Leroi_Lagune.indd 2 15.08.17 13:53 Die Lagune

oder

wie Aristoteles die Naturwissenschaften erfand

Aus dem Englischen von Susanne Schmidt-Wussow und Manfred Roth

Leroi_Lagune.indd 3 15.08.17 13:53 Veröffentlicht mit Unterstützung des Wilhelm-Weischädel-Fonds der WBG.

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel The Lagoon: How Aristotele Invented Science bei Bloomsbury Publishing, Copyright © Armand Marie Leroi, 2014 Copyright der Übersetzung © 2017 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

Der Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG.

© 2017 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: TypoGraphik Anette Klinge, Gelnhausen Einbandabbildung: © Oktopus: H. Fischer, Fische und Seepferdchen: K. Gesner Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-3584-5

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich eBook (PDF): 978-3-8062-3693-4 eBook (ePub): 978-3-8062-3694-1

Leroi_Lagune.indd 4 15.08.17 13:53 Die Lagune

Leroi_Lagune.indd 5 15.08.17 13:53 Leroi_Lagune.indd 6 15.08.17 13:53 Leroi_Lagune.indd 7 15.08.17 13:53 Für meine Eltern Antoine Marie Leroi (1925–2013) und Johanna Christina Joubert-Leroi

Leroi_Lagune.indd 8 15.08.17 13:53 Inhalt

Bei Erato 11 Die Insel 23 Die bekannte Welt 49 Die Anatomien 71 Naturen 89 Das Schnarchen des Delfins 109 Die Instrumente 137 Die Vogelwinde 149 Die Seele des Tintenfisches 169 Schaum 197 Das Tal der Schafe 223 Rezept für eine Auster 243 Feigen, Honig, Fisch 257 Der Steinwald 289 Kosmos 327 Die Meerenge von Pyrrha 369 Glossar 411

Anhänge 425 Anmerkungen 438 Bibliografie 494 Aristoteles Illustrieren 508 Danksagung 511 Register 513

Leroi_Lagune.indd 9 22.08.17 12:57 Leroi_Lagune.indd 10 15.08.17 13:53 Bei Erato

Leroi_Lagune.indd 11 15.08.17 13:53 kēryx – Atlantische Tritonschnecke – Charonia variegata

Leroi_Lagune.indd 12 15.08.17 13:53 bei erato 13

I

n der Altstadt von Athen gibt es einen Buchladen. Es ist der reizendste, den ich kenne. Er liegt in einer Gasse nahe der Agora, neben einem Ge- Ischäft, das Kanarienvögel und Wachteln in Käfigen verkauft, die an der Fassade festgebunden sind. Breite Jalousielamellen lassen Lichtstrahlen he- rein, die auf japanische Holzblockdrucke auf einer Staffelei fallen. Im Halb- dunkel dahinter Kisten voller Lithografien und stapelweise topografische Karten. Terrakottakacheln und Gipsbüsten antiker Philosophen und Drama- tiker dienen als Buchstützen. Es duftet nach warmem, altem Papier und tür- kischem Tabak. Die Stille wird nur vom gedämpften Trillern der Singvögel nebenan unterbrochen. Ich war schon so oft hier und es ändert sich hier so wenig, dass ich mich kaum daran erinnern kann, wann genau ich zum ersten Mal George Papa- datos’ Buchladen betrat. Aber ich weiß noch, dass es im letzten Frühling der Drachme war, als Griechenland noch arm und billig war und man in Ellinikon landete, wo die klackernden Flugtafeln Istanbul, Damaskus, Beirut und Belgrad anzeigten und man sich immer noch fühlte, als sei man in den Osten gereist. George – strähniges graues Haar, mit dem Schmerbauch eines Büchermenschen – saß an seinem Schreibtisch und las ein altes französisches politisches Traktat. Vor vielen Jahren, erzählte er mir, hatte er in Toronto gelehrt, »aber in Griechenland gab es noch Poeten«. Er kehrte zurück und nannte sein Geschäft nach der lyrischen Muse. Ich überflog die Regale und sah Andrew Langs Odyssey und drei Bände von Jowetts Plato. Bücher, die einem Engländer gehört haben könnten, einem Lehrer vielleicht, der seinen Ruhestand in Athen verbrachte, von seiner Pen- sion lebte und dort mit einem Sinnspruch von Kallimachos auf den Lippen starb. Wer immer er war, er hatte außerdem eine Reihe in sattem Blau hin- terlassen, die kompletten Works of Translated into English, herausgege- ben von J. S. Smith und W. D. Ross und zwischen 1910 und 1952 veröffent- licht. Für die alten Philosophen hatte ich mich nie besonders interessiert, ich bin schließlich Wissenschaftler. Aber ich hatte Zeit und wollte die Ruhe des Ladens nicht so schnell wieder verlassen. Außerdem war mir der Titel des vierten Bandes der Reihe ins Auge gefallen: Historia animalium*. Ich öffnete ihn und las etwas über Muschelschalen.

Leroi_Lagune.indd 13 22.08.17 12:57 14 Die Lagune

Ferner zeigen auch die Schalen selbst mancherlei Unterschiede. Die einen ha- ben glatte Schalen, wie die Scheidenmuscheln, Miesmuscheln und die unter dem Namen Galakes bekannten Muscheln, andere haben raue Schalen, wie die Limnostrea, die Steckmuscheln, einige Herzmuschelarten und die Trompeten- schnecken. Von den Letzteren haben manche gerippte Schalen, wie die Kamm- muscheln und eine Herzmuschelart, andere ungerippte, wie die Steckmuscheln und eine Venusmuschelart.

