Das Massaker von Sant’Anna di Stazzema am 12. August 1944

Materialiensammlung 1 für eine bundesweite Kampagne zur Anklageerhebung in Deutschland

Mai 2006

Inhaltsverzeichnis:

Seite Einleitung 3

Das Massaker von Sant’Anna di Stazzema

Erinnerungen des Überlebenden Enio Mancini 4

Sant’Anna di Stazzema 1944, von Carlo Centile 6 (Dieser Artikel ist in der PDF-Internetausgabe nicht enthalten)

„Die Kinder erinnern“, zum 60. Jahrestags des Massakers 9 von Sant’Anna, von Lars Reissmann

Der juristische Umgang mit NS-Verbrechen in Deutschland

„60 Jahre nach dem Nürnberger Prozess“ von Wolfram Siede, VVN 12

„Verjährungsdebatte Mord“ von avanti, Projekt undogmatische Linke 14

Zum Prozess

In Italien „Ein Schuldspruch nach 61 Jahren“ von Andreas Speit und M. Braun 17

Namensliste der Täter 18

In Deutschland Aktueller Stand 19

Pressemitteilung von Rechtsanwältin Gabriele Heinecke vom 17.10.05 20

„Ankläger, die nicht anklagen“ von Bernd Dörries 22 (Dieser Artikel ist in der PDF-Internetausgabe nicht enthalten)

„Massakeropfer klagen an – Mutmaßliche Kriegsverbrecher leben unbehelligt in “, von René Althammer und Udo Gümpel 23

Warum werden Kriegsverbrecher geschützt?

„Justizieller Täterschutz“, von Rolf Surmann 26

Redebeitrag der Libertären Harburg 28

Zur Frage der Rehabilitierung von Wehrmacht und Waffen-SS und der Verherrlichung von Kriegsverbrechern von avanti, Projekt undogmatische Linke 29

Bundesweite Kampagne für eine Anklageerhebung in Deutschland - Die ersten Aktionen -

Hamburg „Die NS-Täter sind noch unter uns“, von Birgit Wulf 31

„Hausbesuch bei einem Kriegsverbrecher“, von Lars Reissmann 34

2 Einleitung

Diese Broschüre enthält eine Zusammenstellung von Beiträgen und Artikeln zu dem Massaker in Sant'Anna di Stazzema sowie zur aktuellen Situation hinsichtlich der geforderten Anklageerhebung in Deutschland. Die Bro- schüre soll informieren und vor allem dazu dienen, Argumente in der Hand zu haben, um der Forderung nach einer Prozesseröffnung, so wie ihn der Opferverband von Sant'Anna fordert, Nachdruck zu verleihen.

Das Massaker von Sant'Anna di Stazzema war ein Verbrechen an der Menschheit, das bis heute ungesühnt ist. Obwohl sich seit ein paar Jahren deutsche Politiker (Rau, Fischer, Schily) bei Gedenkveranstaltungen in Nordita- lien „die Klinke in die Hand geben“ und sich offiziell für diese Verbrechen entschuldigen, laufen die Mörder nach wie vor frei herum und brauchen nichts zu befürchten. Obwohl im Fall Sant'Anna 10 deutsche Täter vom italienischen Militärgericht zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, klagen deutsche Staatsanwälte nicht an. Bis zum heutigen Tage haben sich die Täter - bis auf ein paar Ausnahmen – nicht für ihre Verbrechen entschuldigt und die Verantwortung für ihre Taten übernommen. Im Fall Sant’Anna finden deutsche Juristen immer wieder Kniffe, um nicht gegen die Mörder - deutsche SS- Angehörige - vorgehen zu müssen. So bestätigen Stuttgarter Staatsanwälte zwar das objektive Merkmal Grau- samkeit, allerdings prüfen sie noch, ob es auch subjektiv Mord war, ob der Täter also auch bewusst grausam handeln wollte. Diese absurde Argumentation zeigt das Nichtinteresse der deutschen Justiz an der Strafverfol- gung von NS-Täter und zeigt gleichzeitig ihre Kontinuität auf. So wurden nach ca. 106.000 Vorermittlungsver- fahren seit 1958 gerade einmal 6.500 NS-Täter verurteilt, davon lediglich 160 zu lebenslanger Haft.

Es scheint also, dass nur politischer Druck die Forderung der Überlebenden und Angehörigen der Opfer von Sant’Anna nach einem Prozess in Deutschland erfüllen kann.

Hamburg, Mai 2006

Inhaltsverzeichnis

Hamburg DieWalddörfer Initiative in Hamburg-Volksdorf 35

Freiberg „Kein ruhiger Lebensabend für SS-Mörder“ von Clara Pepper, Jugendinitiative „Buntes Leben“ 36

Stuttgart Offener Brief der Antifaschistischen Initiative Stuttgart und VVN Stuttgart 38

Links, Filme, Bücher, Seminare zum Thema 39

Impressum: V.i.S.d.P: L. Reissmann c/o Kanzlei Klingner & Koll., Budapester Str. 49, Eigentumsvorbehalt: Nach dem Eigentumsvorbehalt ist die Broschüre solange 20359 Hamburg Eigentum des Absenders, bis sie der/dem Gefangenen persön- lich ausgehändigt ist. "Zur-Habe-Nahme" ist keine persönliche Kontakt/ Bestelladresse: Aushändigung im Sinne dieses Vorbehalts. Wird die Broschüre der/dem Gefangenen nicht persönlich ausgehändigt, ist sie dem [email protected] oder Absender mit dem Grund der Nichtaushändigung zurückzu- AK-Sant’Anna c/o Kanzlei Klingner, Budapester Str. 49, 20359 Hamburg senden. Wird die Broschüre der/dem Gefangenen nur teilweise persönlich ausgehändigt, so sind die nicht ausgehändigten Teile, und nur sie, dem Absender mit dem Grund der Nicht- Abgabe der Broschüre gegen Spende aushändigung zurückzusenden. (Kosten ca. 2,- EUR plus Porto)

3 Das Massaker von Sant’Anna di Stazzema

Erinnerungen von Enio Mancini Überlebender des Massakers von Sant'Anna

"Ich war damals dem Kommandanten Anton Galler (Waffen-SS) - das noch keine sieben wissen wir erst seit den 90er Jahren - in Richtung Jahre alt, als das Dorf auf; sie wurden von einigen italienischen Kol- Massaker in Sant' laborateuren aus der Region begleitet. Dies muss ich Anna am 12.8. 1944 zu meinem großen Bedauern bemerken. stattfand. Meine Es war also so: gegen 6.00 umzingelten vier Kolon- Erinnerung, die nen das Dorf Sant'Anna, von drei Seiten aus über die eines Kindes, habe ich aber mit der von anderen nahen Berghänge. Von der vierten Seite her wurde verglichen. Unser kleines Dorf hatte zu dieser Zeit die Dorfstrasse abgesperrt, um die Flucht zu verhin- ca. 400 Einwohner. Es galt als relativ sicher im Ge- dern. gensatz zu den Städten, die bombardiert wurden. Es Als sie die Berggipfel erreicht hatten, verschossen kamen deshalb etwa 1.000 Flüchtlinge, die dort auf- sie Leuchtraketen, um sich gegenseitig Signale zu genommen wurden; das Dorf war zu der Zeit nur geben. Dies wurde im Dorf bemerkt. Die Männer über Bergpfade erreichbar. Die meisten Flüchtlinge gingen davon, es werde wie üblich wieder Zwangs- kamen aus der Umgebung, aber auch z. B. aus Li- arbeiter rekrutiert. Sie verschwanden in die nahen vorno, Genua, Neapel. Im Sommer 1944 war unsere Wälder. Es blieben also Frauen, Kinder und Ältere Gegend, das Tal der Versilia, zu einem Schlachtfeld zurück, die dachten, für sie bestehe keine Gefahr. geworden. Die Alliierten waren bis nach Pisa und Livorno gekommen (23.7. 1944). Die Küstenregion Um 6.30 morgens begann das Massaker. Drei der bei Pietrasanta wurde zum Stützpunkt der 16. SS- vier Kolonnen haben jeden getötet, den sie antrafen. Panzergrenadier-Division unter . Es wurde überall getötet, in den Häusern, in den Ställen, auch auf dem Kirchplatz. Gegen 9.30 war Seit Beginn des Jahres 1944 halten sich Partisanen in alles vorbei, es blieben ca. 560 Tote zurück. Es wur- der Region auf. Ihre Aktionen waren zunächst gegen den fast alle Häuser zerstört, auch die Tiere getötet, die Vertreter der Mussolini-Regierung (RSI) gerich- auch die landwirtschaftlichen Gebäude wurden nie- tet, die in diesem Sommer immer mehr an Bedeu- dergebrannt. So sah die Strategie der "verbrannten tung verloren. Die Wehrmacht und Waffen-SS be- Erde" des General Kesselring aus. Dies war die Ar- kamen zeitgleich stärkeren Einfluss. Die Angriffszie- beit der drei Kolonnen. Ich hatte das Glück, das die le der Partisanen änderten sich damit; es waren auch vierte Kolonne mit unserer Gruppe, die aus etwa 100 relativ viele Soldaten an der letzten Verteidigungsli- Menschen bestand, anders umging. nie "Gotischen Linie" (d.h. in unserer Gegend) mit der Verteidigung beschäftigt. Ende Juli versuchte Ich berichte nun aus meinen eigenen Erinnerungen. Simon diese Partisanen zu umzingeln, um sie auszu- Die italienischen Faschisten, die maskiert waren, rotten. Diese kannten aber die Umgebung besser als führten die deutschen Soldaten etwa gegen 6.30 Uhr die deutschen Truppen und zogen sich nach Süden in in die Häuser. Um uns einzuschüchtern, haben sie Richtung Lucca zurück. Infolge dieses Rückzugs um sich geschossen. Wir hatten uns eingeschlossen. ging die Bevölkerung davon aus, dass die Zone um Wenn man die Tür nicht aufmachte, wurden diese Sant'Anna sicherer war als zuvor, da der "Anreiz" für aufgebrochen. Es kamen 4 bis 5 Soldaten in jedes die Deutschen fehlte. Als Konsequenz kamen noch Haus, bis oben hin bewaffnet, mit Flammenwerfern mehr Flüchtlinge in das Dorf. In der Nacht zum 12.8. ausgerüstet, um anschließend die Häuser niederzu- 1944, machte sich gegen 3.00 Uhr das Bataillon mit brennen.

4 Einige Soldaten durchsuchten die Häuser, andere re solcher Verhaltensweisen wie bei uns. Der Ein- trieben die Menschen auf dem Platz zusammen. Un- sturz brennender Häuser und viele Schüsse waren zu sere Leute wurden gegen die Hauswand gestellt, hören. Wir wollten jedoch so schnell wie möglich etwa zehn Minuten mussten wir stehen. Vor uns zurück, um zu wissen, was mit unserem Haus ist. Maschinengewehre aufgestellt. Wir dachten, das ist Von ca. 10 Uhr bis gegen 4 Uhr nachmittags haben das Ende. Zu unserer völligen Überraschung befahl wir gearbeitet, um dort unser Hab und Gut zu retten. uns aber ein Offizier, "Raus, schnell - Valdicastello". Wir trafen dann andere Leute, die sich frühmorgens Wir konnten dies zunächst nicht verstehen, aber die in die Wälder geschlagen hatten. Sie berichteten uns, italienischen Faschisten übersetzten, wir sollten ver- was im Dorf vorgefallen war. Wir gingen zu den schwinden. Häusern unserer Verwandten, ich lief hinter meiner Mutter und Großmutter zuerst zum Haus der Familie Während wir in kleinen Gruppen in Richtung Valdi- Pieri. castello zu entkommen versuchten, sahen wir zurück, und konnten erkennen, dass die Häuser, auch unse- La Casa di Pieri res, angezündet wurden. Meine Familie - die Frauen - entschieden, nachdem sie an unserem Haus vorbei- Ich habe noch heute Schwierigkeiten zu beschreiben, kamen, nicht nach Valdicastello zu gehen, sondern was ich dort sah. Ich sah im Haus verbrannte Men- sich in der Nähe, im Wald zu verstecken. Unser Ge- schen, der Geruch von verbranntem Fleisch war ex- danke war, so schnell wie möglich zum Haus zurück trem. Auch die Menschen, die auf offener Strasse zu gelangen, um dann noch retten zu können, was zu getötet wurden, waren nachträglich mit Stroh, Holz retten war. Etwa 150 Meter entfernt versteckten wir oder Flammenwerfern angezündet worden. Es waren uns im Kastanienwald, um die Kuh zu retten. Die viele Frauen, die dort nackt lagen, und vermutlich Milch der Kuh sicherte unser Überleben. Nach einer zuvor vergewaltigt worden waren. halben Stunde oder auch etwas länger hörten wir Ein Beispiel, das der Rabbi Elio Duaff, Ober-Rabbi deutsche Stimmen im Wald, die näher kamen. Eine von Roma mir berichtet hat, ist mir bis heute in Er- Patrouille fand uns, es waren etwa 7 bis 8 Soldaten; innerung geblieben. Er hielt sich wie die anderen wir wurden von ihnen in Richtung Kirchplatz getrie- Männer im Wald versteckt, und als sie dachten, dass ben, die Hälfte vorne, die anderen dahinter. Wir soll- alles vorbei wäre, kam er am späten Nachmittag zu ten schnell gehen, das konnten wir aber nicht, wir den Häusern. Auf dem Kirchplatz sah er einen gro- waren barfuss im Wald, und mit uns Kindern ging es ßen Haufen toter Körper, die erschossen und ange- nicht so schnell. zündet waren. Die Patrouille hatte einen festen Zeitplan, den sie Die schrecklichste Erinnerung war für ihn, wie er in einhalten wollte. Die Soldaten gingen also voraus, einem Haus eine junge Frau bemerkte, die noch le- ließen aber einen jungen Deutschen von ca. 17 bis 18 bend aussah. Sie sollte gerade an diesem Tag ihr Jahren bei uns, so etwa schätzten unsere Frauen das Kind gebären, die Wehen hatten begonnen. Er ging Alter dieses Mannes. zur Tür, die angelehnt war, um mit ihr zu sprechen. Als die anderen verschwunden waren, sagte dieser Es war aber falsch, die Frau lebte nicht mehr. Ihr war etwas zu uns auf Deutsch, wir verstanden jedoch der Bauch aufgeschlitzt worden. Das noch nicht ge- nichts. Seine Gesten gaben uns verstehen, dass wir borene Kind lag auf dem Küchentisch, noch mit der ruhig sein und uns entfernen sollten. Wir kehrten Nabelschnur verbunden, noch mal extra mit der Ma- also um, liefen aufwärts, und hinter uns hörten wir schinenpistole erschossen. Seitdem war Duaff nie Salven aus einer Maschinenpistole. Erst dachten wir, wieder in Sant' Anna gewesen. er schießt auf uns. Dann aber sahen wir, dass er in Ich möchte das hier nicht ausweiten. Ich bitte um die Luft schoss. Wir verstanden, dass dieser junge Entschuldigung, diese Grausamkeiten hier berichtet Mann uns das Leben gerettet hat. zu haben. Ich möchte jedoch darauf aufmerksam Wir haben aus dem Tal viele Schüsse gehört, konn- machen: es waren wohl Menschen, die hier am Werk ten jedoch das ganze Ausmaß der Tragödie noch waren. Sie haben sich jedoch nicht wie Menschen nicht erkennen, da wir auch dachten, es gebe mehre- verhalten."

