5 2014 ifo Schnelldienst 67. Jg., 10.–11. KW, 13. März 2014

Zur Diskussion gestellt Hans Fehr, Martin Werding, Axel Börsch-Supan, Alfred Boss, Jörg Asmussen, Enzo Weber, Markus Kurth Geplante Rentenreform: Größere Gerechtigkeit oder falsches Signal?

Vortrag Martin Zeil Ist die Marktwirschaft noch sozial?

Daten und Prognosen Michael Ebnet Branche im Blickpunkt: Das Textil- und Bekleidungsgewerbe in Europa

Stefan Sauer und Klaus Wohlrabe ifo Investorenrechnung: Neue Ergebnisse für das Jahr 2011

Wolfgang Nierhaus Einführung des ESVG 2010: Auswirkungen auf das Bruttoinlandsprodukt

Im Blickpunkt Christoph Weissbart und Julian Dieler Kurz zum Klima: Ausbau des Stromnetzes in Deutschland

Erich Gluch ifo Architektenumfrage: Deutlich erhöhte Auftragsbestände

Klaus Wohlrabe ifo Konjunkturtest Februar 2014

Institut Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e.V. ifo Schnelldienst ISSN 0018-974 X

Herausgeber: ifo Institut, Poschingerstraße 5, 81679 München, Postfach 86 04 60, 81631 München, Telefon (089) 92 24-0, Telefax (089) 98 53 69, E-Mail: [email protected]. Redaktion: Dr. Marga Jennewein. Redaktionskomitee: Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Werner Sinn, Dr. Christa Hainz, Annette Marquardt, Dr. Chang Woon Nam. Vertrieb: ifo Institut. Erscheinungsweise: zweimal monatlich. Bezugspreis jährlich: Institutionen EUR 225,– Einzelpersonen EUR 96,– Studenten EUR 48,– Preis des Einzelheftes: EUR 10,– jeweils zuzüglich Versandkosten. Layout: Pro Design. Satz: ifo Institut. Druck: Majer & Finckh, Stockdorf. Nachdruck und sonstige Verbreitung (auch auszugsweise): nur mit Quellenangabe und gegen Einsendung eines Belegexemplars. ifo Schnelldienst 5/2014

Zur Diskussion gestellt

Geplante Rentenreform: Größere Gerechtigkeit oder falsches Signal? 3

Nach Meinung von Hans Fehr, Lehrstuhl für Finanzwissenschaft, Universität Würzburg, belastet der aktuelle Gesetzentwurf zur Reform der Rentenversiche- rung pauschal die Beitragszahler, konterkariert die eingeleitete Anhebung des Rentenzugangsalters und hilft nur wenig gegen die künftig steigende Altersarmut Martin Werding, Universität Bochum, sieht in den Reformpläne der Großen Koali- tion eine Vernachlässigung der Verbesserung der längerfristigen Perspektiven für die Rentenfinanzierung. Für Axel Börsch-Supan, Max-Planck-Institut für Sozial- recht und Sozialpolitik, München, sind die Beschlüsse der neuen Großen Koalition »kurzsichtig und einseitig: Die Wohltaten kommen der älteren Generation zugute, während es die zukünftigen Beitragszahler finanzieren müssen, die ohnehin durch den demographischen Wandel gebeutelt werden.« Alfred Boss, Institut für Welt- wirtschaft Kiel, bezeichnet die Rentenreform als einen Schritt in die falsche Rich- tung, die Verlieren seien die nicht begünstigten Rentner und die Beitragszahler. Jörg Asmussen, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, stellt die Überlegun- gen der Regierungskoalition vor. Er unterstreicht, dass an einer demographiefes- ten Rentenversicherung festgehalten wird, aber mit dem Rentenpaket gerechtere Ansprüche geschaffen werden. Nach Ansicht von Enzo Weber, IAB, Nürnberg, und Universität Regensburg, passen nicht alle Teile des Rentenpakets in eine wirksame Gesamtstrategie. In der Summe der finanziellen Belastungen werden Chancen auf eine Stärkung von Erwerbsanreizen durch eine Beitragssenkung vertan. Markus Kurth, MdB, Bündnis 90/Die Grünen, sieht durch die Rentenpläne Spielräume für die sozialpolitisch wichtigen Verbesserungen auf Jahre zugestellt.

Vortrag

Ist die Marktwirtschaft noch sozial? 26 Martin Zeil In seinem Vortrag setzt sich Martin Zeil, Bayerischer Staatsminister a.D., mit der »Sozialen Marktwirtschaft« auseinander. Er stellt ihre Wurzeln und ihr Konzept vor und beschreibt ihren stabilisierenden Einfluss in der zurückliegenden Wirt- schafts- und Finanzmarktkrise.

Daten und Prognosen

Branche im Blickpunkt: Das Textil- und Bekleidungsgewerbe in Europa und Deutschland – Totgesagte leben länger 35 Michael Ebnet Das Bekleidungsgewerbe in Europa hat weite Teile seiner industriellen Basis ver- loren. In deutlich eingeschränkterem Maße trifft dies mittlerweile auch für das Textilgewerbe zu. Dennoch können sich die Textil- und Bekleidungsunternehmen einiger weniger europäischer Länder vergleichsweise gut in dem wie kaum ein anderer Industriesektor von der internationalen Arbeitsteilung geprägten Gewerbe behaupten. Hierzu zählen insbesondere Vertreter der deutschen Textil- und Beklei- dungsbranche, die sich seit der Wirtschaftskrise 2008/09 nicht nur besser als der EU-Durchschnitt, sondern auch als fast alle ihre westeuropäischen Kontrahenten entwickeltet haben. Im Textilgewerbe ist der Erfolg deutscher Firmen ihrer Fokus- sierung auf die (hoch-)technischen Textilsegmente zu verdanken. Doch auch hier machen inzwischen Textilunternehmen aus China der deutschen Branche ihre füh- rende Stellung streitig. Nichtsdestotrotz werden auch künftig deutsche Firmen im Geschäft mit Textilien und Mode erfolgreich national und international mitmischen. Neue Ergebnisse der ifo Investorenrechnung für das Jahr 2011 41 und Klaus Wohlrabe Die ifo Investorenrechnung ist ein umfangreiches Werkzeug zur Untersuchung wirtschaftlicher Entwicklungstendenzen und Verschiebungen der Investitions- strukturen in den Wirtschaftsbereichen Deutschlands. Unter Verwendung einer Vielzahl von Datenquellen liefert sie verdichtete Investitionsmatrizen für 50 Wirt- schaftszweige und zwölf Gütergruppen in Deutschland, die Aufschluss über den Anteil einzelner Produktgruppen an den Investitionen eines Wirtschaftszweigs geben. Dabei ist das Rechenwerk in seinen Aggregaten konsistent mit den Zah- len des Statistischen Bundesamtes nach WZ2008 und GP2002 abgestimmt. Der vorliegende Artikel beschreibt die aktuellsten Ergebnisse der ifo Investorenrech- nung für das Jahr 2011 und geht darüber hinaus besonders auf verschiedene Aspekte in Bezug auf Investitionen in Straßenfahrzeuge ein.

Zur Einführung des ESVG 2010: Auswirkungen auf das Bruttoinlandsprodukt 45 Wolfgang Nierhaus Im September 2014 werden vom Statistischen Bundesamt im Rahmen der nächsten großen Revision der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen erst- malig Ergebnisse nach dem neuen Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG 2010) präsentiert. Vorläufigen Schätzungen des Statistischen Bundesamts zufolge dürfte das nominale Bruttoinlandsprodukt in Deutschland auf Basis des ESVG 2010 und hier vor allem aufgrund der Verbu- chung von FuE-Aufwendungen als Investitionen in geistiges Eigentum um etwa 3% höher sein als das nach geltendem ESVG ermittelte Ergebnis. Für das Stich- jahr 2011 dürfte sich nach Eurostat die durchschnittliche Niveau-Anhebung des nominalen Bruttoinlandsprodukts in der EU auf 2,4% belaufen.

Im Blickpunkt

Kurz zum Klima: Ausbau des Stromnetzes in Deutschland – Stand und Pläne 49 Christoph Weissbart und Julian Dieler Dier Beitrag aus der »Kurz-zum-Klima«-Reihe beschreibt die Pläne und den aktu- ellen Stand des Ausbaus der Übertragungsnetze in Deutschland. ifo Architektenumfrage: Deutlich erhöhte Auftragsbestände 53 Erich Gluch Nach den Umfrageergebnissen des ifo Instituts hat sich das Geschäftsklima bei den freischaffenden Architekten zu Beginn des ersten Quartals 2014 etwas ver- bessert. Dies ist überwiegend auf eine optimistischere Einschätzung der Ent- wicklung in den kommenden sechs Monaten zurückzuführen, während sich die Lageurteile nur unbedeutend aufhellten. ifo Konjunkturtest im Februar 2014 in Kürze: Deutsche Wirtschaft optimistisch, aber nicht euphorisch 55 Klaus Wohlrabe Der ifo Geschäftsklimaindex für die gewerbliche Wirtschaft Deutschlands ist im Februar weiter gestiegen. Die aktuelle Geschäftslage ist von den Unternehmen deutlich besser bewertet worden als im Vormonat. Die Erwartungen an den wei- teren Geschäftsverlauf haben einen kleinen Dämpfer erhalten, bleiben jedoch weiterhin optimistisch ausgerichtet. Die deutsche Wirtschaft behauptet sich in einer wechselhaften Großwetterlage. Geplante Rentenreform: Größere Gerechtigkeit oder falsches Signal? Zur Diskussion gestellt 3

Sind die Rentenpläne der Großen Koalition ein Schritt zu größerer Gerechtigkeit, oder sind sie vor dem Hintergrund einer alternden Bevölkerung eine zu große Belastung für die zukünftigen Bei- tragszahler?

Herausforderungen der werbsminderungsrente wird sukzessiv auf Rentenpolitik: Steigende 2 Mrd. Euro ansteigen. Insgesamt sum­ Lebenserwartung und mieren sich die Kosten für das Gesamtpa­ ket bis 2030 auf rund 160 Mrd. Euro. Altersarmut! Die Finanzierung dieser Wohltaten ist auf­ Der aktuelle Gesetzentwurf zur Reform grund der gegenwärtig äußerst günstigen der Rentenversicherung belastet pauschal Budgetentwicklung der Rentenversiche­ die Beitragszahler, er konterkariert die ein­ rung vergleichsweise unproblematisch. Mit geleitete Anhebung des Rentenzugangs­ der steigenden Zahl sozialversicherungs­ alters und hilft nur wenig gegen die künftig pflichtiger Beschäftigter wachsen auch die steigende Altersarmut. Korrekturen sind Reserven der Rentenversicherung stetig deshalb dringend erforderlich. an. Eigentlich hätte deshalb zum 1. Janu­ Hans Fehr* ar der Beitragssatz von 18,9 auf 18,3% gesenkt werden müssen. Die Koalition Das Rentenpaket der konnte sich aber schnell darauf verständi­ Bundesregierung gen, den Beitragssatz konstant zu halten, was der Rentenversicherung rund 7 Mrd. Nach dem Ende Januar von der Bundes­ Euro jährlich einbringt. Die verbleibende regierung vorgelegten Gesetzentwurf zur Lücke wird künftig durch Abschmelzung Leistungsausweitung in der Rentenversi­ der Reserven finanziert, so dass nach ge­ cherung sollen vor allem drei Gruppen ab Juli diesen Jahres höhere Renten bezie­ genwärtiger Planung erst ab 2019 der Bei­ hen: Erstens werden Mütter von Kindern, tragssatz auf 19,7% erhöht werden muss. die vor 1992 geboren wurden, besser ge­ stellt, weil nun für jedes Kind zwei Jahre Wie ist nun dieses Gesamtpaket vor dem anstatt bisher lediglich ein Jahr als Erzie­ Hintergrund der alternden Bevölkerung hungszeit angerechnet werden (sog. Müt­ und der damit einhergehenden Belastun­ terrente). Damit erfolgt eine partielle Anglei­ gen für künftige Beitragszahler zu beur­ chung an die Behandlung von Kindern, die teilen? Auf den ersten Blick mag es ab 1992 geboren wurden. Pro Kind erhal­ durchaus gute Gründe für die beabsich­ ten deren Mütter bereits seit 1999 drei Jah­ tigten Rentenverbesserungen geben. re als Erziehungszeit angerechnet. Zwei­ Warum sollen Kinder in der Rentenversi­ tens sollen künftig Arbeitnehmer, die cherung je nach Geburtsjahr unterschied­ 45 Jahre Pflichtbeiträge (aus Beschäfti­ lich behandelt werden? Wer könnte ernst­ gung und Bezug von Arbeitslosengeld I, haft etwas dagegen haben, Arbeitneh­ Kranken- und Übergangsgeld) in die Ren­ mer, die lange körperlich hart gearbeitet tenversicherung eingezahlt haben, bereits haben, beim Rentenzugang etwas zu be­ zwei Jahre vor der Regelaltersgrenze ohne günstigen? Und schließlich kann es doch Abschläge in die Rente gehen können. nicht sein, dass hierzulande Erwerbsmin­ Drittens sollen die Anrechnungsjahre für derung häufig zu Altersarmut führt. künftige Zugänge in die Erwerbsminde­ rungsrente um zwei Jahre heraufgesetzt Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass werden. Ganz grob belaufen sich ab 2015 die Bundesregierung für ihr Rentenpaket die jährlichen Mehrausgaben für die Müt­ in der Bevölkerung breite Zustimmung er­ terrente auf rund 6 Mrd. Euro, der vorzei­ fährt. Laut Umfragen befürwortet eine tige abschlagsfreie Rentenzugang wird mit deutliche Mehrheit die geplante Erhöhung etwa 3 Mrd. Euro jährlich veranschlagt, der Mütterrente und die abschlagsfreie und die Leistungsausweitung bei der Er­ Rente für langjährig Versicherte. Bei etwas

* Prof. Dr. Hans Fehr ist Inhaber des Lehrstuhls für genauerer Betrachtung wird jedoch Finanzwissenschaft an der Universität Würzburg schnell klar, dass das anvisierte Reform­