Das Schneckenhaus, für mich immer die Schale, hatte im Sonnenlicht auf der Fensterbank eines Badezimmerfensters gelegen, begraben in Sediment- schichten des Rasiertalkums meines Vaters, scheinbar für alle Zeiten. Meine Eltern mussten es irgendwo an der italienischen Küste aufgesammelt haben, jedoch konnte sich niemand erinnern, ob es in Venedig, Neapel, Sorrento oder Capri gewesen war. Ein Sommersouvenir also aus der Zeit, als sie noch jung und frisch verheiratet waren; doch mein Begehren, dem solche Assozia- tionen gleichgültig waren, galt dem Objekt selbst: den schokoladenbraunen Flammen ihrer spiraligen Windungen, dem tiefen Orange ihrer Öffnung, der Milchigkeit ihres unerreichbaren Inneren. Ich kann sie so genau beschreiben, weil ich sie heute noch vor mir habe, obwohl es so viele Jahre her ist. Ein perfektes Exemplar einer Charonia varie- gata (Lamarck), wie sie in minoischen Fresken und in Sandro Botticellis Venus und Mars auftaucht. Die Trompete ägäischer Fischer, wettergegerbte Schalen mit einem Loch in der Spitze, sind heute noch an den Ständen von Monasti- raki zu finden. Aristoteles kannte sie alskeryx , was so viel heißt wie »Herold«. Es war die erste von vielen: Muschelschalen und Schneckenhäuser, offen- sichtlich unendlich vielfältig und doch einer tiefen formalen Ordnung von Formen und Farben und Strukturen gehorchend, die sich in Schuhkartons endlos neu sortieren ließen, bis mein Vater schließlich einsah, dass die Beses- senheit mich nicht verlassen würde, und eine Vitrine bauen ließ, in dem alle Platz fanden. Eine Schublade für die glänzenden Kaurischnecken, eine für die aufregend giftigen Kegelschnecken, eine für die filigranen Murex, andere für die Olivenschnecken, die Marginella, die Wellhornschnecken, Konchas, Tonnenschnecken, Strandschnecken, Kahnschnecken, Turbanschnecken und Napfschnecken, mehrere für die Muscheln und zwei, mein ganzer Stolz, für die afrikanischen Landschnecken, riesige Kreaturen, die einer gemeinen Gartenschnecke kaum mehr ähnelten als ein Elefant einem Kaninchen. Die reinste Freude! Der heroische Beitrag meiner Mutter bestand darin, den

* Der traditionelle lateinische Titel. Auf Griechisch: Historiai peri ton zoon, auf Deutsch: Aristoteles Thierkunde (1868) bzw. Tierkunde (1957).

Leroi_Lagune.indd 14 15.08.17 13:53 bei erato 15

Katalog mit der Schreibmaschine zu tippen – ich war Aronnax, sie mein Conseil, eine Expertin für die lateinische Hierarchie der Weichtier-Taxono- mie, wenn auch ihr Wissen vollkommen theoretisch blieb, da sie kaum eine Art von der anderen zu unterscheiden wusste. In der Überzeugung, dass mein Beitrag zur Wissenschaft in umfassenden Weichtier-Monografien bestehen würde, die für die nächsten hundert Jahre (mindestens) der Weisheit letzter Schluss auf dem Gebiet der Achatinidae der afrikanischen Wälder sein würde oder vielleicht auch – da meine Auf- merksamkeit sich gern ablenken ließ – auf dem Gebiet der Buccindae des Nordpazifiks, ging ich mit achtzehn fort, um in einer Forschungsstation am Rand eines kleinen kanadischen Meeresarms Meeresbiologie zu studieren. Dort zeigte mir ein Meeresökologe, ein Furcht einflößender, Blaubart-ähn- licher Kerl, dessen ungestüme Ungeduld nur durch seine ebenso große Freundlichkeit in Schach gehalten wurde, wie man mit einer nadelspitz gefeilten Pinzette die reispapierartigen Gewebeschichten einer Schnecke voneinander löst und damit die strenge funktionelle Logik enthüllt, die darin verborgen liegt. Ein anderer, ein professoraler Cowboy-Ästhet – die Kombi- nation erscheint unvereinbar, und doch war er wie aus einem Guss –, lehrte mich, richtig über die nachzudenken, und das heißt, über fast alles. Ich hörte eine Legende sprechen, einen Wissenschaftler, der Laotses hagere Wangen und seinen dünnen Bart hatte, von Kindheit an blind war und einen Teil der empirischen Welt entdeckt hatte, der erforscht werden konnte, ohne ihn zu sehen – die Form der Muschelschalen und Schneckenhäuser natürlich – und ihre Geschichten nur über die Berührung zu erzählen wusste. Es gab auch ein Mädchen dort. Es hatte windgerötete Haut und schwarzes Haar und konnte ein Festrumpfschlauchboot mit zwei 60-PS-Johnson-Außenbor- dern durch zwei Meter hohe Brandungswellen steuern, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. All das ist, wie gesagt, lange her. Die taxonomischen Monografien schrieb ich nie. Die Wissenschaft schickt einen immer auf vollkommen unvorherseh- bare Wege, und als ich George Papadatos’ Buchladen betrat, hatte ich meine Schneckenhäuser schon lange weggelegt. Doch es kam alles zurück, als ich Aristoteles’ Ausführungen zu den Schalen und Gehäusen las und beim Wei- terblättern über seine Beschreibung der inneren Anatomie der Lebewesen stolperte, die sie herstellen:

An den Mund schließt sich unmittelbar der Magen an, welcher einem Vogel- kropf ähnelt. Daran befinden sich unten zwei weiße, derbe, zitzenähnliche Körper, wie sie sich auch bei den Sepien finden, nur dass sie hier noch derber sind. Vom Magen aus geht eine einfache lange Speiseröhre bis zu der leberähn- lichen Mekon, welche sich im Grunde der Schale befindet. Diese Teile zeigen

Leroi_Lagune.indd 15 15.08.17 13:53 16 Die Lagune

sich bei den Purpurschnecken und den keryx in der Windung der Schale. Was sich an die Speiseröhre anschließt …