5 „Die Kinder erinnern“

Vor 60 Jahren wurden im toskanischen Bergdorf Sant’Anna di Stazzema 560 Menschen von deutschen Truppen ermordet. Zu den Gedenkfeierlichkeiten kam auch Otto Schily. von Lars Reissmann, jungle world 25.08.04

Eine halbe Autostunde nordwestlich von Pisa schlän- Foto mit einem Statement auf schwarzen und roten gelt sich von der Küstenstraße eine zehn Kilometer Tafeln. lange schmale Asphaltstraße ins 600 Meter hoch in Wer nicht nur auf ästhetische Gesichtspunkte der den apuanischen Alpen gelegene Sant’Anna di Staz- Präsentation achtet, erkennt sofort, dass es sich hier zema. Hier wurden vor 60 Jahren 560 Menschen von um Zeugenaussagen in einem öffentlichen Prozess, nationalsozialistischen Truppen ermordet. Am Jah- um eine Anklage handelt. Ob es ein Massaker ohne restag des Massakers erschien als erster offizieller Schuldige bleibt, wird vor dem Militärgericht im deutscher Regierungsvertreter Otto Schily in nahen La Spezia entschieden werden. Erst im ver- Sant’Anna. gangenen April begann in Abwesenheit der ange- Am Vorabend des Jahrestages deuten nur einige klagten SS-Offiziere vor dem italienischen Militär- Absperrschilder auf den Rummel des nächsten Tages gericht in La Spezia der Prozess gegen einige der hin. Im Gegensatz zur Hitze in der Ebene am Meer mutmaßlichen Täter. Spät, aber nicht zu spät. ist es oben in Sant’Anna angenehm kühl. Auf dem Es ist dunkel geworden am Abend vor Schilys mit Platanen bestandenen Platz vor der kleinen Kir- Staatsbesuch, als die Leute sich langsam zu einem che, wo Soldaten der SS-Division »Reichsführer SS« stillen Zug zum »Knochenhaus«, dem Turm zum am 12. August 1944 vor allem Kinder und Frauen Gedenken an die Opfer, vor der Kirche einfinden. niedergemetzelt und anschließend die Leichen ver- »Wer gläubig ist, kann religiöse Gebete sprechen, brannt haben, laufen die letzten Vorbereitungen für die anderen laizistische«, sagt der Überlebende Enio den Gedenktag. Kränze werden angeliefert, in der Mancini. Bedächtig ziehen die gut 100 Menschen, Backstube hinter dem kleinen Kiosk am Platz wird auch einige auswärtige und wenige Deutsche, mit Brot gebacken, vielleicht ein bisschen mehr als bunten Kerzenlichtern langsam in weitem Bogen sonst. durch den Wald, auf dem einfach gestuften Steinpfad Auf dem Kirchplatz stehen die neuen Skulpturen des hoch zum 500 Meter entfernten Knochenhaus. Bildhauers Novello Finotti: »Soffio d’anime« – Der Oben angekommen und nach einem kurzen Gebet Hauch der Seelen – in weißem und schwarzem des Geistlichen trägt die Schauspielerin Elisabetta Marmor. Im Museum nebenan in der umgebauten Salvatori mit musikalischer Begleitung ihre Bearbei- ehemaligen Schule ist die neue Ausstellung zu se- tung der Berichte der Überlebenden Enio, Leopolda hen: »I bambini ricordano« – Die Kinder erinnern. und Mario vor. Der Text »Das Scharren unter den Die alte Ausstellung mit Tafeln zur Geschichte der Platanen« erzählt die Geschichte des Massakers von Resistenza, zur militärischen Situation zwischen der Vorgeschichte bis zur Befreiung und ist gleich- 1943 und 1945 in Norditalien, der deutschen Vertei- zeitig eine Liebeserklärung an die Versilia, die nörd- digungslinie, der »Linea Gotica« , zum Kriegsverlauf liche toskanische Küste um Stazzema, Carrara und und zum Massaker steht nun zusammengepackt in Viareggio. einem Nebenraum. Geblieben sind die Vitrine mit einigen Fotos und Habseligkeiten der Opfer, eine Barfuß, von einer Violine begleitet, erzählt Elisabetta große Tafel zu den Opfern des Massakers und die die Geschichte von dem abgeschiedenen ländlichen Tonskulpturen von Harry Marinsky mit dem Titel Ort, an den im Sommer 1944 viele Menschen flüch- »One War or one Peace«. Die Besucher schauen jetzt ten, vor dem Krieg, vor den möglichen Verhaftungen in die Gesichter von etwa 50 Menschen, die das zur Zwangsarbeit in Deutschland. Und vor den Bom- Massaker als Zwei- bis Zwölfjährige überlebten. bardierungen der Küstenstädte durch die Alliierten. Von ihnen gibt es jeweils ein großes Schwarzweiß- Nachdem bereits der Ort Farnocchia auf der anderen Seite des Bergkamms von den Deutschen niederge-

9 brannt worden war, versteckten die Menschen wich- Urteil nicht als grausam zu bewerten sei. Totschlag tige Dinge lieber außerhalb der Häuser. Doch mit der ist nach deutschem Recht jedoch bereits verjährt. Bei grenzenlosen Mordlust, die auch Frauen, Kinder und einer Anklage wegen Mordes aus weitergehenden Alte nicht verschonte, hatte niemand gerechnet. Gründen – wie Rache, Mordlust etc. – hätten die Nazis die Tat bereits verfolgen können, so dass auch Nach der berührenden Aufführung, dem gebühren- dieser Straftatbestand verjährt sei. Wegen des hohen den Applaus und den herzlichen Danksagungen tritt Alters des ehemaligen SS-Offiziers und dieser mög- eine der Überlebenden nach vorn. Sie ergänzt sicht- lichen Verjährung sei das Verfahren nicht mehr lich bewegt einige Details. Auf dem Weg hinab zum durchzuführen, da der NS-Täter Engel sonst zum Dorfplatz sagt sie, dass es keinen Grund, keine Opfer der Justiz werden könne. Rechtfertigung für das Verbrechen geben kann. »Die 17 Männer aus dem Ort, die sich vor dem Zugriff der Anlässlich des 60. Jahrestages des Massakers im Deutschen versteckt hielten, können wohl kaum ein griechischen Distomo im vergangenen Juni musste Grund für so eine Mordtat sein. Auch wurde in der deutsche Botschafter, Albert Spiegel, auf einer Sant’Anna kein Nazi getötet, kein Faschist oder Kol- Gedenkveranstaltung vor Transparenten sprechen, laborateur, und auch kein Partisan. Nein, es gibt auf denen die sofortige Entschädigung der NS-Opfer keinen Grund, aber die Täter... Ich möchte ihnen in gefordert wurde. Auch die Dorfbewohner hielten die Augen sehen und fragen: Warum?« zum stillen Protest entsprechende Schilder hoch. Provoziert hatte dies der Pressereferent Thomas Am nächsten Morgen haben die Carabinieri die Stra- Mützelburg im Anschluss an eine Informationsver- ße nach Sant’Anna für Normalsterbliche gesperrt. anstaltung des Arbeitskreises Distomo mit den Wor- Ein Bus-Shuttle-Service ist eingerichtet, überall am ten: »In ganz Europa gab es 56 Feindstaaten von Weg sind Sicherheitskräfte zu sehen, der Parkplatz Deutschland. Wenn Sie die alle entschädigen wollen, oben in Sant’Anna ist den Einsatzfahrzeugen und dann können Sie durch die finanziellen Auswirkun- Übertragungswagen zugeteilt. Die Delegationen der gen die Zukunft Europas abschreiben.« Opfer- und Partisanenorganisationen aus verschiede- nen Orten treffen ein. Es sind zumeist ältere Men- Während oben am Knochenhaus der Gedenkgottes- schen, die zum Gedenken gekommen sind. dienst mit Abendmahl gefeiert wird, kommen unten im Ort Otto Schily und sein italienischer Amtskolle- Eine inhaltliche Kritik am Besuch von Otto Schily ge Giuseppe Pisanu zu ihrem Zwischenstopp in muss sich im Kern mit zwei aktuellen Urteilen deut- Sant’Anna an. Sie haben den Jahrestag genutzt, um scher Obergerichte auseinandersetzen: dem Aus- sich über Pläne zur Abschottung gegen Migration schluss der italienischen NS-Zwangsarbeiter von aus Nordafrika zu verständigen. Ihre neuen alten einer Entschädigung durch das Bundesverfassungs- Lager-Ideen hatten sie im nahe gelegenen Lucca gericht (Jungle World, 31/2004) und dem Freispruch präsentiert, welches symbolträchtig als eine der we- des SS-Offiziers Friedrich Engel durch den Bundes- nigen Städte einen komplett erhaltenen Festungsring gerichtshof. Engel wurde im Jahr 1999 vom Militär- aus dem 16. Jahrhundert besitzt. Am folgenden Tag gericht La Spezia wegen 246fachem Mord zu einer wird der Toskana-Urlauber Otto Schily bereits auf lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Durch diese Ent- der Eröffnungsveranstaltung der Olympischen Spiele scheidung genötigt, verurteilte das Hamburger Land- in Athen erwartet. gericht den ehemaligen SS-Chef von Genua für eines dieser Verbrechen, nämlich die Erschießung von 59 Verfolgt vom Tross aus Presse, Prominenz und Poli- Geiseln am Turchino-Pass bei Genua, zu nur sieben zei, weihen die Sicherheitsminister den Skulpturen- Jahren Haft. Das Urteil des Landgerichts wurde vom park unten auf dem Kirchplatz ein. Oben am Ge- Bundesgerichtshof am 17. Juni dieses Jahres in der denkturm stellt man sich in Erwartung der Gedenk- Revision aufgehoben, eine Wiederaufnahme ausge- reden auf. Entlang des Weges zum Gedenkturm wird schlossen. Wie das Hamburger Gericht urteilten auch von Polizei, Militär, Feuerwehr, Opferorganisationen die Bundesrichter, dass die Geiselerschießung eine und Partisanenverbänden mit bunten Standarten ein rechtmäßige Repressalie als Antwort auf einen An- Spalier gebildet. Alle warten auf die leicht verspäte- schlag auf ein Soldatenkino gewesen sei. Die Mord- ten Regierungsmitglieder. tat am Turchino-Pass sei nicht im juristischen Sinne als Mord anzusehen. Es sei »nur« Totschlag gewe- Die zentrale Gedenkfeier mit den politischen Reden sen, da die Tatausführung entgegen dem Hamburger wird von Enio Mancini moderiert. Er lässt es sich

10 nicht nehmen, die Delegationen der Partisanenver- allemal eine billige Show im Reigen der Versöh- bände zu begrüßen. Denn im heutigen Italien über- nungstour zu den Jahrestagen der NS-Verbrechen geht man sie gerne einfach. Schließlich gehörten und der Befreiung, mit der nach der Normandie einige Mitglieder der Rechtsregierung zu den Unter- (Jungle World, 25/2004) und Warschau am 8. Mai stützern des faschistischen Marionettenregimes der 2005 vorerst Schluss sein soll. Republik von Salò unter Mussolini. »Irgendwas muss faul sein. 60 Jahre hat sich kein Zunächst sprechen zur Begrüßung der Bürgermeister Politiker hier blicken lassen. Und nun kommen sie von Stazzema, Michele Silicani, und Enrico Pieri als alle«, stellt eine alte Frau fest, nachdem Schily und Überlebender des Massakers. Beide sprechen über Pisanu ihre Reden beendet haben. die Wichtigkeit des Prozesses in La Spezia und be- enden ihre Reden mit dem Appell für eine friedliche Unten im Dorf wird vom Innenministergespann noch Entwicklung in Europa und der Welt. schnell die neue Ausstellung eröffnet. Als der Kon- voi der Innenminister nach knapp zwei Stunden wie- Otto Schily spricht »für uns Deutsche« vom »Tag der abfährt, singen einige ältere und ein paar junge der Schande«. Die kompensierende Anlehnung an Frauen zum Protest »Bella Ciao«, das berühmte Lied den »Schrank der Schande«, in dem die Ermittlungs- der italienischen Partisanen. Es kehrt wieder Stille akten über NS-Verbrechen in Rom über Jahrzehnte im Ort ein. Der Bildhauer zeigt einer Gruppe seine verschlossen waren, ist allzu deutlich. Er betont vom Plastiken. 20. Juli bis zu Willy Brandt den deutschen Wider- stand gegen die NS-Verbrechen, den es jedoch kaum In den italienischen Medien liegt der Schwerpunkt gegeben hat. Auf die Bewertung des Massakers von der Berichterstattung auf den Gesprächen der In- Sant’Anna bezogen, weiß Anwalt Otto Schily: »Es nenminister über die Maßnahmen gegen die Flücht- bedarf keiner juristischen Klügeleien, um zu erken- linge aus Nordafrika. Bilder von Schily und Pisanu nen, dass das, was am 12. August 1944 in Sant’Anna in Sant’Anna werden da gezeigt. In den Berichten di Stazzema geschah, blanker, brutaler Massenmord zum Gedenktag wird immer der Bezug zum Prozess war.« Er unterschlägt allerdings die Praxis bundes- in La Spezia hergestellt, wo erst am 6. Oktober wie- deutscher Rechtsprechung, ihre »Klügeleien«, Spitz- der verhandelt wird. findigkeiten und die bewusste Verschleppung von Die Anwälte der deutschen Angeklagten versuchen NS-Verfahren. Die abmildernde Bewertung auch sich beim Verfahren in Italien wie üblich in der Ver- schwerster Tötungsdelikte gehört schließlich seit der schleppung. Nach dem Urteil in La Spezia soll es Verjährung von Totschlag zum üblichen Repertoire auch in Stuttgart zum Prozess kommen, wurde den des Täterschutzes für NS-Verbrecher. Die Argumen- Opfern versichert. Die Ermittlungen der deutschen tation des Bundesgerichtshofs im Fall Engel geht so Staatsanwälte werden allem Anschein nach aller- weit, dass auch Mordtaten an Frauen und Kindern dings nicht besonders engagiert betrieben. Vor dem wie in Sant’Anna verjährt sein könnten, wenn die Hintergrund des Urteils des Bundesgerichtshofes im NS-Militärjustiz diese Taten theoretisch hätte verur- Fall Engel ist weiterhin politischer Druck notwendig, teilen können – was sie allerdings aus leicht begreif- damit es wirklich zur Prozesseröffnung in Deutsch- lichen Gründen nie getan hat. land kommt. Der Europa-Gedanke beider Innenminister findet in Da in Italien ja in Abwesenheit der Angeklagten der inneren Sicherheit und dem Schutz vor Verbre- verhandelt werden muss, kündigt Enio Mancini an: chen seinen Ausdruck. Die Beratungen in Lucca am »Wir werden nach Stuttgart fahren und den Tätern in Vormittag schlagen bei Giuseppe Pisanu so weit die Augen blicken.« durch, dass er in Sant’Anna verkündet, dass »das Problem illegaler Einwanderung« mit »europäischer Würde« gelöst werden müsse.

Er assistiert Schily, indem er dessen Spende für den Friedenspark erwähnt. Otto Schily hat in Sant’Anna viel Applaus für seine Rede bekommen, ob für den Inhalt seiner Rede oder die Spende über 20 000 Eu- ro, sei dahingestellt. Für die Bundesregierung war es

11 Der juristische Umgang mit NS-Kriegsverbrechen in Deutschland

60 Jahre nach Nürnberg oder was machen die einstigen Kriegsverbrecher eigentlich heute so? von Wolfram Siede, VVN

Redebeitrag auf der Kundgebung in Hamburg-Volksdorf am 26.11.2005

Die Generation der oberbefehlenden Wehrmachtsof- Hjalmar Schacht: "Ich verstehe überhaupt nicht, fiziere dürfte inzwischen verstorben sein, doch die warum ich angeklagt bin." Ähnlich auch der Chef niedrigeren Offiziersgrade und die kämpfenden Ver- des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht, bände waren jünger. Einige der NS-Täter leben noch Wilhelm Keitel: "Für einen Soldaten sind Befehle: und manche erfreuen sich bester Gesundheit, wie der Befehle." Und Joachim von Ribbentrop, Reichsmi- an Kriegsverbrechen in Italien Beteiligte ehemalige nister für auswärtige Angelegenheiten, Mitglied des Angehörige der SS-Panzergrenadierdivision "Reichs- politischen Stabes des Führers im Hauptquartier und führer SS", Gerhard Sommer. General der SS meinte: "Die Anklage richtet sich gegen die verkehrten Leute." Heute vor 60 Jahren, am 20. November 1945, be- gann der Prozess gegen 24 führende Repräsentanten Mit der Urteilsverkündung am 11. April 1949 ging des "1000-jährigen Reiches". Die Anklage lautete der letzte der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse auf Verschwörung und Verbrechen gegen den Frie- zu Ende. Die genannten Wehrmachtsgeneräle Rib- den und die Menschlichkeit. Auf der Anklagebank bentrop und Keitel ereilte bereits im Hauptkriegsver- saßen hochrangige Funktionsträger des NS-Staates, brecherverfahren die verdiente Todesstrafe - wobei darunter die Reichsminister für Bewaffnung, Wirt- der eingangs erwähnte Generalbevollmächtigten für schaft, Inneres und Äußeres und die Angehörigen der die Kriegswirtschaft, Hjalmar Schacht, mit einem Obersten Heeresleitung. Freispruch davon kam. Zudem wurden die Gestapo und die NSDAP-Gliederungen als verbrecherische In dem als "Nürnberger Prozess" bekannt geworde- Organisationen verboten, und zuletzt stellte der nen Verfahren schilderten die alliierten Ankläger Nürnberger Prozess den Versuch dar, den internatio- detailliert Kriegsverbrechen und Massenmorde wie nalen Beziehungen friedlichere Standards einzu- die Geiselerschießungen in Oradour-sur-Glane oder schreiben. Doch die guten Absichten allein, wie fei- das Vernichtungsprogramm in den Todeslagern von erlich sie auch verkündet werden, konnten die unter- Majdanek und Auschwitz. In der Regel leugneten die lassenen Konsequenzen nicht ersetzen. Angeklagten die ihnen vorgehaltenen Verbrechen nicht, wollten davon aber nichts gewusst - und stets Der "Unfähigkeit zu trauern" wie Alexander und mit den besten Absichten gehandelt haben: Die Ge- Margarete Mitscherlich die gesellschaftliche Ver- nerale hatten nichts anderes als Befehle umgesetzt; drängung nannten, wurde mit der Bagatellisierung die Admirale hatten das Gleiche wie andere Admira- der Strafverfolgung für NS-Verbrechen Vorschub le getan; die Politiker hatten für das Vaterland gear- geleistet und die lange Liste der Versäumnisse be- beitet, und die Finanzleute waren lediglich mit Ge- gann bereits mit den Urteilen in den Nürnberger schäften befasst. Auf die vom Vorsitzenden Richter Kriegsverbrecherprozessen. Ausgesprochen wurden - abschließend gestellte Frage, ob sie sich die Be- einschließlich der 12 Nachfolgeprozesse gegen schuldigten im Sinne der Anklage schuldig beken- Wehrmacht, Funktionseliten und Berufsgruppen wie nen, antworteten alle "Nicht schuldig". Noch deutli- der NS-Ärzteschaft oder der Juristen - 36 Todesurtei- cher wurde der ehemalige Reichswirtschaftsminister le (davon 24 vollstreckt), 23 Mal lebenslängliche