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paket ökonomisch extrem kurzsichtig und nicht nachhaltig pro Jahrzehnt. Der wesentliche Grund dafür ist der Rückgang ist. In der veröffentlichten Meinung wird daher überwiegend der Sterblichkeit im Alter über 80. Für Deutschland bedeutet massive Kritik an den Rentenplänen geübt. dies, dass die Lebenserwartung bei Geburt zwischen den Jahrgängen 1990 und 2010 von 75 Jahren auf über 80 Jah­ re ansteigt (vgl. www.mortality.org). Diese Zahlen sind ein Mütterrente ist zumindest falsch finanziert! Sprengsatz! Wer kann ernsthaft erwarten, dass dieser Zu­ wachs an Lebenszeit allein durch längeren Ruhestand ab­ Im Hinblick auf die Mütterrente muss zunächst einmal geklärt sorbiert werden kann? Vor diesem Hintergrund erscheint die werden, warum man überhaupt innerhalb der Sozialversi­ Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67 Jahre bis cherung Mütter besserstellen sollte. Die rein verteilungspo­ zum Jahr 2029 in Deutschland nur allzu gerechtfertigt. Im litisch motivierte Förderung von Familien kann im Rahmen internationalen Vergleich waren wir mit der Reform im Jahr des Einkommensteuersystems wesentlich zielgenauer und 2007 (RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz) durchaus ein damit auch kostengünstiger erfolgen. Ob es allokative Grün­ Vorbild, inzwischen haben aber viele Länder nachgelegt. Laut de für eine kinderbezogene Differenzierungspolitik innerhalb OECD (2013) wird gegenwärtig in 18 von 34 Mitgliedsländern der umlagefinanzierten Sozialversicherung gibt, ist unter die Regelaltersgrenze schrittweise angehoben, in vielen Län­ Ökonomen umstritten. Konrad und Richter (2005) führen dern wird die Grenze von 67 Jahren bereits vor 2025 erreicht. dazu eine ausführliche Diskussion und kommen insgesamt Es führt kein Weg daran vorbei: Längere Lebenserwartung zu einem negativen Ergebnis. Sofern man jedoch unter Be­ bedingt auch eine verlängerte Lebensarbeitszeit! Wir sind rufung auf externe Effekte die Begünstigung von Müttern im hier (bislang noch) auf dem richtigen Weg und im Einklang Rahmen des Sozialversicherungssystems befürwortet, mit vielen anderen Ländern in Europa. Würden die aktuellen muss man in der Konsequenz auch Leistungsempfänger Vorschläge allerdings komplett umgesetzt, wäre die Anhe­ ohne Kinder schlechter stellen! Werding (2013) hat vor kur­ bung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre weitgehend aus­ zem einen konkreten Vorschlag für die Einführung einer an gehebelt. Wer dazu berechtigt ist, wird wieder mit 65 Jahren der Kinderzahl orientierten »Zusatzrente« vorgelegt. Vermut­ oder früher in den Ruhestand gehen. Darüber hinaus werden lich geht ein solcher radikaler Umbau des Systems vielen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich schnell wieder auf die einfach zu weit. Deshalb erscheint die Finanzierung von der­ frühere Praxis der Frühverrentung mittels vorübergehender artigen versicherungsfremden Leistungen aus allgemeinen Arbeitslosigkeit einigen, sofern dies opportun erscheint. Die Steuermitteln als tragfähiger Kompromiss. Das galt zumin­ Bundesregierung erkennt zwar dieses Problem, aber es wirkt dest bislang. Der vorliegende Reformentwurf beabsichtigt eher hilflos, was ihr derzeit zur Verhinderung derartiger künst­ aber gerade nicht die sog. Beiträge für Kindererziehungs­ lich herbeigeführter Arbeitslosigkeit einfällt. So könnte eine zeiten entsprechend zu erhöhen. Die Kosten der Mütterren­ Stichtagsregelung zwar effektiv solchen Missbrauch verhin­ te sollen einfach pauschal den künftigen Beitragszahlern dern, aber es erscheint völlig willkürlich und damit wenig aufgebürdet werden. Damit trifft es viele junge Familien, wel­ praktikabel. Wenn man aber derartige Absprachen nicht ver­ che aufgrund der Alterung sowieso schon steigende Belas­ hindern kann, werden die veranschlagten Kosten noch weit tungen zu schultern haben. Eine Korrektur ist also zumindest höher ausfallen. insofern nötig, dass die geplante Mütterrente sofort aus all­ gemeinen Steuermitteln finanziert wird. Dabei soll nicht bestritten werden, dass ein undifferenzierter Anstieg der Regelaltersgrenze vor allem die Erwerbstätigen im unteren Einkommensbereich überproportional belastet. Bei der Regelaltersgrenze lohnt der Blick über Nicht zuletzt aufgrund der vor allem körperlichen Arbeit ist die Grenzen dort die Lebenserwartung signifikant niedriger. Deshalb gibt es durchaus stichhaltige ökonomische Argumente, die für Noch weit fataler erscheinen die Konsequenzen der vorge­ eine Differenzierung der Regelaltersgrenze sprechen. Das schlagenen vorzeitigen abschlagsfreien Altersrente nach Problem ist allerdings, nach welchen Kriterien eine solche 45 Versicherungsjahren. Weil hier Perioden der Arbeitslosig­ Abgrenzung vorgenommen werden sollte. Eine Privilegie­ keit und Kindererziehung berücksichtigt werden sollen, wird rung bestimmter Berufsgruppen erscheint völlig willkürlich der Kreis der Berechtigten enorm ausgeweitet. Mit Ausnah­ ebenso wie eine Differenzierung nach Vermögen oder an­ me von Frauen, die lange zu Hause geblieben sind, könnten deren sozioökonomischen Merkmalen. In den Niederlanden, künftig dann fast alle Arbeitnehmer ohne Hochschulstudium wo die Altersgrenze von 67 Jahren bereits 2022 erreicht zwei Jahre vor der Regelaltersgrenze in die Rente gehen. wird, wird übrigens eine ganz ähnliche Diskussion geführt Hier lohnt es sich, noch einmal darauf hinzuweisen, warum (vgl. Ravesteijn et al. 2013). Klar ist allein, dass es Abwei­ die Anhebung des Rentenzugangsalters so dringend gebo­ chungen von der Regelaltersgrenze nur für wohlbegründe­ ten ist. Laut Max-Plank-Institut für demographische For­ te Ausnahmesituationen geben darf. Ideal wäre etwa ein schung in Rostock steigt die Lebenserwartung in den ent­ Gesundheitscheck, wie er derzeit bei der Erwerbsminde­ wickelten Ländern ungebrochen um etwa zweieinhalb Jahre rungsrente praktiziert wird. Bis dahin ist es aber noch ein

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weiter Weg. Denn bislang würde eine derartige Differenzie­ beim Arbeitsangebot übersteigen (vgl. Fehr et al. 2013). Es rung wohl vor allem als Diskriminierung empfunden. Wenn gibt also durchaus Handlungsbedarf, der vorgelegte Geset­ gegenwärtig vom Kriterium der Versicherungsjahre nicht ab­ zesentwurf bietet aber nichts in dieser Richtung. gegangen wird, dann erscheint es kurzfristig zumindest drin­ gend geboten, die Anrechenbarkeit von Perioden der Ar­ beitslosigkeit zu begrenzen. Dann wird zumindest der Kreis Zielkonflikt mit EU-Fiskalpakt der Anspruchsberechtigten eingeschränkt. Schließlich ist bei genauerer Betrachtung auch die Finanzie­ rung der geplanten Leistungsausweitung alles andere als Erwerbsminderung als Ursache für Altersarmut solide. Es wurde bereits ausgeführt, dass die jährliche Bud­ getlücke in Höhe von mindestens 4 Mrd. Euro bis 2019 Neben dem Anstieg der Lebenserwartung stellt die künftig durch Abbau von Reserven finanziert werden soll. Aufgrund zunehmende Altersarmut die eigentliche Herausforderung der beschriebenen Problematik mit Frühverrentung kann für das Rentensystem in Deutschland dar. Aktuell ist Alters­ man eigentlich davon ausgehen, dass die Budgetlücke dra­ armut hierzulande eigentlich noch kein offensichtliches Pro­ matisch höher ausfällt. Dann ist schnell eine Größenordnung blem, beziehen doch lediglich rund 2% der Altersrentner von 0,2% des BIP erreicht. Zu beachten ist nun, dass dieser derzeit Leistungen aus der Grundsicherung im Alter. Auf­ Betrag im Rahmen des Europäischen Fiskalpakts verrechnet grund von bereits beschlossenen Leistungskürzungen infol­ wird. Die Schuldengrenze für den deutschen Gesamtstaat ge des demographischen Wandels wird dieser Anteil aber (also inklusiv Sozialversicherung) darf danach ab 2016 le­ mittelfristig signifikant ansteigen. diglich 0,5% des BIP betragen. Wenn dann Bund und Län­ der die mit der nationalen Schuldenbremse vorgegebene Vor diesem Hintergrund kann die beabsichtigte Ausweitung Defizitobergrenze in Höhe von 0,35% ausschöpfen, ist der der Erwerbsminderungsrente vermutlich noch am positivs­ Konflikt mit dem EU-Fiskalpakt vorprogrammiert. ten beurteilt werden. Schon gegenwärtig beziehen rund 11% der Erwerbsminderungsrentner Leistungen aus der Grundsicherung (vgl. Deutsche Rentenversicherung 2013, Fazit S. 277). Das Risiko der Erwerbsminderung liegt eben im unteren Einkommensbereich deutlich höher (vgl. Fehr et al. Das vorgeschlagene Rentenpaket verteilt vor allem Geschen­ 2013). Vergleicht man die Entwicklung der durchschnittli­ ke, die primär von jungen und künftig arbeitenden Genera­ chen Zahlbeträge von Erwerbsminderungs- und Altersrente, tionen bezahlt werden müssen. Die eigentlichen langfristigen dann wird Reformbedarf noch offensichtlicher. Vor rund Probleme werden damit nur unzureichend angepackt, im 20 Jahren bezogen beide Rentnergruppen im Durchschnitt Gegenteil, es werden die falschen Signale gesetzt! Es bleibt noch nahezu identische Leistungen, inzwischen liegt die nur zu hoffen, dass im Rahmen des Gesetzgebungsverfah­ rens vor allem die Rentenzugangsregelung noch erheblich durchschnittliche Erwerbsminderungsrente aber rund 20% korrigiert wird. Sehr wahrscheinlich ist das allerdings nicht. unter der entsprechenden Altersrente (vgl. Deutsche Ren­ tenversicherung 2013, S. 125). Die Heraufsetzung der An­ rechnungsjahre um zwei Jahre steht auch im Einklang mit Literatur der Anhebung der Regelaltersgrenze. Insgesamt erscheint sie absolut gerechtfertigt, man hätte sogar noch weiterge­ Breyer, F. und S. Hupfeld (2009), »Fairness of Public Pensions and Old-Age hen und auch die Abschläge reduzieren können. Im Durch­ Poverty«, FinanzArchiv 65(3), 358–380. schnitt erhöht sich die monatliche Rentenleistung lediglich Deutsche Rentenversicherung Bund (2013), Rentenversicherung in Zeitrei- um 40 Euro für diese Gruppe. hen 2013, DRV-Schriften Band 22, Berlin.

Fehr, H., M. Kallweit und F. Kindermann und (2013), »Should Pensions be Allerdings betrifft diese Leistungsausweitung nur einen klei­ Progressive?«, European Economic Review 63, 94–116. nen Teil der künftigen Rentner und wird pauschal von den Konrad, K. und W.F. Richter (2005), »Zur Berücksichtigung von Kindern bei künftigen Generationen finanziert. Wenn man das Problem umlagefinanzierter Alterssicherung«, Perspektiven der Wirtschaftspolitik der Altersarmut umfassend angehen will, ohne pauschal 6(1), 115–130. künftige Generationen zur Kasse zu bitten, muss man inner­ OECD (2013), Pensions at a Glance, Paris. halb der Rentenversicherung gutsituierte Rentner stärker belasten. Ökonomisch begründen lässt sich die Abschwä­ Ravesteijn, B., H van Kippersluis und E. van Doorslaer (2013), »Long and healthy careers? The relationship between occupation and health and its chung der gegenwärtig praktizierten Teilhabeäquivalenz mit implications for the statutory retirement age«, Netspar Panel Paper 36, der unterschiedlichen Lebenserwartung und damit Renten­ Tilburg University. bezugszeit (vgl. Breyer und Hupfeld 2009). Unabhängig da­ Werding, M. (2013), Familien in der gesetzlichen Rentenversicherung: Das von kann man aber auch positive Versicherungseffekte an­ Umlageverfahren auf dem Prüfstand, Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh. führen, welche die damit einhergehenden Verzerrungen

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Unsicherheit – von aktuell (2012) 31,5 auf 52, 0 bis 58,9 (vgl. Werding 2013, Abb. 1).1 Auch danach nimmt er voraussicht­ lich nicht wieder ab. Unter realistischen Annahmen verharrt er vielmehr auf dem stark erhöhten Niveau oder nimmt so­ gar langsam immer weiter zu.

Deutschland benötigt daher aus heutiger Sicht ein Alterssi­ cherungssystem, das auf eine schrumpfende Bevölkerung eingerichtet ist. Die Weichenstellungen dafür müssen frühzei­ tig erfolgen, damit sich die heute Unter-50-Jährigen rechtzei­ tig darauf einstellen können. Die bisherigen Reformen haben Martin Werding* einen Zeithorizont, der maximal bis 2030 reicht. In der Zeit danach können die gesetzlich festgelegten Eckwerte – ein Beitragssatz von höchstens 22% und ein Rentenniveau (net­ to, vor Steuern) von mindestens 43% (vgl. § 154 Abs. 3 Rentenreformpläne: Drei Schritte vor, SGB VI) – im Rahmen des geltenden Rechts nicht mehr gleich­ nun ein Schritt zurück zeitig eingehalten werden. Selbst bis dahin gelingt dies nur, wenn das Rentensystem nicht mit zusätzlichen Leistungen Mit den Rentenreformen von 1999/2001, 2004 und 2007 befrachtet wird, die aus Beitragsmitteln gedeckt werden sollen. haben ganz unterschiedlich zusammengesetzte Bundesre­ gierungen in den vergangenen Jahren konsequent Schritte unternommen, um das deutsche Alterssicherungssystem Unangenehme Wahrheiten frühzeitig verkünden auf die Herausforderungen einzustellen, die der demogra­ phische Wandel für die nächsten Jahre und Jahrzehnte mit Nach Diskussionen, die bereits seit den 1980er Jahren geführt sich bringt. Die aktuellen Reformpläne der Großen Koalition werden, hat die Politik in den letzten Jahren einiges getan, stellen dagegen alles in allem einen Schritt rückwärts dar. was die langfristige Tragfähigkeit der Rentenfinanzen sub­ Sie vernachlässigen die Notwendigkeit, die längerfristigen stantiell verbessert (vgl. Werding 2011, S. 56–61). Gegenüber Perspektiven für die Rentenfinanzierung weiter zu verbes­ manchen Forderungen – etwa einer vollständigen Umstellung sern. Entgegen den damit verfolgten Absichten lösen sie der Altersvorsorge auf eine Kapitaldeckung – hat sie dabei auch keine größeren Gerechtigkeitsprobleme, die mit der Augenmaß bewiesen.2 Gleichzeitig hat sie den Versicherten Umsetzung der bereits ergriffenen Reformen verbunden sein aller Altersstufen aber auch einige unangenehme Wahrheiten könnten. Speziell der umstrittene Plan der »Rente mit 63« eröffnet, insbesondere über den Bedarf an ergänzender pri­ schafft eher neue Ungerechtigkeiten. vater Vorsorge und einer längeren Lebensarbeitszeit.

Beide Reformstrategien sind anhaltend unpopulär. Sie sind Hauptaufgabe: Langfristige Tragfähigkeit weiter aber in der Tat dringend geboten, um der laufenden Senkung verbessern des Rentenniveaus auf verschiedene Weise entgegenzuwir­ ken, die ihrerseits nötig ist, um den absehbaren Anstieg des Aktuell legt der demographische Wandel in Deutschland eine Beitragssatzes zu dämpfen. Oberste Priorität gebührt der­ kurze Atempause ein. Die Jahrgänge aus der unmittelbaren zeit eigentlich der Frage, wie man diese Einsichten weiter Nachkriegszeit, die derzeit in die Rente eintreten, sind relativ verbreiten und die Mehrzahl der Versicherten – im Falle des schwach besetzt, und die Kinder der Babyboomer haben den Rentenalters: auch ihre Arbeitgeber – zu vorausschauenden Arbeitsmarkt erreicht. Verglichen mit der Zahl ihrer Eltern sind Verhaltensänderungen veranlassen kann. sie zwar nicht sehr viele, aber doch wesentlich zahlreicher als die nachfolgenden Jahrgänge. In seinem jüngsten Jahresgut­ achten spricht der Sachverständigenrat ganz zutreffend von Rente mit 63: Unbezahlbar oder ungerecht einem »demographischen Zwischenhoch«. Fatal ist an den aktuellen Reformplänen daher schon die Sig­ Klar absehbar ist jedoch, dass die Rentenfinanzen ab 2018 nalwirkung, speziell der Diskussion über die »Rente mit 63« zusehends unter Druck geraten, der sich bis 2035 immer – als wären die früheren Reformen gar nicht nötig gewesen. weiter verschärft. In diesem Zeitraum erhöht sich der Alten­ quotient der deutschen Wohnbevölkerung – mit nur geringer 1 Die Angaben basieren auf der international gängigsten Definition des Altenquotienten als Zahl der Personen im Alter ab 65 Jahren zur Zahl der * Prof. Dr. Martin Werding ist Professor für Sozialpolitik und öffentliche Personen im Alter von 15 bis 64 Jahre. Finanzen an der Ruhr-Universität Bochum, Fellow des CESifo Research 2 Breyer (1989) und Fenge (1995) führen Beweise, dass eine solche Network und Forschungsprofessor im ifo Zentrum für Arbeitsmarktfor­ Umstellung per saldo keine Vorteile für alle Betroffenen mit sich bringt. schung und Familienökonomik. Sinn (2000) liefert eine anschauliche Interpretation.