Vielleicht wundert es Sie, dass so unverblümte Worte Schönheit vermitteln können, aber für mich taten sie es. Es war nicht nur reine Nostalgie, obwohl diese sicherlich ihren Teil beitrug. Nein, es war vielmehr so, dass ich verstand. Ich verstand entgegen allen Erwartungen und Wahrscheinlichkeit, was er meinte. Er war offenbar zum Strand gegangen, hatte eine Schnecke aufgeho- ben, hatte sich gefragt: »Was steckt darin?«, hatte nachgesehen und hatte gefunden, was ich gefunden hatte, als ich 23 Jahrhunderte später dasselbe tat. Wir Wissenschaftler neigen ebenso wenig dazu, in den Seitenpfaden der Geschichte zu stöbern, wie wir uns metaphysischen Spekulationen hingeben. Wir sind von Natur aus fortschrittlich. Aber das war zu wunderbar, um es nicht zu beachten.

II

as Gelände, das als Lyzeum bekannt war, lag direkt hinter Athens Steinmauern. Das Heiligtum, Apollon Lykeios gewidmet, dem DApollo der Wölfe, umfasste unter anderem ein militärisches Trai- ningsgelände, eine Rennbahn, mehrere Schreine und einen Park. Die Topo- grafie ist nicht eindeutig. Strabo bleibt vage, Pausanias ist noch schlimmer und außerdem schrieb der eine darüber zwanzig Jahre, der andere zwei Jahr- hunderte, nachdem der römische General Sulla den Ort dem Erdboden gleichgemacht hatte. Sulla hatte auch die alten Platanen abgehackt, die seine mäandernden Wege säumten, und Belagerungsgeräte aus ihrem Holz gezim- mert. Als Cicero 97 v. Chr. den Ort besuchte, fand er nur ein Ödland vor. Sein Besuch war eine Hommage an Aristoteles, der hier über 200 Jahre zu- vor einige Gebäude gemietet und seine Schule eröffnet hatte. Es hieß, dass Aristoteles gern auf den schattigen Wegen des Lyzeums wandelte und dabei redete. Er redete über die geeignete Grundordnung der Stadt: über die Gefahren der Tyrannei – und auch über die der Demokratie. Und darüber, wie die Tragödie durch Mitgefühl und Furcht eine reinigende Wirkung ausübt. Er analysierte die Bedeutung des Guten, to agathon, und sprach davon, wie der Mensch sein Leben verbringen sollte. Er gab seinen Schülern logische Rätsel zu lösen und verlangte dann, dass sie das Wesen der fundamentalen Realität neu überdenken sollten. Er redete in knappen Syllogismen und illustrierte

Leroi_Lagune.indd 16 15.08.17 13:53 bei erato 17

ihre Bedeutung mit endlosen Listen von Dingen. Er begann seine Lektionen mit den abstraktesten Prinzipien und ging stundenlang ihren Konsequenzen nach, bis wieder ein Teil der Welt seziert und erklärt vor ihnen lag. Er erör- terte die Gedanken seiner Vorgänger – die Namen Empedokles, Demokrit, Sokrates und Plato trug er ständig auf den Lippen – manchmal mit widerwil- liger Anerkennung, häufig mit Verachtung. Er reduzierte die chaotische Welt auf eine Ordnung, denn wenn Aristoteles eins war, dann ein Systematiker. Seine Schüler sahen voller Ehrfurcht zu ihm auf und vielleicht auch mit etwas echter Furcht. Einige seiner Aussprüche legen eine spitze Zunge nahe: »Die Wurzeln der Erziehung sind bitter, aber die Frucht ist süß.« – »Gebil- dete Menschen sind den ungebildeten genauso überlegen wie die Lebenden den Toten.« Über einen konkurrierenden Philosophen sagte er: »Es wäre eine Schande für mich, still zu sein, solange Xenokrates noch spricht.« Es gibt auch eine Beschreibung von ihm, und keine besonders sympathische. Er sei ein Dandy gewesen, der eine Menge Ringe trug, sich etwas zu sorgfältig kleidete und viel Aufhebens um seine Frisur machte. Auf die Frage, warum die Menschen Schönheit in anderen suchen, antwortete er: »Das ist eine Frage, die nur ein Blinder stellen würde.« Es heißt, er hätte dünne Beine und kleine Augen gehabt. Vielleicht ist das alles nur Klatsch – die Athener Schulen befehdeten sich unaufhörlich und die Biografen sind unzuverlässig. Aber wir wissen, worüber Aristoteles sprach, denn wir haben seine Vorlesungsskripte. Darunter befin- den sich auch die Arbeiten, die wie ein Gebirge über der Geschichte der westlichen Gedankenschule aufragen: Kategorien, De interpretatione, Analytica pri- ora, Analytica posteriora, Topik, Sophistische Widerlegungen, Metaphysik, Eudemische und Nikomachische Ethik, Poetik, Politik. Diese Bücher, manchmal klar und didaktisch, oft undurchsichtig und rätselhaft, von Lücken durchsetzt und voller Redun- danzen, haben Aristoteles’ Namen unsterblich gemacht. Dass wir sie haben, verdanken wir Sulla, der die Bibliothek eines Bibliophilen in Piräus plünderte und nach Rom brachte. Aber diese philosophischen Texte sind nur ein Teil – und nicht einmal der wichtigste Teil – von Aristoteles’ Werk. Unter den Büchern, die Sulla stahl, befanden sich mindestens neun, in denen es nur um Tiere ging. Aristoteles war ein intellektueller Allesfresser, ein Nimmersatt, wenn es um Informationen und Konzepte ging. Aber das Thema, das ihm am meis- ten am Herzen lag, war die Biologie. In seinen Arbeiten wird das »Studium der Natur« lebendig, wenn er die Pflanzen und Tiere beschreibt, die in all ihrer Vielfalt unsere Welt bevölkern.* Sicher, es hatten sich schon manche

* Aristoteles’ Formulierung lautet historia tēs physeōs, wozu auch die Biologie zählt.