12 Haft sowie 102 befristete Freiheitsstrafen. Letztere mit den einstigen Kriegsverbündeten und folgendem fielen unter den Gnadenerlass des US- NATO-Partner verschollen - zeigt sich spätestens Hochkommissars McCloy und wurden am 1. Februar beim ehemaligen Kriegsgegner und späteren Ver- 1951 aus der Haft entlassen. bündeten, Frankreich, dass die Versäumnisse System hatten. Von den Hunderten an Kriegsverbrechen in Die ursprüngliche Absicht der Alliierten, weitere Frankreich wurden 1980 bis zum heutigen Tag ledig- Verfahren vor dem internationalen Militärgerichtshof lich drei2 Täter von deutschen Gerichten verurteilt; in Nürnberg zu eröffnen, fiel dem Kalten Krieg, der und das auch erst nach massiven Protesten in der Westbindung und der Wiederbewaffnung der Bun- französischen Öffentlichkeit. Höhere Vorgesetzte desrepublik zum Opfer. Die bundesdeutsche Justiz, wie der SS-und Polizeiführer Oberg, der Befehlsha- an welche die weiteren Ermittlungen abgetreten ber der Sicherheitspolizei Knochen oder der Bot- wurden, sabotierte ihre erste und vornehmste Aufga- schafter Albez - alle in Paris zu Tode verurteilt - be. Allein die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main waren bereits 1963 nach Intervention der Bundesre- benötigte zehn geschlagene Jahre, bevor sie das gierung nach Deutschland entlassen worden. "Da die Hauptverfahren im so genannten Auschwitzprozess meisten Beschuldigten in der Bundesrepublik nie- eröffnete, um 1965 dann zu erklären, dass die Ge- mals vor Gericht gestellt und verurteilt wurden, ver- richte nur nachweisbare Verbrechen einzelner Täter schwand das Geschehen selbst aus dem öffentlichen verfolgen könne, die Beweisführung aber nach so Gedächtnis", resümierte Ahlrich Meyer, Historiker langen Zeiträumen schwierig sei. So steckte die und internationaler Experte für deutsche Kriegs- Leugnung der eigenen Verantwortung nicht nur die verbrechen in Frankreich in einer soeben erschiene- Verteidigungslinie der NS-Eliten ab, sie prägte viel- nen Veröffentlichung.3 mehr die Sicht der gesamten Kriegsgeneration auf sich selbst: Aus dem Entlastungsargument, man habe Anhand der Auswertung mehrerer hundert Verhör- von den ungeheuren Verbrechen nichts gewusst, protokolle westdeutscher Staatsanwälten sieht Meyer erwuchs einer der beständigsten Gründungsmythen ein "offensichtlich abgestimmtes Schema" am Wer- Nachkriegsdeutschlands. ke, das er in etwa so beschreibt: Von der Vernich- tung der Juden im Osten hätten die Wehrmachtssol- Auch im Jahr 2005 spricht man diesmal bei der daten und SS-Angehörigen erst nach dem Kriegsen- Stuttgarter Staatsanwaltschaft von der "Schwierig- de aus der Presse erfahren. Nicht sie selbst, sondern keit", ausreichende Beweise für die Eröffnung eines andere Verstorbene oder Dienststellen hätten die Hauptverfahrens gegen die am Massaker von Deportationen organisiert. Der Ausrede, "die in ekla- Sant'Anna di Stazzema Beteiligten zusammen zu tantem Widerspruch zu den dokumentierten Fakten bekommen. Nun sind seit dem Massaker mehr als 60 standen", folgten die Staatsanwaltschaften in der Jahre vergangen, aber Fakt ist auch, dass den bun- Regel mit der Einstellung der Verfahren. Zusätzlich desdeutschen Ermittlungsbehörden seit 1951 Ver- finanzierte eine Behörde im Auswärtigen Amt Ade- nehmungsprotokolle und Zeugenaussagen über das nauer-Deutschlands, die "zentrale Rechtsschutzstel- Massaker in St' Anna im Zusammenhang eines in le", angeklagten Kriegsverbrechern Rechtsanwälte 1 Italien geführten Prozesses vorliegen. und recherchierte den Verbleib von Entlastungszeu- gen. Die eigens zur Entlastung von Kriegsverbre- Dabei ist de Untätigkeit der Ermittlungsbehörden bei chern geschaffene Dienststelle unterstand dem Aus- NS-Verfahren die Regel, und den Überlebenden und wärtigen Amt und wurde, welch ein Zufall, von ei- ihren Angehörigen in Marzabotto, Oradur oder Kra- nem ehemaligen Mitarbeiter der Gruppe Justiz der gujevac erging es nicht besser! Überall waren Frau- NS-Militärverwaltung, Dr. Rudolf Thierfelder, gelei- en, Kinder und alte Männer Opfer der Vergeltungs- tet. aktionen. Alle Massaker wurden mit besonderer Grausamkeit und unter Beteiligung großer Kontin- Ohne die Geschichte systematisch hintertriebener gente und Befehlsketten von Wehrmachts- und SS- Strafvereitelung für NS-Täter bleibt die Kampagne Angehörigen durchgeführt, und in allen Fällen blie- für die sofortige Anklageerhebung gegen Gerhard ben die verantwortlichen Befehlsgeber und die sie Sommer, Karl Gropler und die noch lebenden Tat- ausführenden Täter ungeschoren. Während man in beteiligen im Jahre 2005 unverständlich. Hier muss, Italien noch besondere Gründe anführen könnte - die wie im Fall der Bundesstiftung zur Entschädigung belasteten Ermittlungsakten wurden im "Schrank der der Zwangsarbeiter oder dem Holocaustmahnmal, Schande" versteckt und waren aus Rücksichtnahme

13 (außen-)politischer Druck aufgebaut werden, wenn Genugtuung versagt bleibt. - Wolfram Siede, zu Lebzeiten der Überlebenden noch etwas passieren 26.11.2005 soll, zumal auch die Tatbeteiligten inzwischen hoch Anmerkungen: betagt sind. Appelle für Nachsicht und Vergebung 1 Rolf Surmann: Justizieller Täterschutz in konkret: 08/2005 2 klingen erst einmal gut und irgendwie menschlich, Kurt Heiler: Tulle 1944: Auf den Spuren eines Deutschen Kriegsverbrechen in antifa -Magazin für antifaschistische Politik haben jedoch den entscheidenden Haken, das den und Kultur November/Dezember 2005 Überlebenden und ihren Angehörigen erneut und 3Ahlrich Meyer: Täter im Verhör. Die "Endlösung der Judenfra- endgültig die öffentliche Anteilnahme und juristische ge" in Frankreich 1942 - 1944, Wissenschaftliche Buchgemein- schaft, Darmstadt, 2005, Euro 79.-

NS-Morde verjähren nicht! von avanti, Projekt undogmatische Linke

Die Tatsache, dass sich Kriegsverbrecher wie Ger- ßerst langsam. Das 1960 von der SPD eingebrachte hard Sommer theoretisch auch heute noch für ihre Berechnungsgesetz konnte die Verjährung von Tot- Taten im 2. Weltkrieg verantworten müssen, liegt schlag nach 15 Jahren nicht verhindern. Mit diesem begründet im Beschluss des Bundestages vom Gesetz sollte der Berechnungszeitpunkt für die Ver- 3.7.1979. Der Umstand, dass er und andere zum Teil jährung von NS-Verbrechen der Betitelung „Tot- im Ausland bereits verurteilte nationalsozialistische schlag“ auf den 16. September 1949, in der nachge- Massenmörder bis heute nicht zur Verantwortung reichten Version auf den 20. Juni 1946 verlegt wer- gezogen werden, lässt den damaligen Beschluss in den, um die Ahndung der Verbrechen noch weiterhin seiner Wirkung fragwürdig erscheinen. zu ermöglichen. Die zweite Version des Antrages wurde am 24.05.1960 im Bundestag abgelehnt. Die Dabei zielte der Antrag der damaligen SPD/FDP- schnelle Abhandlung des Entwurfes zeigt deutlich Koalition, der eine deutliche Mehrheit im Parlament den fehlenden Willen der Bundesrepublik zu einer fand, genau darauf ab auch zukünftig diese Morde schonungslosen Strafverfolgung von NS- juristisch zu verfolgen. Verbrechen. Ereichte die Zahl der gerichtlichen Ver- urteilungen 1948 mit 1.819 ihren Höhepunkt waren Zwar kam es auch in der jüngeren Vergangenheit zu 1955 nur noch 21 Verurteilte zu verzeichnen. Anklagen gegen hochrangige NS-Verbrecher, doch sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass Un- Das 1954 von der Bundesregierung erlassene Am- zählige Nutznießer von Amnestien oder überaus nestiegesetz für Straftaten mit einem Strafmaß von milden Urteilen geworden, bzw. bis heute nicht an- bis zu drei Jahren wurde von zahlreichen Freisprü- geklagt oder verurteilt sind. chen, Begnadigungen und Strafmilderungen von Seiten der Alliierten begleitet, die im Zuge der sich Die Debatte dauerte bis zum Zeitpunkt des Beschlus- entwickelnden Bipolarität des Weltgeschehens der ses fast zwei Jahrzehnte. Ihren Anfang nahm sie, als Verfolgung von NS-Verbrechern eine zunehmend im Jahr 1960 die Verjährung von Totschlag nahte. geringere Bedeutung zukommen ließen.

Der in den Jahren 1957/58 stattfindende „Ulmer Einsatzgruppen-Prozess“ hatte zwar Auswirkungen „[…] nichts hören, nichts sehen und nichts wis- auf die innerdeutsche Wahrnehmung in Bezug auf sen…“ die NS-Verbrechen, jedoch noch nicht stark genug für eine wirkliche Debatte um die Verjährung von Totschlag. Der Prozess gegen zehn ehemalige Mit- Die verbreitete Ansicht, dass die juristische Aufar- glieder der Einsatzgruppe A, denen Mord sowie Bei- beitung der nationalsozialistischen Verbrechen be- hilfe zum Mord in knapp 4000 Fällen zur Last gelegt reits so gut wie abgeschlossen sei, erodierte nur äu- wurde, führte zwar die Verbrechen von kaum vor-

14 stellbarem Ausmaß der bundesdeutschen Öffentlich- Verjährungsfrist argumentierten mit einem Verstoß keit vor Augen, doch die Erkenntnis, dass die Meis- gegen die Rechtstaatlichkeit, der Eintreten würde, da ten der unzähligen NS-Verbrechen eben nicht aufge- eine Veränderung der Verjährungsfrist einen bereits klärt wurden, setzte sich äußerst langsam durch. So erteilten Rechtsanspruch wieder außer Kraft treten konnte der spätere Justizminister Bucher (FDP) 1960 lassen würde. Zudem betonte man auf Seiten der wohl den meisten Deutschen aus dem Herzen spre- Gegner vehement das Sonderrechts- und Rückwir- chen, als er auf den Wunsch hinwies, von der Ver- kungsverbot. Man könne der Welt „nur den Willen gangenheit „nichts hören, nichts sehen und nichts zum Recht dartun“, indem man die geschaffenen wissen zu wollen“. rechtsstaatlichen Prinzipien auch einhalte, so der Abgeordnete Thomas Dehler (FDP). „Der Weg zum Dennoch gab es 1958 einen weiteren Fortschritt zu Staat des Unrechts ist dadurch gebahnt worden, dass verzeichnen. In Ludwigsburg wurde die „Zentrale der Wille zur unbedingten Rechtsstaatlichkeit nicht Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung lebendig genug war“, so Dehler weiter. von NS-Verbrechen“ gegründet, deren Aufgabe die Vorermittlungen für bislang unaufgeklärte NS- Die Antragsteller argumentierten zum einen gestützt Verbrechen war. Ausgeschlossen blieb dabei jedoch auf einen Appell von zahlreichen Professoren des ausdrücklich die Wehrmacht. Die „Zentrale Stelle“ Straf- und Verfassungsrechts, die auf die bisherige leitete zwar zahlreiche Ermittlungsverfahren ein, der Rechtsprechung des BGH verwiesen, der eindeutig Erfolg hing dabei jedoch stark von den Bemühungen feststellte, dass die Verjährung „lediglich verfah- und der Motivation in den letztendlichen Ermitt- rungsrechtlicher Art sei, also nur ein Verfahrenshin- lungsbehörden ab. Die personellen Kontinuitäten dernis bilde“. „Die […] Verjährungsfrist ist nichts, (nicht nur in diesen Bereichen des Staatsdienstes) worauf der Täter […] einen verfechtbaren Anspruch“ sorgten oftmals für erhebliche Behinderung in den besäße. Verfahren. Zum anderen argumentierte Benda auf einer metaju- Eine Intensivierung der Auseinandersetzungen stand ristischen Ebene. „Für die Antragsteller steht über 1965 an, kurz bevor auch das Verbrechen des Mor- allen Erwägungen juristischer Art ganz einfach die des im Bezug auf die NS-Verbrechen zu verjähren Erwägung, dass das Rechtsgefühl eines Volkes in drohte. unerträglicher Weise korrumpiert werden würde, wenn Morde ungesühnt bleiben müssten, obwohl sie gesühnt werden könnten […].“ Dies ginge nur, wenn den Behörden weiterhin die Möglichkeit der Aufklä- „[…] wenn Morde ungesühnt bleiben müssten, rung gegeben werde. obwohl sie gesühnt werden könnten…“ Das Ergebnis der leidenschaftlichen Debatte war ein

schwacher Kompromiss der vorsah, dass die Verjäh- Die Debatte um die Verjährung von Mord ist unbe- rungsfrist erst ab dem 31.12.1949 laufen sollte, und dingt im Kontext der geschichtspolitischen Entwick- somit bis 1969 ausgedehnt werden konnte. Somit lungen zu Beginn der 60er Jahre zu sehen. Der war klar, dass die Debatte vier Jahre später erneut Eichmann-Prozess in Israel (1961) und der Frankfur- auf der Tagesordnung stehen würde. Zwischen 1965 ter Auschwitz-Prozess (1963) hatten großen Einfluss und 1967 wurden allein 15.000 neue Ermittlungsver- auf die Wahrnehmung der NS-Verbrechen – sowohl fahren und 6.000 Vorermittlungsverfahren eingelei- auf gesellschaftlicher Ebene als auch in der politi- tet. schen Arena.

Die Bundesregierung wollte den Verjährungstermin „ Über Auschwitz aber wächst kein Gras …“ aussitzen. Die Debatte die dem letztendlichen Antrag – gestellt vom CDU-Abgeordneten Ernst Benda und weiteren Abgeordneten der CDU und der SPD- Fraktion – folgte, unterlag keinem Fraktionszwang. Als die Verjährung 1969 wieder auf der Tagesord- nung stand, hatte die Intensität der Debatte nicht Sie drehte sich im Kern um das Verständnis des mehr die Ausmaße wie noch vier Jahre zuvor. Dass Rechtstaates. Die Gegner einer Verlängerung der auch auf konservativer Seite der Widerstand ab-

15 nahm, lässt sich im Rückblick auf einen rechtspoliti- schen Schachzug zurückführen. Am 1.Oktober 1968 trat das Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkei- tengesetz in Kraft. Der § 59 Abs. 2 StGB regelte von nun an, das Beihilfe zum Mord nur noch als Mordversuch zu bewerten sei. Da die 15jährige Ver- jährungsfrist für diesen Straftatbestand bereits einge- treten war, kam es zur „kalten Amnestie“ – zahlrei- che ‚Schreibtischtäter’ konnten nicht mehr juristisch belangt werden. Am meisten profitierten davon die ehemaligen Mitarbeiter des Reichssicherheitshaupt- amtes (RSHA), die die Deportation und Vernichtung der Juden organisierten und verwalteten. Nach dem das Gesetz verabschiedet wurde, mussten Ermitt- lungsverfahren gegen knapp 700 Verdächtige aus dem RSHA eingestellt werden. Justizminister Hei- nemann versuchte den Vorgang als gesetzgeberische Panne zu entschuldigen, doch die Vermutung liegt nahe, dass es sich um die bewusste Nutzung einer juristischen Hintertür handelte.

