Gegen Den Strich
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Joris-Karl Huysmans Gegen den Strich Jean des Esseintes, die Haupt- gewobenen Scheinwelt. Seine figur des 1884 erschienenen literarischen Neigungen gelten anspruchsvollen Romans »Ge- vor allem Dichtern, die gleich gen den Strich« von Joris-Karl ihm aus der Banalität der kapi- Huysmans (1848-1907), zieht talistischen Gesellschaft ihrer sich — abgeschreckt von dem Zeit auszubrechen suchen: Gedanken, »so zu sein, wie alle Baudelaire und Verlaine. Bei anderen« — in ein Haus in der alledem handelt es sich um Umgebung von Paris zurück, den Versuch, jenseits der als das er nach seinem bis in pa- unbefriedigend empfundenen thologische Grenzbereiche Welt eine Art von artifiziell verfeinerten Geschmack aus- überformter Wirklichkeit für stattet. Da er dazu neigt, Natur das entfremdete Individuum als absoluten Gegensatz zur aufzubauen, bis Des Esseintes' Kunst zu sehen und allen ihren Existenz zwangsläufig immer Erscheinungsformen sich im- neurotischer und patholo- mer weitgehender zu entzie- gischer wird, so daß ihm der hen, versucht er konsequent, Arzt endlich klarmachen muß, sich eine Welt zu schaffen, die daß nur die Rückkehr ins ge- ihm erlaubt, »die Abstraktion sellschaftliche Leben in Paris bis zur Halluzination zu trei- ihn retten kann. ben und den Traum von der Die klarsichtige und künst- Wirklichkeit an die Stelle der lerisch hochwertige Analyse Wirklichkeit zu setzen«. Da der Dekadenz des Fin de siècle ihm Natur nicht genügt, läßt Huysmans Roman zu schafft er sich, teilweise mit einem herausragenden literari- Hilfe von Rauschgiften, einen schen Zeitdokument werden, Kosmos aus Farb- und Ge- das in Thema und Gestaltung ruchssynästhesien, in den er auch über die Zeit seiner Ab- seine neurotische Sensibilität fassung hinaus Haltungen und einbettet. Literarische, künstle- Handlungen des spätkapitali- rische und intellektuelle Reize stischen Ästhetizismus er- dienen ihm zum Aufbau seiner kennbar und beschreibbar aus Traum und Wirklichkeit macht. Joris-Karl Huysmans Gegen den Strich Roman 1978 Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig und Weimar Autorisierte Übertragung aus dem Französischen von Hans Jacob (1921) Herausgegeben, bearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Roland Erb Gescannt von c0y0te. Dieser Scan ist nicht seitenkonkordant. Die Anmerkungen auf S. 297 wurden der neuen Numerierung angepaßt. Das Titelbild wurde unter Verwendung einer alten französischen Ausgabe neu gestaltet und ist nicht das der deutschen. Dieses e-Buch ist eine Privatkopie und nicht zum Verkauf bestimmt! © 1921 Gustav Kiepenheuer Verlag Lizenznummer 396-265/33/78. LSV 7351 Ausstattung Artur Liebig Gesamtherstellung LVZ-Druckerei »Hermann Duncker« Leipzig 111/18/138 Printed in the German Democratic Republic Bestell-Nr. 788 142 3 EVP 7,90 M (DDR) ©1978 Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig und Weimar Vorbericht Nach den wenigen Bildern zu urteilen, die noch im Schlosse Lourps hingen, hatte die Familie der Floressas des Esseintes einst aus athletischen Haudegen, aus abstoßen- den Landsknechten bestanden. Nebeneinander in die en- gen Rahmen gepreßt, die sie mit ihren kraftvollen Schul- tern ausfüllten, beunruhigten sie geradezu mit ihren star- ren Augen, ihren jatagangleich gesträubten Schnurrbärten und ihrer Brust, deren gewölbter Bogen den gewaltigen Küraß zu sprengen drohte. Das waren die Ahnen; die Bildnisse ihrer Abkömmlinge fehlten; es bestand eine Lücke in der Reihenfolge der Ge- sichter dieses Geschlechts; ein einziges Bild vermittelte, bildete eine Naht zwischen Vergangenheit und Gegen- wart, ein geheimnisvoller, listiger Kopf mit toten, längli- chen Zügen, mit von einem Schminkekomma punktierten Wangen, angeklebten und perlendurchzogenen Haaren und einem vorgereckten Hals, der aus den Falten einer steifen Krause sah. Schon in diesem Bildnis eines der ver- trautesten Freunde des Herzogs von Epernon und des Marquis von O. traten die Laster eines verkümmerten Temperaments hervor, darin die Lymphe das Blut über- wog. Der Verfall dieses alten Hauses hatte zweifellos sei- nen regelmäßigen Lauf genommen; die Männer waren im- mer ausgesprochen weibischer geworden; und wie um das 5 Werk der Zeit zu krönen, vermählten die des Esseintes zwei Jahrhunderte hindurch ihre Kinder untereinander und verbrauchten so den Rest ihrer Kraft in Verbindungen gleichen Bluts. Von dieser Familie, die einst so zahlreich war, daß ihr fast alle Besitzungen der Provinzen Ile-de-France und Brie gehörten, lebte noch ein einziger Nachkomme, der Herzog Jean, ein hagerer junger Mann von dreißig Jahren, an- ämisch und nervös, mit hohlen Wangen, kalten stahlblau- en Augen, aufwärtsgerichteter, aber gerader Nase und trockenen, zarten Händen. Seine Kindheit war düster gewesen. Skrofulös und von hartnäckigen Fieberanfällen