe ziehen können, denen diese Daten zugeord- der Aarhus-Konvention und ein Wert an sich. net werden. Das führt so weit, dass man daraus sogar Der Zugang zu Umweltinformationen ist ein zentrales einzelne Prozessparameter ablesen kann, die in diesen Beteiligungsrecht der Bürgerinnen und Bürger, aber es Fabriken und Betrieben verwendet werden, und sogar nützt natürlich nur wenig, wenn es nicht bekannt ist und Rückschlüsse auf die Quellen ziehen kann, aus denen niemand davon weiß oder die Daten schon veraltet sind. diese Betriebe ihre Rohstoffe beziehen. Wenn ich das Es muss also einiges passieren. Das Register funktioniert Ganze mit den modernen Methoden der KI kombiniere, längst noch nicht so gut, wie es müsste. Die Bundesre- wie sie heute Morgen im Abschlussbericht der Enquete- gierung muss dafür sorgen, es bekannter zu machen. Das Kommission erwähnt worden sind, dann stelle ich fest, Beste nützt nichts, wenn niemand davon weiß. Wenn dass gut ausgebildete Ingenieure mittlerweile per Maus- selbst Sie noch nicht davon erfahren haben, dann, glaube klick ein wahrscheinliches Lagebild von den Betriebszu- ich, ist das ziemlich nötig. ständen, von den Prozessparametern und von den betrieb- lichen Kennziffern wie Stückkosten und Energieeffizienz Ich erwarte auch, dass sich die Bundesregierung in der europäischer Betriebe erstellen können. Darüber freut EU für eine inhaltliche Überarbeitung einsetzt. Bislang sich selbstverständlich die außereuropäische Konkur- bleiben die Berichtspflichten für die Industrie auf zu renz. wenige Schadstoffe begrenzt, und sie greifen erst ab (B) bestimmten Schwellenwerten. So werden viele Schad- (D) (Beifall bei der AfD) stoffemissionen gar nicht erst erfasst. Häufig werden Ich fasse zusammen: Die AfD stimmt diesem Gesetz- die Daten auch ohne Kontext berichtet. Eine Einordnung entwurf mit den Verwaltungsänderungen zu. Wir sind in Bezug auf Umweltverschmutzung und Gesundheits- aber nicht der Meinung, dass damit die Ziele der Ver- risiken kann dann gar nicht erfolgen. Viele Industriezwei- ordnung weitestgehend erreicht werden; er erweist sich ge sind ganz von den Berichtspflichten ausgenommen. So daher als nicht förderlich. Wir sind nicht der Meinung, bleibt das Register ein stumpfes Schwert. dass diese Daten zentralistisch in Brüssel erhoben und Diese Baustellen müssen behoben werden. Dann kann veröffentlicht werden sollten, und wir sind dezidiert der das Schadstoffregister dazu beitragen, das Nullschads- Meinung, dass es fahrlässig und sorglos ist, diese betrieb- toffziel in der EU und in Deutschland zu erreichen. lichen Daten – auch diejenigen, die nicht als Geheim klassifiziert werden – international komplett unkontrol- Die EU-Kommission hat eine Überarbeitung des liert der außereuropäischen Konkurrenz zur Verfügung zu Registers bereits angekündigt. Die Bundesregierung stellen. muss das mit aller Kraft unterstützen. Unsere Unterstüt- zung haben Sie dafür. Im Übrigen bin ich dafür, dass die esoterische Masken- pflicht in Deutschland wegen fehlender Wirksamkeit Vielen Dank. sofort beendet wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der AfD – Lachen des Abg. Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Wolfgang Kubicki: DIE GRÜNEN]) Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Hoffmann. – Damit schließe ich die Aussprache. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Sie sollten sie trotzdem aufsetzen, solange die Anord- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- nung gilt. – Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Kraft. desregierung eingebrachten Entwurf eines Ersten Ge- setzes zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung des Da der Kollege Karsten Möring, CDU/CSU-Fraktion, Protokolls über Schadstofffreisetzungs- und -verbrin- die Kollegin Judith Skudelny, FDP-Fraktion, und der gungsregister vom 21. Mai 2003 sowie zur Durchführung Kollege Ralph Lenkert, Fraktion Die Linke, ihre Reden 1) der Verordnung (EG) Nr. 166/2006. Der Ausschuss für zu Protokoll gegeben haben, Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/24009 1) Anlage 7 , den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa- 23910 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) che 19/22846 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Schadholz in unseren Wäldern, die rausmüssen, es ist (C) Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – ein katastrophaler Preisverfall bei Holz zu beobachten, Gegenprobe! – Enthaltungen? – Dann stelle ich fest, dass und 285 000 Hektar müssen wiederbewaldet werden. dieser Gesetzentwurf in zweiter Lesung bei Enthaltung Das sind immense Herausforderungen. der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der übrigen Meine Damen und Herren, unsere Bundesregierung Fraktionen des Hauses angenommen wurde. zögert nicht, sie handelt. Sie hat im vergangenen Jahr Dritte Beratung bereits 800 Millionen Euro als Dürrehilfe auf den Weg gebracht und im Konjunkturpaket 2020 erneut 700 Millio- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem nen Euro beschlossen. Das ist wichtiges Geld, das unsere Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – 2 Millionen Waldbesitzer dringend brauchen, damit sie Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist eine Motivation haben, ihre Wälder weiter zu bewirt- dieser Gesetzentwurf in dritter Beratung und Schlussab- schaften. stimmung bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses angenom- (Beifall bei der CDU/CSU) men. 500 Millionen Euro davon sollen jetzt möglichst kurz- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 sowie den Zusatz- fristig in der Fläche verteilt werden. Das ist extrem wich- punkt 8 auf: tig. Es muss schnell gehen, es muss unkompliziert, aber trotzdem rechtssicher sein. Deswegen hätten wir mit 26 Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- einem eigenen Gesetz viel zu lange gebraucht. Dieses regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten jetzt aufgelegte Omnibusgesetz ist genau der richtige Gesetzes zur Änderung des Landwirtschafts- Weg dafür. erzeugnisse-Schulprogrammgesetzes Ich möchte unser Ernährungsministerium und die Drucksache 19/22857 Ministerin explizit loben, und ich will auch das Bundes- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- finanzministerium und das Umweltministerium, die ses für Ernährung und Landwirtschaft (10. Aus- beteiligt waren, für diesen Schritt loben. Das ist eine ein- schuss) malige Sache. Es mussten Förderrichtlinien auf den Weg Drucksache 19/23755 gebracht werden; ebenso mussten die Ressortabstim- mung und die administrative Umsetzung erfolgen. ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jetzt stehen alle bereit. Die FNR hat den Auftrag, die Karlheinz Busen, Frank Sitta, Dr. Gero Clemens Mittel auszuzahlen. Mit der Zustimmung zu dem heuti- Hocker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion gen Gesetzentwurf hat die FNR die Möglichkeit, die (B) der FDP (D) Daten der SVLFG von den 2 Millionen Waldbesitzern Waldschutzoffensive starten – Schädlingsbe- zu nutzen, damit diese ihren Antrag online stellen kön- fall stoppen, Schadholz bergen, Wälder retten nen. Drucksache 19/21036 Und ja, es gibt Bedingungen für die Auszahlung: Die

Überweisungsvorschlag: Betriebe müssen zertifiziert sein oder sich zertifizieren Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) lassen, und sie müssen Mitglieder einer Berufsgenossen- Ausschuss für Inneres und Heimat schaft sein. Damit ist Missbrauch ausgeschlossen. Verteidigungsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Die Kritik, die schon wieder kommt, nämlich dass man Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit der Gießkanne verteilt, ist vollkommen unberechtigt Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen und unnötig, weil die Alternative so schlimm wäre. Haushaltsausschuss Warum ist das so wichtig? Unsere Wälder, insbeson- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten dere junge Mischwälder, sind der Klimaretter Nummer beschlossen. eins. Ich sehe, wir können beginnen. – Ich eröffne die Aus- (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Dann sollten Sie sprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen sie nicht abholzen!) Alois Gerig, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. Wir müssen aufforsten; (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Ja!) Alois Gerig (CDU/CSU): denn wir alle wissen: Das Sinnbild für Nachhaltigkeit ist Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Schützen durch Nutzen. Und das Gegenteil sind stillge- Kollegen! Meine Damen und Herren! Zum Schulpro- legte Wälder. Das sind Bannwälder, die mehr CO2 emit- grammgesetz hat meine Kollegin ihre Rede zu Protokoll tieren, gegeben; deshalb kann ich mich um den schönen Teil (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) kümmern, nämlich um das Omnibusgesetz, das wir als Änderungsgesetz eingebracht haben. Da geht es um die als sie einlagern. Das wollen wir nicht; das brauchen wir Nachhaltigkeitsprämie für unseren deutschen Wald. nicht. Ja, unser Wald braucht Hilfe. Drei katastrophal trocke- Unbewirtschaftete Wälder sind darüber hinaus auch ne Jahre, verbunden mit Stürmen, haben viele Kalamitä- noch gefährlich. ten ausgelöst. Es liegen 185 Millionen Kubikmeter (Zuruf der Abg. [FDP]) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23911