Nachdem die Verjährungsfrist 1969 auf weitere 10 Jahre ausgedehnt wurde, folgte 1979 die endgültige Aufhebung der Verjährung von Mord. Im Zuge der Verhandlung dieses Gesetzes, betonte der FDP- Abgeordnete Werner Maihofer: „Über Mord wächst irgendwann einmal Gras, und zwar im Regelfall schon nach einer Generation. Über Auschwitz aber wächst kein Gras, noch nicht einmal in 100 Genera- tionen.“

Damit wird das zentrale Problem im Ergebnis der Verjährungsdebatten deutlich. Mord aus privaten Motiven, wurde juristisch mit den staatlichen, indus- triellen, medizinischen und militärischen NS- Gewaltverbrechen auf eine Stufe gestellt. Zwar ist die Verfolgung und Ahndung der Verbrechen ermög- licht worden, doch die ohne Abstufung vorgenom- mene Bewertung von Mord macht die Dimension und die Besonderheit der NS-Verbrechen nicht deut- lich. Somit blieb und bleibt trotz der ermöglichten Strafverfolgung ein starker Beigeschmack durch die erinnerungspolitischen Konsequenzen der Bundes- tagsentscheidung. (ak/avanti hh) Literatur: - Helmut Dubiel: Niemand ist Frey von Geschichte. Die natio- nalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages, München 1999 - Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundes- republik und die NS-Vergangenheit, 2. Aufl., München 1997 - Babara Just-Dahlman: Die Gehilfen. NS-Verbrechen und die Justiz 1945, Frankfurt a. Main 1988 - Peter Reichel: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001

16 Zum Prozess in Italien

Ein Schuldspruch nach 61 Jahren

Überlebende und Verwandte von Opfern eines SS-Massakers 1944 in der Toskana sind erleichtert über das Urteil eines italienischen Militärgerichts von Andreas Speit, taz 24.06.05

Zehn Namen, ein Urteil: "lebenslänglich". Am Mitt- wohner hat die SS ermordet", hebt Enio Mancini wochabend sprach das Militärtribunal La Spezia hervor. "Jetzt endlich - nach 61 Jahren - ist das Mas- zehn ehemalige Angehörige der 16. SS- saker auch juristisch als Verbrechen bewertet wor- Panzergrenadier-Division "Reichsführer SS" schul- den", so Mancini, der auch nur durch Glück überleb- dig, an dem "schlimmsten Massaker an Zivilisten te. während des Zweiten Weltkriegs in Italien" beteiligt Dankbar sind die Überlebenden von Sant'Anna di gewesen zu sein. Das Gericht sah es als erwiesen an, Stazzema vor allem der Staatsanwalt Marco De Pao- dass die SS-Angehörigen um die SS- lis, der mit seinen Ermittlungen den Prozess über- Unterscharführer Gerhard Sommer, Ludwig Sonntag haupt erst möglich gemacht hatte. De Paolis argu- und Alfred Schönenberg eine "bedeutende Funktion" mentierte auch in seinem Schlussplädoyer gegen die bei der Ermordung von 560 alten Männern, Frauen These der Verteidigung von womöglich "eskalierter, und Kindern in Sant'Anna am 12. August 1944 hat- aber legitimer Partisanenbekämpfung". "Die Vertei- ten. Ein Massaker jenseits "der Menschlichkeit". digung eines Mandanten ist selbstverständlich, die An jenem Sommertag waren etwa 300 SS-Männer in Verteidigung der Aktion unerträglich", so De Paolis. das entlegene toskanische Bergdorf vorgedrungen, "Nach Sant'Anna sind die Soldaten der SS gekom- hatten zahlreiche Menschen mit Schusssalven, mit men, um ein Massaker zu begehen." Flammenwerfern, mit Handgranaten, mit dem Bajo- "Kinder und Frauen ermorden, das soll erlaubt sein", nett barbarisch ermordet und schließlich die Leichen raunte es durch die Zuschauerreihen im Saal, als die verbrannt. Verteidiger ihre Schlussplädoyers abgaben. Entsetzt Zwar war keiner der Angeklagten im Saal, zwar wird und mit versteinerter Miene hörten die Überlebenden wohl keiner der durch die Bank mittlerweile über 80- der immer gleichen Argumentation zu: dass der kon- Jährigen wohl je seine Strafe verbüßen, aber die krete Tatbeitrag ihrer Mandanten unsicher und die Angehörigen reagierten mit Erleichterung auf den Befehlslage unklar sei, dass die Haager Landkriegs- Schuldspruch. Angehörige wie Enrico Pieri, damals ordnung solche Partisanenbekämpfungen erlaube zehn Jahre alt. Er verlor Eltern, Großeltern, Ge- und geplante besondere Grausamkeit nicht zu erken- schwister, insgesamt 25 Familienangehörige. Oder nen sei. Unisono forderten sie: "Assoluzione" - Frei- Silvia Pardini, damals neun, vor deren Augen die spruch. Mutter und die zwei Schwestern abgeschlachtet wur- Doch einige ehemalige SSler hatten im Prozess als den. Manche der Alten im Saal begannen während Zeugen die Staatsanwaltschaft bestätigt. Adolf Be- der Urteilsverkündung zu weinen, andere suchten die ckert, dem seine Kinder geraten hatten auszusagen, Tränen zu unterdrücken. Kaum hatte der Vorsitzende um "Frieden zu finden", erzählte, wie sie Frauen und Richter die Verlesung des Urteils beendet, kam Ap- Kinder auf dem Kirchplatz "niedermähten", und der plaus auf. "Nach über 60 Jahren, endlich", meinte jetzt verurteilte Ludwig Göring räumte in einem eine Frau, die nur überlebte, weil ihre Mutter bei der Brief ein, Frauen erschossen zu haben. In der An- Erschießung auf sie fiel. "90 Prozent der Dorfbe- nahme, dass der als Haupttäter geltende Sommer

17 längst verstorben sei, hatte zudem einer der Ange- und die beteiligten SS-Einheiten seien schließlich klagten in einer Vernehmung bestätigt, dass "Som- bekannt gewesen. Für den Verein der Opfer von mer vor Ort auch das Sagen hatte". Sant'Anna hat der Präsident Enrico Pieri die Ham- burger Anwältin jetzt mit der Nebenklage beauftragt. "Das Urteil und die Aussagen werden selbstverständ- "Wir erwarten nun eine möglichst schnelle Anklage- lich berücksichtigt", erklärten in La Spezia zwei erhebung, damit man endlich auch in Deutschland deutsche Polizeibeamte, die für die Staatsanwalt- seiner Verantwortung gerecht wird", betont Hein- schaft Stuttgart in dem "Komplex Sant'Anna" re- ecke. cherchieren. Der Sachverhalt sei auch schon ermit- telt. Nun führten sie noch weitere Zeugenaussagen Gegen die italienischen Urteile legten die Verteidiger durch, um Tatdetails zu erfahren. Wann ein Verfah- Revision ein. Doch auch wenn das Urteil bestätigt ren eröffnet werden könnte, ist aber immer noch wird, müssen die Verurteilten in Deutschland vorerst ungewiss. Seit 1995 bestand die Möglichkeit der nichts befürchten. Strafverfolgung auch in Deutschland, betont indes Rechtsanwältin Gabriele Heinecke. Das Massaker Mitarbeit: Michael Braun, Rom

Die Täter

Werner Bruß Horst Richter Unteroffizier, geb. 1920 Unterscharführer, geb. 1921 Reinbek (Schleswig-Holstein) Krefeld (Nordrhein-Westfalen) rechtskräftig verurteilt In Revision

Alfred Mathias Concina Heinrich Schendel Unterscharführer, geb. 1919 Unteroffizier, geb. 1922 Freiberg (Sachsen) Ortenberg (Hessen) In Revision rechtskräftig verurteilt

Ludwig Göring Gerhard Sommer SS-Rottenführer, geb. 1923 SS-Untersturmführer, geb. 1921 Karlsbad (Baden-Württemberg) Hamburg-Volksdorf rechtskräftig verurteilt In Revision

Karl Gropler Alfred Schöneberg Unterscharführer, geb. 1923 SS-Unterscharführer, geb. 1921 Wollin (Brandenburg) Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen) In Revision In Revision

Georg Rauch Ludwig Heinrich Sonntag Unterleutnant, geb. 1921 SS-Unterscharführer, geb. 1924 Rümmingen (Baden-Württemberg) Dortmund (Nordrhein-Westfalen) In Revision In Revision

18 Zum Prozess in Deutschland

Aktueller Stand des Verfahrens

Werner Bruß, Alfred Mathias Concina, Ludwig Gö- Er überlebte als Kind versteckt in einer Ecke im ring, Karl Gropler, Georg Rauch, Horst Richter, elterlichen Haus, wo die SS vor seinen Augen seine Heinrich Schendel, Gerhard Sommer, Alfred Schö- Tante, seinen Großvater und weitere Angehörige neberg, Ludwig Heinrich Sonntag wurden am 22. erschoss. Seine 5 Jährige Schwester wurde an den Juni 2006 vom Militärgericht in La Spezia zu lebens- Füssen gehalten an einer Wand erschlagen. langen Haftstrafen – und zu Entschädigungs- zahlungen - verurteilt. Zunächst sah es so aus, als wenn die zuständige Staatsanwaltschaft Akteneinsicht zügig gewährt, Die schriftliche Urteilsbegründung wurde im Herbst auch wenn sie sich von der Nebenklage überrascht letzten Jahres vorgelegt. Sie umfasst auf gut 200 zeigte. Das Problem bei der Einsichtnahme ergab DinA4-Seiten. Nach Zugang des schriftlichen Urteils sich dabei angeblich vor allem aus dem Umfang der konnten die verurteilten Täter innerhalb einer Frist Akten und dem mangelnden Personal in Stuttgart. gegen das Urteil Revision einlegen. Werner Bruß, Dies hätte aber gelöst werden können: Ende Juli Ludwig Göring und Heinrich Schendel haben keine 2006 bot Gabriele Heinecke an, dass ein Mitarbeiter Revision eingelegt und sind somit in Italien rechts- der Rechtsanwaltskanzlei die 16 Aktenordner vor kräftig verurteilt. Über die Revisionsanträge der Ort, einem nach dem anderen, in Stuttgart kopieren anderen sieben SS-Kriegsverbrecher muss der Ap- könnte, wobei die Arbeit der Ermittler nicht oder nur pellationshof des Militärgerichts in Rom entschei- minimal eingeschränkt worden wäre und kein zusätz- den. Es ist erst einmal davon auszugehen, dass der liches Personal dafür benötigt worden wäre. römische Militärgerichtshof das Urteil im Wesentli- chen bestätigt. Die Entscheidung sollte nach bisheri- Auf diesen Vorschlag schien die Staatsanwaltschaft gen Erfahrungen innerhalb dieses Jahres erfolgen. zunächst einzugehen. Doch kurz vor dem gepplanten Termin wurde die Akteneinsicht für die Opfer erst Der in Deutschland ermittelnde Staatsanwalt Häußler einmal gänzlich verwehrt. In der Zwischenzeit muss aus Stuttgart hatte den Überlebenden und Angehöri- wohl die Oberste Behördenleitung beschlossen ha- gen der Opfer von dem Massaker in Sant'Anna bei ben, dass die Akteneinsicht nicht gewährt wird. einem Prozessbesuch in La Spezia versprochen, nach dem Urteil in Italien auch in Deutschland Anklage zu Da von Seiten der Staatsanwaltschaft überhaupt kein erheben. Bisher wurde allerdings keiner der in Italien Zeitpunkt mehr für die Akteneinsicht genannt wurde, Verurteilten oder weitere Tatbeteiligte angeklagt. stellte Gabriele Heinecke Mitte Oktober einen An- Das Ermittlungsteam wurde Anfang 2005 durch zwei trag auf gerichtliche Entscheidung. (siehe Pressemit- Kriminalbeamte. Es wird in Stuttgart gegen mindes- teilung). Die Staatsanwaltschaft teilt dem Gericht tens 14 Personen ermittelt. Die Intensität der bisheri- mit, dass der Akteneinsicht Ermittlungsmaßnahmen gen Ermittlungen ist allerdings ohne Akteneinsicht gegen die Täter entgegen ständen. Der Erfolg dieser schwer abzuschätzen. Eine Beteiligung der Seite der Ermittlungen sollte also durch die Opfer gefährdet Opfer wurde dadurch gänzlich blockiert. sein und das 61 Jahre nach der Tat. Diese Maßnah- men sollten Ende Februar 2006 beendet sei. Bereits zwei Tage nach dem Urteil von La Spezia hatte die Hamburger Rechtsanwältin Gabriele Hein- Der Antrag auf Akteneinsicht wurde durch das ecke für eine potenzielle Nebenklage Akteneinsicht Landgericht Stuttgart Anfang Dezember abgelehnt, beantragt. Sie vertritt Enrico Pieri, den Präsidenten mit der erwähnten Begründung. Aber auch nach des Opfervereins von Sant'Anna. Ein großer Teil Wegfall dieses in Kern doch sehr fraglichen Grundes seiner Verwandten wurden beim Massaker ermordet. gibt es bis heute (Anfang April 2006) keine Akten-

19 einsicht. Es wurde nicht einmal ein Termin genannt. auch zu alt und die Sache lange her. Nach über 55 Man hat wohl besseres zu tun. Jahren hat die bundesdeutsche Justiz es nicht ge- schafft einen einzigen Prozess gegen auch nur einen Im Gegensatz zur Militärstaatsanwaltschaft in La Täter von Sant’Anna zu führen. Und Sant’Anna ist Spezia zeigt die Stuttgarter Ermittler gegenüber den kein Einzelfall, sondern Normalität. Opfern kein Fünkchen Mitgefühl. Interesse an ihren Zeugnissen z.B. durch konkrete Befragungen ist (20060405 LR) nicht erkennbar. Es scheint, als möchte man sie Täter nicht anklagen, denn sie seien ja nun mal langsam

Die Opfer des Massakers von Sant'Anna stellen Antrag auf gerichtliche Entscheidung in Stuttgart

Pressemitteilung der Rechtsanwältin Gabriele Heinecke vom 17.10.2005

61 Jahre nach dem Massaker von Sant'Anna di Staz- blik Deutschland Akteneinsicht beantragt worden zema verweigert die Staatsanwaltschaft Stuttgart den war und geklärt werden sollte, warum die deutsche Überlebenden immer noch die Einsicht in die Ermitt- Staatsanwaltschaft sich auch nach 61 Jahren nicht lungsakten zur Anklageerhebung entschließen kann, kommen ihm Zweifel. Am 12. August 1944 war Enrico Pieri 10 Jahre alt. Es war der Tag des grausamen Massakers in dem Es ist nicht nur die Tatsache, dass die Staatsanwalt- italienischen Dorf Sant' Anna di Stazzema. 560 schaft unterstellt, die Kenntnis des Enrico Pieri von Menschen wurden von den Angehörigen der 16. bevorstehenden Ermittlungshandlungen und der Be- Waffen-SS-Panzergrenadierdivision erschossen, weislage könne dazu führen, dass die noch zu ver- erschlagen, verbrannt. Enrico Pieri verliert Vater, nehmenden Angehörigen der 16. SS- Mutter, Geschwister, insgesamt 25 Familienangehö- Panzergrenadierdivision ihre Aussagen absprechen. rige. Inzwischen ist Pieri 71 und Vorsitzender des Es ist auch nicht nur die Erklärung, dem Aktenein- Vereins der Opfer von Sant'Anna. Seit sechs Jahr- sichtsgesuch des Überlebenden stünden höherrangige zehnten wartet er darauf, dass die Täter zur Verant- schutzwürdige Interessen der Beschuldigten entge- wortung gezogen werden. Am 22. Juni 2005 verur- gen. Es ist vielmehr der Hinweis der Staatsanwalt- teilte das Militärgericht La Spezia zehn ehemalige schaft von Ende Juni 2005 auf ihre Suche nach den SS-Angehörige wegen ihrer Beteiligung an den subjektiven Mordmerkmalen: niedriger Beweggrund Morden in Sant'Anna zu lebenslänglicher Haft. Seit oder Grausamkeit der Tat. Die Staatsanwaltschaft dem Ende des Zweiten Weltkrieges leben diese Stuttgart will sich an der Entscheidung des Bundes- Männer unangefochten in der Bundesrepublik gerichtshofes vom 17. Juni 2004 orientieren. In dem Deutschland. Trotz des Urteils von La Spezia haben dortigen Verfahren war das Urteil gegen Friedrich sie nichts zu befürchten: Eine Auslieferung nach Engel, SS-Sturmbannführer und Leiter der Sicher- Italien findet nicht statt. Enrico Pieri hat die Hoff- heitspolizei in Genua, wegen der Massenerschießun- nung, den Tätern zumindest ein Mal vor Gericht in gen am Turchino-Pass im Jahre 1944 aufgehoben Stuttgart in die Augen zu sehen. Nachdem im Juni und das Verfahren wegen des hohen Alters des An- 2005 über seine Anwältin auch in der Bundesrepu- geklagten eingestellt worden. Das Landgericht Ham- burg habe nicht ausreichend geprüft, ob Engel be-

20 wusst die Möglichkeit einer weniger brutalen Durch- den Gewehrsalven der SS retten. Einer der in Italien führung der Tötungshandlungen vernachlässigt habe Verurteilten – auch Beschuldigter im Stuttgarter oder aufgrund der Auswahl der Opfer das Mord- Ermittlungsverfahren - hat inzwischen öffentlich merkmal des niedrigen Beweggrundes gegeben sein zugegeben, dass er auf eine Gruppe von 20 – 25 könnte. Dies könnte der Fall sein, weil „teils beson- Frauen und Kinder geschossen habe, „bis der Patro- ders junge, möglicherweise auch nicht durchweg im nengurt leer war“. Aber auch bei ihm hält die Staats- Verdacht der Partisanentätigkeit stehende“ Gefange- anwaltschaft daran fest, dass zur Zeit kein für die ne umgebracht worden waren. Enrico Pieris kleine Anklage hinreichender Tatverdacht vorliegt. Schwester Luciana war 5 Jahre, als sie vor seinen Augen an den Füßen gepackt und so lange mit dem Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung über das Kopf gegen die Wand geschlagen wurde, bis der Begehren des Enrico Pieri, Einsicht in die staatsan- Schädel zertrümmert war. Er selbst verkroch sich 10- waltlichen Ermittlungsakten zu nehmen, ist heute jährig in einer Mauernische und konnte sich so vor beim Landgericht Stuttgart eingereicht worden.