Leroi_Lagune.indd 17 15.08.17 13:53 18 Die Lagune

Philosophen und Ärzte vor ihm in der Biologie versucht. Aber Aristoteles widmete ihr einen großen Teil seines Lebens. Er war der Erste, der das tat. Er kartierte das Gelände. Er erfand diese Wissenschaft. Man könnte sogar behaupten, er erfand die Wissenschaft an sich. Im Lyzeum gab er einen umfassenden Kurs zur Naturwissenschaft. In der Einleitung zu einem seiner Bücher wird das Curriculum skizziert: zuerst eine abstrakte Darstellung der Natur, dann die Bewegung der Sterne, dann in rascher Folge Chemie, Meteorologie und Geologie und dann der größte Teil, eine Darstellung des Lebendigen – der Lebewesen, die er kannte, darunter wir. Seine zoologischen Arbeiten sind die Notizen für diesen Teil des Kurses. In einem Buch beschäftigte er sich mit dem, was wir vergleichende Zoologie nennen, in einem anderen mit funktioneller Anatomie, in zweien ging es darum, wie sich Tiere bewegen, in einem, wie sie atmen, zwei beschäftigten sich damit, warum sie sterben, und eins mit den Systemen, die sie am Leben halten. Eine Reihe von Vorlesungen drehte sich darum, wie Lebewesen sich im Mutterleib entwickeln und heranwachsen, sich fortpflanzen und den Vor- gang erneut in Gang setzen – denn auch darüber schrieb er ein Buch. Es gab auch einige Bücher zu Pflanzen, aber wir kennen ihren Inhalt nicht. Sie gin- gen zusammen mit rund zwei Dritteln seiner Arbeiten verloren. Die Bücher, die wir haben, sind für Naturforscher ein reines Vergnügen. Viele der Lebewesen, über die er schreibt, leben im oder am Meer. Er be- schreibt die Anatomie von Seeigeln, Seescheiden und Schnecken. Er betrach- tet Sumpfvögel und beschreibt ihre Schnäbel, Beine und Füße. Delfine faszi- nieren ihn, weil sie Luft atmen und ihre Jungen säugen, aber dennoch ausse- hen wie Fische. Er erwähnt mehr als hundert verschiedene Fischarten und zählt auf, wie sie aussehen, was sie fressen, wie sie sich fortpflanzen, welche Geräusche sie von sich geben und welche Wege sie auf ihren Wanderungen zurücklegen. Sein Lieblingstier war ein merkwürdig intelligenter Wirbelloser: der Tintenfisch. Der Dandy muss also Fischmärkte geplündert und an Anle- geplätzen mit Fischern geplaudert haben. Doch der größte Teil von Aristoteles’ Wissenschaft ist ganz und gar nicht beschreibend, sondern besteht aus Antworten auf Hunderte von Fragen. Warum haben Fische Kiemen und keine Lungen? Flossen, aber keine Beine? Warum haben Tauben einen Kropf und Elefanten einen Rüssel? Warum legen Adler so wenige Eier, Fische so viele, warum sind Sperlinge so lüstern? Wie ist das überhaupt mit den Bienen? Und dem Kamel? Warum geht nur der Mensch aufrecht? Wie sehen, riechen, hören, fühlen wir? Wie beeinflusst die Umgebung das Wachstum? Warum sehen Kinder manchmal aus wie ihre Eltern und manchmal nicht? Was ist der Zweck von Hoden, Menstruation, Scheidenflüssigkeit, Orgasmen? Was verursacht Missgeburten? Was ist der wahre Unterschied zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen? Wie

Leroi_Lagune.indd 18 15.08.17 13:53 bei erato 19

bleiben Lebewesen am Leben? Warum vermehren sie sich? Warum sterben sie? Das ist kein zaghafter Streifzug in ein neues Gebiet, es ist eine vollstän- dige Wissenschaft. Vielleicht zu vollständig, denn manchmal scheint es, als hätte Aristoteles für alles eine Erklärung. Diogenes Laertios, der tratschende Biograf, der Aris- toteles’ Aussehen beschrieb (fünf Jahrhunderte nach seinem Tod), schrieb: »Im Bereich der Naturwissenschaften übertraf er alle anderen Philosophen in der Untersuchung von Ursachen, selbst die unwichtigsten Phänomene wurden von ihm erklärt.« Seine Erklärungen durchdringen seine Philoso- phie. In gewisser Hinsicht ist seine Philosophie Biologie – wenn er nämlich seine Ontologie und Erkenntnistheorie nur entwickelt, um zu erklären, wie Tiere funktionieren. Man frage Aristoteles: Was existiert im Grunde genom- men? Er würde nicht sagen, wie ein moderner Biologe es vielleicht tun würde: »Frag einen Physiker«, sondern er würde auf einen Tintenfisch zei- gen und sagen: Das. Die Wissenschaft, die Aristoteles begann, ist groß geworden, aber seine Nachkommen haben ihn so gut wie vergessen. In einigen Bezirken von Lon- don, Paris, New York und San Francisco kann man keinen Stein werfen, ohne einen Molekularbiologen zu treffen. Aber fragt man ihn dann, nach- dem man ihn niedergestreckt hat, was Aristoteles getan hat, erntet man bes- tenfalls ein verwirrtes Stirnrunzeln. Doch Gesner, Aldrovandi, Vesalius, Fab- ricius, Redi, Leeuwenhoek, Harvey, Ray, Linné, Geoffroy Saint-Hilaire père et fils und Cuvier – um nur einige von vielen zu nennen – haben ihn gelesen. Sie nahmen die Struktur seiner Gedanken in sich auf. Und so wurden seine Gedanken zu unseren Gedanken, selbst wenn wir nichts davon wissen. Seine Konzepte fließen wie ein unterirdischer Fluss durch die Geschichte unserer Wissenschaft und treten hier und da als Quelle zutage als scheinbar neue Ideen, die jedoch tatsächlich schon sehr alt sind.* Dieses Buch ist eine Erforschung der Quelle: die großartigen wissen- schaftlichen Arbeiten, die Aristoteles schrieb und am Lyzeum lehrte. Groß- artig, aber auch rätselhaft, weil die Bedingungen seiner Gedankenwelt selbst so weit von uns entfernt sind, dass sie schwer zu verstehen sind. Er muss übersetzt werden – nicht nur ins Deutsche, sondern in die Sprache der modernen Wissenschaft. Das ist natürlich ein gefährliches Unterfangen: Stets lauert die Gefahr, ihn falsch zu übersetzen, ihm Ideen zuzuschreiben, die er gar nicht gehabt haben kann.