Alois Gerig (A) Sie sind Käferschleudern und sorgen für den Befall erzeugnisse-Schulprogrammgesetz. – Aber darum geht es (C) gesunder Nachbarkulturen, und die Waldbesitzer können heute ja gar nicht. Sie haben in dieses Gesetz die Belange ihrer Verkehrssicherungspflicht nicht mehr nachkom- des Waldes hineingepackt. Herr Kollege Gerig, es ver- men. Das beste Negativbeispiel ist der Nationalpark steht keiner da draußen, warum sie den wichtigen Bereich Harz, wo große Probleme vorherrschen – ich bekomme „Forst und Wald“ in diese Kiste packen. Das gehört diesbezüglich jeden Tag Anrufe –, wo die Besucher nicht eigentlich in ein eigenes Gesetz. mehr frei in den Wäldern spazieren gehen können. Das (Beifall bei der AfD – wollen wir nicht. Wir wollen, dass die Wälder gepflegt [CDU/CSU]: Das hat er doch erklärt! Hören sind und dass sie genutzt werden. Sie doch mal zu! – Alois Gerig [CDU/CSU]: Wir brauchen Multifunktionalität in unseren Wäldern. Ich habe es erklärt!) Der Wald ist die CO2-Senke schlechthin: 8 Tonnen je Hektar und Jahr, haben Experten ausgerechnet. Wir müs- – Sie haben es erklärt; es ist aber nicht logisch. Und sen für die Zukunft überlegen, wie wir die Ökosystem- außerdem: Sie erzählen hier was vom Spazierengehen leistungen unserer Wälder honorieren. Wir müssen daran und vom Aufblühen. Die Waldbesitzer da draußen blühen arbeiten, dass die Motivation auch für die Zukunft erhal- zurzeit gar nicht auf – das wissen Sie –; sie haben Tränen ten bleibt. in den Augen, Der Wald ist Wirtschaftsfaktor. Man beachte: 1,2 Mil- (Albert Stegemann [CDU/CSU]: Deswegen lionen Menschen leben direkt oder indirekt von der Wert- machen wir es ja!) schöpfungskette „Wald und Holz“, und 170 Milliarden wenn sie sich anschauen, wie kaputt und wie stark von Euro werden dort im Durchschnitt umgesetzt. Das ist Käfern befallen die Wälder sind. extrem wichtig. Kommen wir nun also zum Wald. Ich bin den Kollegen (Beifall bei der CDU/CSU) von der FDP dankbar, dass sie ihren Antrag dazugestellt Die Menschen müssen sich im Wald frei bewegen kön- haben. Darüber kann man wirklich inhaltlich reden. nen – Erholungsfaktor Wald. Man stelle sich vor, die Ich habe die Bundesregierung kürzlich nach dem Stand Menschen könnten sich in der Coronapandemie nicht der Auszahlung der Mittel zur Waldhilfe gefragt; auch im frei in unseren Wäldern bewegen. Da muss jeder nur Ausschuss habe ich wieder gefragt. Die Antwort war, wie mal rausgehen, wenn das Wetter schön ist. Dann erlebt nicht anders zu erwarten, völlig nichtssagend, so nach man, wie die Menschen aufblühen, wenn sie bei all der dem Motto: Wir haben alles im Griff. Last, die sie aktuell tragen, die gute Luft in unseren Wäl- dern genießen können. Es ist ja schön, dass für knapp 70 Prozent der Mittel (B) bereits Anträge vorliegen, aber es geht jetzt doch darum, (D) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dass die Mittel auch ausgezahlt werden. Es geht doch NEN]: „Unseren Wäldern“!) darum, dass diese Mittel jetzt im Wald auch ankommen. Die Nachhaltigkeitsprämie hilft, die Waldbesitzer – Noch gibt es gar keine Richtlinie für die Förderungs- auch die Kleinwaldbesitzer – zu motivieren, ihre Wälder voraussetzungen. Es gibt gar kein Regelwerk, wer über- weiter zu bewirtschaften und wieder aufzuforsten. Sonst, haupt antragsberechtigt ist. Sie sprechen von einer Zerti- liebe Kolleginnen und Kollegen, müssten wir zukünftig fizierung. Da bin ich mal gespannt, wann sie kommt. In unser Holz importieren. Wir hätten keine Chance, die welcher Form sie kommt, ist noch nicht sicher. – So retten Klimaziele zu erreichen, und die Menschen müssten viel- wir den Wald sicherlich nicht. leicht auf der Straße spazieren gehen. (Beifall bei der AfD) (Zuruf: Kann man auch!) Aber nicht nur die Bürokratie – die bürokratischen Deswegen empfehle ich Ihnen dringend die Zustimmung Hürden im Antragswesen – belastet die Waldbesitzer. zu diesem Gesetzentwurf. Nach den ganzen Kalamitäten – Borkenkäferbefall, Tro- Vielen herzlichen Dank. ckenheit, Sturm – wissen die Waldbesitzer doch gar nicht (Beifall bei der CDU/CSU) mehr, wie sie ihr Schadholz momentan aus dem Wald rausbekommen, wie sie es abtransportieren, wo sie es lagern können und ob sie überhaupt noch einen Käufer Vizepräsident Wolfgang Kubicki: finden können. Da kommen Lagerungs- und andere Vielen Dank, Herr Kollege Gerig. Betriebskosten hinzu. Das sind die Probleme, die die (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Waldbesitzer jetzt haben. NEN]: Wie viele Minuten waren das?) Die Antwort der Bundesregierung: Sie öffnen ziellos Nächster Redner ist der Kollege Peter Felser, AfD- einen Fördertopf nach dem anderen. – Ich bin auch für Fraktion. Hilfe; aber so ziellos, wie Sie es jetzt machen, kommen wir sicherlich nicht weiter. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Peter Felser (AfD): Sie wollen ein „Investitionsprogramm Wald“ mit wei- Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kollegen! Esst teren 50 Millionen Euro für Digitalisierung und Technik, mehr Obst und Gemüse, trinkt täglich einen großen für Maschinen, für Geräte und Rückepferde, für Anlagen Schluck Milch dazu: So heißt es frei im Landwirtschafts- und Bauten aufsetzen. 23912 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Peter Felser (A) (Zuruf des Abg. [AfD]) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) Dafür gibt es dann einen Zuschuss von 40 Prozent. Der Vielen Dank, Herr Kollege Felser. – Ich erteile nun- Restbetrag kann dann noch durch einen zinsgünstigen mehr das Wort dem Kollegen Rainer Spiering, SPD-Frak- Programmkredit der Landwirtschaftlichen Rentenbank tion. finanziert werden; so ist zumindest der Plan. (Beifall bei der SPD) Die forstlichen Lohnunternehmer beispielsweise zah- len aber doch jetzt gerade noch die Kreditlasten aus ver- Rainer Spiering (SPD): gangenen Förderperioden ab. Das sehen wir doch auch Herr Präsident! Verehrtes Haus! Heute hier zu spre- jetzt in der Lockdown-Krise: Ein angeschlagenes oder chen, ist mir eine Herzensangelegenheit. Deswegen auch überschuldetes Unternehmen kann doch nicht mit gebe ich die Rede auch nicht zu Protokoll. noch mehr Schulden gerettet werden. Das will auch gar nicht noch mehr Schulden und Kredite aufnehmen. Ich bin in einem Elternhaus mit einem selbstständigen Handwerksmeister aufgewachsen. Der Geruch von Holz (Albert Stegemann [CDU/CSU]: Also keine begleitet mich seit meiner frühesten Kindheit. Holz ist ein Hilfen, oder was?) unglaublich toller Werkstoff. Liebe Kollegen, bei alldem werden dann dank grandio- ser Ideen auch noch große Waldflächen aus der Bewirt- Alois Gerig hat das Verfahren angesprochen, das wir schaftung rausgenommen. Schauen wir nach Niedersach- gewählt haben; das haben wir gut gemacht. Mein Dank sen: Dort wird ein sogenannter Niedersächsischer Weg gilt dem Trio Mackensen, Wiese und Gerig, die es als eingeschlagen. Man folgt dort einer grünen Klimaideolo- Koalitionäre zusammen hinbekommen haben, das gie und lässt das Holz verrotten. ordentlich niederzuschreiben. Mein besonderer Dank gilt dem Finanzminister, der auf uns gehört hat. Insofern (Rainer Spiering [SPD]: Ah!) können wir jetzt 500 Millionen Euro in Bewegung setzen. – Ja, Herr Kollege Spiering, man lässt es dort verrotten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Schauen Sie es sich dort doch an! der CDU/CSU) Das ist ein Vorgeschmack auf Schwarz-Grün: Die Kollege Felser, wenn Sie aufgepasst hätten, dann hät- forstlichen Lohnunternehmer müssen ihre Arbeit von ten Sie auch verstanden, was dahintersteckt. Hinter dem März bis September unterbrechen. Begriff „Digitalisierung“ steckt nicht mehr und nicht we- (Rainer Spiering [SPD]: Das ist Schwarz-Rot niger, als dass wir das, was uns an digitaler Technik – das (B) in Niedersachsen!) heißt Satellitentechnik, Drohnentechnik usw. – zur Ver- (D) fügung steht, nutzen, um Biomasse im Sinne des Fort- – Ich weiß, aber das ist ein „Vorgeschmack auf Schwarz- bestands der Forstwirtschaft zu beobachten. Damit haben Grün“. Hören Sie mir bitte genau zu! wir erst die Daten, um agieren zu können. Insofern ist die (Beifall bei der AfD) Digitalisierung ein sehr richtiger Schritt. – Das sage ich auch dem Kollegen Protschka, der da eben etwas einge- Die Lohnunternehmer dort müssen ihre Harvester von worfen hat. März bis Oktober stilllegen. Die Maschinenführer gehen dann in andere Bereiche, etwa in Gartenbaubetriebe; die Nächster Punkt. Wir haben mit dem Holz einen Werk- sind weg. Der Niedersächsische Weg ist ein Holzweg, stoff, der universell einsetzbar ist. Es ist übrigens ein liebe Kollegen. tradierter Werkstoff, mit dem weit über tausend Jahre Erfahrungen gesammelt wurden. Der nachwachsende (Beifall bei der AfD – Albert Stegemann Rohstoff Holz ist eine der größten CO2-Senken, die wir [CDU/CSU]: Ein deutscher Weg wäre Ihnen überhaupt haben. Wir nutzen sie, wenn wir diesen Roh- lieber, oder?) stoff im Bau verwenden, weil dann kein CO2 freigesetzt Unser Vorschlag entspricht dem, was die FDP heute wird. So können wir nachhaltig bestimmte Mengen Holz fordert: Das Schadholz muss jetzt aus dem Wald raus. für 50 bis 100 Jahre als CO2-Speicher nutzen, anstatt es in Wir brauchen auch die Plätze der Bundeswehr; die sollten die Umwelt zu emittieren. Damit schützen wir also die für das Holz genutzt werden. Umwelt vor CO2-Emissionen. – Ihr könnt ruhig applau- dieren. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herr Kollege Felser, kommen Sie zum Schluss. der CDU/CSU) Der entscheidende Punkt: Hier ist ein Ansatz, um einen Peter Felser (AfD): nachhaltigen, nachwachsenden Rohstoff mit einem der Vor einem Jahr haben wir gefordert, im Rahmen der wirklich stärksten Wirtschaftszweige, die wir in Deutsch- Amtshilfe auch Bundeswehrsoldaten einzusetzen, damit land haben, nämlich dem Handwerk – seriös, zuverlässig, das Holz aus den Wäldern rauskommt. – Vielen Dank, gut ausgebildet, zukunftsorientiert –, zu kombinieren. Ich Herr Präsident. nenne Ihnen Beispiele, wo wir Holzbau anwenden kön- Danke schön. nen: Turnhallenbau, Schulbau, Brückenbau, Bau moder- ner Krankenhäuser, Innenausbau. All das sind Einrich- (Beifall bei der AfD) tungen, die mit Holz wunderschön zu konstruieren sind. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23913