21 Massakeropfer klagen an – Mutmaßliche Kriegsver- brecher leben unbehelligt in Deutschland

57 Jahre nach Kriegsende fand KONTRASTE in einer Exklusiv-Recherche mut- maßliche Tatbeteiligte der Massaker von Sant’Anna di Stazzema und Marzabotto von René Althammer und Udo Gümpel, Kontraste, Sendung vom 11. April 2004 Auf Avanti! Das werden Sie in unserem nächsten Division hinterließ eine Blutspur: 2000 Zivilisten, Beitrag hören, und dann wird von der „Jagd“ und der fast alles Frauen und Kinder - wie diese Schulklasse „Treibjagd“ die Rede sein! aus der Toskana und diese Bauernfamilie bei Bolog- Es war eine Treibjagd. Gejagt wurden Menschen: na - wurden von der SS-Division grausam ermordet. Frauen, Kinder, alte Männer, wehrlos, zusammenge- Die Alliierten untersuchen noch im Krieg die Mas- trieben und ermordet. Geschehen in Italien 1944.Die senmorde. Sie ermitteln viele Tatverdächtige. Kon- Täter, die Teilnehmer an der "Jagd": Soldaten der SS traste hat in den Akten der Alliierten recherchiert. und der Wehrmacht. Der ranghöchste Verdächtige ist der Chef der 7. Kaum einer hat je für seine Mordtaten gebüßt. Denn: Kompanie im 2. Bataillon des 35. SS-Regiments - deutsche Staatsanwälte haben sich bis heute nicht für Untersturmführer Gerhard Sommer. die Verbrechen interessiert! Das ist ein Justizskan- Gerhard Sommer: "Für mich ist diese Zeit jetzt dal. Kontraste hat in Italien und in Deutschland re- erledigt, ich habe mir keinerlei Vorwürfe zu machen, cherchiert. Vor genau einem Jahr haben wir über Ich hab' ein absolut reines Gewissen, und weiter einen ehemaligen SS-Soldaten berichtet - als Folge möchte ich jetzt von dieser Sache jetzt nichts wis- unserer Recherche wurde er angeklagt. Unsere Auto- sen." ren René Althammer und Udo Gümpel haben weiter Zuständig für die Ermittlungen gegen nationalsozia- gesucht: sie fanden Rentner: Tatverdächtige, die sich listische Gewaltverbrecher ist die Zentrale Stelle der an nichts erinnern können, glauben nie etwas Böses Landesjustizverwaltungen. Der heutige Leiter muss getan zu haben - und wenn, dann waren es halt nur - einräumen, dass die KONTRASTE vorliegenden - der Krieg und die "Treibjagd". Akten der Alliierten bis heute nicht ausgewertet Hamburg vor einigen Wochen wurden, kein einziger Verdächtiger aus der Division Gerhard Sommer: identifiziert ist. Frage: "Entschuldigen Sie Herr Sommer, wenn ich Kurt Schrimm, Oberstaatsanwalt: Sie stören darf. Wir sind vom Deutschen Fernsehen, Frage: "Haben Sie denn schon mögliche Tatbeteilig- von der ARD, und ich würde Sie gern etwas fragen, te identifizieren können?" was sehr lange zurückliegt und was mit der Zeit in "Soweit sind wir noch nicht. Wir sind im Augenblick der 16. Panzergrenadier-Division zu tun hat. Sie dabei Namen zu sammeln und werden dann, wenn waren damals doch in der 16. SS-Panzergrenadier- die Namensliste vollständig oder nach heutigen Er- Division? Ist das korrekt?" "Das ist korrekt." kenntnissen vollständig ist, werden wir versuchen, Frage: "Und Sie waren doch auch Kompanieführer die Personen zu identifizieren." im 2. Bataillon?" "Wo haben sie denn die Sachen Hoch oben in den Bergen der Toskana, ganz in der her?" Nähe des Marmor-Ortes Carrara, liegt das kleine Frage: " Das sind Dokumente, die wir aus den Un- Dörfchen Sant'Anna di Stazzema. terlagen der Wehrmacht und der SS haben - aber das In den frühen Morgenstunden des 12. August 1944 ist doch korrekt?" "Das ist korrekt." marschieren die vier Kompanien des 2. Bataillons ins Sommer war Offizier der 16. SS-Panzer- Dorf. Angeblich verstecken sich hier Partisanen: Grenadierdivision "Reichsführer SS", die von Mai Doch im Dorf sind nur alte Leute, Frauen und Kin- bis Dezember 1944 im besetzten Italien im Einsatz der. war. Die Aufgabe war neben dem Fronteinsatz gegen 560 Menschen werden in nur vier Stunden ermordet die Alliierten, die Vernichtung von Partisanen. Die

23 Das Morden beginnt hier, an der Viehtränke Vacca- kleinen Kreis von Namen, die sehr wahrscheinlich an reccia. Ein Überlebender, Enio Mancini, erzählt: jenem Tag dabei waren. Wir wissen, dass sie heute Enio Mancini: "In diesem Haus wurden 70 Men- noch am Leben sind, und wir wissen, wo sie leben." schen zusammengepfercht. Kinder, Frauen, alte Leu- Damit steht der Fall Sant'Anna nach 58 Jahren kurz te. Kaum waren sie in die Ställe eingeschlossen, vor der Anklageerhebung: Der ranghöchste Tatver- warfen die Nazi-Soldaten Handgranaten rein, und dächtige ist der 80jährige Gerhard Sommer. dann zündeten sie das Haus an. Nur fünf Kindern Bei unseren Recherchen in den alliierten Akten sind entkamen lebend aus dem Stall: Milena, Mauro, wir auf weitere Namenslisten mit Tatverdächtigen Enio, Lina e Mario." gestoßen. Kein Staatsanwalt hat diese Männer bis 150 Kinder entkamen nicht: Sie wurden Opfer der heute identifiziert und zu den Vorwürfen vernom- SS - Division. men. Kontraste hat die ehemaligen SS-Angehörigen Die 20 Tage alte Anna Pardini - sie war das jüngste aufgespürt und erstmals mit den Vorwürfen konfron- Opfer. tiert. Bis heute, 58 Jahre danach, ist noch kein einziger In Bayern treffen wir den ehemaligen SS-Schützen Verdächtiger für diesen feigen Mord vernommen, Franz Stockinger. In den Akten ist der Mann sehr geschweige denn angeklagt worden - weder in Ita- präzise beschrieben, mit Haarfarbe, Statur und Au- lien, noch in Deutschland. genfarbe. Dieser Mann möchte nicht erkannt werden. Er war Franz Stockinger: als SS-Unterscharführer bei dem Einsatz in Sant'An- Frage: "So ungefähr einssiebzig in der Größe. Und na dabei. Erstmals erzählt er im deutschen Fernse- dann steht hier unten, hat Frauen und Kinder ermor- hen, wie der Einsatz ablief: det und Häuser in Brand gesetzt." (Stockinger lacht) "Heinz Otte"(Deckname): "Der Einsatz war da "Ach du liebe Zeit, ach du liebe Zeit, hahaha..." doch gegen Partisanen: Da hat nichts noch andere Ein weiterer Verdächtiger auf der Liste - auch er soll Befehle gegeben, da hat's geheißen - umlegen, den Frauen und Kinder ermordet haben: Nach langer ganzen Verein. Det is wie bei der Jagd, bei der Recherche finden wir den ehemaligen SS-Gefreiten Treibjagd. Da wurden die Menschen zusammen ge- Piepenschneider, auch er streitet alles ab. trieben: auf, avanti! Die wurden vor der Kirche, die Albert Piepenschneider: Dorfkirche, und da war ein Platz vor der Kirche, mit Frage: "Der Vorwurf, der Ihnen gemacht wird, ist, einem Kruzifix, das hab in Italien öfter gesehen, und dass Sie in diesem Einsatz -" "Da soll ich dabei ge- auf diesem Platz, an dem Kruzifix, da wurden die wesen sein?" Leute zusammen getrieben, und dann wurde ge- Frage: "Da sollen Sie dabei gewesen sein." "Nie- schossen und dann konnte ich nicht mehr sehen." mals, niemals." Leopolda Bartolucci verlor den Vater bei dem Mas- Frage: "Und es wird Ihnen zur Last gelegt, im Rah- saker auf dem Kirchplatz - sie überlebte, weil ihr men dieses Einsatzes Frauen und Kinder erschossen Vater sie vorher weggeschickt hatte - er selber glaub- zu haben." "Nein, niemals." te sich als Gehbehinderter sicher vor der SS. Zu Lachen gibt es hier gar nichts. Im Tagesbericht Insgesamt ermordeten die SS 132 Menschen hier, der Wehrmacht wird der Einsatz, von dem die beiden darunter auch den Gemeindepfarrer. Die SS-Leute Männer nichts wissen wollen, als Erfolg extra er- rissen die Bänke aus der Kirche, türmten sie über den wähnt - mit 718 Toten. Opfern auf und setzten alles mit Flammenwerfern in Die Berge von Marzabotto, südlich von Bologna. Brand. Hier hat die Aufklärungsabteilung der 16. SS- Leopolda Bartolucci: "Die hatten alle getötet - auf Panzergrenadierdivision, zu der die beiden Männer dem Kirchplatz war ein riesiger Leichenhaufen, mei- gehörten, das größte Kriegsverbrechen in Italien nen Papa haben wir nur am orthopädischen Schuh begangen. wieder erkannt - da brach meine Mutter zusammen." Am Morgen des 28. September 1944 ist die 1. Kom- In Italien ermittelt die Militärstaatsanwaltschaft von panie auf dem Weg nach Cadotto. Hier beginnt das La Spezia seit 1996 gegen die Täter. Nach sechs Massaker. Gleich zu Beginn trifft die Kompanie auf Jahren Ermittlung wurde noch kein einziger Ver- Partisanen, die sich in einem Haus verschanzt haben. dächtiger vernommen. Einziger Erfolg: die Namen In den anderen Häusern befinden sich nur Frauen der mutmaßlichen Täter kennt man inzwischen. und Kinder. Marco Coco, Staatsanwalt: "Im Fall des Massakers von Sant'Anna verfügen wir nunmehr über einen

24 Der SS-Kompanie gelingt es nicht die Partisanen zu Albert Meier: fassen - aus Rache erschießen die SS-Männer 52 Frage: "Erinnern Sie sich an die Aktion Marzabotto. Frauen und Kinder in den anderen Häusern. Da erinnern Sie sich doch daran?" "Ja, sicher." Schon 1944 hat ein ehemaliger Angehöriger der Frage: "Wissen Sie, es hat da ja auch Erschießungen Division vor alliierten Militärstaatsanwälten ausge- von Frauen und von Zivilisten gegeben - waren das sagt und die Täter benannt - eine Aussage, die jahr- jetzt Leute…" "Wir haben keine - wir haben nur zehntelang unbeachtet blieb. Leute bestraft sozusagen nech, die wir geschnappt Diese beide Männer entgingen den SS-Leuten. Sie haben, die auch irgendwie wat verbrochen hatten." sind die einzigen Überlebenden des Massakers in der Frage: "Und was waren das für Leute gewesen?" kleinen Kapelle von Cerpiano. Unter den Opfern in "Na, Zivilisten, nech." der Kapelle auch Jungen und Mädchen des kirchli- Über die Massaker von Sant'Anna und Marzabotto chen Kindergartens. Fernando Piretti überlebte: wurde immer wieder berichtet, doch nach den Tätern Fernando Piretti, Überlebender: "Sie hatten ein wurde jahrzehntelang nicht gesucht. Maschinengewehr aufgebaut und schossen. Wir wa- Der Leiter der zuständigen Stelle für die Aufklärung ren hier auf der einen Seite - diejenigen, die vorne nationalsozialistischer Gewaltverbrechen gibt zu: standen, wurden alle richtig in der Mitte durchge- Die Massaker waren der Dienststelle lange Zeit völ- sägt, richtig auf der Hälfte. Die haben wir dann an lig unbekannt. der Tür gesehen, als wir flohen. Insgesamt waren wir Kurt Schrimm, Oberstaatsanwalt: "Es war so, hier so 45,47 Leute gewesen - hier war alles voll." dass der Name Sant'Anna hier erstmals in der Be- Frage: "Und dann warfen sie Handgranaten?" "Sie hörde nachweisbar auftauchte durch eine Anfrage haben Handgranaten geworfen und mit dem Maschi- des Bundeskriminalamtes, die wiederum basierte auf nengewehr geschossen." einer Anfrage der italienischen Behörden, wie gesagt Der SS-Sturmmann Wilhelm Kneissl hatte schon aus dem Jahre 1996." 1944 ausgesagt, dass die Handgranaten von Cerpiano Kontraste begann vor einem Jahr die Suche nach den von einem SS-Mann namens Meier geworfen wor- Verantwortlichen für den Mord auch an diesen Kin- den seien. dern. Wir haben festgestellt: Viele der mutmaßlichen Der ehemalige SS-Unterscharführer Albert Meier Täter leben noch heute. Dass sie sich nie für ihre streitet den Handgranatenwurf strikt ab - aber er gibt Taten verantworten mussten, ist ein deutsch- zu, bei der Vernichtungsaktion dabei gewesen zu italienischer Justizskandal sein.

25 Warum werden Kriegsverbrecher geschützt?

„Justizieller Täterschutz“

Was folgt aus der Verurteilung einiger SS-Leute durch ein italienisches Gericht? von Rolf Surmann, Konkret Nr. 08/2005

Im Juni dieses Jahres verurteilte das Landgericht in die "rechtlichen und tatsächlichen" Voraussetzungen La Spezia die ehemaligen SS-Offiziere Karl Gropler, für einen Prozeß vorliegen ("Welt"). Vielleicht wird Georg Rauch und Gerhard Sommer sowie sieben die italienische Justiz für den Hinweis dankbar sein, weitere Angehörige der 16. Panzergrenadierdivision daß und wo sie in Sachen Rechtsstaatlichkeit noch "Reichsführer SS" in Abwesenheit zu lebenslanger etwas lernen kann. Auf jeden Fall klingt die Äuße- Haft. Damit sühnte es nach mehr als 60 Jahren das rung nicht danach, als sei die Anklage der Wehr- Massaker an 560 Bewohnern des Dorfes Sant'Anna machtsverbrecher mit dem deutschen Verständnis di Stazzema in der Toskana. Unter ihnen befanden von Rechtsstaatlichkeit vereinbar. Unerklärt bleibt sich viele Frauen und 120 Kinder. Ihre Leichen wur- dabei jedoch, warum die Zeit von 1951, als die deut- den angezündet, die Häuser des Dorfes niederge- sche Justiz im Kontext des in Italien geführten Re- brannt. der-Prozesses zum erstenmal von diesem Verbrechen Kenntnis nehmen konnte, bis heute nicht ausreichte, Die italienische Justiz hat sich mit diesem Urteil viel um ein solches Verfahren zu eröffnen. Zeit gelassen, zuviel Zeit. Denn erst seit den 90er Jahren - seit dem Ende des Kalten Krieges - stehen Zum anderen gibt man sich human: Gegen die alten deutsche Kriegsverbrecher in Italien wieder unter Männer sei ein Prozeß kurz vor ihrem Tod völlig Anklage. Ihnen werden nicht nur Morde zur Last unangemessen. Doch unangemessen ist allenfalls die gelegt, sondern auch die Verwüstung ganzer Land- Oberflächlichkeit einer solchen Argumentation. striche und die Verschleppung vieler Menschen nach Denn diese scheinbare Großzügigkeit steht den Hu- Deutschland, um sie zur Zwangsarbeit zu pressen. manisten im Reichstag und ihren Brüdern und Angesichts der zahlreichen Wehrmachtsverbrechen Schwestern im Feuilleton nicht zu, weil eine solche werden weitere Verfahren folgen. Haltung das eigene Verhalten nach 1945 abermals kaschiert. Es geht im Kern nicht um irgendwelche Für die deutsche Gesellschaft ergibt sich hieraus "alten Männer", sondern um die Frage, ob die deut- abermals eine für sie typische geschichtspolitische sche Gesellschaft wenigstens heute bereit ist, aus Konstellation. Ähnlich wie bei den Kontroversen um ihrem historischen Versagen Konsequenzen zu zie- Entschädigungszahlungen kommt auch jetzt aus dem hen. Ausland der Druck, der sie zur Auseinandersetzung mit Themen zwingt, die hierzulande längst als ab- Erinnern wir uns: Die Bundesregierung machte An- gehakt gelten. Zwei Argumente sind es vor allem, fang der fünfziger Jahre große Anstrengungen, um die dieses Desinteresse rechtfertigen sollen. die von den Alliierten Verurteilten so schnell wie möglich aus den Gefängnissen zu holen. Bei Prozes- Zum einen verweisen Justiz und Medien auf die sen im Ausland stellte sie Rechtsanwälte und riskier- Schwierigkeit, nach über 60 Jahren noch genügend te dabei manch einen politischen Konflikt. Mit der Beweise zu finden, die für eine Verfahrenseröffnung Aufstellung der Bundeswehr wurde erst recht alles ausreichen. "Das italienische Rechtssystem ließ ei- daran gesetzt, Verurteilungen wegen Kriegsverbre- nen schnelleren Prozeß zu" äußerte etwa die Staats- chen zu verhindern. Niemand wurde folglich belangt, anwaltschaft in Stuttgart zum gerade abgeschlosse- die Massaker wurden von der Justiz sogar als "völ- nen Verfahren in La Spezia, in Deutschland müßten kerrechtliche Notwehr" im Rahmen der Partisanen-