bedroht, gelang es ihr mittels frischer Luft und guter Pflege trotzdem, die Brandung der Mannbarkeit zu überwinden; dann bekamen die Nerven den Vorrang, glichen die Schwächeanfälle der Bleichsucht aus und führten das fortschreitende Wachstum zu völliger Entwicklung. Die Mutter, eine hochgewachsene, stille, weiße Frau, starb an Erschöpfung; der Vater an irgendeiner Krankheit; des Esseintes wurde damals siebzehn Jahre alt. Von seinen Eltern hatte er nur eine verschüchterte Erin- nerung ohne Dankbarkeit und Liebe. Seinen Vater, der meistens in Paris lebte, kannte er kaum; seine Mutter sah er, unbeweglich liegend, in einem dunklen Zimmer des Schlosses Lourps vor sich. Mann und Frau waren nur sel- ten zusammen; aus diesen Tagen hatte er nur belanglose Begegnungen zurückbehalten: Vater und Mutter saßen einander vor einem kleinen Tisch gegenüber, den nur eine 6 Lampe mit tief herabgezogenem Schirm beleuchtete, denn die Herzogin konnte Licht oder Lärm nur unter Nervenan- fällen vertragen; im Dunkeln wechselten sie kaum einige Worte, dann ging der Herzog ungerührt und sprang, so rasch er konnte, in den nächsten Zug. Bei den Jesuiten, bei denen Jean seine Schulzeit ab- solvieren sollte, war sein Leben angenehmer und milder. Die Patres gewannen das Kind lieb; seine Intelligenz setzte sie in Erstaunen; aber trotz aller Anstrengungen vermoch- ten sie es nicht zu geordnetem Studium zu veranlassen; er fand Geschmack an gewissen Arbeiten, legte sich frühreif ganz auf die lateinische Sprache fest, dafür aber war er un- fähig, auch nur zwei Worte Griechisch zu erklären, bewies nicht die geringste Anlage zu lebenden Sprachen, und er entpuppte sich als vollkommen stumpf, sobald man ihn die ersten Elemente der Wissenschaften lehren wollte. Seine Familie kümmerte sich wenig um ihn; bisweilen besuchte sein Vater ihn im Pensionat: »Guten Tag, guten Abend, sei artig und arbeite fleißig.« In den Sommerferien reiste er nach Schloß Lourps; seine Anwesenheit zog die Mutter nicht aus ihren Träumereien; sie bemerkte ihn kaum, oder sie betrachtete ihn einige Sekunden lang mit einem fast schmerzlichen Lächeln, dann ging sie wieder ganz im künstlichen Dunkel unter, in das dichte Vorhänge vor den Fenstern das Zimmer einhüllten. Die Dienerschaft war verärgert und alt. An Regentagen kramte das sich selbst überlassene Kind in den Büchern der Bibliothek oder streifte an schönen Nachmittagen durch die Felder. 7 Seine große Freude war es, ins Tal hinunterzugehen, nach Jutigny, einem Dorf am Fuß der Hügel, einem Häuf- lein kleiner Häuser mit Strohkäppchen, die mit Hauswurz und Moosbüscheln durchsät waren. Er legte sich auf eine Wiese in den Schatten der hohen Strohdiemen, lauschte dem dumpfen Geräusch der Wassermühlen und sog tief den frischen Hauch der Voulzie ein. Manchmal wagte sich Jean bis zu den Torfstichen, bis zum grünschwarzen Wei- ler von Longueville, oder er kletterte auf die vom Wind gefegten Hänge, von denen aus die Aussicht gewaltig war. Da hatte er auf der einen Seite unter sich das Seinetal, das sich weithin verlor und mit dem Blau des fern geschlosse- nen Himmels verschmolz; auf der anderen Seite, ganz hoch über dem Horizont, die Kirchen und den Turm von Provins, die in der Sonne im goldenen Pulverglanz der Luft zu zittern schienen. Er las oder träumte, saugte sich bis zum Einbruch der Nacht voll Einsamkeit; und da er immer über die gleichen Gedanken nachdachte, sammelte sich sein Geist, und seine noch unbestimmten Gedanken wurden stets reifer. Nach jeder Ferienzeit kehrte er überlegter und hartnäckiger zu seinen Lehrern zurück; diese Wandlungen entgingen ih- nen keineswegs; scharfsichtig und listig, durch ihren Beruf mit der Aufgabe, Seelen bis in die Tiefe zu klären, vertraut, ließen sie sich durch diese aufgeweckte, aber unbelehrbare Intelligenz keineswegs täuschen; sie erkannten, daß dieser Schüler niemals zum Ruhme ihres Hauses beitragen wür- de, und da seine Familie reich war und sich um seine Zu- kunft nicht zu kümmern schien, verzichteten sie ohne wei- 8 teres darauf, ihn den nützlichen Möglichkeiten ihrer Schu- le zuzuwenden; obwohl er gern mit ihnen über alle theo- logischen Doktrinen diskutierte, weil sie ihn durch ihre Spitzfindigkeit und Sophistereien reizten, dachten sie nicht einmal daran, ihn zum Eintreten in den Orden zu bewe- gen, denn allen ihren Bemühungen zum Trotz blieb sein Glaube schwach; und letzten Endes ließen sie ihn aus Klugheit, aus Furcht vor dem Unbekannten arbeiten, was ihm beliebte und das andere vernachlässigen, um sich die- sen unabhängigen Kopf nicht gleich weltlichen Lehrern durch Kleinlichkeiten zu entfremden. So lebte er restlos glücklich und spürte das väterliche Joch der Priester kaum; er setzte nach seinem Belieben sei- ne lateinischen und französischen Studien fort, und ob- gleich die Theologie noch nicht zu seinem Klassenpensum gehörte, ergänzte er