Rainer Spiering (A) Wir nehmen 70 Millionen Euro in die Hand, Herr Zwei Dinge werden gebraucht: (C) Kollege Felser, um deutsches Handwerk und deutsche Erstens. Die Waldbesitzer brauchen dringend Liquidi- Architektur nachhaltig zu unterstützen. tät, (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ (Albert Stegemann [CDU/CSU]: Ja, was ist das DIE GRÜNEN]: Sie müssen mal anfangen!) denn sonst hier?) Das ist unser Ansatz: aber doch nur da, wo der Wald auch tatsächlich Schaden (Beifall bei der SPD) genommen hat. die Kombination eines nachwachsenden Rohstoffes mit Zweitens. Wir brauchen eine langfristige Strategie zur einem Wirtschaftszweig, der, anders als andere Wirt- Waldbewirtschaftung. schaftszweige, ordentlich bezahlt, gut ausbildet, seriös (Beifall bei der FDP) und zukunftsfest ist. Diese Bedingungen wünschen wir uns für alle Arbeitskräfte in Deutschland, und deswegen Union und SPD betreiben aber eine ideenlose Politik auf sind wir diesen Weg gegangen. Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners, und der ist: Geld ins Schaufenster stellen, statt zeitgemäße Hilfen auf Herzlichen Dank. den Weg zu bringen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der FDP) der CDU/CSU) Die Grünen helfen mit ihren Vorschlägen zu Urwäl- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: dern und Stilllegungen nur einem Einzigen, und das ist der Borkenkäfer. Vielen Dank, Herr Kollege Spiering. – Herr Kollege Spiering, bei dem ganzen Herzblut, das Sie gerade ver- (Beifall bei der FDP – Harald Ebner [BÜND- strömt haben, haben Sie vergessen, Ihre Maske aufzuset- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh nein!) zen. Sie waren so von sich ergriffen – ich verstehe das. Statt Geld aus dem Fenster zu werfen, brauchen wir, wie (Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU – gesagt, eine langfristige Strategie über das Jahr 2021 Rainer Spiering [SPD]: Ja! Herr Präsident, Sie hinaus. auch!) (Beifall bei der FDP) Nächster Redner ist der Kollege Karlheinz Busen, Die Liquidität der Forstbetriebe muss wiederherge- FDP-Fraktion. stellt werden, und die Klimaschutzleistung des Waldes (B) (Beifall bei der FDP) muss honoriert werden. Dazu haben wir als FDP-Fraktion (D) mehrere Vorschläge gemacht. Karlheinz Busen (FDP): Erstens müssen wir ein staatliches Aufkaufprogramm Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man für das Schadholz haben, das unbedingt aus dem Wald die Überschrift des Gesetzentwurfs liest, dann kommt heraus muss. man niemals auf die Idee, dass hier auf fragwürdige Art und Weise Geld an die Waldbauern verteilt werden soll. (Beifall bei der FDP) Zweitens brauchen wir eine Vergütung für die CO - (Alois Gerig [CDU/CSU]: Man muss nur auf 2 Bindung, die der Wald leistet, und da lautet das Stich- das Kleingedruckte achten!) wort: Emissionshandel. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und von der SPD, heimlich, still und leise sollen hier die (Beifall bei der FDP) Grundlagen für eine flächendeckende Waldprämie Drittens brauchen wir Wettbewerb und Innovationen in geschaffen werden. Eine Debatte im Ausschuss haben der Holzwirtschaft. Wir brauchen Holz eben nicht nur für Sie ganz bewusst nicht gewollt, und Sie sind ihr aus das Bauen, sondern auch die Industrie muss Holz nutzen. dem Weg gegangen. Aber das lassen wir so nicht durch- Auch im Fahrzeugbau kann man Holz gebrauchen und gehen. verarbeiten, ebenso im Bereich des Schienenverkehrs. Da (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Harald müssen wir innovativ werden und Holz verarbeiten. Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Albert (Beifall bei der FDP) Stegemann [CDU/CSU]: Herr Gerig hat dazu Nur bei Umsetzung dieser Vorschläge können die sieben Minuten gesprochen!) Waldbesitzer wieder investieren, und das ist die Grund- Es steht vollkommen außer Frage, dass es dem Wald lage für eine schnelle Wiederbewaldung der deutschen schlecht geht. Durch die Trockenheit und durch den Wälder. Borkenkäfer ist der Wald krank. Diese Situation gibt es schon seit drei Jahren, und Sie hätten schon drei Jahre die Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Möglichkeit gehabt, hier was zu machen. Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte. (Beifall bei der FDP) Ihre Flächenprämie – als einmaliges Helikoptergeld – Karlheinz Busen (FDP): wird, was ihre Wirkung draußen angeht, einfach nur ver- Ich muss Ihnen auch sagen: Der Wirtschaftswald ist ein puffen. CO2-Speicher – 23914 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Unruhe) (C) Herr Kollege Busen, bitte. – Ich finde es extrem laut hier und extrem unhöflich, und ich möchte Sie bitten, leiser zu sein. Karlheinz Busen (FDP): Die Linke fordert seit Jahren, dass der Bund ein Pro- – und nicht der Urwald, der CO2 freisetzt – gramm in Höhe von 2 Milliarden Euro auflegt, damit allen Kindern und Jugendlichen in Deutschland eine bei- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: tragsfreie und qualitativ hochwertige Kita- und Schulver- Herr Kollege Busen! pflegung zukommen kann. (Beifall bei der LINKEN) Karlheinz Busen (FDP): Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernäh- – und das Klima schädigt. rung und gesundheitlichen Verbraucherschutz hat unsere Forderungen in seinem Gutachten bestätigt. Gerade in Vizepräsident Wolfgang Kubicki: dieser Woche hat der Hauptverantwortliche für dieses Hören Sie mich nicht? Gutachten im Ausschuss gesagt – ich zitiere –: Eine bei- tragsfreie und qualitativ hochwertige Kita- und Schulver- pflegung schrittweise in ganz Deutschland zu etablieren, Karlheinz Busen (FDP): ist die wichtigste und drängendste Maßnahme, um eine Danke. nachhaltige Ernährung zu erreichen. – Und so ist es: (Beifall bei der FDP) Gesunde Ernährung ist eine gesamtgesellschaftliche Auf- gabe. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall bei der LINKEN) Vielen Dank. – Es ist sehr spät, Herr Kollege Busen, Nun noch zum notleidenden Wald: Auch ein gesunder und die Uhrzeit zu beachten, ist nicht jedermanns Sache. Wald ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Mit dem Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Leidig, Frak- Thema standen wir schon im Mai 2019 auf der Matte. Die tion Die Linke. Linksfraktion hatte damals aufgrund der aktuell sehr dra- matischen Situation durch die Trockenheit ein Soforthil- (Beifall bei der LINKEN) feprogramm beantragt. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ver- Sabine Leidig (DIE LINKE): staatlichung wahrscheinlich!) (B) Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich rede (D) jetzt erst mal zu dem Tagesordnungspunkt, der hier an Das haben Sie vor einem Jahr leider abgelehnt. Dadurch der Tafel steht. haben Sie wirklich Zeit vergeudet. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Dass jetzt relativ viel Geld kommt, ist gut, aber es eilt; Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Aber denn ohne schnelle Hilfe werden vor allem viele Klein- nur drei Minuten!) waldbesitzerinnen und -besitzer möglicherweise verkau- fen müssen, und das wäre schlecht. Die Europäische Union fördert seit 2009 ein Pro- gramm, über das Schulkinder mit Obst, Gemüse und Allerdings ist es auch so, dass der Wald ohne gute Milch versorgt werden sollen, und das finden wir völlig Forstleute nicht gerettet wird. Der Personalabbau über richtig. Wir kritisieren aber die Umsetzung in Deutsch- viele Jahre ist ein riesiges Problem. Wir brauchen mehr land. Menschen für diese wichtige Arbeit, und die müssen anständig bezahlt werden. Die Koalition hat die Verantwortlichkeit und damit auch die Finanzierung an die Bundesländer abgeschoben. (Beifall bei der LINKEN) Dabei ist das Hauptziel der EU, dass mehr heimisches Zum Schluss noch ein Punkt für die, die sich gerade für Obst und Gemüse gekauft werden. Damit könnte die den deutschen Wald so begeistert haben: Ich finde, wir Bundesregierung gezielt die regionale Landwirtschaft müssen vor allem gesunde Wälder schützen. Es ist ein und eine gesunde Ernährung gleichzeitig unterstützen, Frevel, dass dieser Tage hektarweise alter gewachsener und genau das fordern wir als Linke. Mischwald abgeholzt wird, um noch mehr Autobahnen (Beifall bei der LINKEN) zu bauen. Lebensmittel sollen für die Versorgung produziert wer- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) den und nicht für den Weltmarkt. Mit dem Gesetzentwurf, um den es heute an erster Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Stelle geht, wird lediglich deutsches Recht an europä- Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. ische Vorgaben angepasst. Dagegen haben wir gar nichts einzuwenden. In der Sache ist das aber trotzdem sehr Sabine Leidig (DIE LINKE): unbefriedigend, weil der bürokratische Kontroll- und Das findet gerade für die A 49 in Hessen statt. Wir Abrechnungsaufwand, den die Länder leisten müssen, unterstützen das Anliegen der Klimaaktivistinnen und um den Kindern so etwas zu gewähren, in keinem ange- -aktivisten, und ich kann Ihnen nur empfehlen, das auch messenen Verhältnis zum Nutzen steht. zu tun und sich dem Verkehrsminister entgegenzustellen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23915

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Ja, unser Wald braucht Hilfe, aber Sie versemmeln (C) Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss. dieses wichtige Thema nicht nur formal, sondern auch inhaltlich. Ihre Geldbazooka zielt allein auf Flächenbe- sitz. Sie schaffen eine neue Flächenprämie – „Waldprä- Sabine Leidig (DIE LINKE): mie“ genannt –, als hätten wir nichts aus der GAP, der Die Losung lautet: Wald statt Asphalt! Gemeinsamen Agrarpolitik, gelernt. Die einzige Bedin- (Beifall bei der LINKEN) gung ist eine Zertifizierung, wie zum Beispiel PEFC. Damit ist ein Pestizideinsatz im Wald nicht ausgeschlos- sen, Kahlschläge sind damit nicht ausgeschlossen, und Vizepräsident Wolfgang Kubicki: auch Monokulturen aus exotischen Baumarten sind damit Nächster Redner ist der Kollege Harald Ebner, Frak- nicht ausgeschlossen. Das bringt ökologisch nichts. tion Bündnis 90/Die Grünen. 70 Prozent der Fläche sind schon so zertifiziert. Sie pro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – duzieren ausschließlich Mitnahmeeffekte ohne Zugewinn Albert Stegemann [CDU/CSU]: Harald, denk fürs Gemeinwohl. Profiteure sind die Großwaldbesitzer. dran: Es ist schon spät! Übertreib jetzt nicht (Albert Stegemann [CDU/CSU]: Lieber wieder so!) Harald, du weißt es doch besser!) Das ist nicht unsere Vorstellung von einer zukunftsfähi- Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gen Waldpolitik. Statt einer Flächenprämie brauchen wir Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und eine wirksame Beschleunigung des Waldumbaus hin zu Kollegen! Landwirtschaftserzeugnisse-Schulprogramm- vielfältigen, biodiversen und stabilen Wäldern und einer gesetz, alias Schulobstprogramm: ein an sich völlig naturnäheren Waldbewirtschaftung, lieber Alois Gerig. unstrittiger TOP am Ende des Tages. Was Sie aber unter dieser Überschrift hier schnell noch hineingepackt haben, (Alois Gerig [CDU/CSU]: Genau das machen hat mit Schulobst überhaupt nicht das Geringste zu tun. wir!) Immerhin hat der Kollege Gerig das jetzt ja angespro- Daran müssen wir doch unsere Hilfen binden. chen. Sie hätten das heute aber am liebsten gar nicht Wir müssen mehr Holz im Wald lassen, auch um debattiert. Wir mussten Sie erst dazu zwingen. Humus aufzubauen und CO2 zu speichern. Ich empfehle, (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Nein, da mal auf die Wissenschaft zu horchen. Sie holen sich nein!) jetzt aber – ich bin sofort fertig, Herr Präsident – zu später Stunde (B) Sie mogeln uns hier ganz nebenbei eine Waldbesitzprä- (D) mie in Höhe von einer halben Milliarde Euro unter, die (Rainer Spiering [SPD]: Zu spät!) Sie quasi mit dem Feuerwehrschlauch verteilen wollen. die Prokura, dieses viele Geld ohne Gegenleistung herz- Schon allein das ist ein Unding. uschenken. Das ist eine vertane Chance für den Zukunfts- (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und wald; das machen wir nicht mit. bei der LINKEN) Gute Nacht. Doch damit nicht genug. Damit Sie das viele Geld auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – möglichst schnell hinausblasen können, jubeln Sie uns Rainer Spiering [SPD]: Der Kollege Ebner hat heute ein Konstrukt unter, das regelrecht ein Organisa- dem Omnibusverfahren übrigens zugestimmt!) tionsversagen des Ministeriums offenbart. Weil nämlich keine ministerielle Behörde in der Lage ist, so viel Geld möglichst schnell zu verteilen, wollen Sie jetzt eine exter- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: ne Agentur, die Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe, Vielen Dank, Herr Kollege Ebner. – Weil die Kollegin mit dieser hoheitlichen Aufgabe beleihen, und Sie Katharina Landgraf, CDU/CSU-Fraktion, ihre Rede zu ermächtigen sie auch gleich noch dazu, auf Versiche- Protokoll gegeben hat1), kommt jetzt sofort als letzte rungsdaten der Berufsgenossenschaften zuzugreifen. Rednerin des heutigen Tages die Kollegin Isabel Mackensen, SPD-Fraktion, zu Wort. So was nachts um 23 Uhr unter der Überschrift „Schul- obst“ abzuhandeln, ist mindestens schnodderig – ich wür- (Beifall bei der SPD) de eher „dreist“ sagen – und der Sensibilität solcher Vor- gänge nicht angemessen. Isabel Mackensen (SPD): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Alois Gerig [CDU/CSU]: Rechtssicherheit!) Liebe Kollegen! Auch dieses Wochenende war ich in meinem Wahlkreis im Pfälzer Wald unterwegs: von Obwohl wir das hier und heute noch nicht mal be- Höningen bis zum Naturfreundehaus Rahnenhof in Hert- schlossen haben, berichtet die FNR auf ihrer Internetseite lingshausen. Die Lage ist erschreckend. Das dritte Tro- schon seit gestern von ihren neuen Aufgaben. Ich finde, ckenjahr in Folge, Stürme und der Borkenkäferbefall sind das ist respektlos diesem Haus gegenüber. auch hier deutlich sichtbar. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) 1) Anlage 8 23916-23928 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