* »Man braucht die Lehren und Schriften der großen Meister des Altertums, eines Platon und Aristoteles, nicht zu kennen, man braucht ihre Namen nie gehört zu haben, und man steht darum doch nicht weniger im Bann ihrer Autorität.« – Theodor Gomperz (1911), Griechische Denker, Band 1, S. 422.

Leroi_Lagune.indd 19 15.08.17 13:53 20 Die Lagune

Die Gefahr ist groß, wenn der Übersetzer ein Wissenschaftler ist. Wir geben im Allgemeinen schlechte Historiker ab. Uns fehlt die historische Ver- anlagung, die Vergangenheit in ihrer Eigenständigkeit zu begreifen. Weil wir so beschäftigt mit unseren eigenen Theorien sind, tendieren wir dazu, sie in allem wiederzuerkennen, was wir lesen. Der französische Wissenschaftshisto- riker Georges Canguilhem formulierte es so: »Die Vereinbarung, Vorgänger zu suchen, zu finden und zu feiern, ist das deutlichste Symptom für einen Mangel an Begabung für die erkenntnistheoretische Kritik.« Der ad-homi- nem-Tonfall des Epigramms mag uns dazu verleiten, seine Wahrhaftigkeit zu bezweifeln. Es missachtet auch den Umstand, der jedem Wissenschaftler, wenn auch vielleicht nicht allen Historikern, geläufig ist, dass nämlich Wis- senschaft tatsächlich kumulativ ist, dass wir wirklich Vorgänger haben und dass wir auch wissen sollten, wer sie waren und was sie wussten. Dennoch steckt ein Unbehagen verursachender Splitter Wahrheit darin. All dies sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man dieses Buch liest. Doch ich will auch eine Verteidigung wagen, eine apologia des Wissenschaft- lers, wenn man so will. Aristoteles’ großes Thema war die lebendige Welt in all ihrer Schönheit. Es scheint daher möglich, einen Gewinn daraus zu ziehen, wenn man ihn wie einen Biologen liest. Schließlich sind unsere Theorien nicht nur durch die Abstammung miteinander verknüpft, sondern auch durch die Tatsache, dass sie dieselben Phänomene zu erklären versuchen. Es könnte also tatsächlich sein, dass sie sich von unseren gar nicht so sehr unterscheiden. Im 20. Jahrhundert begann eine Generation großer Gelehrter, Aristo- teles’ biologische Arbeiten nicht als Naturgeschichte, sondern als Naturphilo- sophie zu untersuchen. David Balme (London), Allan Gotthelf (New Jersey), Wolfgang Kullmann (Freiburg), James Lennox (Pittsburgh), Geoffrey Lloyd (Cambridge) und Pierre Pellegrin (Paris) schenkten uns einen neuen, aufre- genden Aristoteles. Ihre Entdeckungen tauchen auf jeder Seite dieses Buches auf (auch wenn jeder von ihnen mit einem Großteil des Buches nicht einver- standen sein wird oder gewesen wäre, nicht zuletzt, weil sie untereinander so häufig verschiedener Meinung waren). Daher beanspruche ich hier auch keine besondere Originalität. Ich stelle mir jedoch gern vor, dass ein Wissen- schaftler, und sei es nur gelegentlich, in Aristoteles’ Schriften etwas sehen kann, das die Philologen und Philosophen übersehen haben. Denn manchmal gehen seine Worte jedem Biologen direkt zu Herzen, wenn er uns zum Beispiel sagt, warum wir Lebewesen studieren sollten. Wir müssen ihn uns in den marmornen Säulengängen des Lyzeums vorstellen, wie er zu einer Gruppe aufsässiger Schüler spricht. Er deutet auf einen Hau- fen tintenfleckiger Tintenfische hin, die in der attischen Sonne verwesen. Sucht euch einen aus, sagt er, schneidet ihn auf, öffnet ihn, seht hin. »…?«

Leroi_Lagune.indd 20 15.08.17 13:53 bei erato 21

Verzweifelt versucht er, es ihnen zu erklären:

Wir sollten nicht wie Kinder mit Abscheu auf die Untersuchung von weniger hohen Tieren reagieren. Es steckt etwas Ehrfurchtgebietendes in allen natür- lichen Dingen. Man erzählt sich, dass Fremde einmal Heraklit sehen woll- ten. Sie kamen näher, sahen aber, dass er sich am Ofen wärmte. »Sorgt euch nicht!«, sprach er. »Kommt herein! Hier drinnen gibt es auch Götter.« Ähnlich sollte man sich der Forschung an Tieren jeder Art ohne Zögern nähern. Denn jedem wohnt etwas Natürliches und Schönes inne. Nichts ist zufällig in der Natur: Schlichtweg alles dient etwas anderem zu einem bestimmten Zweck. Der Zweck, aus dem jedes Ding entstanden ist oder entstehen wird, verdient seinen Platz unter dem, was schön ist.