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Das politische Versprechen, langjährig Versicherten nach zur Heraufsetzung der Regelaltersgrenze beachtet werden 45 Jahren, die mit Beitragszeiten oder Zeiten der Arbeitslo­ sollte? Die Antwort auf diese Frage lautet: Ja! Alle Renten­ sigkeit belegt sind, zwei Jahre vor der Regelaltersgrenze ei­ beiträge unterliegen in einem Umlagesystem einer »implizi­ nen abschlagsfreien Rentenzugang zu gewähren, hätte bei ten Steuer«.4 Sie ist umso höher, je länger der Zeitraum vollständiger Einlösung einen Dammbruch bewirken können, zwischen Beitragszahlung und Rentenzugang ist (vgl. Beck­ der die Strategie einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit mann 2000; Fenge et al. 2006). Bei einer einheitlichen Al­ aushebeln würde und die zukünftige Entwicklung der Ren­ tersgrenze, die in einem Rentensystem zumindest als Refe­ tenfinanzen völlig aus dem Ruder laufen ließe. renzgröße benötigt wird, um bei der Rentenbemessung die erwartete Rentenlaufzeit berücksichtigen zu können, werden Um dies einzudämmen, soll bei der Anrechnung von Arbeits­ langjährig Versicherte durch diese Steuer stärker belastet losigkeitsphasen nun zwischen Zeiten mit Bezug von Ar­ als Versicherte, die mit höheren Qualifikationen erst später beitslosengeld und Zeiten mit Arbeitslosenhilfe oder Arbeits­ ins Erwerbsleben eintreten und zumeist auch noch höhere losengeld II unterschieden werden, wobei nur erstere zählen. Lebenseinkommen erzielen. In Anspruch nehmen können eine solche Regelung nach Schätzungen des Bundesarbeitsministeriums auf Dauer Eine Lösung für dieses Problem darf gegebenenfalls aber rund ein Viertel aller Rentenzugänge.3 Sie führt damit immer nicht schwarz-weiß ausfallen, also einige Betroffene entlas­ noch zu nennenswerten Zusatzausgaben, deren Finanzier­ ten, andere nicht. Vielmehr sollte sie abgestuft werden, z.B. barkeit mittel- bis langfristig dahinsteht. Administrativ ist die durch eine gezielte Staffelung der Abschlagssätze bei einem vorgeschlagene Differenzierung eigentlich gar nicht umsetz­ vorzeitigen Rentenzugang, bei der die zeitliche Struktur der bar, da weder die Rentenversicherung noch die Bundes­ Beitragszahlungen langjährig Versicherter so berücksichtigt agentur für Arbeit über die notwendigen Daten verfügen. wird, dass die impliziten Steuersätze vereinheitlicht werden.5 Fraglich ist auch, inwieweit sie rechtlich zulässig ist. Allerdings sind diese Abschlagssätze in Deutschland bisher generell so niedrig, dass vorzeitige Rentenzugänge andere Vor allem ist die vorgeschlagene Lösung nach praktisch al­ Versicherte belasten (vgl. Werding 2007). Mit Rücksicht dar­ len Maßstäben, die man dafür heranziehen kann, ungerecht. auf sollte man sie im Durchschnitt zuvor so anheben, wie es Wenn sie in der geplanten Form Gesetz wird, gibt es in Zu­ den Grundsätzen versicherungsmathematischer Fairness kunft verschiedene Klassen langjährig Versicherter – von entspricht. Ungelernten bis zu FacharbeiterInnen –, von denen alle die­ jenigen nicht vorzeitig abschlagsfrei in Rente gehen können, die nach einem relativ frühen Eintritt ins Erwerbsleben län­ Baustelle Erwerbsminderung gere Phasen der Arbeitslosigkeit oder der Kinderbetreuung durchlaufen haben. Nutzen kann die Regelung dagegen, Im Zusammenhang mit der Verlängerung der Lebensarbeits­ wer ununterbrochen beschäftigt oder jedes Mal nur kurzzei­ zeit, die zuletzt aus guten Gründen angestrebt wurde, stel­ tig arbeitslos war. Dies sind aber schwerlich diejenigen, für len sich im Übrigen viele politische Aufgaben, die dringender die eine Verlängerung ihres Erwerbslebens die größte Härte wären als die Definition von Ausnahmen. Neben einem kla­ darstellt oder die ansonsten von Altersarmut bedroht sind. ren Kurshalten, das Planungssicherheit schafft, gehören da­ Gleichzeitig werden die Unternehmen diese Gruppe am hef­ zu insbesondere Anstrengungen, die die Arbeitgeber ver­ tigsten umwerben, länger zu arbeiten, wenn der Nachwuchs mehrt für Themen wie Fachkräftesicherung, altersgerechte fehlt. Das könnte den Schaden immerhin begrenzen. Arbeitsplätze und -abläufe sowie die Weiterbildung älterer MitarbeiterInnen sensibilisieren. Verstärkte Aufmerksamkeit Im Extremfall entscheidet bei ansonsten identischer Renten­ verdient in diesem Zusammenhang auch die Erwerbsmin­ biographie aber ein einzelner Monat mit oder ohne Arbeits­ derungsrente, die von den geplanten Reformen eher nur am losengeldbezug, wer sofort in Rente gehen kann und wer Rande berührt wird. noch zwei Jahre arbeiten muss, um Abschläge zu vermeiden. Solche Ungleichheiten untergraben die Legitimation des ge­ Es liegt auf der Hand, dass das Risiko der Erwerbsminde­ setzlichen Rentensystems, die bei der Bewältigung des de­ rung wieder stärker hervortritt, wenn die Lebensarbeitszeit mographischen Wandels ohnedies gefährdet ist. – ebenso, aber immer noch weniger stark als die Lebens­ erwartung – steigen soll. Mit einer Anhebung der Zurech­ nungszeit um zwei Jahre sehen die Reformpläne der Bun­ desregierung bisher im Wesentlichen nur eine Korrektur vor, Alternative für langjährig Versicherte die parallel zur Erhöhung der Regelaltersgrenze logisch ist und im Grunde bereits 2007 in das entsprechende Reform­ Gibt es denn überhaupt einen Nachteil für langjährig Versi­ cherter, der bei den Regelungen zum Rentenzugang und 4 Für die Definition und eine Diskussion grundlegender Zusammenhänge vgl. wiederum Sinn (2000). 3 Vgl. die Antwort der Bundesregierung vom 20. Februar 2014 auf eine 5 Vgl. Gasche (2012, S. 33–39), bei dem dieser Gedanke unter der Be­ kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (BT-Drs. 18/629). zeichnung »renditeneutraler« Abschläge anklingt.

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gesetz gehört hätte. Daneben werden nur eher geringe Ver­ nach der jetzigen Atempause bald akut wird und sich rasch besserungen bei der Bemessung solcher Renten ins Auge verschärft. gefasst.

Um Umwege in eine Frühverrentung zu versperren, wurde Literatur für Erwerbsminderungsrenten spätestens mit einer Reform Beckmann, K. (2000), »A Note on the Tax Rate Implicit in Contributions to im Jahr 2000 ein vergleichsweise striktes Regime errichtet. Pay-as-you-go Public Pension Systems«, FinanzArchiv 57(1), 63–76. Nicht zuletzt durch die Einführung von Abschlägen für solche Renten haben sich die monatlichen Zahlbeträge seither im Breyer, F. (1989), »On the Intergenerational Pareto Efficiency of Pay-as-you- go Financed Pension Systems«, Journal of Institutional and Theoretical Durchschnitt um insgesamt 100 Euro verringert, auf zuletzt Economics 145(4), 643–658. (2012) rund 600 Euro, statt im Gefolge der allgemeinen Deutsche Rentenversicherung (2013), Rentenversicherung in Zeitreihen Lohn- und Preisentwicklung immerhin ein wenig anzusteigen 2013, DRV, Berlin. (vgl. Deutsche Rentenversicherung 2013, S. 128). Gleich­ Fenge, R. (1995), »Pareto-Efficiency of the Pay-as-you-go Pension System zeitig sind die Betroffenen typischerweise kaum in der Lage, with Intragenerational Fairness«, FinanzArchiv 52(3), 357–364. Rentenniveausenkungen durch ergänzende Vorsorge wett­ zumachen, geschweige denn länger zu arbeiten. Wenn man Fenge, R., S. Uebelmesser und M. Werding (2006), »On the Optimal Timing of Implicit Social Security Taxes over the Life Cycle«, FinanzArchiv 62(1), an einer im Kern medizinischen Indikation der Erwerbsmin­ 68–107. derung festhält, könnte man bei der Bemessung dieser Ren­ Gasche, M. (2012), »Alte und neue Wege zur Berechnung der Rentenab­ ten in Zukunft daher tendenziell großzügiger sein, als es die schläge«, MEA-Diskussionspapier Nr. 252–2012. aktuellen Pläne vorsehen. Sinn, H.-W. (2000), »Why a Funded Pension System is Needed and Why it is Not Needed«, International Tax and Public Finance 7(4/5), 389–410.

Werding, M. (2007), »Versicherungsmathematisch korrekte Rentenabschlä­ Mütterrente: Eher nicht ge für die gesetzliche Rentenversicherung«, ifo Schnelldienst 60(16), 19–32.

Schwer zu beurteilen ist schließlich der Plan einer »Mütter­ Werding, M. (2011), Langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen: Modellrechnungen bis 2060, ifo Forschungsbericht Nr. 53, ifo Institut, rente«, die mit etwas höheren Leistungen für die Erziehung München. aller vor 1992 geborenen Kinder effektiv das teuerste der Werding, M. (2013), Alterssicherung, Arbeitsmarktdynamik und neue 6 aktuellen Reformvorhaben darstellt. Die gesetzliche Ren­ Reformen: Wie das Rentensystem stabilisiert werden kann, Bertelsmann tenversicherung weist eine gewisse Schieflage zu Lasten Stiftung, Gütersloh.

von Familien auf, die faktisch vor allem Mütter und Kinder Werding, M. (2014), Familien in der gesetzlichen Rentenversicherung: Das trifft. Hieran wären Korrekturen wünschenswert, die die da­ Umlageverfahren auf dem Prüfstand, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh. hinter stehenden Konstruktionsprobleme perspektivisch – d.h. mit Wirkung für zukünftige Eltern und Kinder – verringern und zugleich die langfristige Tragfähigkeit des Systems er­ höhen (vgl. Werding 2014, insbes. Kap. 5).

Die Mütterrente tut allerdings nichts davon. Sie soll allein ein Verteilungsproblem lösen, das aus einer notwendig etwas willkürlichen Stichtagsregelung für die Vergangenheit resul­ tiert und Mütter betrifft, deren Kinder heute allesamt erwach­ sen sind. Sie ändert weder etwas an den Anreizen des Ren­ tensystems im Hinblick auf eine Familiengründung, noch entlastet sie junge Familien und heutige Kinder, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten Beitragszahler sein wer­ den. Stattdessen bürdet die Mütterrente ihnen zusätzliche finanzielle Lasten auf, die am Ende wohl viele Großmütter aus ihren erhöhten Renten wieder zu mildern versuchen. Angesichts der fehlenden Korrekturen am System und sol­ cher intergenerationellen Verteilungseffekte hätte man auf diesen Schritt vielleicht doch besser verzichtet. Dann würde sich die Rentenpolitik immerhin größere Spielräume für die Bewältigung des demographischen Wandels erhalten, der

6 Vgl. die Berechnungen zu den finanziellen Auswirkungen im Entwurf des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes vom 31. Januar 2014 (BR-Drs. 25/14).

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armut haben wir weitgehend erreicht: Altersarmut liegt deut­ lich unterhalb des Niveaus der Gesamtbevölkerung, wo sie knapp dreimal so verbreitet ist. Auf die häufiger gewordenen Unterbrechungen von sozialversicherungspflichtigen Be­ schäftigungsverhältnissen muss man achten; hier liegen die Probleme aber im Arbeitsmarkt und nicht an der Renten­ politik.

Besonders stolz können wir darauf sein, wie stark die Be­ schäftigung von Menschen im Alter zwischen 55 und 64 Jahren angestiegen ist. Wir könnten es uns sogar leisten, den Beitragssatz deutlich zu senken, weil trotz europäischer Axel Börsch-Supan* Schuldenkrise die Beschäftigung so hoch ist, dass sich die Beitragslast auf mehr Schultern verteilen lässt, als man es sich vor einigen Jahren kaum hätte träumen lassen. Dies ist Die Demographiefestigkeit des nicht vom Himmel gefallen. Die Reformen seit 1992 waren deutschen Altersversorgungssystems hart, und lange Zeit gab es für die Beitragszahler kaum einen und das Rentenpaket 2014 Gewinn an Kaufkraft. Die nun eigentlich fällig gewordene Beitragssenkung hätten sich die Beitragszahler also mehr Die Demographiefestigkeit des deutschen Altersversor­ als redlich verdient. gungssystems ist durch drei Entwicklungen bedroht: Erstens geht demnächst die Babyboom-Generation in Rente, zwei­ Leider gerät diese weitsichtige und erfolgreiche Rentenpo­ tens leben wir immer länger, und drittens haben wir seit Jahr­ litik der letzten zwei Dekaden durch die Beschlüsse der neu­ zehnten eine sehr niedrige Geburtenrate, und zwar bemer­ en großen Koalition in Gefahr. Sie konzentrieren sich darauf, kenswerterweise unabhängig davon, welche Maßnahmen den mehrheitlich bereits gut dastehenden sozialversiche­ die jeweilige Familienpolitik eingeleitet hatte. Jede dieser drei rungspflichtig Beschäftigten eine weiter verbesserte Rente Entwicklungen bedarf einer eigenen rentenpolitischen Ant­ zu liefern, verhindern jedoch nicht Altersarmut und ver­ wort; jede weitsichtige und demographiefeste Rentenpolitik schlechtern dramatisch die Demographiefestigkeit. muss einen Mix dieser drei Antworten enthalten. Die Agenda-Reformen haben uns einen Beschäftigungs­ Glücklicherweise wurde in Deutschland eine geeignete Ant­ boom beschert, eben auch die spektakulär angestiegene wort auf diese Entwicklungen in den Reformen seit 1992 Erwerbstätigkeit Älterer. Die Rente mit 63 wird diesen Trend auch aufgegriffen. Der 2004 eingeführte Nachhaltigkeitsfak­ wieder umkehren. Eine abschlagsfreie Rente mit 63 bedeu­ tor ist die geeignete Antwort auf die niedrige Geburtenrate: tet auch zuschlagsfrei, d.h. für die, die länger arbeiten wol­ Wenn das zahlenmäßige Verhältnis von Beitragszahlern zu len, gibt es keine höhere Rente pro Entgeltpunkt mehr. Alle, Leistungsempfängern sinkt, bewirkt er eine in etwa gleich­ die zur Rente mit 63 berechtigt sind, werden diese daher proportionale Erhöhung des Beitragssatzes und Absenkung auch nehmen. Das mag angehen für die ca. 7% der Arbeit­ des Rentenniveaus, so dass die demographische Last ge­ nehmer, die 45 Jahre harte Arbeit auf dem Buckel haben. recht auf Alt und Jung verteilt wird. Zweitens reagiert die Die nun geplante Anrechnung der Arbeitslosenzeiten erhöht Rente mit 67 auf die steigende Lebenserwartung: Seit der den Anteil der Berechtigten jedoch um ca. die Hälfte. Erzie­ Jahrtausendwende ist die Lebenserwartung im Alter von 60 Jahren um fast zwei Jahre angestiegen, bis zur vollstän­ hungszeiten erhöhen den Anteil weiter auf fast ein Viertel. digen Einführung der Rente mit 67 werden es weitere zwei Hier muss die neue Regierung wieder auf einen demogra­ Jahre sein. Eine Anpassung des Renteneintrittsalters um phiefesten Kurs zurückfinden. Die monetären und psycho­ zwei Jahre bedeutet also immer noch eine deutliche Verlän­ logischen Kosten des Signals Rente mit 63 sind desaströs. gerung der Rentenbezugszeit. Drittens kann die Last des großen Rentenschubs infolge des Renteneintritts der Baby­ Die Beschlüsse der neuen Großen Koalition sind kurzsichtig boomer zu einem Teil dadurch aufgefangen werden, dass und einseitig: Die Wohltaten kommen der älteren Generati­ die Babyboom-Generation durch private und betriebliche on zugute, während es die zukünftigen Beitragszahler finan­ Altersvorsorge einen Teil dieser Last selbst trägt. zieren müssen, die ohnehin durch den demographischen Wandel gebeutelt werden. Einseitig auch, weil sie der Mit­ Eigentlich sind wir in Deutschland also gut aufgestellt. Auch telschicht zugutekommen, nicht aber den von Altersarmut das zentrale sozialpolitische Ziel der Vermeidung von Alterss­ Bedrohten. Die Zuschussrente kann die verbliebene Alters­ armut nicht verhindern, weil armutsgefährdete Menschen * Prof. Axel Börsch-Supan, Ph.D., ist Direktor des Munich Center for the Economics of Aging (MEA) des Max-Planck-Institut für Sozialrecht und mit ihren unterbrochenen Erwerbsbiographien die An­ Sozialpolitik, München. spruchsvoraussetzungen nicht erfüllen. Stattdessen sollten

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die jungen Menschen besser ausgebildet und integriert wer­ den. Und wem die steuerfinanzierte Grundsicherung zu niedrig ist, der sollte den Mut haben, sie auf ein höheres Niveau anzuheben.