Isabel Mackensen (A) In den Forstgebieten Ganerben und Jerusalemsberg haltige Bewirtschaftung unserer Wälder sicherzustellen. (C) sind hauptsächlich Fichtenbestände betroffen, doch es Die in der Forstwirtschaft aktuell erzielbaren Holzpreise zeichnet sich ab, dass auch immer mehr Laubbäume reichen nicht mehr aus, um den Wald nachhaltig zu gravierende Schäden aufweisen. Ahorne und Eichen bewirtschaften. Dies ist aber notwendig, damit der Wald schwächeln, aber auch die Buchen. Diese wichtigen auch weiterhin der größte CO2-Speicher, ein Naherho- heimischen Bäume werden immer anfälliger für Krank- lungsort und Lebensraum für Wildtiere und Insekten heiten und Schädlinge. bleibt. Als waldpolitische Sprecherin der SPD-Bundes- Aufgrund der Coronapandemie verstärken sich die tagsfraktion setze ich mich aktiv dafür ein, dass diese negativen Folgen noch einmal. So spitzt sich die Situa- Ökosystemleistungen honoriert werden. tion auf den Holzmärkten weiter zu, und die Lagerplätze Vielen Dank. platzen aus allen Nähten. Die kommunalen und privaten Forstbetriebe sind mit enormen wirtschaftlichen Heraus- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten forderungen konfrontiert. der CDU/CSU) Daher hat der Deutsche Bundestag schnell reagiert und das Coronakonjunkturpaket auf die Beine gestellt. Im Vizepräsident Wolfgang Kubicki: zweiten Nachtrag zum Bundeshaushaltsplan 2020 haben Vielen Dank, Frau Kollegin. – Damit schließe ich die wir als Parlament 700 Millionen Euro für den Wald als Aussprache. direkte Unterstützung bereitgestellt, darunter auch 500 Millionen Euro für Maßnahmen zum Erhalt und zur Tagesordnungspunkt 26. Wir kommen zur Abstim- nachhaltigen Bewirtschaftung der Wälder. mung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Landwirtschafts- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) erzeugnisse-Schulprogrammgesetzes. Der Ausschuss für Für uns als SPD-Fraktion ist wichtig, dass Vorausset- Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner zung für die Waldprämie die nachhaltig zertifizierte Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/23755, den Waldbewirtschaftung ist und dass ökologisch besonders Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache hochwertige Zertifizierungssysteme bessergestellt wer- 19/22857 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte den. Die Waldzertifizierung verfolgt das Ziel, die Nach- diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- haltigkeit und Umweltverträglichkeit von Produkten aus sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen- dem Wald zu kontrollieren und für die Käuferinnen und probe! – Enthaltungen? – Keine. Dann ist dieser Gesetz- Käufer erkennbar zu machen. Hier gibt es den PEFC- entwurf in zweiter Lesung gegen die Stimmen der Standard sowie den FSC-Standard und den vergleichba- Fraktion der FDP und von Bündnis 90/Die Grünen mit (B) ren Naturland-Standard, welche noch einmal deutlich den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses ange- (D) konkretere, ökologischere Anforderungen, was die nicht nommen. bewirtschaftete Fläche und die Kontrollhäufigkeit an- geht, haben. Dritte Beratung Formal geht es heute aber um die Änderung des Land- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem wirtschaftserzeugnisse-Schulprogrammgesetzes, mit der Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – die Umsetzung des EU-Schulprogramms verbessert und Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Auch wieder es an das EU-Recht angepasst wird. Dieses ermöglicht keine. Dann ist dieser Gesetzentwurf in dritter Beratung die Abgabe von Obst, Gemüse und Milchprodukten an und Schlussabstimmung gegen die Stimmen der Fraktion Kinder in Bildungseinrichtungen. Das ist ein großartiges der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit Programm, um Kinder an gesunde Lebensmittel heranzu- den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses ange- führen. nommen. Der Änderungsantrag zum Wald schafft die rechtlichen Zusatzpunkt 8. Interfraktionell wird Überweisung der Voraussetzungen für die Gewährung der Waldprämie. Vorlage auf Drucksache 19/21036 an die in der Tages- Die schnelle Abwicklung der finanziellen Zuwendungen ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Gibt übernimmt hierbei die Fachagentur Nachwachsende es weitere Überweisungsvorschläge? – Ich sehe, das ist Rohstoffe. nicht der Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. Was ist die Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe? Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Die FNR ist ein Verein, der als Projektträger fungiert Schluss unserer heutigen Tagesordnung. und das Bundesministerium für Ernährung und Landwirt- schaft bei angewandter Forschung und Entwicklung im Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- Bereich der nachhaltigen Erzeugung und der Nutzung tages auf morgen, Freitag, den 6. November 2020, 9 Uhr, nachwachsender Rohstoffe unterstützt. ein. Die Waldprämie als Coronasoforthilfe ist als schnelle Die Sitzung ist geschlossen. Unterstützung für die Jahre 2020 und 2021 gedacht. Langfristig braucht es aber neue Konzepte, um die nach- (Schluss: 23.14 Uhr) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23929

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1 Entschuldigte Abgeordnete

Abgeordnete(r) Abgeordnete(r)

Bellmann, Veronika CDU/CSU Nord, Thomas DIE LINKE Benning, Sybille CDU/CSU Oehme, Ulrich AfD Brandt, Michel DIE LINKE Pilger, Detlev SPD Dassler, Britta Katharina FDP Post, Florian SPD Diaby, Dr. Karamba SPD Radomski, Kerstin CDU/CSU Domscheit-Berg, Anke DIE LINKE Remmers, Ingrid DIE LINKE Esdar, Dr. Wiebke SPD Rimkus, Andreas SPD Fahimi, Yasmin SPD Roth (Heringen), Michael SPD Freihold, Brigitte DIE LINKE Rupprecht, Albert CDU/CSU Gabelmann, Sylvia DIE LINKE Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Gädechens, Ingo CDU/CSU Schäfer (Saalstadt), Anita CDU/CSU Glaser, Albrecht AfD Schiefner, Udo SPD Hahn, Florian CDU/CSU Schlund, Dr. Robby AfD Hartmann, Verena fraktionslos Schmidtke, Dr. Claudia CDU/CSU (B) Hebner, Martin AfD (D) Schulze, Dr. Klaus-Peter CDU/CSU Herdt, Waldemar AfD Schwartze, Stefan SPD Herzog, Gustav SPD Seitz, Thomas AfD Hollnagel, Dr. Bruno AfD Solms, Dr. Hermann Otto FDP Juratovic, Josip SPD Steinke, Kersten DIE LINKE Kemmer, Ronja* CDU/CSU Strack-Zimmermann, FDP Konrad, Carina FDP Dr. Marie-Agnes Kuhle, Konstantin FDP Strenz, Karin CDU/CSU Lamers, Dr. Dr. h. c. Karl A. CDU/CSU Teuteberg, Linda FDP Maas, Heiko SPD Vries, Christoph de CDU/CSU Magnitz, Frank AfD Wagenknecht, Dr. Sahra DIE LINKE Magwas, Yvonne CDU/CSU Weber, Gabi SPD Mattheis, Hilde SPD Weiler, Albert H. CDU/CSU Mieruch, Mario fraktionslos Weingarten, Dr. Joe SPD Möhring, Cornelia DIE LINKE Zdebel, Hubertus DIE LINKE Müller, Bettina SPD Zimmermann, Pia DIE LINKE Müller-Böhm, Roman FDP Nissen, Ulli SPD * aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes 23930 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

(A) Anlage 2 (C)

Ergebnis und Namensverzeichnis der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die an der Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Kontroll- gremiums gemäß Artikel 45d des Grundgesetzes teilgenommen haben (Zusatzpunkt 12) Abgegebene Stimmkarten: 605

Abgeordnete/r Ja-Stimmen* Nein-Stimmen Enthaltungen Ungültige Stimmen Roderich Kiesewetter 541 34 30 –

* Zur Wahl sind mindestens 355 Ja-Stimmen erforderlich.

CDU/CSU Carsten Körber Dr. Georg Nüßlein Ursula Groden-Kranich Alexander Krauß Dr. Hermann Gröhe Florian Oßner Stephan Albani Klaus-Dieter Gröhler Dr. Günter Krings Josef Oster Norbert Maria Altenkamp Michael Grosse-Brömer Rüdiger Kruse Philipp Amthor Astrid Grotelüschen Michael Kuffer Markus Grübel Dr. Roy Kühne Andreas G. Lämmel Dorothee Bär Katharina Landgraf Dr. Thomas Bareiß Monika Grütters Ulrich Lange Stephan Pilsinger Fritz Güntzler Dr. Dr. Christoph Ploß (Börde) Dr. André Berghegger Dr. Alexander Radwan Jürgen Hardt Dr. Andreas Lenz Alois Rainer Christoph Bernstiel Dr. (B) Peter Beyer (D) Marc Biadacz Dr. Dr. Nikolas Löbel Johannes Röring (Chemnitz) Dr. Norbert Röttgen Michael Brand (Fulda) Mark Helfrich Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Rudolf Henke Erwin Rüddel Michael Hennrich Dr. Stefan Sauer Marc Henrichmann Karin Maag Dr. Wolfgang Schäuble Heike Brehmer Dr. Thomas de Maizière Andreas Scheuer Ralph Brinkhaus Dr. Dr. Dr. Astrid Mannes Alexander Hoffmann Christian Schmidt (Fürth) Patrick Schnieder Dr. (Altötting) Nadine Schön Michael Donth Dr. Marie-Luise Dött Hans-Jürgen Irmer Uwe Schummer Hansjörg Durz Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans Armin Schuster (Weil am Michelbach Rhein) Hermann Färber Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Detlef Seif Anja Karliczek Karsten Möring Axel E. Fischer (Karlsruhe- Torbjörn Kartes Land) Volker Kauder Axel Müller Dr. Patrick Sensburg Dr. Dr. Stefan Kaufmann Dr. Gerd Müller Bernd Siebert Dr. Hans-Peter Friedrich Roderich Kiesewetter Sepp Müller (Hof) Michael Kießling Carsten Müller Björn Simon Dr. (Braunschweig) Tino Sorge Hans-Joachim Fuchtel Volkmar Klein Stefan Müller (Erlangen) Dr. Dr. Alois Gerig Petra Nicolaisen Dr. Wolfgang Stefinger Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23931