26 bekämpfung gerechtfertigt. Der Politikwissenschaft- Allein das Urteil des Hamburger Landgerichts gegen ler Joachim Perels kommt deshalb zu dem Ergebnis, den SS-Offizier Engel ("Todes-Engel") wegen Gei- daß die Bundesrepublik in den fünfziger Jahren und selerschießungen in Genua schien nach dem voran- zu Beginn der sechziger, in denen die meisten der gegangenen Urteil in Italien einen Ansatz für eine Entscheidungen getroffen wurden, kein Rechtsstaat Lockerung der juristischen Blockade zu bieten. Doch in dem Sinne gewesen ist, daß er seine Funktion, den nachdem der Bundesgerichtshof sich darüber Ge- Schutz des Lebens angesichts der Verbrechen von danken gemacht hatte, ob die vom Landgericht fest- Justiz und Wehrmacht während des Hitler-Regimes gestellte Grausamkeit der Handlung nicht vielleicht durch Sanktionen wenigstens im nachhinein als doch Ausdruck eines besonderen situationsbedingten grundlegend anzuerkennen, erfüllt habe. Handlungsdrucks gewesen sein könnte und deshalb dem Landgericht die Auflage gemacht hatte, Engels Natürlich konnte man auf solchen Positionen nicht subjektive Absicht zur grausamen Tat nachzuweisen, beharren, brauchte es auch nicht, denn spätestens der ist klar, daß Verurteilungen auch weiterhin nicht Generationenwechsel beim westdeutschen Füh- gewollt sind. rungspersonal machte den Täterschutz nicht mehr dringlich. Außerdem paßten sie nicht zur ideologi- Über die Gründe kann spekuliert erden. Einerseits schen Neuorientierung. Wehrmachtsmassaker als vergibt die Justiz damit die Chance, ihr grundsätzli- "völkerrechtliche Notwehr" zu rechtfertigen und zum ches Versagen mit ein paar späten Urteilen zu "histo- Gedenken an die Toten von Srebrenica trommeln, risieren". Andererseits passen Verurteilungen von paßt einfach nicht zusammen. Dennoch ist es er- NS-Tätern jedoch grundsätzlich nicht in eine Zeit, in staunlich, in welchem Ausmaß sich die Justiz gegen- der am Beispiel der Entschädigungspolitik der ge- über den gesellschaftlichen Verschiebungen abschot- schichtspolitische Schlußstrich exekutiert und am tete. Entwurf einer neuen Nationalgeschichte gearbeitet wird - ganz abgesehen davon, daß die aktuelle (Men- Kleine Veränderungen in den Grundzügen der schenrechts-)Politik ein Deutschland-Bild der erfolg- Rechtsprechung ergaben sich allenfalls aus neuen reichen Aufarbeitung von NS-Verbrechen erfordert. juristischen Aufgabenstellungen - in erster Linie aus Nicht zuletzt: Wo es Täter gibt, gibt es auch Opfer. der Absicht, ehemalige Bürger der DDR zu verurtei- Mit jeder Verurteilung wird der Entschädigungsan- len. Weil dies nach der üblichen Rechtsprechung oft spruch von Massakeropfern - beispielhaft hierfür ist nicht möglich war, wurde sie geändert. Ein typisches der Kampf der Kläger aus dem griechischen Distomo Beispiel ist der Fall eines ehemaligen DDR-Richters, - konkretisiert. So wurden in La Spezia die Täter der an Todesurteilen beteiligt war. Er fühlte sich auch zu Schadenersatzzahlungen verurteilt. angesichts des Umstand, daß kein einziger NS- Militärrichter, der Todesurteile gefüllt hatte, in der Der Druck aus Italien wird bleiben. Hinzu kommt Bundesrepublik jemals verurteilt worden war, einige eine Nebenklage in Sachen Sant'Anna, vertreten dieser Herren sogar in Justiz und Politik glänzende durch die Hamburger Anwältin Gabriele Heinecke, Karrieren gemacht hatten, vor einer Verurteilung die eine Garantie dafür ist, daß es der seit 2002 hier- geschützt. Doch 1995 befand der Bundesgerichtshof, zulande nun wieder ermittelnden Justiz nicht leicht- die Militärrichter hätten sich der Beteiligung an ei- fallen wird, auch diese Ermittlungen einfach im San- nem Kapitalverbrechen schuldig gemacht. Sogar die de verlaufen zu lassen. Doch im Augenblick erfüllt Bezeichnung "Blutjustiz" hielt er für passend. Nach sie ihren Zweck wie gehabt: Solange in Deutschland dieser Kehrtwende verurteilte man den ehemaligen ermittelt wird, braucht der Beschuldigte auch nach DDR-Richter - Konsequenzen für die noch lebenden dem neuen europäischen Auslieferungsrecht nicht NS-Militärrichter wurden allerdings nicht bekannt. (nach Italien) abgeschoben zu werden. Ermittlungs- Der NS-Marinerichter Filbinger, dem mehrere To- verfahren zum Zweck, den Täter vor einer Bestra- desurteile nachgewiesen worden waren, beteiligte fung zu schützen? Ja, das könnte gehen. (Mit freund- sich bekanntlich, wie zuvor, auch an der Wahl des licher Genehmigung von Konkret-Verlag Hamburg) neuen Bundespräsidenten.

27 Der gesellschaftliche Umgang mit Kriegsverbrechern

Redebeitrag der Libertären Hamburg-Harburg auf der Kundgebung in Hamburg-Volksdorf am 26.11.2005

Wenn wir hier, heute für die Opfer des Massakers te und 1958 mit der „Medaille der Kämpfer gegen von Sant’Anna aufstehen, so geht es nicht nur um den Faschismus“ ausgezeichnet wurde. einen unverbesserlichen alten Mann, der praktisch in Sie fühlten sich ja eigentlich allesamt nicht schuldig, unserer Mitte seinen Lebensabend fristet. Es geht vor die armen verführten Deutschen – verführt von dem allem darum, die Verhältnisse anzuprangern, die es Dämonen Hitler und einer kleinen Gruppe von Fana- ermöglichen dass er bislang von der deutschen Justiz tikern. Fragt sich nur was das Ergebnis der völlig unbehelligt geblieben ist. Reichstagswahlen 1933 zu bedeuten hat: fast 43% Das ist doch kein Versehen! der Stimmen brachten die Nazis an die Macht.

Diese Form der Vergangenheits-Nicht-Aufarbeitung Die von Bundeskanzler Kohl 1982 angekündigte wird doch seit mittlerweile 60 Jahren betrieben – in „geistig-moralische Wende“ fand ihren Ausdruck der Hoffnung, sich aus der Verantwortung hinweg- auch im „normalisierten“ Umgang mit der Nazi- stehlen zu können. Vergangenheit. Ein Beispiel dafür war der Besuch des deutsch-amerikanischen Soldatenfriedhofs in Bei der Gründung der BRD saßen sie doch schon Bitburg, wohin er den diplomatisch widerstrebenden wieder auf einflussreichen Posten auch und vor al- US-Präsidenten Reagan zu einer Kranzniederlegung lem in der Politik: die Altnazis – und das waren kei- schleppte. Das sich unter den so geehrten auch Leute ne unbedeutenden Mitläufer: Hans Globke, Ministe- der Waffen-SS befanden – Ausdruck der neuen Nor- rialdirektor im Bundeskanzleramt Adenauers, aber malität! Sind doch alle irgendwie Opfer. auch Mitverfasser der „Nürnberger Rassegesetze“, Bundeskanzler Kiesinger, Bundespräsident Lübke, In seiner Regierungserklärung sprach Bundeskanzler Ministerpräsident Filbinger, ein Mann der als Nazi- Schröder 1998 von einem „Generationswechsel im Marinerichter noch unmittelbar nach der Kapitulati- Leben unserer Nation“. Und wie sich so etwas aus- on Todesurteile fällte und vollstrecken ließ. – die wirkt konnte an dem von deutscher Seite maßgeblich Liste lässt sich fortsetzen. forcierten NATO-Angriff auf den Kosovo gesehen werden – mit der Behauptung dort drohe ein zweites Kirchenruinen wurden zu Gedenkstätten des Bom- „Auschwitz“ sollen die Verbrechen der Nazis in ein benkriegs umgewandelt und im öffentlichen Be- Geschichtsgebäude eingefügt werden, das die unter- wusstseim zumindest der BRD dominierten sehr schiedlichen Gewalterfahrungen des 20. Jahrhun- schnell die deutschen Opfer des Krieges derts letztlich als eine Geschichte gemeinsam erfah- renen Leids interpretiert – es gibt keine Täter mehr! In der DDR sah es anders aus, aber nicht viel besser. Indem die Staatsführung im Gegensatz zum Westen Einen Vorgeschmack, was in dieser Hinsicht unter tatsächlich aus Widerstandskämpfern und Antifa- einer Kanzlerin Merkel zu erwarten ist zeigen die schisten bestand, konnte sich die gesamte DDR- Anträge der CDU/CSU zur „Förderung von Gedenk- Gesellschaft zu Opfern der Nazis stilisieren – um stätten zur Diktaturgeschichte in Deutschland“. Die dann mit einem ideellen Salto an der Seite der Sow- Erkenntnisse über die verschiedenen Ursachen, die jetunion als Sieger über den Nationalsozialismus zu vollkommen unterschiedlichen Dimensionen der landen. Verbrechen von Stalinismus und Nationalsozialis- mus, letztlich die Präzedenzlosigkeit der Shoah sol- So konnte es zu so krassen Fällen kommen, wie dem len in dem Gerede von der „doppelten Diktatur“ des ehemaligen Generalmajors der Wehrmacht, der untergehen. als Beisitzer am Volksgerichtshof an Todesurteilen mitwirkte, nämlich Arno von Lenski, der nach dem Krieg Militär- und Polizeieinheiten der DDR aufbau-

28 Was in Deutschland als „Bewältigung der Vergan- So lange die Gesellschaft schweigt, solange wir ru- genheit“ gilt, sagt mehr über das Land der Täter und hig bleiben. Zu einem Zeitpunkt, wo die letzten über- seine Mentalität, als alle Gedenktagsreden. lebenden Opfer uns verlassen, ist es an uns ihre Er- lebnisse, Erfahrungen zu bewahren und weiter- Wie lange schützt Deutschland noch seine Kriegs- zugeben – keine Vergessen! Niemals! verbrecher?

Zur Frage der Rehabilitierung von Wehrmacht und Waffen-SS und der Verherrlichung von Kriegsverbrechern

Redebeitrag von Avanti, Projekt undogmatische Linke auf der Kundgebung in Volksdorf am 26.11.05

Guten Tag/Hallo, es ist nur wenige Monate her, dass der Beteiligung an Kriegsverbrechen schuldig ge- der Bundesgerichtshof in einem Urteil Karlsruher macht haben. Neonazis freigesprochen hat, die mit der Parole So etwa der Fallschirmjäger-General Kurt Student. »Ruhm und Ehre der Waffen-SS« für eine neofa- Die Landung seiner Truppen auf der griechischen schistische Demonstration geworben hatten. Ihr Insel Kreta gilt der extremen Rechten als ein »Ruh- könnt Euch sicherlich vorstellen, dass diese Ge- mesblatt der deutschen Fallschirmtruppe«. Eben richtsentscheidung von den Neonazis mit großer jener Student befahl als erster Inselkommandant Genugtuung aufgenommen worden ist. Denn Kretas, »unter Beiseitelassung aller Formalien« mit schließlich ist diese Verherrlichung von Massenmör- »äußerster Härte« vorzugehen, da »Mörder und Bes- dern eine Parole gewesen, die auf zahlreichen Auf- tien« – gemeint waren die der Besetzung tatsächlich märschen gebrüllt wurde und auf Flugblättern und oder vermeintlich Widerstand leistenden KreterInnen Internet-Seiten Verbreitung fand. – keine ordentlichen Gerichte verdienten.

Die Soldaten des deutschen Faschismus stellen noch So etwa der Offizier der Waffen-SS Joachim Peiper. heute das soldatische und – hinsichtlich der Waffen- Für die extreme Rechte ist er »eine der markantesten SS – auch das politische Vorbild großer Teile der Figuren innerhalb der Waffen-SS« und mit »legendä- neofaschistischen Bewegung in Deutschland dar. rem Ruf«; die von ihm geführten Einheiten hätten Wirft man einen Blick in neofaschistische Zeitungen »atemberaubende Waffentaten« vorzuweisen. Hierzu und Zeitschriften, so findet sich kaum eine Ausgabe, zählt dann wohl auch die Ermordung von US- in der das Verbrechen des deutschen Angriffskrieges Soldaten, die sich bereits ergeben hatten, durch eine nicht gerechtfertigt und/oder zu einem angeblich von Peiper geführte Einheit in dem französischen »heldenhaften« Abwehrkampf gegen den Bolsche- Örtchen Malmedy. wismus umgelogen wird; So etwa der in den Augen von Faschisten und Milita- in der nicht von »glänzenden Waffentaten«, »hervor- risten »legendäre« Generaloberst Löhr, der für die ragender Tapferkeit« und »soldatischer Anständig- brutale Besatzungspolitik in Jugoslawien verantwort- keit« deutscher Soldaten schwadroniert wird; in der lich war und dort dafür nach dem Kriege zum Tode nicht Soldaten des deutschen Faschismus als Vorbil- verurteilt und hingerichtet worden ist. Dieses Ver- der für die Bundeswehr angepriesen werden, die sich

29 fahren gilt der extremen Rechten noch heute als Solche unverfrorene Gleichsetzung der Täter mit den »Schauprozess«. Opfern faschistischen Massenmordes ist nicht nur widerlich und verhöhnt die Millionen Menschen, die Die Geschichte der extremen Rechten im Nach- dem von Wehrmacht, Waffen-SS und Polizeiverbän- kriegsdeutschland ist voll von Solidaritätskampagnen den mit Waffengewalt in zahlreiche europäische für verurteilte NS-Kriegsverbrecher. Ob Karl Dönitz, Staaten getragenen imperialistischen Rassenkrieg Erich Manstein oder – immer fand sich zum Opfer gefallen sind oder geschädigt wurden. Für die extreme Rechte vereint, wenn es darum ging, die die extreme Rechte ist es auch der Versuch, ihre deutschen Kriegsverbrechen zu leugnen oder zu geschichtspolitische Sichtweise in einer politischen rechtfertigen und die Täter freizusprechen. Öffentlichkeit zu verbreiten, die sich historischer Ereignisse und Entwicklungen nicht immer bewusst Jüngstes Beispiel solcher Solidarität ist der Kriegs- ist. So gilt der extremen Rechten etwa die frühzeitige verbrecher . Der ehemaliger SS- Entlassung zahlreicher nach 1945 verurteilter deut- Hauptsturmführer und jahrzehntelang als Besitzer scher Kriegsverbrecher aus alliierter Haft als Nach- eines Feinkostladens im argentinischen Bariloche weis ihrer Unschuld. Tatsächlich aber setzten sich lebende deutsche Soldat, wurde nach seiner Auslie- auf alliierter Seite immer mehr jene politischen Kräf- ferung nach te durch, die Deutschland fest in die antikommunisti- Italien wegen der Beteiligung am Geiselmassaker sche Front gegen die Sowjetunion einbinden wollten vom 24. März 1944 vor Gericht gestellt. Damals und im Sozialismus das größere Übel erblickten. waren in den Adreatinischen Höhlen 335 Menschen Die vollständige Rehabilitierung von Wehrmacht zwischen 14 und 74 Jahren, darunter 75 Juden, als und Waffen-SS ist Teil der Geschichtspolitik der sogenannte ›Vergeltung‹ für den Tod von 33 Südti- extremen Rechten, dem es um die Stärkung von Na- roler Polizisten, die am Tag zuvor bei einer Aktion tionalismus, Militarismus und Großmachtstreben von Partisanen ums Leben gekommen waren, von auch in heutigen Zeiten geht. Nicht zufällig sind in deutschen SS-Angehörigen ermordet worden. Die den vergangenen Jahren bei neofaschistischen Auf- extreme Rechte in Deutschland gab nicht nur den märschen immer wieder auch Altnazis aufgetreten, Partisanen Schuld an den Toten, sondern rechtfertig- die von ihren Kriegserfahrungen und den vermeintli- te auch die Besetzung des Landes und die Erschie- chen Segnungen des Nationalsozialismus berichtet ßung der Zivilisten. haben. Insofern sind Priebke und auch Gerhard Wie bei anderen Gelegenheiten auch, so ergeht sich Sommer Symbolfiguren des Neofaschismus. Auch die extreme Rechte auch im Fall dieses Kriegs- sie zeigen weder Einsicht noch Reue. Werden sie für verbrechens darin, die Deutschen als die eigentlichen ihre Verbrechen nicht zur Verantwortung gezogen, Opfer der Ereignisse zu phantasieren − die Opfer des so ist dies nur als Ermunterung der faschistischen Partisanenangriffs, deren Tod eindringlich beschrie- Bewegung zu verstehen. ben wird, und Erich Priebke, der als »ein weiteres Wer die Soldaten der Wehrmacht und der Waffen-SS Opfer renitenten Deutschenhasses« bezeichnet wur- rühmt und ehrt, rechtfertigt auch die von diesen be- de. Zugleich wurde und wird Priebke als ungebro- gangenen Verbrechen. Insbesondere diese offene chener und stolzer Märtyrer gefeiert, der sein Lobpreisung und Verherrlichung der Waffen-SS und Schicksal in »tadelloser Haltung« ertrage. Priebkes der Wehrmacht – und damit auch der von diesen Situation – er befindet sich mittlerweile in einem begangenen Massenmorde und ihrer Beteiligung am Hausarrest – wurde mit dem Begriff »Sonderbehand- Holocaust – zeigen, dass der Neofaschismus im Kern lung« charakterisiert – ein Begriff also, der historisch auch heute wieder politisches Verbrechertum ist. eng mit dem NS-Vernichtungsprogramm gegen Ju- Egal, ob alte oder neue Nazis - lassen wir ihnen da- den und Kommunisten verbunden ist. bei keinen Fußbreit Raum !!