Insgesamt war Deutschland auf einem guten Wege und un­ ser Altersversorgungssystem weitestgehend demographie­ fest. Von ganz wenigen anderen OECD-Ländern kann man das sagen. Ganz im Gegenteil haben die Regierungen Hol­ lande in Frankreich und Letta in Italien wichtige Teile der Reformen ihrer Vorgängerregierungen wieder rückgängig gemacht. Geht Deutschland nun einen ähnlichen Weg rück­ wärts? Man kann der neuen Regierung nur wünschen, dass Alfred Boss* sie zur Weitsicht der rot-grünen und der ersten Großen Ko­ alition Merkel zurückfindet. Die »Rentenreform« – ein Schritt in die falsche Richtung

Die neue Bundesregierung hat zusätzliche Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung beschlossen. Für vor dem Jahr 1992 geborene Kinder soll ein zusätzliches Jahr Erzie­ hungszeit angerechnet werden. Die Regelung soll für Ren­ tenzugänge und für rund 9,5 Mill. Bestandsrentner gelten (Referentenentwurf 2014, S. 4). Auch »wird die … Altersren­ te für besonders langjährig Versicherte vorübergehend aus­ geweitet. Besonders langjährig Versicherte können dadurch … ab Vollendung des 63. Lebensjahres eine abschlagsfreie Altersrente beziehen« (Referentenentwurf 2014, S. 2). Die Regelung soll wie die Ausweitung der Erwerbsminderungs­ rente für Rentenzugänge ab dem 1. Juli 2014 gelten (Refe­ rentenentwurf 2014, S. 3). Zur Finanzierung der Mehraus­ gaben unterbleibt die – angesichts der hohen Rücklagen – sonst fällige Senkung des Beitragssatzes von 18,9 auf 18,3%. Auch wird der Zuschuss des Bundes an die Ren­ tenversicherung angehoben.

Im Folgenden wird skizziert, wer die »Gewinner« und wer die »Verlierer« der Reform sind. Um dies umfassend zeigen zu können, ist zuvor die Rückwirkung der Maßnahmen auf die Rentenanpassungen und damit das Rentenniveau der nächsten Jahre zu berücksichtigen. Schließlich wird die »Rentenreform« anhand verschiedener Kriterien bewertet.

»Rentenreform« und Rentenniveau

Um die Auswirkungen der »Rentenreform« auf die Altersren­ ten (und auf sonstige Renten) aufzuzeigen, müssen die Kon­ sequenzen für die einzelnen Komponenten der Rentenfor­ mel ermittelt werden. Dies sind der »Riester«-Faktor, der Nachhaltigkeitsfaktor und der Lohnfaktor.

Der »Riester«-Faktor berücksichtigt die Veränderung des durchschnittlichen Beitragssatzes in der allgemeinen Ren­

* Dr. Alfred Boss ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Institut für Welt­ wirtschaft an der Universität Kiel.

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Tab. 1 Der »Riester«-Faktor in verschiedenen Fällen Fall 1 Fall 2 2013 2014 2015 2016 2014 2015 2016 Altersvorsorgeanteil in % (1) 4 4 4 4 4 4 4 Beitragssatz in % (2) 18,9 18,9 18,9 18,9 18,3 18,3 18,3 100 – (1) – (2) 77,1 77,1 77,1 77,1 77,7 77,7 77,7 dito im Vorjahr (3) 76,4 77,1 77,1 77,1 77,1 77,7 77,7 dito im Vorvorjahr (4) 76,6 76,4 77,1 77,1 76,4 77,1 77,7 Relation der Zeile (3) zur Zeile (4) 0,9974 1,0092 1,0000 1,0000 1,0092 1,0078 1,0000 Erläuterung: Fall 1 = Verwirklichung der Koalitionsvereinbarung; Fall 2 = Bisherige Regelung. Quelle: Sozialgesetzbuch VI; Berechnungen des Autors.

tenversicherung (RVB) und die Veränderung bei den Auf­ lich der Bezieher von Arbeitslosengeld. Es wird angenom­ wendungen für die geförderte private Altersvorsorge (Alters­ men, dass sich der Lohnfaktor bei Realisierung der »Renten­ vorsorgeanteil, AVA). Er ist definiert als reform« so entwickeln wird wie bei unverändertem Recht. Zwar könnte die unterbliebene Senkung des Beitragssatzes . dazu führen, dass die Arbeitskosten höher und die Beschäf­ ����������������� tigung niedriger als sonst sein werden, der positive Effekt auf Bliebe ������� es bei dem������� geltenden��� Recht, so beliefe sich der »Ries­ den Lohnfaktor wäre aber wohl gering.1 ter« -Faktor für das Jahr 2015 auf 1,0078 (vgl. Tab. 1). Nach der geplanten Regelung wird der Faktor 1,0000 betragen. Der aktuelle Rentenwert wird entsprechend der Rentenfor­ Die am 1. Juli 2015 fällige Rentenerhöhung fällt also um mel (§ 255e Sozialgesetzbuch VI) errechnet als Rentenwert 0,78 Prozentpunkte geringer aus als sonst. Für das Jahr des Vorjahres mal »Riester«-Faktor mal Nachhaltigkeitsfak­ 2016 ergibt sich kein Unterschied. tor mal Lohnfaktor. In den alten Ländern werden daher die mit . Renten am 1. Juli 2014 wohl um 2,8% erhöht, in den neu­ ����� Der Nachhaltigkeitsfaktor berücksichtigt das Verhältnis zwi­ en Ländern, weil der Korrekturfaktor entfällt, wohl um 3,3% ����� schen��� der Zahl der� ���� Beitragszahler � und � der ���� Zahl der Renten­ (vgl. Tab. 2). empfänger und soll dafür. sorgen, dass die demographische Last������� »gerecht«��� aufgeteilt������� wird. Bezeichnet RQ den Rentner­ Wird der Plan der Bundesregierung realisiert, so steigen die ����������������� quotienten, also die Relation zwischen der Zahl der Äquiva­ Altersrenten in den alten Ländern in den Jahren 2015 und lenzrentner und der Zahl der Äquivalenzbeitragszahler, dann 2016 wohl um 2,5 bzw. 3,0%; nach geltendem Recht wür­ ist der Nachhaltigkeitsfaktor gemäß § 68 Absatz 4 Satz 1 de die Anpassung im Juli 2015 um 1,1 Prozentpunkte, die Sozialgesetzbuch VI definiert als im Juli 2016 um 0,2 Prozentpunkte größer ausfallen. Für die neuen Länder werden für beide Jahre Anhebungen wie in mit . den alten Ländern erwartet. ����� Die abschlagsfreie��������� ���� Rente mit �63 führt � ���� zu einer höheren Zahl 1 Der positive Effekt zeigt eine Schwäche der Rentenformel. Sie sollte von Rentenbeziehern und zu einer geringeren Zahl von Bei­ eigentlich auf die Lohnentwicklung bei gegebener – hoher – Beschäfti­ gung abstellen. Sonst entwickeln sich die Renten anders als die Löhne tragszahlern. Dadurch fallen die Rentenerhöhungen in den der Beschäftigten und der potenziell Beschäftigten. nächsten Jahren niedriger aus als ohne Ein­ griffe in das Rentenrecht. Der Nachhaltig­ Tab. 2 keitsfaktor mindert nach einer Rechnung, in Zur Rentenanpassung in den »alten Ländern« in verschiedenen Fällen die viele Annahmen eingehen, die Rentenan­ (Prozentpunkte) passung im Juli 2015 um 0,24, die im Juli Fall 1 Fall 2 2016 um 0,21 Prozentpunkte. 2013 2014 2015 2016 2015 2016 »Riester«-Faktor – 0,26 0,92 0,00 0,00 0,78 0,00 Der Lohnfaktor ist definiert als das Verhältnis Nachhaltigkeitsfaktor – 0,72 0,20 – 0,24 – 0,21 0,05 0,00 zwischen den Bruttolöhnen und -gehältern je Lohnfaktor 1,50 2,13 2,70 3,20 2,70 3,20 Arbeitnehmer im vergangenen Jahr und den Zusammen 0,50 3,28 2,45 2,98 3,55 3,20 Bruttolöhnen und -gehältern je Arbeitnehmer Korrektura) – 0,25 – 0,46 . . . . im vorvergangenen Jahr unter Berücksichti­ Insgesamt 0,25 2,80 2,45 2,98 3,55 3,20 gung der Veränderung der beitragspflichtigen a) Vgl. hierzu Boss (2013). – Erläuterung: Fall 1 = Verwirklichung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer Koalitionsvereinbarung; Fall 2 = Bisherige Regelung. ausschließlich der Beamten, aber einschließ­ Quelle: Sozialgesetzbuch VI; Boss (2013); Berechnungen des Autors.

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Änderungen bei der »Mütterrente« dass Mütter den zusätzlichen Rententeil an ihre Kinder ver­ schenken mit der Folge, dass diese zusätzliche Kinder zeugen. Ein Jahr der Kindererziehung wird bei der Rentenberech­ Soweit die beschenkten Kinder als Beschäftigte Beiträge zah­ nung so berücksichtigt, als ob 100% des Durchschnittsent­ len, werden sie dann durch den erhöhten Beitragssatz per gelts verdient worden wären, so dass ein Entgeltpunkt (zur­ saldo weniger als sonst getroffen. Inwieweit Kinder per saldo zeit 28,14 Euro im Westen, 25,74 Euro im Osten) zugeschla­ belastet oder begünstigt werden, hängt von der Höhe des gen wird. Die Zeit der Kindererziehung wird dem Elternteil Bruttolohns ab (vgl. Apolte 2013). Zahlen die Kinder keine zugerechnet, der das Kind erzogen hat. 2 Beiträge, weil sie nicht erwerbstätig sind oder weil sie im Aus­ land leben und arbeiten, so sind sie maximal begünstigt. Bei 20 Entgeltpunkten bezieht eine Frau in den alten Ländern seit Juli 2013 eine Rente in Höhe von 563 Euro je Monat (vgl. Tab. 3), bei 40 Entgeltpunkten beträgt die Rente 1 126 Euro.3 Abschlagsfreie Rente mit 63 Frauen in den neuen Ländern erhalten unter den gleichen Umständen eine geringere Rente; im Durchschnitt können sie »Versicherte, die die Wartezeit von 45 Jahren erfüllen, werden aber infolge einer größeren Zahl von Versicherungsjahren ei­ bereits bei der Altersgrenzenanhebung privilegiert, da ihnen ne größere Zahl von Entgeltpunkten geltend machen, so dass … ein abschlagsfreier Bezug der Altersrente ab Alter 65 er­ die Durchschnittsrente höher als in den alten Ländern ist. möglicht worden ist. Zeitlich befristet wird nun eine Sonder­ regelung geschaffen, nach der diese Altersrente auch Versi­ Ab Juli 2014 soll für vor 1992 geborene Kinder ein zusätz­ cherte beziehen können, die die Voraussetzungen hierfür liches Jahr Erziehungszeit angerechnet werden. Das bedeu­ bereits vor dem vollendeten 65. Lebensjahr erfüllen. Dies gilt tet für sich genommen, dass die Renten je Kind um 28,14 Eu­ für Versicherte der Geburtsjahrgänge bis 1952. Für sie wird ro (Westen) bzw. 25,74 Euro (Osten) erhöht werden. Hinzu ein abschlagsfreier Rentenzugang ab dem Alter 63 ermög­ kommt der Effekt der Rentenanpassung zum 1. Juli 2014. licht. Für ab dem Jahr 1953 Geborene wird das Zugangsal­ Dieser beläuft sich auf 0,79 bzw. 0,84 Euro. Das Ausmaß ter von 63 Jahren stufenweise erhöht. Die Anhebung erfolgt der Begünstigung nimmt im Juli 2015 ab, weil die Renten in Schritten von zwei Monaten pro Jahrgang. Für Versicher­ nach geltendem Recht stärker zunähmen. Die Neuregelung te, die nach dem Jahr 1963 geboren sind, ist ein abschlags­ führt offenbar dazu, dass der Vorteil für Mütter mit Kindern freier Rentenbeginn ab dem vollendeten 65. Lebensjahr mög­ kleiner als oft behauptet ausfällt. »Mütter« zahlen ab Juli lich« (Referenten­entwurf 2014, S. 12). Noch ist unklar, welche 2015 einen Teil der erhöhten Renten selbst. Im Juli 2016 Zeiten der Arbeitslosigkeit anhand welcher Kriterien als War­ wird sich dieser Teil noch erhöhen. tezeit berücksichtigt werden.

Die Neuregelung begünstigt Mütter, die im Jahr 2014 rund 40 Klar ist aber, dass die Zeiten, die als Beitragsjahre berück­ Jahre alt oder älter sind. Einen unmittelbaren Einfluss auf die sichtigt werden, großzügiger als bislang definiert werden und Geburtenzahl wird die erhöhte »Mütterrente« wohl nicht haben. »dass die ›Lebensleistung‹ von 45 Beitragsjahren der in den 1950er Jahren Geborenen deutlich besser honoriert wird als Mittelbar kann es aber einen Effekt geben. Es könnte sein, die der in den 1960er Jahren Geborenen« (vgl. Rürup 2014). 2 Auch Väter können daher die »Mütterrente« beziehen. Diejenigen mit z.B. 44 Jahren profitieren trotz gleicher Zahl 3 Der Zahlbetrag einer Rente wegen Alters betrug im Juli 2012 für eine Frau von Entgeltpunkten nicht; auch diejenigen, die im Alter 20 im Bundesgebiet im Durchschnitt rund 554 Euro. Männer erhielten rund 1 021 Euro (vgl. BMAS 2013). bis 65 Jahre die Voraussetzung erfüllen, profitieren nicht. Begründen lässt sich all dies allenfalls wahl­ politisch. Auch die Bezieher der »abschlags­ Tab. 3 freien Rente mit 63« werden ab Juli 2015 Rente einer Mutter mit einem vor 1992 geborenen Kind in einen Teil ihrer Begünstigung infolge redu­ verschiedenen Fällen (Euro je Monat) zierter Rentenanpassungen selbst zahlen. Fall 1 Fall 2 Juli 2013 Juli 2014 Juli 2015 Juli 2014 Juli 2015 Westen Aufstockung der »Niedrige« Rentea) 563 607 622 579 599 b) Erwerbsminderungsrenten »Hohe« Rente 1 126 1 186 1 215 1 157 1 198 Osten c) Bei Erwerbsminderungsrenten wird die Zu­ »Niedrige« Rente 515 558 572 532 551 »Hohe« Rentec) 1 030 1 090 1 117 1 063 1 101 rechnungszeit von 60 Jahren auf vollendete a) 20 Entgeltpunkte. – b) 40 Entgeltpunkte. – c) Bei einer Zahl von 62 Jahre angehoben. »Erwerbsgeminderte Entgeltpunkten wie im Westen. – Erläuterung: Fall 1 = Verwirklichung der werden dadurch so gestellt, als ob sie mit Koalitionsvereinbarung; Fall 2 = Bisherige Regelung. ihrem bisherigen durchschnittlichen Einkom­ Quelle: Berechnungen des Autors. men zwei Jahre länger … gearbeitet hätten.