(A) Albert Stegemann Dr. Lars Castellucci Christian Petry Berengar Elsner von (C) Gronow (Rostock) Dr. (Minden) Dr. Florian Pronold Peter Felser Sabine Dittmar Christian Frhr. von Stetten Dr. Dr. Sönke Rix Dr. Götz Frömming Dr. Dr. Alexander Gauland Dr. Dr. Martin Rosemann Franziska Gminder René Röspel Dr. Hermann-Josef Dr. Tebroke Susann Rüthrich Mariana Iris Harder-Kühnel Hans-Jürgen Thies Bernd Rützel Dr. Alexander Throm Timon Gremmels Jochen Haug Dr. Johann Saathoff Udo Theodor Hemmelgarn Michael Groß Axel Schäfer (Bochum) Martin Hess Uli Grötsch Dr. Dr. Heiko Heßenkemper Dr. Volker Ullrich Marianne Schieder Karsten Hilse Rita Hagl-Kehl Dr. Nicole Höchst Sebastian Hartmann (Aachen) Leif-Erik Holm (Kleinsaara) Dirk Heidenblut Dagmar Schmidt (Wetzlar) Dr. Marc Jongen Hubertus Heil (Peine) (Erfurt) Dr. Johann David Johannes Schraps Wadephul Norbert Kleinwächter Enrico Komning Dr. Barbara Hendricks Jörn König Gabriele Hiller-Ohm (Spandau) Steffen Kotré (Hamburg) Dr. Rainer Kraft Dr. Rüdiger Lucassen Peter Weiß Rita Schwarzelühr-Sutter Jens Maier (Emmendingen) Oliver Kaczmarek Rainer Spiering Dr. (B) Sabine Weiss (Wesel I) Dr. Birgit Malsack- (D) Martina Stamm-Fibich Winkemann Marian Wendt Gabriele Katzmarek Sonja Amalie Steffen Kai Whittaker Mathias Stein Volker Münz Annette Widmann-Mauz Jan Ralf Nolte Bettina Margarethe Daniela Kolbe Gerold Otten Wiesmann Elvan Korkmaz-Emre Jürgen Pohl Klaus-Peter Willsch Markus Töns Martin Reichardt Christian Lange Carsten Träger Roman Johannes Reusch Tobias Zech (Backnang) Ute Vogt Ulrike Schielke-Ziesing Emmi Zeulner Dr. Marja-Liisa Völlers Jörg Schneider Dirk Vöpel Dr. Matthias Zimmer Helge Lindh Bernd Westphal Kirsten Lühmann Dr. Dirk Spaniel Isabel Mackensen Gülistan Yüksel SPD René Springer Beatrix von Storch Dr. Jens Zimmermann Dr. Ingrid Arndt-Brauer Wolfgang Wiehle Dr. AfD Dr. Dr. Christian Wirth Ulrike Bahr Susanne Mittag Dr. Bernd Baumann Uwe Witt Falko Mohrs Marc Bernhard Andreas Bleck Dr. Matthias Bartke Siemtje Möller FDP Sören Bartol Detlef Müller (Chemnitz) Stephan Brandner Grigorios Aggelidis Bärbel Bas Michelle Müntefering Jürgen Braun Lothar Binding Dr. Rolf Mützenich Marcus Bühl Christine Aschenberg- (Heidelberg) Matthias Büttner Dugnus Dr. Mahmut Özdemir Petr Bystron Nicole Bauer (Duisburg) Tino Chrupalla Jens Beeck Dr. Karl-Heinz Brunner Aydan Özoğuz Dr. Jens Brandenburg Dr. Gottfried Curio (Rhein-Neckar) 23932 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

(A) Mario Brandenburg Judith Skudelny Dr. Kirsten Kappert- (C) (Südpfalz) Bettina Stark-Watzinger Amira Mohamed Ali Gonther Sandra Bubendorfer-Licht Benjamin Strasser Uwe Kekeritz Dr. Marco Buschmann Norbert Müller (Potsdam) Sven-Christian Kindler Karlheinz Busen Stephan Thomae Zaklin Nastic Maria Klein-Schmeink Carl-Julius Cronenberg Dr. Alexander S. Neu Sylvia Kotting-Uhl Bijan Djir-Sarai Dr. Petra Pau Oliver Krischer Christian Dürr Dr. Andrew Ullmann Sören Pellmann Christian Kühn (Tübingen) Renate Künast Dr. Johannes Vogel (Olpe) Tobias Pflüger Markus Kurth Daniel Föst Sandra Weeser Otto Fricke Bernd Riexinger Sven Lehmann Eva-Maria Schreiber Steffi Lemke Dr. Petra Sitte Dr. Helin Evrim Sommer Dr. Irene Mihalic Katrin Helling-Plahr DIE LINKE Claudia Müller Doris Achelwilm Dr. Kirsten Tackmann Torsten Herbst Beate Müller-Gemmeke Gökay Akbulut Jessica Tatti Katja Hessel Dr. Ingrid Nestle Simone Barrientos Alexander Ulrich Dr. Gero Clemens Hocker Dr. Konstantin von Notz Dr. Kathrin Vogler Manuel Höferlin Lorenz Gösta Beutin Andreas Wagner Dr. Christoph Hoffmann Matthias W. Birkwald Cem Özdemir -Förster Sabine Zimmermann Lisa Paus Christine Buchholz (Zwickau) Filiz Polat Olaf In der Beek Dr. Birke Bull-Bischoff Tabea Rößner Gyde Jensen Jörg Cezanne BÜNDNIS 90/ Claudia Roth (Augsburg) Dr. Christian Jung Sevim Dağdelen DIE GRÜNEN Dr. Dr. Corinna Rüffer Dr. Luise Amtsberg Daniela Kluckert Anke Domscheit-Berg Lisa Badum Ulle Schauws Pascal Kober Annalena Baerbock Dr. Dr. Lukas Köhler Susanne Ferschl Stefan Schmidt Wolfgang Kubicki (B) Nicole Gohlke Dr. Danyal Bayaz Charlotte Schneidewind- (D) Hartnagel Dr. Canan Bayram Kordula Schulz-Asche Dr. Franziska Brantner Oliver Luksic Dr. André Hahn Dr. Wolfgang Strengmann- Matthias Höhn Kuhn Dr. Anna Christmann Dr. Jürgen Martens Ekin Deligöz Ulla Jelpke Kerstin Kassner Harald Ebner Alexander Müller Jürgen Trittin Dr. Achim Kessler Frank Müller-Rosentritt Dr. Julia Verlinden Katja Kipping Kai Gehring Matthias Nölke Jan Korte Stefan Gelbhaar Hagen Reinhold Beate Walter-Rosenheimer Katrin Göring-Eckardt Dr. h. c. Thomas Sattelberger Sabine Leidig Anja Hajduk Fraktionslos Christian Sauter Ralph Lenkert Britta Haßelmann Marco Bülow Frank Schäffler Dr. Bettina Hoffmann Dr. Wieland Schinnenburg Dr. Anton Hofreiter Matthias Seestern-Pauly Dr. Gesine Lötzsch Ottmar von Holtz Frank Sitta Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt.

Anlage 3 zur Reduzierung von Risiken und zur Stärkung der Proportionalität im Bankensektor (Risiko- Zu Protokoll gegebene Rede reduzierungsgesetz – RiG) zur Beratung – des von den Abgeordneten Stephan Brandner, – des von der Bundesregierung eingebrachten Roman Johannes Reusch, Jens Maier, weiteren Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Abgeordneten und der Fraktion der AfD einge- Richtlinien (EU) 2019/878 und (EU) 2019/879 brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Ände- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23933

(A) rung des Kreditwesengesetzes (Gesetz zur zu erwarten. Durch das Risikoreduzierungsgesetz werden (C) Sicherstellung der Verbraucherrechte bei Spar- die sich daraus ergebenden Deckungslücken sicherlich kassennutzung) nicht geschlossen. (Tagesordnungspunkt 13) Zurzeit werden in der Kreditbranche nicht alle notleid- enden Kredite abgeschrieben; denn die tatsächlichen Insolvenzrisiken wurden durch Coronamaßnahmen zum Dr. Bruno Hollnagel (AfD): Wir haben heute die Um- Teil zwar verschleiert, aber nicht gelöst – Stichworte: setzung einer EU-Richtlinie zu besprechen. Wer glaubt, „Staatshilfen“ und „Kurzarbeiterprogramme“. Es ist diese EU-Richtlinie umsetzen zu müssen, der soll gerne also anzunehmen, dass sich Kreditausfälle zukünftig häu- dem Gesetzentwurf zustimmen. fen werden; das sagt auch die Deutsche Bundesbank. Wir glauben aber, dass eine Bankenüberwachung aus- Laut Creditreform sei eine Bankenkrise unvermeidbar. schließlich in nationale Zuständigkeit gehört, weil dann Das bedeutet, dass im günstigsten Fall 6 Prozent, im am ehesten Eigenverantwortlichkeiten umgesetzt werden schlimmsten Fall bis zu 28 Prozent der rund 1 500 deut- können. schen Banken gefährdet wären. Das Analysehaus Oxford Economics meint, im schlimmsten Fall könnten die euro- Das Risikoreduzierungsgesetz suggeriert, dass es Risi- päischen Banken 1 Billion Euro an ausstehenden Kredi- ken auf dem Finanzmarkt vermindert. Das ist aber bes- ten verlieren; das entspräche circa der Hälfte ihres Kapi- tenfalls marginal der Fall. Basel III hatte beispielsweise tals. Zwei Drittel der Banken könnten mit weniger schon zuvor Eigenkapitalrichtlinien vorgegeben und soll- Kapital dastehen, als vorgeschrieben. te für ausreichende Kapitalpuffer sorgen. Aber seit Jahren sind die unzureichenden Eigenkapitaldeckungen im deut- Nochmals: Die eigentlichen Ursachen der Fehlent- schen Bankenwesen bekannt – ich erinnere an Dr. Krall: wicklungen auf dem Finanzmarkt und der daraus resul- „Der Draghi-Crash“. Jahrelang hat die Bundesregierung tierenden Risiken werden nicht bekämpft. Die EZB-Zins- diesbezüglich geschlafen. Erst jetzt, wo das Problem diktatur ist dafür verantwortlich, dass die Zinshöhe die offensichtlich wird, rührt sie sich – viel zu spät. Risiken nicht widerspiegelt, was zu eklatanten Kapital- fehllenkungen und zu fehlerhaften Risikoeinschätzungen Die Kernfrage ist doch: Was sind die eigentlichen führt. Ursachen der gegenwärtigen Finanzmarktrisiken? Ant- wort: eine verfehlte Zinspolitik. Die ist dadurch gekenn- Das Gesetz kann die genannten Probleme nicht lösen. zeichnet, dass die Zinshöhe nicht mehr annähernd die Wir lehnen das Gesetz aber nicht ab, sondern enthalten Höhe der Risiken widerspiegelt. Die Ergebnisse: Durch uns, damit man uns nicht vorwerfen werden kann, wir (B) die niedrigen Zinsen sinken die Erträge der Banken. Die würden uns einer Lösung entgegenstellen. (D) sinkenden Erträge behindern aber die Bildung von Risi- kopuffern. Zugleich zwingen die Negativzinsen die Ban- ken zum Abschluss wenig lukrativer Kredite. Zu niedrige Anlage 4 Zinsen verführen zu immer mehr Krediten: Das Kredit- volumen und damit die Risiken wachsen stärker als das Zu Protokoll gegebene Rede Bruttoinlandsprodukt. zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Die Auskunftei Creditreform spricht von 330 000 Zom- Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche bieunternehmen zum Ende 2019 und erwartet bis Ende Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag 2020 eine Ausweitung auf bis zu 800 000. Das sind circa der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Lisa Paus, 22 Prozent aller 3,6 Millionen deutschen Unternehmen. Ottmar von Holtz, weiterer Abgeordneter und der Auch die notleidenden Kredite, die NPLs, steigen in der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schulden- letzten Zeit wieder. erlass statt Schuldenfalle – Überschuldungskrisen im Globalen Süden mit einem Staateninsolvenzver- Bemerkenswert ist, dass die Banken einen Anreiz fahren begegnen haben, Zombieunternehmen immer neue Kredite zu ge- ben: Zum einen, weil sie dann keine weiteren Abschrei- (Tagesordnungspunkt 21) bungen vornehmen müssen, und zum anderen, weil sie dann weniger Zentralbankgeldguthaben besitzen und we- niger Negativzinsen zahlen müssen. Dagmar Ziegler (SPD): Wir befassen uns heute mit einem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, dessen Ziel- Die Politik fordert von den Banken, mehr Kredite zu richtung wir in der SPD-Bundestagsfraktion durchaus vergeben. Das ist wie der Versuch, vor einer Lawine weg- teilen und begrüßen. Es geht um Schuldenerleichte- laufen zu wollen. Während die Immobilienbranche in den rungen bzw. Schuldenerlasse für diejenigen Entwick- vergangenen Jahren praktisch in allen Bereichen prospe- lungs- und Schwellenländer, die von den Folgen der Co- rierte, ist nun eine Abschwächung speziell bei gewerbli- ronapandemie besonders betroffen sind. chen Immobilien zu erwarten. Der Wert der Kreditsicher- heiten würde entsprechend sinken. Alleine in diesem Zusammengefasst fordert dieser Antrag eine An- Bereich betrug das Kreditvolumen deutscher Banken cir- schlusslösung unter Einbeziehung sämtlicher Gläubiger ca 432 Milliarden Euro, EU-weit 1,6 Billionen Euro. zum jetzigen Moratorium entweder als Schuldenerlass Wertrückgänge sind insbesondere auf den Sektoren oder als Umwandlung von Schulden, des Weiteren den Hotel, dem Non-Food-Einzelhandel und bei Büroflächen Einsatz für die Etablierung eines Staateninsolvenzverfah- 23934 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