Gelehrte nennen es »Die Einladung zur Biologie«.

sēpia – Gewöhnlicher Tintenfisch – Sepia officinalis

Leroi_Lagune.indd 21 15.08.17 13:53 Leroi_Lagune.indd 22 15.08.17 13:53 Die Insel

Leroi_Lagune.indd 23 15.08.17 13:53 Kisthos – Zistrose – Cistus sp.

Leroi_Lagune.indd 24 15.08.17 13:53 die insel 25

III

anz klar ist die Sache nicht. Wie kam Aristoteles zur Biologie? Wie erfindet man überhaupt eine Wissenschaft? G Als Erster erzählte D’Arcy Wentworth Thompson die Geschichte. Oder zumindest sorgte er für das chronologische und geografische Gerüst. Im hohen Alter wurde er mit Über Wachstum und Form berühmt, dem exzentri- schen, wunderbaren Buch, das er über das Thema schrieb, warum Lebewesen die Form haben, die sie haben. Aber 1910 war Thompson ein dilettantischer Versager. In Cambridge hatte er brillante Leistungen erbracht und war mit nur 24 Jahren an den Lehrstuhl für Zoologie am University College Dundee berufen worden. Er war unermüdlich in seiner Arbeit, lehrte, hielt Vorträge für das einfache Volk, schrieb Leserbriefe an den Dundee Courier, sammelte Ausstel- lungsstücke für ein zoologisches Museum (ein Schnabeltier war sein besonde- rer Triumph), reiste an die Beringsee, um die Robbenfischerei zu erforschen, und reichte philologische Notizen in der Classical Review ein – doch er veröffent- lichte kaum wissenschaftliche Forschungsarbeiten. Als er 28 war, riet ihm sein alter Tutor aus Cambridge eindringlich, endlich Wissenschaft zu betreiben, bevor es zu spät sei. Als er 38 war, schrieb ihm ein anderer Freund aus Cam- bridge: »Ich möchte dir nahelegen, von nun an mehr wissenschaftliche Arbei- ten vorzulegen.« Thompson quälte sich und veröffentlichte 1895 seine Arbeit A Glossary of Greek Birds, in der er alle Vögel einordnete und identifizierte, die in den alten griechischen und ägyptischen Texten erwähnt wurden. Seine Kolle- gen waren wenig beeindruckt. Also brachte Thompson 1910 auch noch eine Übersetzung von Aristoteles’ Historia animalium heraus. In Thompsons Händen erlangt Aristoteles’ gequälte Prosa eine zurück- haltende Erhabenheit: »Alle lebend gebärenden Vierfüßer sind sodann mit einer Speiseröhre und einer Luftröhre ausgestattet, an derselben Stelle wie im Menschen; dasselbe gilt für Eier legende Vierfüßer und Vögel, nur dass bei Letzteren eine Verschiedenartigkeit in der Form dieser Organe festzustel- len ist.« Oder: »Bei den Eier legenden Fischen ist der Vorgang der Begattung der Beobachtung weniger zugänglich.« Oder: »An vielen Orten ist das Klima für bestimmte Besonderheiten verantwortlich; so ist der Esel in Illyrien, Thrakien und Epirus klein …« Thompson wandte sein zoologisches Wissen an, um die Lebewesen zu identifizieren, die Aristoteles beschrieb. In Arabien, so Aristoteles, gibt es eine

Leroi_Lagune.indd 25 15.08.17 13:53 26 Die Lagune

Maus, die viel größer ist als unsere Feldmaus, »die Hinterbeine eine Spanne lang und die Vorderbeine von der Länge des ersten Fingerglieds«. »Dies«, schreibt Thompson in einer Fußnote, »ist eine Springmaus, Dipus aegyptiacus, oder eine verwandte Art« – was die Ausführungen sofort klarer macht. Stel- lenweise drohen seine Anmerkungen den Text zu erdrücken: »Bei ῥιvόβατος handelt es sich vermutlich um die moderne Gattung Rhinobatus, die Squatinori- aia Willughbys und anderer älterer Autoren, darunter R. columnae, sowie andere Arten, die auf den griechischen Märkten häufig anzutreffen sind.ῥίνη ist wahrscheinlich der Engelhai Rhina squatina (Squatina laevis, Cuv.), der selbst irgendwo zwischen den Haien und den Rochen steht.« (Jahre später sollte Thompson ein Pendant zu A Glossary of Greek Birds mit dem Titel A Glossary of Greek Fishes veröffentlichen.) Wie Thompson schreibt, und man liest hier eine Spur Verzweiflung heraus: »Aristoteles’ Wissen der Naturkunde zu annotie- ren, zu illustrieren und zu kritisieren ist eine endlose Aufgabe …« Die wichtigsten Zeilen in Thompsons Historia animalium stehen in der Ein- leitung. Sie kommen mit so wenig Brimborium aus, dass sie leicht zu überle- sen sind:

Ich glaube, es lässt sich zeigen, dass Aristoteles sein Studium der Naturkunde wenigstens größtenteils im mittleren Lebensalter durchführte, zwischen seinen beiden Aufenthalten in Athen, und dass die von Land umgebene Lagune in Pyrrha zu seinen liebsten Jagdgebieten zählte.

Pyrrha, so Thompson weiter, befand sich auf der ägäischen Insel Lesbos.*

IV

m Westen verströmt Lesbos die nüchterne Klarheit der Kykladen. Die Landschaft ist eine Komposition aus Rot, Ocker und Schwarz. Verant- Iwortlich für die Farben ist vulkanisches Tuffgestein, erodierte Pyroklasten und Basalte, die vor 20 Millionen Jahren bei Vulkanausbrüchen entstanden. Die spärliche Pflanzendecke besteht aus der dornigen xerophytischen Fauna der ägäischen Phrygana, inmitten derer ein paar dürre Schafe zwischen Steinmauern zu grasen versuchen, die sich in geometrischen Gittern über die

* Meine lesviotischen Freunde mögen mir nachsehen, dass ich die Insel »Lesbos« nenne und nicht »Lesvos« nach ihrem offiziellen heutigen Namen, da sie Aristoteles in dieser Form be- kannt war und auch den meisten Lesern so bekannt sein dürfte.

