Zweites Kapitel
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Flucht - Konsequenz der Geschichte 24 Zweites Kapitel 1 Flucht - Konsequenz der Geschichte Am 30.01.1933 eröffnete die Ernennung Adolf Hitlers zum Kanzler eines Koalitionskabinetts den Weg zur Machtübernahme der NSDAP in Staat und Gesellschaft. Für weite Kreise der deutschen Bevölkerung versprach der Regierungswechsel zunächst Hoffnung auf wirtschaftliche Sicherheit und außenpolitische Stärke. Für Menschen, die aufgrund ihrer Rolle in der Weimarer Republik sich einen Ruf als Gegner des Nationalsozialismus erworben hatten oder intellektuell und rassisch nicht in die nationalsozialistische Ideologie paßten, bedeutete der Machtwechsel hingegen eine akute physische Gefährdung. In den ersten Monaten nach der Machtergreifung wurden willkürlich in erster Linie kommunistische oder sozialdemokratische Parteimitglieder terrorisiert, mißhandelt, in Schutzhaft genommen oder in schnell aufgebauten Konzentrationslagern eingesperrt1. Drohungen, Terror und Brutalität beherrschten den Alltag dieser Menschen. Für die meisten der Gefährdeten gab es zwei Alternativen: Flucht oder das Risiko des Bleibens. Die persönliche Entscheidung zwischen den beiden Alternativen wurde neben der tatsächlichen Lebensbedrohung auch von den nationalsozialistischen Maßnahmen und Gesetzen mitbestimmt, die die Entmündigung kritischer, politisch oder rassisch unerwünschter Menschen bezweckten. Schon ein Tag nach dem Reichstagsbrand2 unterzeichnete Präsident Hindenburg die ’Notverordnung gegen Verrat am deutschen Volk und hochverräterische Umtriebe’; die Verordnung erklärte die “Beschränkungen der 1 Die Ereignisse nach der Machtergreifung erfordern, gerade im Hinblick auf die Forschungsergebnisse der letzten Jahre, eine differenzierte Betrachtungsweise. Auch wenn im Gesamtüberblick über den deutschen Nationalsozialismus die Barbarei an den Juden im Vordergrund bleibt und zu bleiben hat, muß trotzdem festgehalten werden, daß die politische Wirklichkeit nach 1933 in erster Linie und zuerst linke Intellektuelle und Politiker als zu vernichtende Feinde anvisierte und nicht Juden als solche. Daß ein Großteil der Intellektuellen und Linken jüdischer Abstammung waren, ändert nichts an dieser Tatsache. Die ungeheuerliche Behandlung der Juden als Juden setzte erst nach der Ausschaltung der Intellektuellen und Linken ein. Der jüdische Intellektuelle Gad Beck sagte mir in diesem Zusammenhang, daß vor allem viele apolitische und konservative Juden sich bis zum Reichsbürgergesetz nicht unbedingt als Hauptfeinde Hitlers gesehen haben und seine Aversion gegen Marxismus sogar mitgeteilt haben. Gespräch mit Gad Beck, Berlin 14.10.1994. Gad Beck ist Pressesprecher des Jüdischen Gemeindehauses in der Fasanenstraße in Berlin, hat den 2. Weltkrieg im Untergrund überlebt und konnte durch illegale Transporte mehreren jüdischen Kindern das Leben retten. Seine Memoiren sind erschienen als: Gad Beck, Und Gad ging zu David - Erinnerungen des Gad Beck 1923 - 1945, Berlin 1995. Zusätzlich möchte ich auf die Forschungsergebnisse des jüdisch- amerikanischen Historikers Mark Rigg hinweisen, der nachweisen konnte, daß sogar tausende Soldaten jüdischer Abstammung bis in die 40er Jahre in der Wehrmacht dienen konnten. Die Ergebnisse seiner Untersuchung sind als Dossier in Zeit erschienen : Byran Mark Rigg, Riggs Liste, Die Zeit, 04.04.1996. Flucht - Konsequenz der Geschichte 25 persönlichen Freiheit, des Rechtes der freien Meinungsäußerung, einschließlich der Pressefreiheit” für zulässig. Bei den Reichstagswahlen am 05.03.1933 erhielt die NSDAP 44 % der Stimmen. Josef Goebbels wurde Minister für Volksaufklärung und Propaganda. Am 09.03.1933 wurden die Reichstagsmandate der KPD annulliert, der Reichstag wurde am 23.3.1933 aufgrund des ’Ermächtigungsgesetzes’ aufgelöst, die Länder mit dem Reich gleichgeschaltet; am 02.05.1933 wurden die Gewerkschaften in die Deutsche Arbeitsfront eingegliedert; am 22.06.1933 erfolgte das Verbot der SPD und am 14.07.1933 das Gesetz gegen die Neubildung von Parteien, also die formelle Besiegelung der nationalsozialistischen Alleinherrschaft. Am 07.03.1933 hatte der ’Börsenverein deutscher Buchhändler’ eine Liste mit „undeutschen“ Büchern veröffentlicht, diese Bücher wurden am 10.05.1933 von Studenten und SA- Angehörigen öffentlich verbrannt. Die Gründung der „Reichskulturkammer“ am 22.09.1933 verpflichtete Künstler und Schriftsteller, in ihrer Arbeit nur noch nationalsozialistische Ideale und Ideologie zu berücksichtigen. Die entscheidende Legitimation für die Entlassung von politischen und rassischen Gegnern der nationalsozialistischen Ideologie aus dem Staatsdienst gab das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufbeamtentums“ vom 07.04.1933. Das Gesetz besagte: §1 „Zur Wiederherstellung eines nationalen Berufsbeamtentums und