(A) rens und schließlich eine „Koalition der Willigen“ zur nen zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums, vor (C) Ausarbeitung von Vorschlägen für ein solches transpa- allem aber, international mit den anderen Gebern abge- rentes und unabhängiges Verfahren. stimmt zu prüfen, inwieweit weitere Schuldenerleichte- rungen oder auch Schuldenerlasse für die von der Coro- In diesem Zusammenhang einige Aspekte zur Ver- napandemie besonders betroffenen Entwicklungs- und schuldungssituation von Entwicklungs- und Schwellen- Schwellenländer möglich sind. ländern durch die Covid-19-Pandemie. Einer Prognose der Weltbank vom Juni 2020 für das laufende Jahr zufol- Bevor ich zum Schluss komme, nur ein Wort zum ge wird ein Rückgang des globalen Bruttoinlandspro- Redner von der AfD. Ihre Argumentation zur Kürzung, dukts um mehr als 5 Prozent erwartet. Direkt zu Beginn Umwidmung oder Aussetzung der deutschen Entwick- der Pandemie zogen sich viele Investoren aus den betrof- lungshilfe ist uns allen sattsam bekannt. Und deshalb an fenen Entwicklungs- und Schwellenländern zurück. Ins- dieser Stelle noch einmal und deutlich: Ein Rückzug aus besondere die Unterbrechung von Lieferketten und der der deutschen Entwicklungshilfe und nationale Abschot- Einbruch beim Absatz von Rohstoffen führten zu einem tung können nicht die Antwort auf die zu lösenden Pro- enormen Preisverfall und reduzierten die Einnahmen roh- bleme sein. stoffexportierender Länder. Das hatte zur Folge, dass Abschließend komme ich insbesondere im Hinblick zahlreiche Entwicklungs- und Schwellenländer, die ohnehin bereits eine zum Teil sehr hohe Staatsverschul- auf den eben genannten eigenen Antrag zu folgendem Schluss: Ihr Antrag enthält begrüßenswerte Ansätze, ins- dung vor dem Ausbruch der Pandemie aufwiesen, in aku- besondere die geforderte Verlängerung des Moratoriums, te Zahlungsschwierigkeiten gerieten. Außerdem mussten die betroffenen Länder enorme Summen für die Gesund- die jetzt auch bis Mitte 2021 beschlossen worden ist. Aber was wir dringend brauchen, sind Ansprechpartner heits- und Lebensmittelversorgung der Bevölkerung ein- auf internationaler Ebene, die bei der personellen und setzen und verschuldeten sich dadurch noch zusätzlich. finanziellen Umsetzung des Verfahrens für eine Staaten- Aber auf folgende Fakten will in an dieser Stelle noch insolvenz und der Einrichtung einer unabhängigen Insti- einmal hinweisen: Deutschland ist das einzige Land tution agieren können. innerhalb der EU mit einem Corona-Soforthilfepro- gramm in Höhe von 3 Milliarden Euro. Das BMZ beschreibt die Coronakrise als eine Wirtschafts-, Hunger- Anlage 5 und Armutskrise mit dramatischen Ausmaßen in den betroffenen Entwicklungsländern. Mehr als 100 Millio- Zu Protokoll gegebene Rede nen Menschen sind bereits in absoluter Armut durch die zur Beratung (B) Coronapandemie. Und auch das BMZ fordert den Schul- (D) denerlass für die Ärmsten mit klaren Vorgaben und – des von der Bundesregierung eingebrachten Reformen unter Einbeziehung der EU. Grundsätzlich Entwurfs eines Gesetzes zur Verschiebung des wird der gesamte Entwicklungsetat zur Stabilisierung Zensus in das Jahr 2022 und zur Änderung des von Entwicklungs- und Schwellenländern eingesetzt, ins- Aufenthaltsgesetzes besondere zur Stärkung von Gesundheitssystemen, zur Flüchtlingsversorgung, Ernährungssicherung und Kri- – des Berichts des Haushaltsausschusses gemäß senbewältigung. § 96 der Geschäftsordnung Auch in der Plenardebatte zum Bundeshaushalt 2021 (Tagesordnungspunkt 23) am 30. September 2020 wurden nochmals folgende Punkte hervorgehoben: Für das BMZ werden für 2021 Ulla Jelpke (DIE LINKE): Verschiebung des Zensus über 12 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt auf- und Änderung des Aufenthaltsgesetzes haben sachlich gewendet. Es ist dabei zu begrüßen, dass trotz einer Neu- absolut nichts miteinander zu tun. Es ist dreist, wie die verschuldung von knapp 98 Milliarden Euro im Haushalt Regierung das hier zusammenpackt und im Eilverfahren des BMZ für 2021 eine schwarze Null vorgesehen ist beschließen lassen will. Die Bundesregierung will eine (plus 2,3 Millionen Euro). Es fließen in 2020 und 2021 „ergänzende Vorbereitungshaft“ einführen. Damit könn- für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe ten sogenannte Gefährder, die einen Asylantrag gestellt zusätzliche Mittel in Höhe von insgesamt fast 4 Milliar- haben, mit Einreise- und Aufenthaltsverbot inhaftiert den Euro als Antwort auf die weltweiten Folgen der Co- werden. ronapandemie. Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern: Es gibt Im Juni 2020 haben wir außerdem gemeinsam mit der keine klare gesetzliche Definition von „Gefährder“. CDU/CSU einen Antrag eingebracht – „Entwicklungs- Eine solche Einstufung erfolgt allein durch die Polizei. und Schwellenländer bei der Bewältigung der Corona- Denn häufig liegt gegen die Betroffenen nichts Gerichts- Pandemie unterstützen“, Drucksache 19/20066 –, der in verwertbares vor. vielen Punkten dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen nahekommt. Wir fordern dort unter anderem den Einsatz Was die Regierung hier plant, ist eine Schnellabschie- der Bundesregierung für eine grundlegende Reform der bung von unliebsamen Asylsuchenden, die ganz offen- Finanzstruktur der WHO zur dauerhaften Sicherung ihrer sichtlich gegen das Recht auf Asyl verstößt. Durch die Aufgabenstellung, außerdem die Nutzung von Möglich- Gesetzesänderung würde eine Inhaftierung bis vier keiten des Entwicklungsinvestitionsfonds zum Erhalt von Wochen nach der Asylantragstellung möglich. Wird ein Arbeitsplätzen und die Ermöglichung weiterer Investitio- Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23935

(A) könnten Betroffene für die gesamte Dauer eines gericht- Daher schreibt dieses Gesetz fest, dass Bilder für Do- (C) lichen Überprüfungsverfahrens inhaftiert werden. Bis kumente nur in der Behörde erstellt werden dürfen. Und zum nahtlosen Übergang in die Abschiebehaft. ja, dagegen gab es Widerstand insbesondere von Foto- studios. Ihnen sind wir entgegengekommen, indem wir Unter diesen Bedingungen haben die Betroffenen kei- festgeschrieben haben, dass auch digitale Bilder von nerlei Aussichten auf ein faires Asylverfahren und unvor- registrierten privaten Dienstleistern sicher an die Behörde eingenommene Prüfung ihres Antrags. Das haben auch übermittelt werden können. Das ist gut und richtig so und etliche Sachverständige kritisiert. Denn die Betroffenen gewährleistet dennoch die Sicherheit gegenüber Fälsch- stehen von Anfang an unter dem Generalverdacht, Ter- ungen. roristen oder „Schwerkriminelle“ zu sein. Gleichzeitig ist ein effektiver Zugang zu Rechtsberatung und -vertretung Darüber hinaus schreibt das Gesetz fest, dass zur ef- in Haft schlicht nicht gewährleistet. fektiven Gefahrenabwehr die Vorschriften zum Abruf der Seriennummer überarbeitet werden und eine Versions- Jeder verdient eine faire Asylprüfung, ob uns die Per- nummer auf deutschen und ausländerrechtlichen Doku- son im Einzelfall gefällt oder nicht. Das besagen das menten eingeführt wird. Auch werden künftig zwei Fin- Grundgesetz und diverse Konventionen. Es kann doch gerabdrücke im Speichermedium des Personalausweises nicht sein, dass Schutzsuchende faktisch ihres Asylrechts verpflichtend gespeichert. Das war bei Vertretern der lin- beraubt werden, nur weil die Polizei sie – zu Recht oder ken Seite des Hauses umstritten. Hauptsächlich wurden Unrecht – als gefährlich einstuft. Argumente wie Datenschutz und Misstrauen gegen den Die Ausweitung der Abschiebehaft ist zudem schlicht Staat angeführt. Lassen Sie mich dazu Folgendes sagen: und einfach unnötig. Denn bei der Terrorismusabwehr Erstens handelt es sich dabei um eine Verpflichtung und Bekämpfung schwerwiegender Straftaten greifen be- aufgrund der europäischen Vorgabe – Artikel 3 Absatz 5 reits bestehende Haftregelungen. VO (EU) Nummer 2019/1157 –, und diese gilt ab dem 2. August 2021 unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Inso- Die Abschiebehaft wurde in den letzten Jahren stetig fern müssen und werden wir diese Vorgabe umsetzen. ausgeweitet. Das Gegenteil wäre richtig. Freiheitsentzie- hende Maßnahmen sollten immer das allerletzte Mittel Und zweitens: Diese Vorgabe ist auch richtig und sinn- sein – und das Recht auf ein faires Asylverfahren darf voll: Auf europäischer Ebene berichteten die zur Identi- nicht populistischen Rufen nach einem starken Staat geo- tätsfeststellung berechtigten Behörden insgesamt über pfert werden. eine stark zunehmende Zahl von Verdachtsfällen, in de- nen echte Dokumente von anderen, ähnlich aussehenden Personen gebraucht werden. Wer das nicht wahrhaben (B) Anlage 6 will, weil es nicht in ihr Menschenbild passt, ist blind (D) vor der Realität. Dazu gehört auch, dass das nicht nur Zu Protokoll gegebene Reden ein Problem ist, das wir aus dem Asylantragswesen bei ausländischen Pässen kennen – so sie denn vorhanden zur Beratung des von der Bundesregierung einge- sind. Das passiert leider auch sehr oft in Deutschland – brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der gerade im Bereich von sozialen Transferleistungen. Der Sicherheit im Pass-, Ausweis- und ausländerrecht- Schaden für den Steuerzahler ist immens. Berichte darü- lichen Dokumentenwesen ber gibt es regelmäßig; die Dunkelziffer ist vermutlich höher, als wir wahrhaben wollen. (Tagesordnungspunkt 24) Die Folge ist: Das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates schwindet beim Bürger. Daher kann ein sol- Hans-Jürgen Irmer (CDU/CSU): Es gibt kaum etwas cher Identitätsmissbrauch nur dann schnell und sicher vor Höherwertiges, was ein Staat verleihen kann, als seine Ort festgestellt werden, wenn im Dokument die für jeden Staatsbürgerschaft. Sichtbarer Ausdruck der Staatsbür- Menschen einzigartigen Fingerabdrücke gespeichert wer- gerschaft ist das Ausweisdokument. Genauso wie wir den und zum Abgleich zur Verfügung stehen. Wer aus nicht leichtfertig unsere Staatsbürgerschaft vergeben soll- Datenschutzgründen etwas dagegen hat, missbraucht ten – und darüber könnte man eine eigene Debatte füh- den Datenschutz und macht ihn zum Täterschutz. Der ren –, genauso wenig sollten wir leichtfertig mit der Pass- anständige Bürger ist der Dumme, und ich frage mich, sicherheit umgehen. ob man hier wirklich Politik für Sozialbetrüger machen Mit der Digitalisierung und anderen Fortschritten müs- möchte, indem man das ablehnt. Es dürfte sie im Ergebnis sen wir als Staat im Interesse der Sicherheit unserer nicht verwundern, dass ich diesen Gesetzentwurf für Bürger und unseres Landes Schritt halten. Wir wissen, einen wichtigen und zeitgemäßen Beitrag zur Sicherheit dass mit Morphing und anderen Tools Passbilder manipu- unseres Landes und seiner Bürger halte, und ich verstehe liert werden. Dies geschieht bei der Passbeantragung, bei nicht, wie man diesem Entwurf nicht zustimmen kann. der verfälschte Fotos abgegeben werden. Mehrere Ge- sichtsbilder werden zu einem einzigen Gesamtbild ver- Manuel Höferlin (FDP): Worum geht es heute? Um schmolzen, sodass andere Personen als der eigentliche das sogenannte Morphing. Das ist ein bisschen aus dem Passinhaber diesen nutzen könnten. Die Folge wäre bei- Blickfeld geraten; denn am Ende ging es in der parlamen- spielsweise ein unerlaubter Grenzübertritt oder Sozialbe- tarischen Debatte wieder um das übliche Klein-Klein, in trug. Dies können und werden wir von der Unionsfrak- dem sich die Bundesregierung gerne verheddert, wenn sie tion nicht hinnehmen. öffentliche Verwirrung stiften will. Vor allem, um davon 23936 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