Leroi_Lagune.indd 26 15.08.17 13:53 die insel 27

Berghänge ziehen. Im Osten jedoch ist die Insel üppig und grün. Über die Hänge des Olympos, einem Bergmassiv aus Schiefer, Quarzit und Marmor, ziehen sich Eichenwälder (Quercus ithaburiensis macrolepis und Q. pubescens) und in den größten Höhen finden sich dichte Bestände von Edelkastanien und harzreichen Kalabrischen Kiefern. Wasserschildkröten und Aale schwim- men in den Flüssen und Störche nisten in den Kaminen verlassener Ouzo- Fabriken. Im Frühling leuchtet in den Tälern die seltene asiatische Gelbe Azalee (Rhododendron luteum) und Teppiche aus Mohnblumen bedecken die Böden der Olivenhaine in den Ebenen. Dank ihrer Lage zwischen der euro- päischen und der asiatischen Landmasse mischt sich auf der Insel die Flora aus beiden Kontinenten und ist daher außergewöhnlich artenreich. 1899 be- schrieb der griechische Botaniker Palaiologos C. Cantartzis 60 neue endemi- sche Arten in seiner La végétation de l’île de Lesbos (Mytilène, Université de Paris, Sorbonne). Fast alle sind ungültig, aber selbst seine konservativeren Nachfol- ger zählen 1400 Pflanzenarten, darunter 75 Orchideen. Kolpos Kalloni trennt die beiden Welten. Der 22 Kilometer lange und zehn Kilometer breite Wasserkörper liegt durch eine schmale, gewundene Meerenge geschützt vor dem offenen Meer und teilt die Insel fast in zwei Hälften. Er wird häufig als Lagune bezeichnet, tatsächlich handelt es sich aber um ein Binnenmeer der Art, die von den Ozeanografen als bahira bezeichnet wird. Er gehört zu den nährstoffreichsten Wasserkörpern in der östlichen Ägäis. Die Flüsse aus den umgebenden Hügeln tragen die Nähr- stoffe ein und versorgen so das Phytoplankton mit Nahrung, das im Vorfrüh- ling das Wasser grün färbt. Die Seegraswiesen in den flachen Teilen dienen Brachsen, Barschen und Schwimmkrabben als Kinderstube. Die sanften Hänge seines schlammigen Bettes werden nur von uralten Austernriffen unterbrochen – erwähnt man jedoch Kalloni im Gespräch mit einem Grie- chen, wird er von seinen Sardinen schwärmen, die am besten gesalzen schme- cken und mit Ouzo Plomari hinuntergespült werden. Das Salz stammt aus der Fabrik am nördlichen Ende der Lagune. Ein Labyrinth aus Kanälen leitet das Salzwasser in immer höheren Konzentrati- onen von Pfanne zu Pfanne. In den gesättigten Lösungen bilden sich große Kristalle auf Ästen und Steinen, die unter Teppichen von Europäischem Queller und Strandflieder glitzern. In den innersten Pfannen wird das Salz zu einer rauen, öden Decke, die dann aufgebrochen und zu gewaltigen wei- ßen Pyramiden angehäuft wird. Rostige Geräte stehen überall herum, sind jedoch selten im Einsatz zu sehen – die Salzernte ist ein ruhiges Geschäft. Die Ökologie der Salzpfannen ist sehr einfach. Salzliebende Algen werden von Salinenkrebsen und Salzfliegenlarven gefressen, die ihrerseits von Schwär- men von Rosaflamingos, Stelzenläufern und einer Vielzahl von Schnepfen- vögeln und Regenpfeifern aus dem Wasser gesiebt und gepickt werden. Nur

Leroi_Lagune.indd 27 15.08.17 13:53 28 Die Lagune

ein Fisch, der Zebrakärpfling Aphanius fasciatus, kann in der bitteren, heißen Salzbrühe leben und wird von den Schwarzstörchen und Braunen Sichlern gefressen, die durch die Kanäle waten, sowie von mehreren Seeschwalbenar- ten, die vom Himmel herabstoßen. Im Frühling und im Herbst sind die Salz- pfannen und die umliegenden Sümpfe ein Ruheplatz für Tausende von Zug- vögeln auf der Reise zwischen Afrika und dem Norden.

V

ristoteles ist weder Geograf noch Reiseschriftsteller, aber erstaunlich viele Passagen in seinen Arbeiten beziehen sich auf Kalloni, das er Aals Pyrrha kannte, nach einer Stadt an seinem östlichen Ufer. Die Häufigkeit dieser Passagen brachten D’Arcy Thompson auf seine Vermu- tung, dass Aristoteles hier einen großen Teil seiner biologischen Forschungen betrieb. Viele davon finden sich in seiner großen Abhandlung zur kompa- rativen Zoologie, Historia animalium. Sie erzählen von den Tieren, die die La- gune bewohnen. Eine Zusammenfassung dieser Passagen zu einem biologi- schen Baedeker würde sich etwa so lesen:

Die Fische von Lesbos laichen in der Lagune bei Pyrrha. Einige der Fische – hauptsächlich die Eier legenden – schmecken im Frühsommer am besten, andere – Meeräschen und die Knorpelfische – im Herbst. Im Winter ist die Lagune kälter als das offene Meer; daher schwimmen die meisten Fische bis auf die Meergrundel aus der Lagune fort und kehren erst im Sommer wieder. Die weiße Meergrundel ist kein Meeresfisch, ist aber ebenfalls dort zu finden. Weil es im Winter keine Fische gibt, bleibt mehr Nahrung für die essbaren Seeigel der Meerenge – deshalb sind sie dann besonders reich an Rogen und wohlschmeckend, wenn auch klein. Es gibt Austern in der Lagune. (Einige Bewohner von Chios kamen nach Lesbos herüber und versuchten, sie in die Gewässer um ihre eigene Insel umzusetzen.) Einst gab es auch zahlreiche Jakobsmuscheln, aber Schleppnetze und Trockenheit haben sie verschwinden lassen. Die Fischer sagen auch, dass die Seesterne nahe dem Eingang zur Lagune besonders lästig seien. Obwohl die Lagune so viele Lebensformen be- herbergt, ist eine Reihe von Arten dort nicht zu finden: Papageifische, Alosinae, Dornhaie. Auch keiner der anderen leuchtend bunten Fische ist dort anzutref- fen, genauso wenig wie Langusten, der Gemeine Krake oder der Moschuskrake. Die Murex-Schnecken von Lectum, einem Festlandkap gegenüber Lesbos, sind von besonderer Größe.

Leroi_Lagune.indd 28 15.08.17 13:53 die insel 29

kobios – Grundel – Gobius cobitis

So geschrieben, zeichnen Aristoteles’ Bemerkungen über die Lagune und ihre Lebewesen ein Porträt der Lagune, wie sie vor 23 Jahrhunderten aussah, vielleicht das älteste Porträt eines Naturortes, das wir haben.* Heute ist kaum noch etwas von der alten Stadt Pyrrha übrig – Strabo schreibt, sie wurde zerstört (durch ein Erdbeben im 3. Jahrhundert v. Chr.) –, aber die Biologie stimmt noch immer. Die Lagune ist heute noch reich an Austern, allerdings werden sie inzwischen tonnenweise nach Nordeuropa exportiert. Bis vor Kurzem gab es dort auch noch Jakobsmuscheln. Tatsächlich beklagte sich ein Fischer bei uns, dass es früher Jakobsmuscheln am Eingang zur Lagune gab, dass aber die Schleppnetzfischerei sie vor zwanzig Jahren fast vollständig aus- gelöscht hätte. Offenbar unterlag die Jakobsmuschelpopulation von Kalloni in den letzten 23 Jahrhunderten einigen Schwankungen und die Einheimi- schen haben sich schon immer darüber beschwert. Die Fischer bestätigen auch, dass die Fische jährlich zum Laichen in die Lagune und wieder hinaus wandern, dass es dort aber keine Papageifische, Alosinae oder Dornhaie gibt. Einiges hat sich seit Aristoteles’ Zeit jedoch auch verändert in der Lagunen- fauna. Damals gab es keine Kraken, heute hingegen schon – ich habe selbst mehrere gefangen und gegessen. Und trotz ihrer Auffälligkeit erwähnt Aris- toteles die Flamingos nicht – weil sie erst vor einigen Jahrzehnten in die Lagune zogen.

* Wenn Aristoteles das Meer bei Pyrrha nennt, meint er gewöhnlich die euripos oder »Meerenge«, den Eingang zur Kolpos Kolloni. Die Lagune selbst wird treffender beschrieben als limnothala- ssa oder »Seemeer«.

Leroi_Lagune.indd 29 15.08.17 13:53 30 Die Lagune

VI

ber alle Griechen interessierten sich für Fische. Schon als Aristoteles im Lyzeum Vorlesungen zu Fischen und ähnlichen Lebewesen hielt, Aarbeitete auf Sizilien ein gewisser Archestratos an einem Buch über sie in Versform. Darin ging es ausschließlich darum, wann und wo man sie am besten fängt und wie man sie anschließend am besten zubereitet. Wenn man ins Land von Ambrakia (West-Griechenland) komme, mahnte Archest- ratos, müsse man einen »Eberfisch« (Wels) kaufen, auch wenn er sein Ge- wicht in Gold koste! Aber die Jakobsmuscheln kaufe man lieber auf Lesbos, die Muränen aus den Meerengen von Italien und den Thunfisch aus Byzanz (in Scheiben schneiden, mit Salz bestreuen, mit Öl bestreichen, backen und heiß verzehren). Er betitelte sein Buch mit Leben im Luxus. Für die Griechen gehörten Fische zum Geltungskonsum: weniger Gegenstand von Philosophie als Gegenstand der Begierde. Was bringt also einen Mann dazu, seinen Fisch nicht zu essen, sondern ihn zu sezieren?

VII

icht, dass es vor Aristoteles keine Wissenschaft – oder zumindest Naturphilosophie – gegeben hätte, denn davon gab es reichlich. NZum Zeitpunkt seiner Geburt waren an den Küsten Anatoliens und Italiens philosophische Schulen, die sich eingehend mit dem Verständnis des Wesens der physikalischen Welt beschäftigten, entstanden und wieder ver- gangen. Die Griechen nannten diese Philosophen physiologoi, wörtlich »die über die Natur berichten«. Viele von ihnen waren kühne Theoretiker. Sie liebten Systeme, die mit pauschalen Begriffen den Ursprung der Welt erklär- ten, ihre mathematische Ordnung, das Material, aus dem sie besteht, und die Gründe, warum sie so viele verschiedene Dinge enthält. Andere waren Em- piriker, die versuchten, den Himmel oder die Intervalle von Tonleitern zu vermessen. In ihren Schriften finden sich einige Zutaten der modernen Wis- senschaft, auch wenn sie selten erahnen lassen, ob sie ihre Theorien anhand der Beobachtungen überprüften, die sie machten. Ihre Erklärungen zielten eher auf natürliche als auf göttliche Kräfte ab.

Leroi_Lagune.indd 30 15.08.17 13:53