Kultur Ein wie tausend Möwen Nahaufnahme: sind keine Retortenband. Sie lösen Hysterien aus. Ihre neue CD ist ein Meilenstein.

eit vorigem Wochenende hat die Welt mir keiner sagen, dass sich das ein Mana- menschen Bill, der schwerelos über die eine neue CD von Tokio Hotel. Sie ger ausgedacht hat! Bühne fegt, vor sich das wogende Kornfeld Sheißt „Der letzte Tag“ und enthält das Bei ihrem letzten Konzert in der Schal- der Menschenmassen, die Tausenden pa- erste neue Musikmaterial der Gruppe seit ker Glückauf-Kampfbahn schreien 20000 rallel hin und her schwenkenden Arme, ihrem sensationellen Debütalbum „Schrei“ Fans nonstop. Ein zigtausendfaches Ge- auch nicht in schwerer körperlicher Inter- vor einem Jahr. Die Jungs hören sich nun kreisch fliegender Möwenschwärme, das aktion mit einer kräftigen Frau vorstel- inhaltlich reifer an. Sie sind melancholi- beim ersten Auftreten von Bill Kaulitz zu len. Als ich ihm bei der Begrüßung das scher, gitarrenlastiger, nirvanahafter. Das einem ganz anderen Geräusch wird, für erste Mal die Hand gab, setzte er sich da- liegt daran, dass Bill jetzt anderthalb Töne das es keine Worte gibt. Frauen in Grusel- nach sofort auf den Boden. Die vielen tiefer singt – der Stimmbruch hat ihn end- filmen schreien so, wenn King Kong auf sie Ketten, Ringe, Totenköpfe kullerten mit lich erwischt. Wie die Beatles hatten Tokio zuwankt. Oder bestimmte Nagetiere, ich ihm zu Tal; dieser Händedruck hatte ihn Hotel mit dem Vorurteil zu kämpfen, sie weiß nicht, welche… einfach zu sehr erschöpft! Er blieb dann seien „gemacht“, in einer Art Stilkam- Aber warum haben sie keine Freundin? erst mal unten, und ich sprach von oben pagne. Dümmer kann man über solche Phä- „Wir haben keine Freundin!“, rufen sie auf ihn ein. nomene der Musikgeschichte nicht reden. unisono aus, mehrmals am Tag, wenn die Die übrigen beiden Jungs, Gustav und Bill Kaulitz, 16, Sänger und Songschrei- Presse anklingelt. Ja, warum? Ist das nicht Georg, haben ganz normalen Groupie-Sex. ber der Gruppe, hat einfach das perfek- seltsam? Darf das sein? Wahr ist zweierlei. Aber sie, diese so normalen Jungs, spielen te Gesicht. Vor ihm hatte ei- ja nur die Rollen von Ringo gentlich nur die junge Liz Tay- Starr und George Harrison. Sie lor solch ein perfektes Gesicht waren von Anfang an dabei und gehabt. werden deshalb auch bis zum Wie alle echten Superstars hat Ende mitmachen. Die vier sind er – und die aufgerissenen Au- eben echte Freunde, das wer- gen, die eigene Begeisterung, den die Manager nie verstehen. das Entrücktsein drücken es aus Sind sie die neuen Beatles? – etwas vollkommen Durchge- Ist das wirklich möglich, nach knalltes. Er ist Manie pur. Ihn über 40 Jahren? hat niemand gemacht. Er ist so, Ein Musikwissenschaftler be- wie er vor uns steht, schon mit stätigt die These. Er will nicht neun Jahren gewesen. namentlich zitiert werden; ge- Bills eineiiger Zwillingsbru- standene Pop-Theoretiker wie der Tom Kaulitz sieht ihm ähn- Diedrich Diederichsen würden lich und ist gleichzeitig konträr. ihn dafür wahrscheinlich be- Er wirkt vollkommen vernünf- schimpfen. Aber die Fakten

tig. Auf der Bühne sorgt er für (U.) / FOTEX.DE SRETEN KONSTANTINOVIC (O.); PETER ENDIG / DPA stehen. den soliden Sound-Teppich, auf Sänger Bill Kaulitz, Fans: Ein Gesicht wie die junge Liz Taylor Tokio Hotels bekannter Hit dem Bruder Bill, exzentrischer „Jung und nicht mehr jugend- Frontmann und Blickfang, turnt wie ein Erstens: Die weiblichen Fans, obwohl erst frei“ bringt die Harmonien Es-B-C genau ukrainisches Olympiamädchen. an der Schwelle zur Pubertät oder mitten- wie bei „Let It Be“, dem letzten Nummer- Kaum eine andere Band seit Erfindung drin, werfen tatsächlich immer ihre BHs eins-Treffer der Fab Four. der Tonträger hat so viele Konzertkarten in auf die Bühne. Zu Tausenden rufen sie Und der absolute Superhit „Durch den Deutschland verkauft wie Tokio Hotel. Kri- „Wir wollen eure Schwänze sehn!“ Und Monsun“ besticht durch eine verhältnis- tiker sagen, das liege am Management, das singen dann umso lauter die Songs mit, mäßig gehobene Harmonieführung, E-E4- möglichst viel Geld aus dem Tokio-Hype was so klingt, als würden 10000 Kinder aus C-C4-D-A, was musikalisch sehr interes- schlagen wolle; und im Zeitalter der Raub- voller unschuldiger Kehle „Alle Vöglein sant ist und nicht standardisiert, und einer kopien gehe das nur noch über den Kar- sind schon da“ singen. Einstiegsterz wie bei „Tell Me Why“ von tenverkauf. Falsch! Die Jungs sind tatsäch- Alles irgendwie paradox, vor allem, den Beatles. lich süchtig nach Auftritten. wenn man bedenkt, dass die meisten ihre Das alles mag die Klasse bestätigen, das Bill redet nach jedem Lied mit den Fans. Eltern dabeihaben! Deutschland ist eben Niveau, auf dem Tokio Hotel spielt – ein Er fragt sie aus, er berichtet von sich, und das Land der lieben Eltern geworden. Also Plagiatsvorwurf wird nie daraus. Die smar- immer redet er in so einem künstlich atem- der alleinerziehenden lieben Elternteile. ten Jungs würden das mühelos mit einem losen, euphorischen Tonfall, einer Art Die Single-Väter gucken dann eher auf die frechen Spruch kontern. Etwa: „Auf alten selbstgebasteltem Jugenddialekt, bei dem scharfen Mütter der anderen Kids als auf Schiffen lernt man segeln“ (Gustav, der die Endsilben geschleift, die Worte wie die Bühne. Und wenn Haschischschwaden Drummer). in Kindersprache verkürzt werden. Das durchs Stadionrund ziehen, stammen die Das galt zwar der Frage, wie er zu Sex Wort „anders“ singt er wie „andaas“, aus von den Mamas und den Papas. mit erwachsenen Groupies stehe, passt „nicht“ wird immer „nich“, aus „beschis- Zweitens: Die Kaulitz-Brüder sind wirk- aber auch auf all die anderen drängenden sen“ wird „beschissn“ und so weiter. Kann lich gerade solo. Man kann sich den Luft- Fragen. Joachim Lottmann

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