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Auch die Bewertung der Zurechnungszeit Tab. 4 wird verbessert, weil sich künftig die letzten Mehrausgaben in der gesetzlichen Rentenversicherung einschließlich vier Jahre vor Eintritt der Erwerbsminderung der Zahlungen an die Krankenversicherung der Rentner 2014–2016, nicht mehr negativ auf die Bewertung aus­ Mrd. Euro a) b) b) wirken« (Referentenentwurf 2014, S. 13). 2014 2015 2016 Anrechnung von Erziehungszeiten 3,3 6,7 6,9 Die Anhebung der Zurechnungszeit bei den Einführung der abschlagsfreien Rente mit 63 0,9 1,9 2,1 Renten wegen Erwerbsminderung ist ange­ Aufstockung der Erwerbsminderungsrenten 0,1 0,2 0,2 sichts des vor Jahren erhöhten Rentenein­ Erhöhung des Rehabilitationsbudgets 0,1 0,2 0,2 Rentenpaket insgesamt 4,4 9,0 9,5 trittsalters eine sinnvolle Maßnahme. Die Än­ a) 2. Halbjahr. – b) Anders als im Referentenentwurf bei Berücksichtigung derung wird aber infolge der beabsichtigten der Mehrausgaben infolge der Anpassungen der Renten am 1. Juli eines Senkung des Renteneintrittsalters für be­ Jahres. stimmte Gruppen partiell fragwürdig. Quelle: Referentenentwurf (2014, S. 14); Berechnungen des Autors.

der Anhebung des Zuschusses des Bundes. Wird der zu­ Beträchtliche Mehrausgaben sätzliche Zuschuss durch Verschuldung finanziert, so ver­ lieren künftige Generationen. Der Abbau der Rücklagen der Die »Rentenreform« wird zu beträchtlichen Mehrausgaben Rentenversicherung bedeutet, dass de facto die Vorschriften führen (vgl. Tab. 4). Die Mehrausgaben könnten sogar wegen der »Schuldenbremse« umgangen werden. Die implizite einer größeren Zahl zusätzlicher Rentner wesentlich höher Staatsschuld wird erhöht. sein (vgl. Schnabel 2014). Minderausgaben entstehen da­ durch, dass die Anpassungen der Renten in den Jahren 2015 und 2016 geringer als sonst ausfallen werden. Die Minder­ Linderung der Altersarmut? ausgaben belaufen sich auf 1,4 bzw. 3,2 Mrd. Euro. Mit den Neuregelungen wird Altersarmut nicht bekämpft. Die zusätzliche Rente wird auf den Anspruch auf Grundsi­ Nicht begünstigte Rentner und Beitragszahler als cherung im Alter angerechnet. Personen, die Anspruch auf Verlierer die Grundsicherung im Alter haben, profitieren nicht von dem Rentenpaket, wenn ihre erhöhte Rente den Betrag der Rentner, die von den Neuregelungen nicht betroffen sind, Grundsicherung nicht überschreitet; das verfügbare Ein­ sind die »Verlierer« der Reform, weil das Rentenniveau durch kommen der Bezieher niedriger Renten ändert sich dann reduzierte Rentenanpassungen in den nächsten Jahren ver­ nicht. In anderen Fällen profitieren sie nur begrenzt. ringert wird. Die Beitragszahler sind ebenfalls »Verlierer« der »Rentenreform« (vgl. Deutsche Bundesbank 2014, S. 82). Auch kann die Erhöhung der »Mütterrente« die Witwenren­ Sie sind mindestens dann die »Verlierer«, wenn ihre Mütter te vermindern, wenn dadurch die Freigrenze überschritten z.B. deshalb, weil sie nicht mehr leben, nicht von der Anhe­ wird (vgl. Schwenn 2014, S. 11). Ferner profitiert eine Mut­ bung der »Mütterrente« profitieren, wenn es eine Rückwir­ ter nicht, wenn die Zahl ihrer Entgeltpunkte wegen der An­ kung der »Mütterrente« über Transfers der Mütter oder über hebung der »Mütterrente« die Grenze für die Rente nach Erbschaften nicht geben kann. Mindesteinkommen übersteigt (vgl. Schwenn 2014, S. 11). Insgesamt kann keine Rede davon sein, dass die »Renten­ Erhöhter Zuschuss des Bundes reform« die Altersarmut mindert.

Der Zuschuss des Bundes, der zu wesentlichen Teilen an den Beitragssatz in der Rentenversicherung gekoppelt ist, »Rentenreform« und Wachstum des wird wegen der unterlassenen Beitragssatzsenkung in den Produktionspotenzials nächsten Jahren höher als sonst ausfallen. Dies könnte da­ zu führen, dass die Steuerbelastung steigt. Es scheint sogar Die abschlagsfreie Rente mit 63 bedeutet, dass es für die­ beabsichtigt zu sein, die Steuern in der nächsten Legisla­ jenigen, die länger arbeiten, zwar eine höhere Rente gibt, turperiode zu erhöhen, um einen Teil der zusätzlichen Aus­ weil die Zahl der Entgeltpunkte steigt; es entfällt aber die gaben der gesetzlichen Rentenversicherung (»Mütterrente«) Rente für die Zeit der zusätzlichen Erwerbstätigkeit. Der An­ per Zuschuss zu finanzieren. reiz zu Weiterarbeit entfällt (vgl. INSM 2014, S. 2). Weiterar­ beit wird nur dann gewählt, wenn der Nettoarbeitslohn grö­ Die Steuerzahler oder die von Ausgaben des Staates Be­ ßer als die abschlagsfreie Rente ist und zur Sicherung des günstigten sind die Verlierer, je nach der Art der Finanzierung Lebensunterhalts benötigt wird. In aller Regel wird wohl der

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vorzeitige Renteneintritt gewählt werden, wenn die Voraus­ Was eigentlich zu tun ist setzung für eine Entscheidung gegeben ist. Der Beitragssatz in der Rentenversicherung sollte gesenkt Durch die Neuregelung entstehen für Unternehmen Anreize, werden. Um die Beitragsbelastung langfristig in Grenzen Arbeitnehmer im Alter von 61 bis 63 Jahren – ggf. mit Ab­ zu halten, sollte die Regelaltersgrenze nach dem Jahr findungen – zu entlassen, und für Arbeitnehmer Anreize, 2029, wenn sie nach geltendem Recht 67 Jahre beträgt, entlassen zu werden. Diese Arbeitnehmer hätten dann im weiter erhöht werden. »Dabei wäre eine regelgebundene Regelfall für zwei Jahre Anspruch auf Arbeitslosengeld. Es Anpassung des Renteneintrittsalters, etwa an die fernere entstünden zusätzliche Ausgaben, auch würde das Arbeits­ Lebenserwartung, vorteilhaft« (Sachverständigenrat 2013, angebot abnehmen. Möglicherweise werden diese Konse­ Ziffer 712). quenzen dadurch verhindert, dass Zeiten der Arbeitslosig­ Die Beamtenversorgung müsste analog korrigiert werden, keit nach dem 1. Juli 2014 nicht als Beitragsjahre anerkannt zumal die Regelungen nicht in allen Ländern und schon gar werden. nicht in vollem Umfang an die noch geltenden Altersgrenzen in der Rentenversicherung angepasst worden sind. Zu be­ Die Neuregelung soll auch für Betriebsrenten gelten. Die achten ist, dass die Beamtenversorgung ein begrenztes Bezugszeit dieser Renten wird steigen. Zusätzliche Rück­ Problem für den Bund, aber ein umso größeres Problem stellungen der Unternehmen oder zusätzliche Vorsorge wer­ für die Länder und dabei fast nur ein Problem für die alten den nötig – mit Konsequenzen für die Arbeitskosten (vgl. Länder ist. Bräuninger 2014, S. 2) und die Beschäftigung.

Durch den de facto erhöhten Beitragssatz und die infolge Literatur der »Rentenreform« gestiegenen Arbeitskosten wird die Ar­ beitsnachfrage reduziert. Durch die Anreize zur vorzeitigen Apolte, T. (2013), »Mütterrente zum Wohle der Nicht-Mütter. Die verzwickte Logik eines Beitragspunkts«, 7. November, online verfügbar unter: http:// Verrentung wird das Arbeitsangebot verringert. Das Produk­ wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=13887. tionspotenzial wird infolge der »Rentenreform« schwächer Boss, A. (2013), »Sozialversicherung bald wieder im Minus?«, Kiel Policy wachsen als sonst. Brief 63, Institut für Weltwirtschaft, Kiel.

Schließlich wird vielen Ländern des Euroraums mit den ge­ Bräuninger, D. (2014), »Deutsche Rentenpolitik ignoriert Demografie«, Aktu- eller Kommentar. Deutsche Bank Research, 28. Januar, Frankfurt am Main. planten Maßnahmen ein fatales Signal gegeben. Diese Län­ der werden ihre Bereitschaft zu strukturellen Reformen u.a. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2014), Rentenversicherungsbe­ richt 2013, 28. Januar, online verfügbar unter: http://www.bmas.de/Shared­ im Rentenrecht verringern, wenn Deutschland im Renten­ Docs/Downloads/DE/rentenversicherungsbericht-2013.pdf?__blob=publi­ recht in die andere Richtung geht. cationFile. Deutsche Bundesbank (2014), Monatsbericht, Februar, Frankfurt am Main.

INSM (Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft) (2014), »Rentenpläne der Bewertung aus polit-ökonomischer Sicht Regierung sind ungerecht«, 31. Januar, online verfügbar unter: http://www. insm.de/insm/kampagne/generationengerechtigkeit/‌inter­ ‌view-prof-boersch-supan.html. Die »Rentenreform« kann – wenn auch nicht unbedingt de­ ren Struktur – politökonomisch (gemäß dem Medianwäh­ Referentenentwurf der Bundesregierung (2014), Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung, lermodell) als Ergebnis gerontokratischer Verhältnisse in 28. Januar, online verfügbar unter: http://www.sozial‌politik-aktuell.de/tl_files/ Deutschland interpretiert werden. Deutschland ist auf dem sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Alter-Rente/Dokumente/2014-01-15%20 Weg in eine Gerontokratie, in der es keine Mehrheit gegen ‌Referentenentwurf%20RV-LeistungsverbesserungsG.pdf. die Interessen alter Menschen gibt (vgl. Sinn und Übelmes­ Rürup, B. (2014), »Alte Fehler in der Rente«, Frankfurter Allgemeine ser 2002). Insbesondere könnten – bei gegebenem Umla­ Zeitung, 31. Januar, 12. geverfahren – Einschnitte in die Renten nicht mehr durch­ Schnabel, R. (2014), Rentenpolitik: Wiedereinstieg in die Frühverrentung, setzbar sein, umso leichter aber zusätzliche Leistungen für Studie für die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, Universität Duis­ burg-Essen. Rentner. Verstärkt wird diese Entwicklung möglicherweise dadurch, dass die Wahlbeteiligung alter Menschen höher Sachverständigenrat (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamt­ wirtschaftlichen Entwicklung) (2013), Gegen eine rückwärtsgewandte Wirt- als die junger Menschen bleibt. Altruismus mag die insoweit schaftspolitik. Jahresgutachten 2013/14, Wiesbaden. zu erwartenden Effekte mildern. Auch könnte die Ausbeu­ Schwenn, K. (2014), »Was die Renteninformation verschweigt«, Frankfurter tung der jungen Menschen durch hohe Beiträge (und Steu­ Allgemeine Zeitung, 20. Februar, 11. ern) dann an Grenzen stoßen, wenn die negativen Arbeits­ Sinn, H.-W. und S. Übelmesser (2002). »Pensions and the path to geron­ angebotseffekte groß werden und/oder wenn junge Men­ tocracy in «, European Journal of Political Economy 19, 153–158. schen, weil die Option »voice« nicht hilft, die Option »exit« wählen.

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Sicherungsniveaus der gesetzlichen Rentenversicherung kann durch den Aufbau einer zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge kompensiert werden. Hier setzt die staatliche Förderung an. So wird eine ausgewogene Kombination von Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren erreicht, die die Ri­ siken der demographischen Entwicklung für die Finanzie­ rung der Alterssicherung diversifiziert. Deutschland verfügt dadurch über ein stabiles, belastbares, flexibles und zu­ kunftsfähiges Alterssicherungssystem.

Jörg Asmussen* Kurs halten, aber Gerechtigkeitslücken schließen

Die generationengerechte Ausgestaltung des Alterssiche­ rungssystems ist und bleibt der Leitgedanke der Rentenpo­ Mehr Gerechtigkeit durch das litik. Unter Beachtung dieses Grundsatzes werden mit den Rentenpaket geplanten Maßnahmen Gerechtigkeitslücken geschlossen, die viele Menschen spüren. Das Rentenpaket ist deshalb Die aktuelle Rentendebatte zeigt, wie sehr die Frage nach keine Reform des bestehenden Rentensystems. Es werden einem gerechten Rentensystem nicht nur die Rentnerinnen Korrekturen vorgenommen, die dort ansetzen, wo Unge­ und Rentner, sondern auch die Jüngeren beschäftigt. Die rechtigkeiten sichtbar geworden sind. Dabei geht es vor Politik ist gefordert, die bestehenden Gerechtigkeitslücken allem um drei Dinge: zu schließen, ohne die Balance zwischen den Interessen von Jüngeren und Älteren aus den Augen zu verlieren. Gerechtigkeit, Respekt und Anerkennung für geleistete Arbeit Die gesetzliche Rentenversicherung ist schon heute zukunftsfest, und sie wird es auch bleiben • Müttern und Vätern, die ihre Arbeit für die Kindererzie­ hung eingeschränkt haben, soll die Erziehung in der Ren­ Die große Herausforderung in der Rentenpolitik der vergan­ te höher angerechnet werden. genen mehr als 20 Jahre bestand vor allem darin, die Al­ tersvorsorge demographiefest und damit zukunftssicher zu • Ein erfülltes Arbeitsleben mit entsprechend langjähriger machen. Deutschland steht vor großen demographischen Beitragszahlung muss in der Rentenversicherung beson­ Herausforderungen, die sich an der absehbaren Verände­ ders anerkannt werden. rung der Relation der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zur Bevölkerung im Rentenalter manifestiert. Im Jahr 2010 • Frauen und Männer müssen auch bei gesundheitlichen kamen noch etwa drei Personen im Alter von 20 bis 64 auf Beeinträchtigungen, die ihre Erwerbsfähigkeit gefährden, eine Person im Rentenalter. Im Jahr 2030 wird dieses Ver­ oder bei Erwerbsminderung auf die Solidarität der Versi­ hältnis nur noch zwei zu eins betragen. chertengemeinschaft zählen können.

Die langfristige Tragfähigkeit des Systems wurde insbeson­ dere durch die stufenweise Anhebung der Regelaltersgren­ Verbesserung der Kindererziehungsleistungen ze auf 67 Jahre bis zum Jahr 2029 und die Einführung von (Mütterrente) Dämpfungsfaktoren bei der Rentenanpassung erreicht. Um die Folgen der demographischen Veränderungen genera­ Für Kinder, die nach 1991 geboren wurden, werden in der tionengerecht auf Jung und Alt zu verteilen, sind Beitrags­ Rentenversicherung drei Jahre Kindererziehungszeiten an­ satzobergrenzen und Mindestsicherungsniveaus gesetzlich gerechnet. Für vor 1992 geborene Kinder wird bislang ein festgelegt worden. Die Beitragszahler können sich damit auf Jahr gutgeschrieben. Als diese Kinder aufwuchsen, gab es der einen Seite darauf verlassen, bei der Finanzierung der in weiten Teilen Deutschlands jedoch fast keine Krippenplät­ Rentenversicherung nicht überfordert zu werden. Auf der ze, nicht genügend Kindergartenplätze und kaum Ganztags­ anderen Seite ist gewährleistet, dass auch die Leistungsfä­ schulen. Vor allem die Mütter hatten oft keine Wahl, sie konn­ higkeit der Rentenversicherung dauerhaft – wenn auch auf ten neben der Erziehung ihrer Kinder oft nicht oder nur in niedrigerem Niveau – erhalten bleibt. Der Rückgang des Teilzeit erwerbstätig sein. Deshalb wird die Erziehung von

* Jörg Asmussen ist Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und vor 1992 geborenen Kindern bei der Rente künftig stärker Soziales. angerechnet.