30 Bundesweite Kampagne für eine Anklageerhebung in Deutschland

Hamburg Die NS-Mörder sind noch unter uns

SS-Kriegsverbrecher Gerhard Sommer lebt bis heute unbehelligt in Ham- burg, Opfer entschädigen – die Täter bestrafen! von Birgit Wulf

Am 12. August 1944 ermordeten 300 Angehörige diesem „Schrank der Schande“ vorbei. Erst 1994 der 16. Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“ wurde nachgeschaut, was sich in diesem Schrank unter dem Vorwand der Partisanenbekämpfung 560 befindet. Einwohner des norditalienischen Dorfes Sant’Anna Dies erklärt den jetzigen Anstieg von Prozessen in di Stazzema. Unter ihnen überwiegend Frauen, Alte, Italien, die aufgrund der alten/neu aufgetauchten Kinder. Dieses Massaker an der Zivilbevölkerung Ermittlungsakten geführt werden konnten. Erwähnt steht stellvertretend für 250 Ortschaften, an denen sei der Prozess des Hamburger Friedrich Engel, der die zu „Ehren“ des Reichsführer SS Heinrich Himm- in Italien 1999 in Abwesenheit wegen 246-fachen ler benannte Division insgesamt über 2000 Zivilisten Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Erich ermordete und eine Blutspur durch Norditalien zog. Priebke wurde 1998 zu lebenslanger Haft verurteilt, Die in Westeuropa geplanten Massaker an der Zivil- weil er an dem Massaker an 335 Menschen, darunter bevölkerung unterlagen dabei der gleichen Strategie 75 Juden, 1944 in den Ardeatinischen Höhlen bei von Wehrmacht-, SS- und Polizeitruppen, wie in Rom beteiligt war. Im Juli 2005 wurde der Prozess dem Vernichtungskrieg, der im Osten vor allem ge- wegen eines Massakers von Civitella eröffnet, bei gen die Sowjetunion geführt wurde. Ortsnamen wie dem die Luftwaffen-Division „Hermann Göring“ am Sant’Anna di Stazzema, Marzabotto, Vallucciole 29. Juni 1944 mindestens 245 Menschen ermordete. (Italien), Oradour-sur-Glane (Frankreich), Kraguje- Der Prozess zu dem Massaker in Sant’Anna, der im vac (Serbien), Distomo, Kommenco (Griechenland) April 2004 eröffnet wurde, fand in Italien eine große stehen hier für diese Politik der verbrannten Erde. öffentliche Anteilnahme, da die juristische Bewer- Die wenigsten Täter wurden bis zum heutigen Tage tung für die gesellschaftliche Ächtung des Verbre- zur Rechenschaft gezogen. In Italien wurden 700 chens von hoher Bedeutung war. Am 22. Juni 2005 italienische Ermittlungsakten während des kalten wurden die Urteile gesprochen. 10 deutsche SS- Krieges im Zuge der antikommunistischen NATO- Offiziere wurden zu lebenslanger Haft und Entschä- Politik und mit Rücksichtnahme auf die BRD und digungszahlungen verurteilt, da ihnen die Verant- ihre von Altnazis durchsetzte Bundeswehr aus dem wortung am Massaker von Sant’Anna nachgewiesen Verkehr gezogen. Der Schrank mit den Ermittlungs- werden konnte. Sie wurden schuldig befunden an der akten, der sich in der Generalstaatsanwaltschaft in Beteiligung am fortgesetzten Mord, begangen mit Rom befand, wurde einfach umgedreht, so dass sich besonderer Grausamkeit. Mit diesem Urteil wurde die Schranktüren nicht mehr öffnen ließen. Über 30 erstmals anerkannt, dass es sich um keine militäri- Jahre gingen Bedienstete der Staatsanwaltschaft an sche Aktion oder eine Aktion gegen Partisanen, son-

31 dern um ein Massaker an der Zivilbevölkerung han- Der in Hamburg lebende SS-Offizier Friedrich Engel delte und es wurden die Täter beim Namen genannt. wurde im Jahr 1999 vom Militärgericht La Spezia wegen 246fachen Mordes zu einer lebenslangen Zwei der zehn verurteilten NS-Verbrecher wohnen in Haftstrafe verurteilt. Durch diese Entscheidung ge- Hamburg, es handelt sich um Gerhard Sommer nötigt, verurteilte das Hamburger Landgericht den (Hamburg-Volksdorf) und Werner Bruß (Hamburg- ehemaligen SS-Chef von Genua für eines dieser Reinbek). Während sich Werner Bruß verantwortlich Verbrechen, nämlich die Erschießung von 59 Gei- für das Massaker fühlte und in Italien schriftlich seln am Turchino-Pass bei Genua, zu nur sieben ausgesagt hat, bestreitet der damalige Ranghöchste Jahren Haft. Das Urteil des Landgerichts wurde vom Gerhard Sommer bis zum heutigen Tage seine Bundesgerichtshof am 17. Juni 2004 in der Revision Schuld. Dem Fernsehmagazin Kontraste sagte er aufgehoben, eine Wiederaufnahme ausgeschlossen. noch 2002, dass diese Zeit für ihn erledigt sei „Ich Wie das Hamburger Gericht urteilten auch die Bun- habe mir keinerlei Vorwürfe zu machen, ich habe ein desrichter, dass die Geiselerschießung eine rechtmä- absolut reines Gewissen“. ßige Repressalie als Antwort auf einen Anschlag auf ein Soldatenkino gewesen sei. Die Geiselerschießun- Die deutschen Mörder brauchen keine Angst zu ha- gen seien nicht im juristischen Sinne als Mord anzu- ben, dass das Urteil vollstreckt wird, denn Deutsch- sehen. Es sei „nur“ Totschlag gewesen, da die Tat- land liefert in der Regel Kriegsverbrecher nicht aus. ausführung entgegen dem Hamburger Urteil nicht als Eine Verurteilung in Deutschland scheint zudem grausam zu bewerten sei. Totschlag ist nach deut- nicht gewollt, denn die deutsche Justiz will keine schem Recht jedoch bereits verjährt. Bei einer An- Anklage erheben. klage wegen Mordes aus weitergehenden Gründen – wie Rache, Mordlust etc. – hätten die Nazis die Tat bereits verfolgen können, so dass auch dieser Straf- Ein Ankläger ohne Anklage tatbestand verjährt sei. Wegen des hohen Alters des ehemaligen SS-Offiziers und dieser möglichen Ver- Obwohl Deutschland bekannt war, dass bezüglich jährung sei das Verfahren nicht mehr durchzuführen, des Massakers von Sant’Anna in Italien seit 1995 da der NS-Täter Engel sonst zum Opfer der Justiz ermittelt wurde, wurden die Ermittlungen hier erst 7 werden könne. Jahre später, nämlich 2002 begonnen und erst in diesem Jahr wurde ein Ermittlungsteam gebildet. Der Der Staatsanwaltschaft wird es diesmal schwer fal- Stuttgarter Staatsanwaltschaft liegen alle Fakten und len, Anklage zu erheben mit einer Begründung, die Beweismittel vor, da sie im Zuge der europäischen vor dem BGH nicht standhält. In Sant’Anna wurden Übereinkunft bei Strafverfahren mit den italieni- Frauen und Kinder ermordet und mit Benzin über- schen Ermittlern zusammengearbeitet hat. Argumen- gossen. Der Tatbestand der niedrigen Beweggründe tierte die Staatsanwaltschaft noch vor dem Urteil, sie ist somit gegeben. Auch der Mangel an konkreter wolle den Prozess abwarten, um dann schneller ver- Tatbeteiligung einzelner Verdächtiger ist durch be- handeln zu können, erklärt sie jetzt, dass die Fakten lastende Aussagen – und durch das Urteil von La irrelevant seien, da es sich in Italien um Militärge- Spezia – widerlegt. Es liegt daher die Vermutung richtsbarkeit handelte. Außerdem begründet sie die nahe, dass es gewolltes Ziel ist, die Ermittlungen Nichtanklage damit, dass die Mordmerkmale (wie weiter zu verschleppen und zu verzögern, bis die Mordlust, Heimtücke, niedrige Beweggründe und Täter gestorben sind. Grausamkeit) nicht erkennbar wären oder dem Ein- zelnen nicht nachweisbar seien. Zudem wurden die Dies würde auch das jetzige Verhalten der Staatsan- Mordmerkmale durch das Urteil des Bundesge- waltschaft erklären. Der Hamburger Rechtsanwältin richtshofs (BGH) im Fall des NS-Verbrechers Engel Gabriele Heinecke, die vom Verein der Opfer von deutlich heraufgesetzt. Sant’Anna beauftragt wurde, im Namen des Vorsit- zenden Enrico Pieri Nebenklage zu erheben, wurde die beantragte – und erst zugesicherte - Aktenein- sicht verweigert. Mittlerweile wird ihr sogar die be- Der Engel-Prozess – warum es für Mord schränkte Akteneinsicht verweigert, die den Be- lebenslang Freiheit gibt schuldigten bereits gewährt wurde, mit der Begrün-

32 dung, dass die Herausgabe der Akten zum Nachteil Sommers verbrecherischer Vergangenheit. Die sich für die Beschuldigten wäre. daraus ergebenen Diskussionen führten dazu, dass er an Gemeinschaftsveranstaltungen nicht mehr teil- Es scheint klar, dass nur politischer Druck zu einer nehmen darf. Anklageerhebung führen wird. Am 12 August 2005, am Jahrestag des Massakers von Sant’Anna, wurden dann erstmalig Flugblätter in der Seniorenanlage sowie am Bahnhof verteilt und Auf nach Hamburg-Volksdorf die Nachbarschaft darüber informiert, dass ein Mör- Gerhard Sommer, lebt seit der unter ihnen lebt und dass es zu einer Anfang des Jahres aufgrund Anklageerhebung kommen muss. Bis zum der Pflegebedürftigkeit seiner heutigen Tag lehnt die CURA-Leitung Frau in der Seniorenwohnan- jedoch einen Auszug Sommers ab und hält lage CURA am Lerchenberg an seiner Unschuld fest, solange das ita- in Hamburg-Volksdorf. In lienische Urteil formell noch nicht diesem Altendomizil wohnen rechtskräftig ist. auch Überlebende des Natio- Gerhard Sommer soll nicht ruhig schlafen. nalsozialismus, die sich aber Es sind weitere Aktionen notwendig, um aufgrund ihrer Pflegebedürf- eine Verurteilung Gerhard Sommers zu tigkeit nicht mehr wehren erreichen. Mittlerweile haben sich ver- können. Sommer selber ist schiedene Antifa-Gruppen vernetzt und rüstig, rhetorisch geschickt planen für den 26. November 2005 eine und bestreitet bis heute, Un- Kundgebung vor Ort in Hamburg- recht begangen zu haben. Erst Volksdorf (11.30h, Denkmal „Weiße Rose“, U-Bhf. durch die Presse erfuhren die Bewohner und Ange- Volksdorf, in der Einkaufszone) stellten der Seniorenresidenz die Wahrheit über

33 Hausbesuch bei einem Kriegsverbrecher

Demo zu Hamburger Seniorenwohnheim von Lars Reissmann, Junge Welt 30.11.05

Rund 180 Antifaschisten demonstrierten am Wo- fer von Sant’Anna di Stazzema« brachte daher in chenende durch den Hamburger Stadtteil Volksdorf. seiner Grußadresse an die Hamburger Demonstran- Sie forderten, endlich auch in Deutschland gegen den ten die Hoffnung zum Ausdruck, »daß in Kürze auch hier wohnenden ehemaligen SS-Mann Gerhard in Deutschland der Prozeß gegen die Mörder eröffnet Sommer Anklage zu erheben. Ziel der Demonstran- werden soll, so wie es uns vom deutschen Staatsan- ten war die Seniorenwohnanlage, in der der Kriegs- walt aus Stuttgart versprochen wurde.« verbrecher ungestört sein Rentendasein genießt. Bei der Kundgebung vor dem Seniorenheim wurde Der ehemalige SS-Kompanieführer Sommer ist der eine provisorische Gedenktafel mit den Namen von ranghöchste noch lebende Verantwortliche für das 434 Opfern des Massakers von Sant’Anna di Staz- 1944 verübte Massaker von Sant’Anna di Stazzema zema am Zaun angebracht (Foto). Zuvor wurden in Italien. Er und neun weitere SS-Offiziere wurden bereits in der Einkaufszone Schiefertafeln mit den im Juni diesen Jahres vom italienischen Militärge- Namen der Opfer und folgendem Text angebracht: richt zu lebenslanger Haft verurteilt. Seit Oktober »Am 12. August 1944 fielen 300 Angehörige der 16. liegt auch das schriftliche Urteil vor. Mindestens SS-Panzergrenadierdivision in das italienische Berg- fünf der Verurteilten, darunter Sommer, haben Revi- dorf Sant’Anna di Stazzema ein und töteten 560 sion eingelegt. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft Menschen, darunter 120 Kinder. Unter den Mördern ermittelt zwar, erhebt aber keine Anklage. Den Op- war auch der in der CURA Seniorenwohnanlage in fern und ihren Vertretern gewährt sie keine Akten- Hamburg-Volksdorf lebende Gerhard Sommer. Er einsicht, so daß unklar ist, auf welchem Stand die wurde in Italien als Kriegsverbrecher verurteilt, von Ermittlungen eigentlich sind. Der Verband der »Op- deutschen Gerichten aber nie belangt.«

34 Walddörfer Initiative Hamburg Gerechtigkeit für die Opfer und Hinterbliebenen des Massakers von Sant‘Anna di Stazzema, Italien

Wir, die „Walddörfer Initiative Hamburg, Gerech- ten üblich ist in unserem Rechtsstaat. Wir unterstüt- tigkeit für die Opfer und Hinterbliebenen des Massa- zen damit die Forderung der Angehörigen der Opfer kers von Sant’Anna di Stazzema, Italien“, gründeten sowie der Überlebenden von Sant’Anna, die den uns im Januar 2006 in Hamburg Volksdorf, nachdem Tätern von damals in einem Prozess in Deutschland zuvor, seit dem Urteilsspruch in Italien im Juni 2005, in die Augen sehen möchten. eine Reihe von Aktionen seitens der VVN Hamburg sowie des Arbeitskreises Distomo und antifaschisti- Wir haben unsere Plattform an einen großen Kreis scher Gruppen in Volksdorf stattgefunden hatten. In geschickt zwecks Unterstützung von politischen Flugblättern und einer Demonstration hatten sie um- Parteien, über Schulen, Kirchen bis hin zu Vereinen, fangreiche Aufklärungsarbeit zu dem Massaker ge- Gewerkschaften und Einzelpersonen und erzielten die ersten Erfolge: Auf der Bezirksversammlung in Hamburg Wandsbek wurde das Ziel einer sofortigen Anklageerhebung gegen G. Sommer einstimmig von allen Parteien begrüßt sowie beschlossen, das Thema in die Schulen hineinzutragen. Die Grünen brachten den Antrag ein. Auch der Hamburger Senat musste sich mit G. Sommer befassen durch eine Anfrage der SPD. leistet und viele Menschen für das Problem sensibili- Weiter sammelten wir siert und empört gemacht, das Gerhard Sommer als innerhalb von wenigen Wochen über 200 Unter- einer der maßgeblich Beteiligten an dem Massaker schriften auf einer Unterschriftenliste zwecks sofor- unbehelligt in unserem Stadtteil lebt. tiger Anklageerhebung und werden das weiterführen.