(A) abzulenken, dass sie keine Lösung für das eigentliche Ich zitiere aus der Antwort der Bundesregierung auf (C) Problem hat. Außerdem hatten die Kollegen von Union eine Kleine Anfrage der Linken, erst einige Wochen alt: und SPD mal wieder Angst vor der eigenen Courage. „Biometrische Identifikatoren werden zur Echtheitsprü- fung der Dokumente nicht benötigt.“ Denn dafür gibt es In der öffentlichen Anhörung wollten sie noch auf eine andere Methoden. Außerdem ist der Personalausweis wettbewerbliche Lösung für die Automatenhersteller kein klassisches Einreisedokument wie der Reisepass, achten und Fotografen nicht mit einer teuren und büro- den man bei Einreisen von außerhalb der EU vorzeigen kratischen Zertifizierungspflicht überziehen. Was kam muss. Den Personalausweis braucht man vorrangig im am Ende dabei heraus? Im wachsweichen Antrag der Inland, um ihn Banken, Hotels usw. vorzulegen. Und Koalition zu dem Gesetz – wohlgemerkt nicht im Gesetz das geht definitiv ohne Fingerabdruck. selbst – heißt es zum Beispiel „wo die Möglichkeit besteht, ohne Einbußen bei der Sicherheit wettbewerb- Ich möchte in Erinnerung rufen: Die zwangsweise liche Elemente zu ermöglichen, sollte von dieser Option Speicherung von Fingerabdrücken ist ein Eingriff in in größtmöglichem Umfang Gebrauch gemacht werden.“ Grundrechte. Sowohl Europarecht als auch Grundgesetz Es „soll der Privatwirtschaft Rechnung getragen wer- erlauben das nur, wenn es verhältnismäßig und erforder- den“, „private Anbieter sollen keinem Prozess der Zertifi- lich ist. Beides ist hier offensichtlich nicht der Fall. zierung unterliegen“ usw. usf. Was sollen die Fotografen, Vielmehr hat die Bundesregierung sämtliche Einwän- Anbieter und Start-ups damit anfangen? de des Europäischen Datenschutzbeauftragten, ja selbst Ob in Ihrem Gesetzentwurf zu Fotoautomaten steht „in die Folgenabschätzung der Europäischen Kommission, der Behörde“, „im Bereich der Behörde“ oder „um die die sich gegen die Zwangsspeicherung aussprach, einfach Behörde herum“: Diese Details sind für einige mittel- ignoriert. Genauso übrigens wie die Gefahr, dass der ständische Unternehmen überlebensnotwendig. Gleich- Speicherchip von Unbefugten ausgelesen werden kann. zeitig klingen sie aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger Faktisch werden Millionen von Bundesbürgern langfris- betrachtet ein bisschen wie Wortklauberei. Wichtig ist tig der Gefahr des Datendiebstahls ausgesetzt. ihnen nämlich vor allem, was hinten rauskommt. Also, Und noch etwas: Der Gesetzentwurf ermöglicht es, den dass die Abläufe unkompliziert sind und schnell gehen. Fingerabdruck-Chip auch zu Fahndungszwecken zu ver- wenden. Hier wird das Tor zu einer weiteren, umfang- Beide Interessen müssen von der Bundesregierung in reichen Datensammlung geöffnet. Denn wenn die Tech- Einklang gebracht werden. Das ist aber nicht passiert – nik erst mal da ist, weckt sie weitere Begehrlichkeiten; weder das eine noch das andere. Warum kann ich zum das wissen wir aus Erfahrung. Beispiel nicht einfach meinen Perso per App beantragen? Beim Auslaufen des Perso einfach den Antrag auf Ver- Das Argument, man müsse eine EU-Verordnung nun (B) (D) längerung über App einreichen, mit der eID identifizieren mal umsetzen, trifft nicht zu. Man muss es nicht, ja man und dann mit dem Handy ein Foto machen und hoch- darf es nicht, wenn solche ernsthaften Zweifel an der laden. Aufs Amt müssen Sie dann nur noch zum Abho- Rechtmäßigkeit bestehen. Die Bundesregierung sollte len. Das geht auch ohne Termin. die Verordnung dem Europäischen Gerichtshof zur Prü- fung vorlegen. Damit täte sie ausnahmsweise etwas für Ich fasse nochmal zusammen: Sie lassen Fotografen, den Datenschutz, anstatt ihn erneut anzugreifen. Hersteller von Fotoautomaten und Start-ups weiter im Regen stehen. Weil Sie entweder Geschäftsmodelle gar nicht erst zulassen oder Rechtsunsicherheit und Verwir- Anlage 7 rung schaffen. Und auch die Bürgerinnen und Bürger haben von dem Gesetz keine Vorteile. Denn sie müssen Zu Protokoll gegebene Reden weiterhin zig Mal aufs Amt rennen, anstatt bequem über eine App vom Sofa aus einen Perso zu beantragen. zur Beratung des von der Bundesregierung einge- brachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände- Und zum Themenkomplex Fingerabdrücke werden die rung des Gesetzes zur Ausführung des Protokolls folgenden Redner sicher noch einiges sagen. Auch hierzu über Schadstofffreisetzungs- und -verbringungsre- gab es in der Anhörung Kritik. gister vom 21. Mai 2003 sowie zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 166/2006 Aus diesen Gründen lehnen wir den Gesetzentwurf ab. (Tagesordnungspunkt 25) Ulla Jelpke (DIE LINKE): Geht es nach der Bundes- regierung, müssen künftig alle Deutschen im Personal- Karsten Möring (CDU/CSU): Auf der Konferenz von ausweis die Fingerabdrücke speichern lassen. Diese Rio 1992 haben sich Deutschland und andere Staaten Maßnahme ist völlig unverhältnismäßig. Sie wird von dazu verpflichtet, ein Schadstoffregister aufzubauen, Datenschützern in Deutschland und Europa entschieden das für Bürgerinnen und Bürger über das Internet frei abgelehnt, und zwar absolut zu Recht. zugänglich ist. In diesem Register sollen Emissionen und Abfälle von großen Industriebetrieben zu finden In der Anhörung hierzu haben wir genau ein Argument sein, die von den betroffenen Betrieben zu diesem Zweck für diese Speicherpflicht gehört: Man brauche sie, um bei berichtet werden müssen. Damit hat sich auch Deutsch- Einreisekontrollen einen Abgleich vorzunehmen, falls land verpflichtet, ein nationales Schadstoffregister für das Passbild nicht eindeutig ist. Und dieses Argument Deutschland aufzubauen. Auch die EU hat diese Ver- ist falsch. pflichtung übernommen und in der Folge durch eine Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23937