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Für alle Mütter oder Väter, die ab 1. Juli 2014 in Rente ge­ für die Rente ab 63 ist ganz ohne Arbeitslosigkeit durchs hen, wird die Kindererziehungszeit für vor 1992 geborene Berufsleben gekommen. Und diejenigen, die einmal arbeits­ Kinder um zwölf Monate verlängert, also von einem Jahr auf los waren, kommen im Durchschnitt auf weniger als zwei zwei Jahre verdoppelt. Auch Mütter oder Väter, die zu die­ Jahre Arbeitslosengeldbezug. Die Erfahrungen und An­ sem Zeitpunkt schon eine Rente beziehen, werden von die­ strengungen, nach einem Arbeitsplatzverlust wieder An­ ser Leistungsverbesserung profitieren. Damit die Berechtig­ schluss zu suchen und zu finden, zu bestrafen, wäre nicht ten diese Verbesserung sehr zügig erhalten, wird für den gerecht. Rentenbestand für jedes vor 1992 geborene Kind ein pau­ schaler Zuschlag zur Rente für ein zusätzliches Jahr Kinder­ Mit der abschlagsfreien Rente ab 63 wird kein Einfallstor für erziehung in Höhe von einem Entgeltpunkt gewährt. Das eine massenhafte Frühverrentung geschaffen. Wer befürch­ macht im Monat in den alten Ländern ein Plus von rund tet, viele Arbeitnehmer könnten mit 61 Jahren in die Arbeits­ 28 Euro und in den neuen Ländern von rund 26 Euro pro losigkeit und danach mit 63 in Rente gehen, der verkennt Kind aus. die Situation am Arbeitsmarkt.

Von dieser finanziell bedeutendsten Maßnahme werden vom Für Arbeitnehmer ist das nicht attraktiv, weil es mit Einkom­ 1. Juli 2014 an 9,5 Millionen – vorwiegend – Frauen profi­ menseinbußen verbunden ist. Zudem sieht das Recht der tieren und eine höhere Rente bekommen. Arbeitsförderung Sanktionsmechanismen bei vorwerfbar herbeigeführter Arbeitslosigkeit vor (Sperrfristen während der Arbeitslosengeldanspruch ruht, Kürzung der Arbeits­ Die abschlagsfreie Rente ab 63 Jahren losengeldanspruchsdauer u.a.). Darüber könnte nur eine kräftige Abfindung vom Arbeitgeber hinweghelfen. Es wä­ Vor dem Hintergrund der steigenden Lebenserwartung und re für beide Seiten sehr teuer, den Weg in die Rente über sinkender Geburtenzahlen wurde die stufenweise Anhebung die Arbeitslosigkeit zu gehen. Die Unternehmen haben zu­ der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre beschlossen. Die Flan­ dem die Zeichen der Zeit längst erkannt. Sie wissen, dass kierung der Altersgrenzenanhebung durch eine Verbesse­ qualifizierte Fachkräfte knapp sind. Sie halten ältere Be­ rung der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmerinnen schäftigte deutlich länger im Betrieb als früher: Der Anteil und Arbeitnehmer hat deutliche Erfolge gezeigt, die weiter­ der Erwerbstätigen an den 55- bis 64-Jährigen ist seit dem verfolgt werden. Jedoch müssen auch diejenigen in den Jahr 2000 von 37,4% auf 61,5% gestiegen. Deutschland Blick genommen werden, die ihr Arbeitsleben bereits in jun­ ist damit bezüglich der Erwerbstätigenquote im EU-Ver­ gen Jahren begonnen und über Jahrzehnte hinweg durch gleich aus dem Mittelfeld auf Rang 2 (hinter Schweden) Beschäftigung, selbständige Tätigkeit und Pflegearbeit so­ vorgerückt. wie Kindererziehung ihren Beitrag zur Stabilisierung der ge­ setzlichen Rentenversicherung geleistet haben. Für sie wird Die Bundesregierung nimmt die Bedenken bezüglich eines die bereits bestehende Möglichkeit, nach 45 Beitragsjahren möglichen, wenn auch unwahrscheinlichen, Trends zur ab 65 abschlagsfrei in Rente zu gehen, ausgeweitet und ein Frühverrentung ernst und wird im parlamentarischen Ver­ abschlagsfreier Rentenzugang ab dem Alter 63 ermöglicht. fahren die Einführung ergänzender Regelungen prüfen sowie Dies gilt für den Rentenzugang ab 1. Juli 2014. ab 2018 über die Inanspruchnahme der abschlagsfreien Rente ab 63, auch im Hinblick auf Bezugszeiten aufgrund Bei der geplanten Altersrente ab 63 Jahren handelt es sich von Arbeitslosigkeit, berichten. um eine zeitlich eng befristete Sonderregelung der Alters­ rente für besonders langjährig Versicherte. Das Eintrittsalter wird stufenweise angehoben. Für die Jahrgänge ab 1964 Reha-Budget und Erwerbsminderungsrente beträgt das Eintrittsalter in diese Rente dann 65 Jahre. Das ist keine Abkehr vom Weg zum längeren Arbeiten, sondern Der dritte Baustein des Rentenpakets hat die Gesundheit eine sinn- und maßvolle übergangsweise Ergänzung. der Versicherten (»Rehabilitation vor Rente«) und die Folgen einer Erwerbsminderung im Blick. Die gesetzliche Renten­ Zum anderen werden, um Härten von kurzzeitig unterbro­ versicherung erbringt an ihre Versicherten im Bedarfsfall chenen Erwerbsbiographien infolge von Arbeitslosigkeit zu Leistungen zur medizinischen und beruflichen Rehabilitation, vermeiden, bei der Wartezeit der Altersrente für besonders um ihre Erwerbsfähigkeit zu sichern oder wiederherzustellen. langjährig Versicherte auch Zeiten des Arbeitslosengeldbe­ Für diese Leistungen steht ihr ein seit 1997 gedeckelter zugs berücksichtigt. Zeiten der Dauer- oder Langzeitar­ Geldbetrag zur Verfügung (sog. Reha-Budget), der jährlich beitslosigkeit (ALG-II-Bezug bzw. frühere Arbeitslosenhilfe) festgesetzt wird. Bisher ist die Anpassung des Reha-Bud­ werden dagegen nicht angerechnet. Die Berücksichtigung gets ausschließlich an die entsprechende voraussichtliche von Zeiten des Arbeitslosengeldbezugs fällt allerdings kaum Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer ins Gewicht: Die überwiegende Mehrzahl der Berechtigten gekoppelt.

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In den letzten Jahren wurde das Reha-Budget nahezu voll­ Das Rentenpaket ist gerecht und solide finanziert ständig ausgeschöpft, um die gesetzlichen Ansprüche der Versicherten auf Leistungen der Rehabilitation zu erfüllen. Die mit dem Rentenpaket verbundenen Leistungsverbes­ Es ist absehbar, dass der Reha-Bedarf insbesondere aus serungen sind nicht zum Nulltarif zu haben. Nicht zuletzt demographischen Gründen in den nächsten Jahren weiter dank der Reformen der letzten Jahre sind in der Renten­ steigen wird, da die geburtenstarken Jahrgänge das reha­ versicherung finanzielle Spielräume vorhanden, um an den bilitationsintensive Alter ab 45 Jahren erreicht haben. Die erkannten Schwachstellen nachzubessern. Die Kosten Einführung einer Demographiekomponente soll daher si­ hierfür belaufen sich im Jahr 2014 auf rund 4,4 Mrd. Euro cherstellen, dass insbesondere der demographisch beding­ und im Jahr 2015, wenn die Maßnahmen für ein volles te vorübergehende finanzielle Mehrbedarf bei der Festset­ Jahr wirken, auf rund 9,0 Mrd. Euro. Langfristig steigen zung der jährlichen Ausgaben für Leistungen zur Teilhabe die Mehrausgaben auf 11 Mrd. Euro an. Die größte Ein­ berücksichtigt wird. Rückwirkend zum 1. Januar 2014 wird zelposition ist darunter die Ausweitung der Anerkennung das Reha-Budget zusätzlich um 100 Mill. Euro ansteigend der Kindererziehungsleistungen mit rund 6,7 Mrd. Euro bis zu 233 Mill. Euro im Jahr 2017 erhöht. Danach schwächt (2015). sich der demographische Einfluss auf die Aufwendungen für Leistungen zur Teilhabe ab, so dass die zusätzliche Er­ Mit 18,9% hat die (allgemeine) Rentenversicherung den höhung des Reha-Budgets nach dem Jahr 2020 wieder niedrigsten Beitragssatz seit fast 20 Jahren, und auch mit zurückgefahren werden kann. dem Rentenpaket wird dieses niedrige Niveau bis 2018 beibehalten. Auch langfristig werden sowohl die Beitrags­ Wer dennoch nicht mehr arbeiten kann und auf eine Erwerbs­ satzobergrenzen als auch die Sicherungsniveauziele einge­ minderungsrente angewiesen ist, erhält auf der anderen Sei­ halten. te mit dem Rentenpaket bei einem Rentenbeginn ab dem 1. Juli 2014 eine spürbare Verbesserung. Die für die Höhe der Bei der Finanzierung der Leistungsverbesserungen wird be­ Erwerbsminderungsrente wichtige sogenannte Zurechnungs­ rücksichtigt, dass die Rentenversicherung finanziell gut auf­ zeit wird um zwei Jahre (von 60 auf 62) verlängert. Das heißt, gestellt ist, aber auf lange Sicht die Beitragszahler nicht über­ Erwerbsgeminderte werden so behandelt, als ob sie mit ihrem fordert werden dürfen. Die Bundesregierung hält an der Fi­ durchschnittlichen Einkommen nicht nur bis 60, sondern bis nanzierung nicht beitragsgedeckter Leistungen durch Steu­ 62 Jahre gearbeitet hätten. Damit steigt die Rente. ermittel fest. Der Bund trägt bereits heute mit über 80 Mrd. Euro rund ein Drittel der Ausgaben der gesetzlichen Ren­ Zusätzlich wird eine Günstigerprüfung eingeführt. Sie nimmt tenversicherung. Er beteiligt sich ab dem Kalenderjahr 2019 die letzten vier Jahre aus der Berechnung des durchschnitt­ auch an den ausgeweiteten Leistungen für Kindererziehung lichen Einkommens für die Bewertung der Zurechnungszeit mit zusätzlichen Mitteln. Hierfür wird der allgemeine Bundes­ heraus, wenn etwa längere Krankheitszeiten oder ein nötiger zuschuss von 2019 bis 2022 in vier Stufen auf rund 2 Mrd. Wechsel in eine Teilzeitbeschäftigung in dieser Zeit das Ein­ Euro jährlich angehoben. kommen schon verringert haben und die Rente dadurch niedriger ausfallen würde. Natürlich wäre es wünschenswert, mehr Bundesmittel in der Rentenversicherung einzusetzen. Aus heutiger Sicht wurde Von diesen Leistungsverbesserungen profitieren Versicher­ aber unter Würdigung der finanziellen Situation der Renten­ te, die ganz besonders auf den Schutz durch die Solidar­ versicherung und des Bundeshaushalts eine vertretbare Lö­ gemeinschaft angewiesen sind. Gerade weil die durch­ sung gefunden. Weder Beitragszahler noch Steuerzahler schnittlich gezahlten Erwerbsminderungsrenten seit Jahren werden über Gebühr in Anspruch genommen. Gleichwohl aus verschiedenen Gründen rückläufig sind, ist es richtig, wird die finanzielle Ausstattung der Rentenversicherung und hier anzusetzen und die betroffenen Menschen künftig spür­ deren gerechte Finanzierung immer wieder neu zu überprü­ bar besser rentenrechtlich abzusichern. fen sein.

Tab. 1 Mehrausgaben durch das Rentenpaket in der gesetzlichen Rentenversicherung in Mrd. Euro einschließlich Krankenversicherung der Rentner, heutige Werte 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2025 2030 Kindererziehungszeiten 3,3 6,7 6,7 6,6 6,6 6,6 6,6 6,5 6,1 Bes. langj. Versicherte 0,9 1,9 2,2 2,0 1,9 1,8 1,8 2,1 3,1 Erwerbsminderungsrente 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,7 0,8 1,4 2,1 Rehabilitationsbudget 0,1 0,2 0,2 0,2 0,2 0,2 0,2 0,0 – 0,3 Rentenpaket insgesamt 4,4 9,0 9,3 9,3 9,3 9,3 9,4 10,0 11,0 Quelle: Berechnungen des Autors.

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Gerechte Nachjustierung und Stärkung des Solidarsystems

Das von der Regierungskoalition geschnürte Rentenpaket ist wohlüberlegt. Die Koalition zeigt: Mit dem Rentenpaket wird an den großen Reformen der Rentenversicherung fest­ gehalten. Aber im Detail werden die Voraussetzungen für die nötige Solidarität der Gemeinschaft mit denen geschaf­ fen, die besondere Lasten tragen oder getragen haben. Die Veränderungen im System haben zwar ein erhebliches fi­ nanzielles Gewicht, sind aber vor dem Hintergrund von Ge­ samtausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung von Enzo Weber* rund 260 Mrd. Euro pro Jahr gleichwohl überschaubar. An den grundsätzlichen Entscheidungen für eine demographie­ feste Rentenversicherung wird festgehalten, aber mit dem Rentenpaket werden gerechtere Ansprüche für die Men­ Geplante Rentenreform: Gerechtigkeit schen geschaffen: vor Nachhaltigkeit

• weil die Absicherung bei Erwerbsminderung spürbar ver­ Die Rentenhöhe ergibt sich aus einem gesamten Erwerbs­ bessert wird, leben, mit unterschiedlichsten Einflüssen von der Ausbildung über Beschäftigung, Arbeitslosigkeit oder Kindererziehung. • weil besonders langjährige Arbeit mit entsprechend lang­ Dementsprechend vielschichtig sind alle Rentenreformen in jähriger Beitragszahlung anerkannt und wertgeschätzt ihren Zielen und Maßnahmen zu bewerten, dementspre­ wird und chend kontrovers werden sie diskutiert. Es geht um ökono­ mische Anreize und Gerechtigkeit, Gegenwart und Nach­ • weil die Kindererziehungsleistung besser berücksichtigt haltigkeit, Demographie und Gesundheit, Lohnentwicklung wird. und Arbeitslosigkeit, Bildung und Zuwanderung.

All das wird die Rente gerechter machen und das Vertrauen Auch die Koalition aus CDU, CSU und SPD plant bei der der Bürgerinnen und Bürger in die gesetzliche Rentenversi­ Rente einige Neuerungen. So sollen langjährig Versicherte cherung stärken. mit 45 Beitragsjahren (inklusive Zeiten der Arbeitslosigkeit) bereits mit dem vollendeten 63. Lebensjahr ohne Abschläge in den Ruhestand gehen können. Die Renten von Versicher­ ten mit hoher Lebensleistung sollen zudem aufgestockt wer­ den, wenn das Niveau der Grundsicherung ansonsten nicht erreicht würde. Zeiten der Erziehung von vor 1992 gebore­ nen Kindern sollen bei der Rente stärker angerechnet, Ver­ sicherte mit Erwerbsminderung finanziell besser abgesi­ chert, das Budget für Rehabilitationsleistungen aufgestockt und Betriebsrenten gestärkt werden.

Wie ist das Rentenpaket zu bewerten – größere Gerechtig­ keit oder falsches Signal? Sehen wir uns die Pläne im Ein­ zelnen an.