In unserer Plattform vom Januar 2006 halten wir Das nächste Ziel ist die Beteiligung an dem bundes- fest, dass das Ziel all unserer Aktionen die sofortige weiten Aktionstag am 6. Mai 2006 gegen die 10 Anklageerhebung gegen Gerhard Sommer durch die Verurteilten von Sant’Anna in ihren jeweiligen Städ- zuständige Staatsanwaltschaft in Stuttgart ist. ten sowie Veranstaltungen in Hamburg mit Persön- lichkeiten aus Politik und Recht zum Thema des Wir verstehen uns als eine Initiative politisch inte- historischen Versagens der bundesdeutschen Justiz ressierter Bürger mit einem antifaschistischem in der Verfolgung von Nazitätern. Selbstverständnis, die es nicht zulassen möchten, dass die letzten noch lebenden NS-Kriegsverbrecher Kontakt: e-mail: [email protected] ohne einen deutschen Urteilsspruch ihren Lebens- abend verbringen dürfen, so, als wäre nichts gesche- hen vor über 60 Jahren und so, wie es seit Jahrzehn-

35 Freiberg „Kein ruhiger Lebensabend für SS-Mörder!“ Die FreibÄrger Jugendinitiative „Buntes Leben“ macht mobil gegen SS-Kriegsverbrecher Alfred Mathias Concina von Clara Pepper Die FreibÄrger Jugendinitiative „Buntes Leben“ und zitierten seine Einlassung bei Vernehmungen in bildete sich im Sommer 2004 um die alternative Rechenberg Bienenmühle: „Es war eine relativ kurze Stadtzeitung „FreibÄrger“, die seit 1998 zweimonat- Mission. Sie dauerte drei oder vier Stunden. Die lich erscheint und überwiegend aus der Perspektive Menschen wurden vor der Kirche zusammengetrie- von Jugendlichen und StudentInnen über Freiberg ben und dann erschossen, anschließend wurden ihre berichtet. Aufgrund der Tatsache, dass im Landkreis Leichen verbrannt.“ In dem in der Nähe von Freiberg gelegenen Ort Rechenberg Bienenmühle konnten die Jugendlichen keinen Einwohner mit dem Namen Concina ausfindig machen, erfuhren aber, dass ein Seniorenheim aus Freiberg dort eine Immobilie er- worben hatte, um dort vorübergehend zu residieren. Es bedurfte einiger Nachfragen und Recherchen, um zu erfahren, dass Alfred Concina im Seniorenheim „Johanna Rau“ untergekommen war. Inzwischen war schon Ende Oktober und die Jugendlichen beschlos- sen, ihre diesjährige Mahnwache im Dezember dafür zu nutzen, um in einer wirksamen Aktion, die Öf- fentlichkeit darauf hinzuweisen, dass in Freiberg ein ehemaliges Mitglied der Waffen-SS unbehelligt lebt. Die Recherchen hatten ergeben, dass innerhalb des Seniorenheims kaum jemand über diesen Fakt in- formiert war. Ende November erschien in der alter- nativen Stadtzeitung Freibergs „FreibÄrger“ ein Artikel über Alfred Concina mit der Schlagzeile Freiberg rechtsradikale Organisationen wie die NPD, „SS-Mörder lebt in Freiberg“. Darin wurde auch die Junge Nationaldemokraten, schlagende Verbindun- Mahnwachen-Aktion angekündigt und um Teilnah- gen, Kameradschaften wie die KS „Norkus“ und me geworben. Außerdem nahmen die Jugendlichen „Neue Ordnung Deutschland“(NOD) immer mehr Kontakt zu Initiativen in Hamburg auf, die eine Ak- Zulauf bekommen, nahmen sich eine handvoll Ju- tion gegen den SS-Offizier Gerhard Sommer ge- gendliche vor, diesem Trend etwas entgegen zu set- macht hatten. Dort erhielten die Freiberger weitere zen. Die Jugendinitiative organisiert Veranstaltun- Tipps und über einen Journalisten der TAZ Hamburg gen, z.B. zum Thema RechtsRock oder zur Jugend- weitere Informationen über das Freiberger Senioren- arbeitslosigkeit und veranstaltet Treffen mit auslän- heim und dessen Umgang mit dem Fall „Concina“. dischen MitbürgerInnen, arbeitet innerhalb der Schu- Die Mahnwache am 22.12. 2005 le an Projekten mit wie „Schule ohne Rassismus“ und informiert die Bevölkerung Freibergs regelmä- „Wir haben die antifaschistische Mahnwache des- ßig über das Treiben der Neonazis. halb hier veranstaltet, um die Öffentlichkeit über diese Zustände aufzuklären. Wir wollen keine alten Im Sommer 2005 erfuhr die Jugendinitiative aus der Leute erschrecken oder einen Krawall veranstalten bürgerlichen Presse, dass zehn ehemalige Mitglieder wie uns vonseiten der Heimleitung und auch der der Waffen SS aufgrund ihrer Beteiligung am Mas- Ordnungsbehörde unterstellt wurde und wird“, er- saker von Sant'Anna di Stazzema in Italien zu le- klärt die Sprecherin der FreibÄrger Jugendinitiative benslanger Haft verurteilt wurden. Verschiedene „Buntes Leben“, Clara-Anne Bünger, am Ende ihres Zeitungen nannten Alfred Concina als Beteiligten Redebeitrags und formuliert auch die Forderungen,

36 die sie zusammen mit Mitgliedern von „Schule ohne richtete über die „Altenpflege für Nazitäter“ und die Rassismus“, der Antifa-Gruppe Freiberg und der linksalternative Wochenzeitung „Jungle World“ fing Linkspartei.PDS aufgestellt hat: „Wir wollen eine einige Reaktionen in Freiberg auf. Weder die Ober- Verurteilung der Mörder von Sant’Anna di Stazzema bürgermeisterin Frau Dr. Uta Rensch, noch der Pfar- in der BRD! Und fordern die sofortige Eröffnung rer Breutel konnten sich für die Aktion der Jugendli- eines Strafverfahrens gegen die Mörder von chen erwärmen. Ihnen schien die Angelegenheit eher Sant’Anna di Stazzema in der Bundesrepublik! Wir peinlich zu sein. Ein Wort der Anteilnahme für die erklären uns vollständig solidarisch mit den Überle- Opfer oder die Überlebenden und deren Angehörigen benden des Massakers von Sant'Anna di Stazzema in Italien kam niemanden von ihnen über die Lippen. und den Angehörigen der Opfer!“ Während des Re- Stattdessen überlegten der Pfarrer und der Kreisvor- debeitrags vor ungefähr 40 überwiegend jungen Leu- sitzende der Linkspartei.PDS, Achim Grunke, mit ten, versuchte die Heimleiterin Hein, ihr das Mik- dem SS-Mörder ein Gespräch zu führen. rofon aus der Hand zu entreißen. Der Versuch miss- „Nicht locker lassen...“ lingt genau so wie die Absicht von 25 neonazisti- schen Jugendlichen, durch ihren „Aufmarsch“ die Mahnwache zu stören. Es gibt heftige Wortwechsel zwischen der Heimleitung, dem Mitglied der Ge- schäftsführung vonseiten der Kirche, Pfarrer Breutel, und jugendlichen DemonstrantInnen, die in der Äu- ßerung des Pfarrers gipfeln, dass man den alten SS- Mörder doch in Ruhe sterben lassen solle. Auf den Einwurf einer jungen Frau, dass der an einem Mas- senmord beteiligt gewesen sei, fiel dem Vertreter der Christenlehre nur ein schroffes „Na und!“ ein. Durch solche und andere Provokationen ließen sich die Jugendlichen nicht irritieren. Der Erfolg der Aktion lag in ihrem medialen Echo. Die „Freie Presse“, die im Sommer 2005 keine Zeile über das Urteil gegen deutsche SS-ler veröffentlichte, die am Massaker Alfred Concina lebt weiter im Seniorenheim, das zu von Sant'Anna die Stazzema beteiligt waren, ließ der 1993 gegründeten „Seniorenheime Freiberg eine Woche nach der Mahnwache keinen Tag ver- gGmbH" gehört, deren Gesellschafter die Stadt Frei- streichen, ohne über den in Freiberg lebenden zu berg (75%) und das Diakonische Werk der Ev.- lebenslanger Haft Verurteilten Alfred Concina zu Luth. Landeskirche im Kirchenbezirk Freiberg e.V. berichten. Unverschämt und einer guten Presse nicht (25 %) sind. Er wird aber längst nicht mehr so würdig, war die Behauptung des Chefredakteurs der freundlich behandelt wie vor der Mahnwache. Die Lokalredaktion Freiberg, Uwe Kuhr, die „Freie Pres- Staatsanwaltschaft in Stuttgart sah sich aufgrund der se“ habe die Geschichte durch eigene Recherche zahlreichen Anfragen von Presse-Leuten zu mehre- herausgefunden. Da berichtete die „Sächsische Zei- ren öffentlichen Statements genötigt. In einigen kam tung“ fairer und ließ auch die Jugendinitiative zu zum Ausdruck, dass eine Auslieferung der Verurteil- Wort kommen. Der MDR, der ebenfalls von den ten nach Italien auf „diplomatischem Wege“ möglich Jugendlichen informiert wurde, schickte ein Team in sei. Jedenfalls prüfe man diese Möglichkeit. Die das Seniorenheim „Johanna Rau“, um den SS- FreibÄrger Jugendinitiative „Buntes Leben“ wird Mörder zu Wort kommen zu lassen. Natürlich war nicht eher locker lassen, bis die SS-Mörder vor ei- der nicht so dumm, seine Taten vor laufender Kame- nem bundesdeutschen Gericht stehen. Im Augenblick ra zuzugeben. Er behauptete, dass er nicht auf die wäre es günstig, wenn in einer weiteren Stadt, in der BewohnerInnen von Sant'Anna geschossen habe, einer der zehn verurteilten SS-Mörder lebt, eine öf- sondern links an der Kirche vorbei gezielt habe. fentlichwirksame Aktion stattfinden würde. BILD Chemnitz machte mit der Schlagzeile auf „Warum ist dieser SS-Verbecher frei...“ und druckte Clara, Pepper von der Jugendinitiative „Buntes Le- ein aktuelles Bild von Concina, das tags zuvor zwei ben“ in Freiberg, Dr. Külzstraße 10, 09618 Brand- BILD-Journalisten heimlich im Seniorenheim schos- Erbisdorf; www.freibaerger.de sen. Die Antifa-Zeitschrift „Der Rechte Rand“ be-

37 Stuttgart Offener Brief der Antifaschistischen Initiative gegen das Vergessen und VVN BdA Stuttgart

Die Antifaschistische Initiative gegen das Vergessen und die VVN-BdA Kreisvereinigung Stutt- gart bitten um Unterstützung durch Unterschrift unter den folgenden Offenen Brief an die Staatsanwaltschaft Stuttgart. Damit schließen Sie sich der bundesweiten Kampagne zur Unter- stützung der Überlebenden des Massakers der SS in Sant’Anna di Stazzema an.

An die Staatsanwaltschaft Stuttgart, Oberstaatsanwalt Häußler, Neckarstraße 145, 70190 Stuttgart,

Offener Brief Der 60. Jahrestag der Befreiung liegt hinter uns. rollen mit gültigen deutschen Telefonbüchern. Die Vielerorts nützten Politikerinnen und Politiker die deutsche Justiz war ihnen dabei keine Hilfe. Gedenkfeierlichkeiten, um die historische Verant- Stattdessen verurteilte das Militärgericht La Spezia wortung, die Deutschland aufgrund seiner Geschich- zehn ehemalige SS-Angehörige am 22. Juni 2005 te zukommt, zu betonen. Historische Verantwortung wegen ihrer Beteiligung an den Morden in bedeutet auch, den Interessen der nationalsozialisti- Sant’Anna zu lebenslänglicher Haft. Dennoch leben schen Opfer gerecht zu werden und die Täterinnen diese Männer immer noch unangefochten in der und Täter zur Verantwortung zu ziehen. Bundesrepublik Deutschland. Und sie haben auch Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft wird dieser Ver- nach dem Urteil von La Spezia nichts zu befürchten, antwortung nicht gerecht! Sie verzögert die Ankla- da sie nicht nach Italien ausgeliefert werden. geerhebung gegen Angehörige der 16. Waffen-SS- Enrico Pieri hatte Glück. Er überlebte und er weiß, Panzergrenadierdivision und sie verweigert den ü- welche SS-Einheit seine Familie auf dem Gewissen berlebenden Opfern des Massakers von Sant'Anna di hat. Jetzt will er wissen, warum die deutsche Staats- Stazzema die Einsicht in die Ermittlungsakten. anwaltschaft keine Anklage erhebt und beantragte im Am 12. August wurden in dem italienischen Dorf Juni 2005 Akteneinsicht. Sie wird ihm unter anderem Sant'Anna di Stazzema 560 Menschen von Angehö- mit der Begründung verweigert, dem Gesuch stün- rigen der 16. Waffen- SS-Panzergrenadierdivision den höherrangige schutzwürdige Interessen der Be- erschossen, erschlagen, verbrannt. Der zehnjährige schuldigten entgegen. Enrico Pieri verliert Vater, Mutter, Geschwister, Einer der in La Spezia Verurteilten - auch Beschul- insgesamt 25 Familienangehörige. Seine kleine digter im Stuttgarter Ermittlungsverfahren - gab in- Schwester Luciana war 5 Jahre alt, als sie vor seinen zwischen öffentlich zu, dass er auf eine Gruppe von Augen an den Füßen gepackt und solange mit dem 20 bis 25 Frauen und Kinder geschossen hat, «bis der Kopf gegen die Wand geschlagen wurden, bis der Patronengurt leer war». Trotzdem ist die Stuttgarter Schädel zertrümmert war. Er selbst verkroch sich in Staatsanwaltschaft der Meinung, dass zurzeit für eine einer Mauernische und konnte sich so vor den Ge- Anklage kein hinreichender Tatverdacht vorliegt. wehrsalven der SS retten. Erst kürzlich wurde auf dem heutigen US-Flughafen Heute ist Enrico Pieri Vorsitzender des Vereins der und dem ehemaligen KZ in Leinfelden-Echterdingen Opfer von Sant’Anna. ein Massengrab entdeckt. Die Vergangenheit vergeht Seit sechs Jahrzehnten warten die Überlebenden auf nicht! In mehreren Stuttgarter Stadtteilen erinnern eine Verurteilung der Täter. Sie ermittelten sie durch Stolpersteine an die Opfer der Nazidiktatur. Auf dem einen einfachen Abgleich der militärischen Stamm- ehemaligen Gelände des Güterbahnhofs am Nord- bahnhof, dem Ort, von dem die württembergischen

Juden deportiert wurden, ist eine Gedenkstätte ge- schenrechte als auch der Errichtung des Internationa- plant. len Gerichtshofes in Den Haag zu Grunde. All das würde es ohne das Engagement vieler Stutt- Wir fordern die Stuttgarter Staatsanwaltschaft auf, garterinnen und Stuttgarter nicht geben. Auch die * die Anklage gegen die Angehörigen der 16. SS- Ahndung und Verurteilung der Täterinnen und Täter Panzergrenadierdivision zu erheben; verlangt nach Engagement und öffentlichem Druck. * den Überlebenden des Massakers in Sant’Anna di Das beweisen zahlreiche Beispiele aus der bundes- Stazzema in Italien Akteneinsicht zu gewähren. deutschen Justizgeschichte und aktuell das Verhalten der Stuttgarter Staatsanwaltschaft. Um die Bereitschaft zu Massenmord und Massaker an der Zivilbevölkerung einzudämmen, müssen sie strafrechtlich verfolgt und bestraft werden. Diese Überzeugung liegt sowohl der UN-Charta für Men-

Links, Bücher, Seminare zum Thema

Links www.partigiani.de oder www.resistenza.de www.santannadistazzema.org www.orgel-fuer-sant-anna.de

Bücher zu Kriegsverbrechen in Italien

Andrae, Friedrich Auch gegen Frauen und Kinder. Der Krieg der deutschen Wehrmacht gegen die Zivilbe- völkerung in Italien 1943 - 1945, München 1995

Comello, Marco Jetzt sind wir an der Reihe. Das Massaker von Cumiana und der Widerstand im Piemont unter deutscher Besatzung 1943-1945, Erlangen 2003

Kohl, Christiane Der Himmel war strahlend blau … Vom Wüten der Wehrmacht in Italien, Wien 2004

Kohl, Christiane Villa Paradiso. Als der Krieg in die Toskana kam (Tatsachenroman), München 2002

Lingen, Kerstin von Kesselrings letzte Schlacht. Kriegsverbrecherprozesse, Vergangenheitspolitik und Wie- derbewaffnung: Der Fall Kesselring, Paderborn 2004

Schreiber, Gerhard Deutsche Kriegsverbrechen in Italien: Täter, Opfer, Strafverfolgung, München 1996

Staron, Joachim Fosse Adreatine und Marzabotto: Deutsche Kriegsverbrechen und Resistenza, Paderborn 2002

Ueberschär (Hrsg.) Orte des Grauens. Verbrechen im zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003

Verlag der Buchläden Repression und Kriegsverbrechen. Die Bekämpfung von Widerstands- und Partisanen- bewegungen gegen die deutsche Besatzung in West- und Südeuropa, Berlin-Göttingen 1997

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