zur Vereinfachung der Verwaltung können Beamte nach Maßgabe der Bestimmungen aus dem Amt entlassen werden, auch wenn die nach dem geltenden Recht hierfür erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen“ und §4.3 „Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen“3. Mit diesem Gesetz war die rechtliche Legitimierung für die Vertreibung aus den deutschen Universitäten geschaffen4. Mit diesen Maßnahmen, Verordnungen und Gesetzen wurden innerhalb von einigen Monaten fast alle Gegner auf gesetzlichem Weg ausgeschaltet. Diese Gesetze bezweckten zugleich die beruflich-gesellschaftliche Zurücksetzung der vermuteten und tatsächlichen Gegner des Nationalsozialismus und die Eliminierung ihres „weltanschaulichen“ Einflusses im öffentlichen Leben. Flucht aus dem Dritten Reich war in den ersten Jahren noch relativ ungehindert möglich, sofern man über einen gültigen Auslandspaß verfügte oder mutig genug war, illegal aus dem Land zu 2 Am 27.02.1933 brannte der Berliner Reichstag. Der Brand wurde den Kommunisten zur Last gelegt. 3 Ausführlicher über das Gesetz und seine Folgen auch in: Wolfgang Scheffler, Judenverfolgung im Dritten Reich, Berlin 1960. 4 15 Prozent des Lehrkörpers der deutschen Hochschulen wurden in der Folge aus politischen und rassischen Gründen aus ihren Stellungen entfernt, verfolgt oder zur Flucht aus Deutschland gezwungen. Flucht - Konsequenz der Geschichte 26 gehen5. Um die Jahreswende 1933/34 hatten an die 80 000 Menschen Deutschland verlassen, weil sie sich dem nationalsozialistischen Regime nicht beugen wollten - dadurch hatte ihr Entschluß, aus Deutschland zu flüchten, auch eine politische Dimension. Zentren der Flucht waren nach 1933 zuerst umliegende europäische Länder wie Frankreich, Holland, die Schweiz und die Tschechoslowakei. Ende 1933 hielten sich 30 000 der deutschen Flüchtlinge in Frankreich auf. Durch die Verlagerung der SPD nach Prag entwickelte sich auch die Tschechoslowakei bis zu ihrer Besetzung in 1939 zu einem wichtigen Fluchtland6. Den Flüchtlingen in diesen benachbarten Ländern ging es um eine enge Teilnahme an den Entwicklungen in Deutschland und die Verbindung zur Heimat. Gleichzeitig wurde mit der Nähe auch die Hoffnung wachgehalten, daß das Regime in Deutschland nach kurzer Zeit zusammenbrechen würde. Langfristig gesehen wurden jedoch die Vereinigten Staaten mit über 120.000 Menschen das wichtigste Aufnahmeland für Flüchtlinge aus Deutschland und seinem Machtbereich. Auch skandinavische Länder und Staaten in Südamerika und Asien wurden zu Fluchtländern. Insgesamt 500.000 Menschen verschiedenster Sozialisation und Herkunft und verschiedenster politischer Überzeugungen sahen sich zwischen 1933 und der Verhängung der Auswanderungssperre im Oktober 1941 gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Eine halbe Million Flüchtlinge, der größte Teil von ihnen Juden, die in alle Welt gingen und sich dadurch vor dem Nationalsozialismus und seiner Barbarei retteten. Eine halbe Million Schicksale. Unter diesen 500 000 Flüchtlingen war neben den rein politisch agierenden Flüchtlingen eine große Anzahl der bedeutendsten und kreativsten deutschsprachigen Künstler, Schriftsteller, Philosophen, Wissenschaftler und Intellektuelle. Stellvertretend, und völlig subjektiv ausgewählt seien genannt: Hannah Arendt, Max Reinhardt, Berthold Brecht, Kurt Tucholsky, Otto Dix, Stefan Heym, Hanns Eisler, Peter Lorre, Robert Musil, Erika und Klaus Mann, Oskar Kokoschka, Peter Weiss, Elias Canetti, Lisa Meitner, Paul Klee, Walter Gropius, Erwin Piscator, Ludwig Marcuse, Albert Einstein. 5 In der ’Enzyklopädie des Holocaust’ wird festgestellt, daß “die Regierung sie (Hier sind die deutschen Juden gemeint /Anm. C. Dalaman) zur Ausreise ermutigte”. Vgl.: Enzyklopädie des Holocaust - Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, 3 Bde., Bd. 1, S. 464. 6 Die Tschechoslowakei wurde am 15.03.1939 besetzt. Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 27 Viele blieben aber auch in Deutschland, paßten sich wie Ernst Barlach, Gottfried Benn und Gustaf Gründgens an oder gingen in die sogenannte “Innere Emigration” wie Erich Kästner oder Karl Hofer. Es gilt in diesem Zusammenhang zwischen diesen sogenannten anerkannten und berühmten Künstlern, Schriftstellern, Wissenschaftlern, Professoren oder Medizinern und namens- und vor allem mittellosen Flüchtlingen zu differenzieren. Brecht, Tucholsky und viele andere nahmen ihre berühmten Namen mit über die Grenze und hatten es infolgedessen leichter, sich in einem anderen Land niederzulassen und, wie sehr oft, neue Arbeitsmöglichkeiten zu finden. Die anderen blieben aber auch in der Flucht namens- und mittellos. Viele Flüchtlinge verzehrten ihre Kräfte dabei, sich in der Fremde eine neue Existenz zu schaffen. Manche wandten sich ganz von Deutschland ab, einige begingen aus Verzweiflung oder