Rente mit 60 + x

Personen der Geburtsjahrgänge bis 1952 wird ein ab­ schlagsfreier Rentenzugang mit 63 Jahren ermöglicht, wenn eine Wartezeit von 45 Beitragsjahren erreicht ist. Unter an­

* Prof. Dr. Enzo Weber ist Leiter der Forschungsbereiche »Arbeitsmarkt­ prozesse und Institutionen« sowie »Prognosen und Strukturanalysen« am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nürnberg, und Inhaber des Lehrstuhls für Empirische Wirtschaftsforschung, insb. Makroökono­ metrie und Arbeitsmarkt, an der Universität Regensburg.

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derem sollen darauf Phasen des Arbeitslo­ Abb. 1 sengeldbezugs, der Kinderbetreuung und Szenarien zur Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials der Pflege angerechnet werden. Für die in 1 000 Personen nachfolgenden Geburtsjahrgänge wird das 50 000

Zugangsalter parallel zur Anhebung des all­ 45 000 gemeinen Renteneintrittsalters auf 65 Jahre steigen, also die Marke, die bereits in der 40 000 bestehenden Regelung gilt. 35 000

Ist das gerecht? Natürlich ist das gerecht, 30 000

45 Jahre Arbeit sind doch eine ordentliche 25 000 Leistung. Ist das für alle gerecht? Natürlich nicht – so kommen Versicherte mit langer 20 000 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050 Bildungsphase nicht in den Genuss der neu­ steigende Erwerbsquoten, Wanderungssaldo p.a. +300 000 en Möglichkeiten, selbst wenn ihre Beitrags­ steigende Erwerbsquoten, Wanderungssaldo p.a. +100 000 leistung deutlich höher liegen sollte als die konstante Erwerbsquoten, keine Wanderungen berücksichtigt derjenigen mit mehr Beitragsjahren. Wollen Quelle: Berechnungen des IAB. sie ebenfalls mit 63 Jahren in Rente gehen, haben sie spürbare Abschläge hinzuneh­ weise – pro Kopf gibt es eben insgesamt weniger Einkommen men. Diese Ungleichbehandlung schwächt den Grundsatz zu verteilen, wenn der Anteil derjenigen an der Bevölkerung der Beitragsäquivalenz, der für die Legitimation der gesetz­ zurückgeht, die dieses Einkommen erwirtschaften. lichen Alterssicherung von großer Bedeutung ist. Keine Bevölkerungsgröße ist in Stein gemeißelt, eine Volks­ Geht die Rente mit 63 drängende Probleme an? Denkt man wirtschaft kann sich auch an einen demographischen Rück­ an diejenigen, die das geltende Renteneintrittsalter nicht in gang anpassen. Dennoch kann das Schrumpfen des Er­ Beschäftigung erreichen, vielleicht ja. Begünstigt werden al­ werbspersonenpotenzials die Wirtschaftsentwicklung stark lerdings Versicherte mit einer langen stetigen Erwerbsbiogra­ beeinträchtigen. So kann es zu Fachkräfteengpässen kom­ phie. Im Rentensystem und am Arbeitsmarkt sind das typi­ men, denen in den letzten Jahren neben der Zuwanderung scherweise nicht die problematischen Fälle. Wenn es Hand­ gerade die wachsende Erwerbsbeteiligung Älterer entge­ lungsbedarf bei der Altersversorgung gibt, so liegt dieser eher genwirkte. Zudem können Skalenvorteile zunichtegemacht bei den Armutsrisiken von Personengruppen mit diskontinu­ und kritische Massen unterschritten werden, auf die funk­ ierlichen Versicherungsverläufen. Im Übrigen profitieren von tionierende Netzwerke, Industriecluster oder lokale Arbeits­ der neuen Regelung wegen der im Schnitt höheren Zahl von märkte angewiesen sind – in Teilen Ostdeutschlands sind Beitragsjahren ganz überwiegend Männer. Die können dann diese Risiken schon heute evident. also früher in Rente gehen als Frauen – die Zeiten ändern sich. Kurzum: Aus verschiedensten Gründen ist man gut beraten, Am wichtigsten sind jedoch die Konsequenzen im Hinblick auch ältere Arbeitnehmer möglichst gut und möglichst lan­ auf Demographie und Arbeitsmarkt zu bewer­ ten. Die hohe krisenbedingte Einwanderung Abb. 2 beschert uns gerade die letzten Jahre, in de­ Entwicklung der Altersstruktur der Gesamtbevölkerung nen die Zahl der Arbeitskräfte in Deutschland % noch zunimmt (vgl. Fuchs et al. 2013). Der 100 Abwärtstrend ist aber demographisch vorge­ zeichnet, zu niedrig ist die Geburtenrate seit 80 Jahrzehnten (vgl. Abb. 1). Die Alterung der

Bevölkerung ist zudem bereits in vollem Gan­ 60 ge und wird sich in den nächsten eineinhalb Dekaden mit dem Älterwerden der Babyboo­ 40 67 u.älter mer, wie in Abbildung 2 gezeigt, verschärfen 50–67 (vgl. Fuchs und Söhnlein 2013). Das ist zu­ 30–49 nächst ein Problem für das Rentensystem 20 15–29 selbst, denn über die Umlagefinanzierung 0–14 müssen immer weniger Beitragszahler für im­ 0 mer mehr Rentner aufkommen. Das Grund­ 2008 2020 2030 2040 2050 problem liegt aber nicht in der Finanzierungs­ Quelle: Variante 11 aus Fuchs und Söhnlein (2013).

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ge in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Lebenserwartung nem für die Rente anerkannt werden. Ist das gerecht? Na­ steigt immer weiter, und mit ihr nehmen auch die Jahre bei türlich ist das gerecht, denn Erziehung ist eine verantwor­ guter Gesundheit und die Leistungsfähigkeit zu. Ältere sind tungsvolle, anstrengende und zu wenig honorierte Leistung heute viel häufiger erwerbstätig als noch vor ein oder zwei von großem gesellschaftlichem Wert. Ist die Erhöhung für Jahrzehnten und auch im Vergleich zum EU-Schnitt. Vor alle gerecht? Ja, denn für ab dem Jahr 1992 geborene Kin­ allem ältere Akademiker fallen bei den Erwerbsquoten kaum der werden ja sogar drei Jahre anerkannt – die Neuregelung noch hinter die jüngeren zurück, was einmal mehr die hohe ist also vielleicht noch gar nicht gerecht genug. Bedeutung von Bildung im Arbeitsmarkt zeigt. Ist die Mütterrente noch irgendetwas anderes als gerecht? Dennoch sind die Beweggründe für die Rente mit 63 auch Leider ja – teuer. Zukunftsgerichtet ist sie nicht, denn es geht nicht völlig aus der Luft gegriffen. So ist noch immer ca. die ja um Mütter von Kindern, die längst erwachsen sind. Den Hälfte der 60 bis 64-Jährigen nicht erwerbstätig. Es besteht demographischen Problemen durch eine bessere soziale durchaus Handlungsbedarf sicherzustellen, dass ein höhe­ Sicherung bei künftigen Erziehungszeiten entgegenzuwir­ res Renteneintrittsalter auch – gesund und produktiv – in ken, ist also gar nicht das Ziel. Hier könnte man etwas tun, Erwerbstätigkeit erreicht werden kann. Dabei geht es darum, indem die kontraproduktive Praxis beendet wird, Renten­ die noch immer vergleichsweise niedrigen Jobchancen äl­ ansprüche aus Kindererziehung und solche aus schnell nach terer Arbeitsloser zu verbessern, Vorurteile abzubauen, Ent­ der Geburt geleisteten Rentenbeiträgen gegenzurechnen mutigung entgegenzuwirken, Ältere stärker an Weiterbildung – gerade diejenigen, die mit Kindererziehung und Berufstä­ zu beteiligen, altersgerechtes Arbeiten zu ermöglichen, Prä­ tigkeit doppelte Leistung erbringen, haben dabei das Nach­ vention zu fördern und ein breites Umdenken in die Richtung sehen. zu erreichen, nicht nur Schwächen zu kurieren, sondern auch die spezifischen Stärken älterer Beschäftigter zu nut­ Am Ende muss bei der Mütterrente jeder selbst entscheiden, zen (vgl. dazu auch Dietz et al. 2013). ob es das Plus an Gerechtigkeit wert ist, überwiegend die im Rentensystem sowieso schon benachteiligte junge Ge­ Die Rente mit 63 birgt dagegen die Gefahr, dass Arbeits­ neration das Plus an Kosten von knapp 7 Mrd. Euro pro Jahr kräfte schon frühzeitig dem Arbeitsmarkt entzogen werden, tragen zu lassen. Jedenfalls wäre es richtig, die zusätzlichen und davon sind gerade die geburtenstarken Jahrgänge be­ Leistungen aus Beiträgen des Bundes an die Rentenversi­ troffen. In welchem Umfang die neue Option von den Be­ cherung zu bezahlen, so wie dies für die Erziehungszeiten rechtigten tatsächlich in Anspruch genommen wird, bleibt von ab dem 1. Juni 1999 geborenen Kindern sowieso schon abzuwarten. Im ungünstigen Fall würden die Fortschritte, geschieht. Anderenfalls würden Beitragszahler – und über die nach teilweise schmerzhaften Reformpaketen in Rente die Nachhaltigkeits- und Riester-Faktoren auch Rentner – und Arbeitsmarkt erreicht wurden, konterkariert. Zumindest durch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe belastet. sollten bei der Ausgestaltung des Gesetzes Fehlanreize bestmöglich vermieden werden. Kritisch zu sehen wäre es z.B., wenn die geforderte Wartezeit von 45 Beitragsjahren Solidarische Lebensleistungsrente mit einer Zeit des Arbeitslosengeldbezugs unmittelbar vor Renteneintritt vervollständigt werden könnte. Geplant ist eine Aufstockung von Zugangsrenten auf 30 Ent­ geltpunkte, wenn trotz einer großen Lebensleistung der Le­ Eine Besserstellung von Älteren ist unbedingt zu begrüßen, bensunterhalt nicht aus der Rente gedeckt werden kann. Le­ aber nicht durch zusätzliche Rentenleistungen, sondern bensleistung wird hier definiert mit mindestens 40 (übergangs­ durch Unterstützung bei der Vermeidung eines vorzeitigen weise 35) Beitragsjahren, bei möglicher Anrechnung von Zei­ Endes der Erwerbstätigkeit. Die Übergangszeit der Rente ten der Arbeitslosigkeit. Gefordert ist zudem (nach einer Über­ mit 67 sollte genutzt werden, um auf betrieblicher, sozial­ gangszeit) eine betriebliche oder private Altersvorsorge. partnerschaftlicher und individueller Ebene geeignete Maß­ nahmen umzusetzen. Grundsätzlich ist eine Flexibilisierung Ist das gerecht? Natürlich ist das gerecht, wer soll schon des Rentenzugangs, die auch als Motiv der Rente mit 63 nach einem arbeitsreichen Leben auf Sozialleistungen an­ gelten könnte, ein lohnendes Ziel. Ein Ansatzpunkt, eine in­ gewiesen sein? Ist das für alle gerecht? Natürlich nicht, denn dividuellere Gestaltung der Spätphase des Erwerbslebens ein Versicherter kann über sein ganzes Leben mehr in die zu ermöglichen, läge z.B. in der Verbesserung der recht Rentenkasse einzahlen als ein anderer, aber trotzdem am restriktiven Hinzuverdienstregelungen. Ende über keine höhere Rente verfügen. 40 Jahre eines kleinen Teilzeitjobs können höher bewertet werden als Mütterrente 39 Jahre Vollzeit.

Müttern (oder auch Vätern), deren Kinder vor 1992 geboren Solche Probleme sind in der Arbeitsmarkt- und Sozialpoli­ wurden, sollen nun pro Kind zwei Erziehungsjahre statt ei­ tik allgegenwärtig, wenn es um die Setzung von Mindest­

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standards geht. In der Rente treten sie nur in noch ver­ geplanten Maßnahmen erscheinen in dieser Hinsicht insge­ schärfter Form auf, weil das Rentenniveau unter dem Er­ samt nachvollziehbar. werbseinkommensniveau liegt und die Bedürftigkeits­ schwelle damit schwerer zu überwinden ist. Dagegen hilft Erwerbsminderung mit vorzeitigem gesundheitsbedingten aber nicht, ein auf Beitragsgerechtigkeit basierendes Sys­ Renteneintritt soll durch Rehabilitations- und Präventions­ tem mit mehr und mehr Elementen der staatlichen Fürsor­ maßnahmen vermieden werden. Die geburtenstarken Jahr­ ge zu vermengen. Einfacher und transparenter könnte es gänge der Babyboomer erreichen mittlerweile ein Alter, in sein, in der Grundsicherung Freibeträge für Rentenzahlun­ dem größerer Bedarf an solchen Reha-Maßnahmen besteht. gen zuzulassen. Gewiss, es wäre noch immer eine Sozial­ Dem möchte die Koalition dadurch begegnen, dass das leistung, aber würde eine »Lebensleistungsrente« als etwas Reha-Budget entsprechend dem demographischen Wandel anderes empfunden? Auch hier wäre Bedürftigkeit ein Kri­ angepasst wird. Angesichts der Notwendigkeit, die Er­ terium, auch hier müssten die Einkommensverhältnisse des werbsfähigkeit älterer Arbeitnehmer zu erhalten, ist das ein Versicherten und des Ehepartners geprüft werden – und richtiger Schritt. zwar durch die Rentenversicherung, die Bedürftigkeitsprü­ fung bislang nicht zu ihren Aufgaben zählt. Auch eine an­ Betriebliche Altersvorsorge kann bei sinkendem Niveau der dere fragwürdige Kuriosität könnte vermieden werden: Die gesetzlichen Rente die soziale Absicherung der Arbeitneh­ Lebensleistungsrente macht private Vorsorge zur Bedin­ mer stärken. Derartige Programme sind in großen Betrieben gung, auf die Grundsicherung werden solche Rentenzah­ zu finden. Die Pläne der Koalition, auch in kleineren Betrie­ lungen dagegen angerechnet. Ein bisschen mehr oder we­ ben bessere Voraussetzungen zu schaffen und Hemmnisse niger Arbeit kann über Wohl oder Wehe der Privatrente abzubauen, sind daher grundsätzlich zu begrüßen. Ent­ scheidend wird hier die praktische Umsetzung sein. entscheiden.