(A) Rechtsverordnung in europäisches Recht umgesetzt und setzt. Jährlich müssen die Mitgliedstaaten Daten zu (C) ein europäisches Register aufgelegt. Deutschland hat die Schadstoffen an die EU melden. Diese Aufgabe über- europäische Vorgabe im PRTR-Gesetz, dem SchadReg- nimmt in Deutschland das Umweltbundesamt. Die Daten ProtAG, umgesetzt. werden von den Betreibern von Anlagen, bei denen Der nun vorliegende Gesetzentwurf und die heute Schadstoffe freigesetzt werden, an die zuständigen Lan- beabsichtigten Anpassungen am Gesetz zur Ausführung desbehörden übermittelt. Diese geben die Daten im An- des Protokolls über Schadstofffreisetzungs- und -verbrin- schluss an das Umweltbundesamt weiter, das die Daten in gungsregister in zweiter und dritter Lesung waren erfor- ein Register einpflegt. derlich, um die zwingenden EU-Vorgaben des Artikel 7 Da sich die Berichtsfristen der Daten aus den der Verordnung (EU) 2019/1010 unter Berücksichtigung Mitgliedsländern an die Europäische Kommission zum des Durchführungsbeschlusses (EU) 2019/1741 durchzu- 1. Januar 2020 um vier Monate verkürzen werden, ist führen. Mit dem Gesetz erfolgt eine Eins-zu-eins-Umset- eine Anpassung erforderlich. Würde diese Anpassung zung des EU-Rechts. ausbleiben, würde das Umweltbundesamt die Daten zu Wesentliche Änderungen betreffen dabei Verkürzun- spät bekommen und es wäre nicht mehr möglich, die gen der Berichtsfristen für die Betreiber, die zuständigen europäische Frist einzuhalten. Landesbehörden und das Umweltbundesamt, um der ver- Durch die Änderungen verkürzt sich die Berichts- kürzten Frist der Berichterstattung an die EU Rechnung pflicht der Behörden um zwei bzw. vier Monate und für zu tragen, sowie Festlegungen, welche Informationen auf die Betreiber um einen Monat. Das Verhältnis der Frist- welche Art und Weise und mit welcher Häufigkeit für die verkürzungen zwischen Behörden und Wirtschaft ist Berichterstattung zu übermitteln sind. begrüßenswert. Betreiber von Industriebetrieben, wie in der EU-Ver- Eine Bereitstellung der Daten im öffentlich einsehba- ordnung aufgeführt, sind damit verpflichtet, Daten über ren Register kann durch den Betreiber verhindert werden, die Schadstofffreisetzung und -verbringung an die zu- wenn ein Schutzgrund vorliegt und das öffentliche Inte- ständige deutsche Landesbehörde zu übermitteln. Die resse an der Veröffentlichung der Daten nicht überwiegt. Betreiber sammeln Daten, erstellen einen PRTR-Bericht Bisher wurden die Daten unter Angabe des Schutzgrun- und übermitteln diesen jährlich an die Landesbehörde. des zwar an die zuständigen Landesbehörden vom Wenn diese Daten keinem Schutzgrund unterliegen, wer- Betreiber übermittelt, aber nicht an das Umweltbundes- den sie an das Umweltbundesamt weitergeleitet und im amt weitergegeben. Lediglich die Art der Daten, und deutschen Schadstofffreisetzungs- und -verbringungsre- warum diese nicht übermittelt werden, wurde dem Um- gister veröffentlicht. Außerdem werden sie an die EU für weltbundesamt mitgeteilt. Warum von nun an auch die (B) das europäische Register weitergegeben. Unterliegen die dazugehörigen Daten an das Umweltbundesamt gehen, (D) Daten einem Schutzgrund, gibt das Unternehmen diesen obwohl es zu keiner Veröffentlichung im Register Grund bei der Übermittlung der Daten an die Landesbe- kommt, erschließt sich mir nicht. In meinen Augen ist hörde an. Diese prüft die Plausibilität und übermittelt dies eine überflüssige bürokratische Belastung des zukünftig gegebenenfalls den Schutzgrund an das Um- Umweltbundesamtes. Aber vielleicht sind dafür ja die weltbundesamt. Das Gesetz sagt aber auch klar, dass die 60 neuen Stellen im Haushalt gedacht? abschließende Entscheidung, ob Daten in das Schadstoff- Ungeachtet dessen stimmen wir Freien Demokraten register einzustellen sind, nach wie vor die zuständige dem Gesetzentwurf zum Schadstofffreisetzungs- und Landesbehörde trifft. Entgegengesetzte Befürchtungen -verbringungsregister zu. aufseiten der betroffenen Industrie sind damit grundlos. Neben den betriebsinternen Schutzgründen können Ralph Lenkert (DIE LINKE): Wir haben ja alle Ver- aber auch Gründe der öffentlichen Sicherheit einer Ver- ständnis, wenn aufgrund von EU-Vorgaben nationales öffentlichung entgegenstehen. Um diesen Aspekt zu be- Recht angepasst werden muss. Wenn dann das Ministe- tonen, haben meine geschätzte SPD-Berichterstatterkol- rium einen entsprechenden Gesetzentwurf vorbereitet, legin Nissen und ich in den Ausschussberatungen erklärt, viele Arbeitsstunden darauf verwendet, ihn rechtssicher dass Daten auch aus Gründen der öffentlichen Sicherheit zu gestalten, und damit etliche Ministerialbeamte be- nicht zugänglich gemacht werden dürfen, analog der schäftigt, sollte man die Chance doch nutzen, einmal zu Richtlinie 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und prüfen, ob man mit dieser Änderung in einem Aufwasch des Rates vom 28. Januar 2003 über den Zugang der nicht noch ein wenig mehr für Umwelt- und Gesundheits- Öffentlichkeit zu Umweltinformationen in Artikel 4 schutz erreichen könnte. Das Protokoll über das Schad- Absatz 2 und hier insbesondere Buchstabe b. stofffreisetzungs- und Verbringungsregister, für das mit Durch diesen Gesetzentwurf werden die erforderlichen dem vorliegenden Antrag Berichtspflichten angepasst Anpassungen an das europäische Recht vorgenommen werden, wäre so eine Gelegenheit gewesen. Die EU-Ver- und für alle Beteiligten Rechtssicherheit und Rechtsklar- ordnung lässt dies durchaus zu. heit geschaffen. Deswegen bitte ich Sie, liebe Kollegin- Handlungsbedarf besteht beispielsweise bei Trifluo- nen und Kollegen, um Zustimmung zum Gesetzentwurf. ressigsäure, einem persistierenden Stoff, der erheblich schädliche Auswirkungen auf unsere Gewässer hat, und Judith Skudelny (FDP): Mit dem Gesetzentwurf zur er ist eben auf natürlichem Wege nahezu nicht abbaubar, Änderung des Gesetzes zur Ausführung des Protokolls reichert sich daher in der Umwelt an. Trifluoressigsäure über Schadstofffreisetzungs- und -verbringungsregister war lange Zeit kein großes Thema, bis die klimaschäd- werden die Vorgaben der EU in nationales Recht umge- lichen Kältemittel in Pkw-Klimaanlagen durch R1234yf 23938 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020

(A) ersetzt wurden. R1234yf ist zwar weniger klimawirksam, Rechtsgrundlagen anzupassen. Zusätzlich fließen durch (C) dafür hat es sehr unangenehme Nebeneffekte. Zum einen die Gesetzesänderung die Erfahrungen der Bundesländer ist es hochentzündlich, reagiert bei Verbrennung zu Car- mit dem Programm aus den ersten zwei Jahren in das bonyldifluorid, einem kampfgasartigen Nebenprodukt, ursprüngliche Gesetz mit ein. Ich freue mich, dass durch ähnlich dem im Ersten Weltkrieg verwendeten Phosgen, die Schulprogramme die Ernährungsbildung nunmehr reagiert weiter zu Fluorwasserstoff, der bei Kontakt mit verstärkt in den Schulen verankert wird. Den Kindern Wasser Flusssäure bildet, und ganz normal zerfällt es in sollen damit frisches Obst, Gemüse, Milch und Milch- der Atmosphäre, zum Beispiel nach Leckagen, zu Trif- produkte wie zum Beispiel Naturjoghurt schmackhaft luoressigsäure. gemacht werden. Dadurch werden auch gesündere Er- nährungsgewohnheiten gefördert. Da mittlerweile nahezu alle Neuwagen mit eben die- sem Kältemittel ausgestattet sind und R1234yf auch in Insgesamt nehmen 15 Bundesländer – alle außer Ham- anderen Kälteanwendungen eingesetzt wird, wird dem- burg – an dem Programm teil. Besonders positiv hervor- entsprechend auch das Problem der langlebigen Trifluo- zuheben ist, dass die Länder sich zu pädagogischen ressigsäure relevant. 3,6 Millionen Pkw wurden 2019 in Begleitmaßnahmen verpflichten: Deutschland neu zugelassen. Allein für deren Klimaan- So sollen die Kinder über gesunde Ernährung und lagen wurden über tausend Tonnen R1234yf eingesetzt. einen gesunden Lebensstil, lokale Nahrungsmittelketten, Das alles ist der Bundesregierung bekannt, und weil ökologischen Landbau, nachhaltige Erzeugung und die man den Einsatz von R1234yf aus eben diesen Gründen Bekämpfung der Lebensmittelverschwendung aufgeklärt eigentlich verbieten müsste, ist auch das REACH-Ver- werden. Wünschenswert ist, dass die Schulen ein solches fahren für R1234yf nie abgeschlossen worden. Wozu Angebot nicht als ein von oben verordnetes Übel anse- könnte ein Schadstofffreisetzungsregister also besser ge- hen, das nur mehr Arbeit macht. Vielmehr sollte das eignet sein, als solche brisanten Stoffe wenigstens zu Programm Bestandteil des gesamten Schulbetriebs und überwachen, zumal wenn es europarechtlich an einer des Unterrichtsprogramms sein. Kurzum: Es sollte zum abgeschlossenen Risikobewertung fehlt? ganz normalen Alltag in den Schulen und Einrichtungen gehören. Bei der praktischen Umsetzung sollte darauf Sie sehen, dass es viele Anknüpfungspunkte gibt, an geachtet werden, dass vor allem Obst und Gemüse in denen man das Schadstoffregister bei dieser Gelegenheit die Schulen kommt, das auch in den betreffenden Regio- gleich hätte erheblich qualifizieren können. Stattdessen nen gewachsen ist und das der Saison entspricht. So ler- ist in der Zielsetzung des Gesetzentwurfs zu lesen – ich nen die Kinder gleich, dass es zum Beispiel in Deutsch- zitiere –: „Künftig wird das nationale Schadstofffreiset- land im November normalerweise keine Erdbeeren gibt, (B) zungs- und -verbringungsregister der Öffentlichkeit dafür aber noch Äpfel und Birnen. (D) wenige zusätzliche Informationen zugänglich machen.“ Wie das entwickelt wird, ist Sache der Träger. Da Wenige zusätzliche Informationen für die Öffent- können wir von hier aus nur Appelle aussenden und allen lichkeit, ein paar notwendige Anpassungen bei Berichts- Akteuren vor Ort danken, die sich wirklich für eine pflichten: Das erfordert zwar einen Beschluss des gesunde Ernährung in den Schulen engagieren. Bundestags, ergibt bei uns aber Enthaltung. Dazu eine Aber die Politik und die Schulen stoßen auch an ihre Debatte zu führen, lohnt sich aber eigentlich nicht. Grenzen. Die Begeisterung der Kinder für die tägliche Portion Obst und Gemüse muss früh geweckt werden. Dies geschieht am besten und in erster Linie durch Ange- bote der Eltern. Das wiederum hängt einzig und allein Anlage 8 vom Bewusstsein der Familie ab. Der Idealfall wäre, Zu Protokoll gegebene Rede wenn Vater und Mutter selbst mit dem Thema „gesunde Ernährung“ und vor allem mit viel Obst und Gemüse zur Beratung aufgewachsen sind und das an ihre Kinder weitergeben. – des von der Bundesregierung eingebrachten Ist das nicht gegeben, so braucht man eine entsprechende Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung pädagogische Begleitung. An dieser Stelle greift dann das des Landwirtschaftserzeugnisse-Schulpro- Obst-, Milch- und Gemüseprogramm in den Schulen. grammgesetzes Es muss ein stärkerer Fokus auf die Ernährungsbildung – des Antrags der Abgeordneten Karlheinz gelegt werden. Wir wollen die Menschen für einen gesun- Busen, Frank Sitta, Dr. Gero Clemens Hocker, den Lebensstil begeistern und sie auf dem Weg dorthin weiterer Abgeordneter und der Fraktion der unterstützen. Dabei sollten auch Alltagstechniken wie FDP: Waldschutzoffensive starten – Schäd- Kochen, Lagerhaltung und Resteverwertung vermittelt lingsbefall stoppen, Schadholz bergen, Wälder werden. Wir müssen die Ernährungsbildung neu aus- retten richten, neue Zielgruppen erschließen und neue Medien (Tagesordnungspunkt 26 und Zusatzpunkt 8) nutzen. Noch nie gab es so viele frei zugängliche Ernäh- rungsinformationen. Das klingt erst einmal gut. Aller- dings finden sich viele Verbraucher in diesem Angebot Katharina Landgraf (CDU/CSU): Heute schaffen wir nicht mehr zurecht. Denn auch hier gibt es viel Halbwis- die Voraussetzungen, um das EU-Schulprogramm für sen, und seriöse Angebote sind oft nur schwer von Wer- Obst, Gemüse und Milch an die aktuellen europäischen bung zu unterscheiden. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. November 2020 23939-23950

(A) Das Bundeszentrum für Ernährung kann da eine Hilfe Ernährungsbildung ist wichtig; denn sie hilft auch, die (C) sein. Mit der „Beste Reste-App“ oder der App „Baby & Akzeptanz des Schulessens zu erhöhen. Deshalb gehören Essen“ werden dort die Möglichkeiten der Digitalisie- Ernährungsbildung und eine gesunde Mittagsverpflegung rung genutzt. Davon brauchen wir noch mehr. Wir müs- für mich zusammen, und deshalb muss ihr Zusammen- sen die Verbraucher da abholen, wo sie nach Informatio- spiel auch noch weiter gefördert werden. nen suchen: digital, in den sozialen Netzwerken, Eine gute Nachricht zum Schluss: Die Evaluationen niedrigschwellig und so, dass es Spaß macht, sich zu des Schulmilch- und des Schulobstprogramms haben informieren. Die Digitalisierung bedeutet eine Chance, eine deutliche Zunahme der Beliebtheit und Akzeptanz die wir nutzen müssen. Deshalb setze ich auf Ernährungs- von Milch, Obst und Gemüse ergeben. Zudem stieg das bildung – von der Schwangerschaft bis ins hohe Erwach- Bewusstsein der Kinder um die Wichtigkeit von Milch, senenalter – und auf neue digitale Wege in der Ernäh- Obst und Gemüse als Bestandteil einer gesunden Ernäh- rungskommunikation. rung. – Das zeigt mir, dass wir auf einem guten Weg sind.

(B) (D) Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co. KG, Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333