Schließlich: Wird die Lebensleistungsrente die Altersarmut Fazit beseitigen? Nein, denn die meisten armutsgefährdeten Per­ sonen haben gerade keine stetigen Erwerbsbiographien und Insgesamt dürfte das Rentenpaket jährlich mit einem in den seltensten Fällen eine private Altersvorsorge. Zudem zweistelligen Milliardenbetrag zu Buche schlagen. Die Fi­ werden die absehbare Erhöhung des Grundsicherungsbe­ nanzierung soll zunächst aus der Rentenkasse erfolgen, ab darfs und die ebenso absehbare Absenkung des Rentenni­ 2019 beteiligt sich der Bund mit Steuermitteln. Dabei wer­ veaus den kleinen Aufschlag von ca. 15 Euro im Monat, den den durchaus gesellschaftlich hoch einzuschätzende Ziele 30 Entgeltpunkte derzeit über das durchschnittliche Grund­ verfolgt. Eine andere Frage ist, ob das Geld richtig einge­ sicherungsniveau erbringen, schon bald verschwinden las­ setzt ist. sen. Und Bestandsrenten bleiben sowieso außen vor. Ein Beispiel: Altersarmut beginnt nicht im Alter. Armutsbe­ kämpfung, die erst hier ansetzt, kann nur noch eine Sockel­ Erwerbsminderungsrente, Reha-Budget, rente über Grundsicherungsniveau installieren, die zwar so­ betriebliche Altersvorsorge lidarisch finanziert, jedoch nicht Sozialleistung genannt wird. Dieser Kampf ist aber schon verloren – solange das Ren­ Bei Erwerbsminderungsrenten soll die sogenannte Zurech­ tenniveau weiter sinkt, verschärfen sich auch die Risiken der nungszeit erhöht werden. Die Rente der Betroffenen wird Altersarmut. Hier liegen also die entscheidenden Ansatz­ dann so berechnet, als ob sie mit ihrem früheren durch­ punkte, um gegenzusteuern – in einer nachhaltigen Begeg­ schnittlichen Einkommen bis zum Alter von 62 Jahren in die nung des demographischen Wandels, in der Leistungsfä­ Rentenkasse eingezahlt hätten, also zwei Jahre länger als higkeit des Arbeitsmarkts und in der Arbeitsmarktintegration bisher. Die letzten vier Jahre vor der Erwerbsminderung kön­ armutsgefährdeter Personen. nen künftig unberücksichtigt bleiben, wenn sie das Durch­ schnittseinkommen senken würden, etwa wegen gesund­ Natürlich stehen diese Punkte auf der politischen Agenda, heitsbedingter Reduzierung der Arbeitszeit. und einiges möchte die Koalition ja auch auf den Weg brin­ gen – etwa bei Bildungsinvestitionen, Kita-Ausbau, Förde­ Ist das gerecht? Im Wesentlichen ja, denn die Altersarmut rung der Aus- und Weiterbildung, Maßnahmen zugunsten in der Gruppe der Erwerbsgeminderten wächst, und die von Behinderten oder Integration von Zuwanderern. Nicht Betroffenen können ihre Situation aus eigener Kraft kaum alle Teile des Rentenpakets passen aber in eine wirksame mehr verbessern. Allgemein ist der schwierige Spagat zu Gesamtstrategie. Und mit der Summe der finanziellen Be­ meistern zwischen einer ausreichenden Unterstützung der lastungen werden Chancen auf eine Stärkung von Erwerbs­ Menschen mit Erwerbsminderung und der Vermeidung von anreizen durch eine Beitragssenkung vertan, die gerade für Fehlanreizen, Erwerbstätigkeit unnötig früh zu beenden. Die Geringverdiener so wichtig wäre.

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Literatur

Dietz, M., J. Möller, U. Walwei und E. Weber (2013), Ausbau auf solidem Fundament: Was am Arbeitsmarkt angepackt werden muss, IAB-Forum, Spezial, Nürnberg.

Fuchs, J., M. Hummel, Chr. Hutter, S. Klinger, S. Wanger, E. Weber, R. Wei­ gand und G. Zika (2013), IAB-Prognose 2013/2014: Arbeitslosigkeit sinkt trotz Beschäftigungsrekord nur wenig, IAB-Kurzbericht 18.

Fuchs, J. und D. Söhnlein (2013), Projektion der Erwerbsbevölkerung bis zum Jahr 2060, IAB-Forschungsbericht 10, Nürnberg.

Markus Kurth*

Rentenpaket: Verschenkte und versenkte Milliarden

Das sogenannte »Rentenpaket« der Großen Koalition stößt ausweislich verschiedener Umfragen in der Bevölkerung grundsätzlich auf Sympathie und Zustimmung. Wer 45 Jah­ re lang Beiträge in die Sozialversicherung eingezahlt oder Kinder großgezogen habe, hätte doch einen Zuschlag mehr als verdient. Wer als Politiker den vom Bundeskabinett ver­ abschiedeten Gesetzentwurf zu den geplanten neuen Leis­ tungen in der gesetzlichen Rentenversicherung kritisiert, steht bei vielen Menschen schnell als kaltherziger Sparkom­ missar da, der den Rentnerinnen und Rentnern ihre Leistung missgönnt. Daher vorweg: Bündnis 90/Die Grünen haben den allergrößten Respekt vor denjenigen, die 45 Jahre lang harte Arbeit geleistet haben. Und wir sehen auch, dass die unterschiedliche Bewertung der Kindererziehungszeiten je nach Stichtag eine ungleiche Behandlung gleicher Sachver­ halte ist.

Wir fragen aber auch, welche Gruppen die neuen Leistungen erhalten und welche eben nicht. Wir fragen weiter, wer für das Rentenpaket zahlt und wer nicht zahlt. Und schließlich fragen wir uns, welche sozialpolitischen Herausforderungen in den kommenden Jahren wirklich anstehen und welche Gruppen die aus sozialpolitischer Perspektive verwundbars­ ten sind. Nach Beantwortung dieser Fragen müssen wir zwangsläufig zu einem anderen Ergebnis als die Große Ko­ alition kommen. Überschlägig zusammengefasst: Das Ren­ tenpaket begünstigt einen Personenkreis zusätzlich, der in der Regel bereits jetzt über ein relativ gutes Versorgungsni­ veau im Alter verfügt. Die Kosten tragen hingegen ganz über­ wiegend die Beitragszahlerinnen und -zahler sowie die Rent­ nerinnen und Rentner. Außerdem werden neue Ungerech­ tigkeiten produziert: Von der »Mütterente« profitieren arme Mütter nicht, da sie auf die Grundsicherung angerechnet wird und von der »Rente ab 63« haben Personen mit wech­ selhaften Erwerbsbiographien nichts. Hingegen werden die­

* Markus Kurth, MdB, ist der Sprecher für Rentenpolitik der Bundestags­ fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

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jenigen, die aus gesundheitlichen Gründen in den vorzeitigen 70 Mrd. Euro bis zum Jahr 2030. Nach Angaben der Bun­ Ruhestand gehen müssen, weiterhin hohe Abschläge in desvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände schul­ Kauf nehmen müssen. Und das, obwohl sie den Vorruhe­ tern die Rentnerinnen und -rentner durch ein geringeres stand nicht selbst gewählt haben. Die große sozialpolitische Rentenniveau 55 Mrd. Euro der Kosten. Bei der gesetzlichen Herausforderung, die Bekämpfung der Altersarmut, steht Rentenversicherung fallen weitere 10 Mrd. Euro an Beitrag­ unter Finanzierungsvorbehalt und wird von dieser Bundes­ sausfällen aufgrund der abschlagsfreien Rente ab 63 für regierung auf die lange Bank geschoben. besonders langjährig Versicherte bis zum Jahr 2030 an. Läp­ pisch nehmen sich da fast die zusätzlichen 22,55 Mill. Euro Verwaltungsaufwand für die Träger der Deutschen Renten­ Gesamtkosten: Nichts Genaues sagt man nicht versicherung aus.

Das vorgelegte Rentenpaket lässt mehr Fragen offen, als es Mutmaßlich wird die gesetzliche Kranken- sowie soziale Pfle­ Antworten gibt. So wird nicht systematisch offen gelegt, wie geversicherung Beitragsausfälle verzeichnen. Die geringeren hoch die Gesamtbelastung der Rentenpläne ist, wie sich die Beiträge der vorzeitig in Rente gehenden Personen werden jeweiligen Belastungen auf Beitragszahlerinnen und -zahler, nicht durch höhere Beitragseinnahmen aufgrund der höhe­ Rentnerinnen und -rentner, die öffentlichen Haushalte sowie ren (beitragspflichtigen) Rentenleistungen bis zum Jahr 2030 die Sozialversicherungsträger auswirken und welche Prog­ ausgeglichen. nosen über die Inanspruchnahme der jeweiligen Leistungen den Kostenschätzungen zugrunde liegen. Die Bundesregie­ rung verweigert eine transparente Aufzählung der kalkulierten Erwerbsminderung und Reha-Budget: Kostenbelastungen. Auf dieser Grundlage wird es dem Ge­ Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung setzgeber verunmöglicht, eine voll informierte Entscheidung über das alsbald abzustimmende Gesetz zu treffen. In müh­ Es ist vollkommen richtig, Mittel der gesetzlichen Renten­ seliger Kleinarbeit und durch verschiedene Anfragen (siehe versicherung für die Verbesserung der beitragsfinanzierten insbesondere die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/ Leistungen im Zusammenhang mit einer längeren Lebens­ Die Grünen, Bundestagsdrucksache 18/430) ist es gelungen, arbeitszeit (Rente mit 67) aufzuwenden. Um Personen bes­ einzelne Positionen zusammenzurechnen und ein ungefähres ser abzusichern, die wegen Gesundheitsschäden nicht so Bild dessen zu zeichnen, was auf die Beitragszahler, die lange arbeiten können, muss die Erwerbsminderungsrente Rentner und die kommende Generation zukommt. verbessert werden. Hierbei reicht es allerdings nicht, die Zurechnungszeit um zwei Jahren anzuheben, wie von Uni­ Nach unseren Informationen liegt die Gesamtbelastung des on und SPD geplant. In den Haushalten von Erwerbsmin­ Rentenpakets auch ohne die möglichen Folgekosten einer derungsrentnerinnen und -rentnern liegt die Armutsquote Frühverrentung vor dem 63. Lebensjahr bei deutlich über bei 37%. 175 Mrd. Euro bis zum Jahr 2030. Und das auch nur, wenn die Konjunktur weiter mitspielt. Dem Bundeshaushalt ent­ Nach unserer Auffassung sollten die Abschläge abgeschafft stehen durch einen erhöhten Bundeszuschuss aufgrund ei­ werden, wenn der Zugang zu den Erwerbsminderungsren­ nes höheren Beitragssatzes sowie durch eine höhere Betei­ ten allein aufgrund medizinischer Diagnose und Prüfung ligung des Bundes ab dem Jahr 2019 mit zusätzlichen Mit­ möglich wäre und das Verfahren zur Begutachtung verbes­ teln an den ausgeweiteten Leistungen für Kindererziehung sert würde. für vor 1992 geborene Kinder Kosten in Höhe von rund 40 Mrd. Euro bis zum Jahr 2030. Hinzu kommen Kosten durch Auch innerhalb der Koalitionsfraktionen werden Fragen lau­ höhere Arbeitgeberbeiträge der Angestellten des Bundes ter, ob die Prioritätensetzung der rentenpolitischen Vorhaben von insgesamt rund 225 Mill. Euro. Durch die höheren Ar­ angesichts sinkender Erwerbsminderungsrenten richtig ge­ beitgeberbeiträge entstehen auch den Ländern Kosten in wählt wurde. So unterstützen der Staatssekretär im Gesund­ Höhe von knapp 900 Mill. Euro und den Kommunen in Hö­ heitsministerium, Karl-Josef Laumann, und der Vorsitzende he von rund 1,65 Mrd. Euro bis zum Jahr 2030. der Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU-Bundestagsfrak­ tion, Peter Weiß, unseren Vorschlag, deutlich mehr Mittel für Auch ist mit Steuermindereinnahmen zu rechnen, weil die die Erwerbsminderungsrentner zur Verfügung zu stellen. erwartbaren Steuerausfälle aufgrund des höheren Sonder­ ausgabenabzugs (Rentenversicherungsbeiträge) nicht voll­ Die Bundesregierung wird sich im anstehenden Gesetzge­ ständig durch höhere Steuerzahlungen der Rentnerinnen bungsverfahren damit auseinandersetzen müssen, warum und Rentner kompensiert werden. die nach Angaben der Christlich-Demokratischen Arbeit­ nehmerschaft (CDA) »sozialpolitisch vordringlichste Aufga­ Die Beitragszahlerinnen und -zahler finanzieren die neuen be«, die Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos, nicht Leistungen durch höhere Beitragssätze in Höhe von über auch vordringlich behandelt wird.

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Mütterrente: Falsche Prioritätensetzung gearbeitet haben. Das sind zum Beispiel die in der Pflege beschäftigten Frauen, genauso wie der Bauarbeiter, der mit Die Bundesregierung plant die Verbesserung der Renten­ Ende 50 aus gesundheitlichen Gründen aus dem Arbeitsle­ ansprüche für Eltern mit Kindern, die vor 1992 geboren wur­ ben ausscheiden und Erwerbsminderungsrente beantragen den. Es ist aus unserer Sicht einerseits vollkommen nach­ muss. Auch der prekär beschäftigte Lagerarbeiter, der, statt vollziehbar, die unbezahlte Erziehungsarbeit unserer Groß­ eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auszu­ mütter und Mütter finanziell anzuerkennen und ihnen zumin­ üben, unfreiwillig in Scheinwerkverträge gedrängt wird, dest symbolisch über eine Rentenerhöhung – einen zusätz­ kommt nicht auf 45 Beitragsjahre, auch nicht die Nach­ lichen Entgeltpunkt – etwas von dem wiederzugeben, was wuchsjournalistin, die in den ersten Berufsjahren nur auf sie in all den Jahren geleistet haben. Andererseits stellt sich Honorarbasis arbeiten kann. Sie alle werden nichts von der die Frage, ob die (wie bei jeglicher Stichtagsregelung) aufge­ Rente mit 63 haben. Im Gegenteil: Sie werden diese über tretene Ungleichbehandlung wirklich das drängendste sozi­ ihre Beiträge mitfinanzieren und später ein zweites Mal über alpolitische Problem unserer Zeit darstellt, das es rechtfertigt, das niedrigere Rentenniveau. Jahr für Jahr rund 6,6 Mrd. Euro auszugeben. Auch sprechen systematische Argumente gegen eine überwiegende Finan­ Wer erreichen will, dass die Rente mit 67 keine verkappte zierung aus Beitragsmitteln: Nicht alle Kinder der begünstig­ Rentenkürzung darstellt, muss flexible Übergänge in die ten Mütter zahlen heute Beiträge in die gesetzliche Renten­ Rente für alle ermöglichen, die darauf angewiesen sind, egal versicherung ein. Viele von ihnen sind über Versorgungswer­ ob sie 35, 40 oder 45 Jahre gearbeitet haben. Der Bezug ke abgesichert – Ärzte, Apotheker, Architekten, Rechtsan­ einer Teilrente bei reduzierter Arbeitszeit wäre zum Beispiel wälte –, andere sind Beamte, Richter, einige auch Bundes­ eine solche Möglichkeit, die wir weiterverfolgen werden. Zur tagsabgeordnete. Rentenanwartschaften für Kindererziehung Flankierung der Rente mit 67 braucht es nämlich mehr al­ sind eine Maßnahme des soziales Ausgleichs und somit aus tersgerechte Arbeitsplätze, bessere betriebliche Gesund­ Steuermitteln zu finanzieren. Die Bundesregierung setzt statt­ heitsförderung und eine Humanisierung der Arbeitswelt. dessen die Beitragsmittel der Nachhaltigkeitsrücklage ein und will erst im Jahre 2019 den Steuerzuschuss für die Ren­ Zu den Gewinnern der Rente ab 63 zählen vorwiegend tenversicherung erhöhen. Im ersten Jahr sind überdies nur männliche Arbeitnehmer, die über verhältnismäßig gute Ren­ 500 Mill. Euro vorgesehen. Zudem hilft die Mütterrente auch tenansprüche und zusätzlich oft über eine Betriebsrente ver­ nicht gegen Altersarmut, da sie auf die Grundsicherung im fügen. Erwerbstätige, die nicht lückenlos in die Rentenver­ Alter vollständig angerechnet wird. sicherung einzahlen konnten, gehen nicht nur leer aus, son­ dern müssen über ihre Beiträge und ein niedrigeres Renten­ Für die Verbesserung der Absicherung von Frauen und Er­ niveau für das neue Rentenprivileg zahlen. ziehenden verfolgen wir vorrangig die Einführung der Ga­ rantierente, mit dem ein Mindestniveau von mindestens Zudem profitieren nur Personen der Jahrgänge 1951 bis 850 Euro in der Rente eingeführt wird. Um Frauen und Er­ 1964. Ältere und Jüngere kommen nicht in den Genuss der ziehende besser vor Altersarmut zu schützen sollen dabei neuen Leistung. Problematisch ist ferner, dass – je nach auch Zeiten der Kindererziehung bis zu zehn Jahren auf die Anrechnung der Zeiten von Arbeitslosigkeit – ein weiterer Zugangsvoraussetzung von 30 Versicherungsjahren in der Anreiz für Frühverrentungen entstehen kann. Rentenversicherung angerechnet werden. Im Gegensatz zu dem theoretischen Konzept der solidarischen Lebensleis­ Frühverrentung vor Eintritt des 63. Lebensjahres indes soll tungsrente würde also deutlich mehr als nur 1% der Rent­ es ausweislich des Gesetzentwurfs der Bundesregierung nerinnen und Rentner profitieren. gar nicht geben. Das ist durchaus nachvollziehbar, denn eine solche Maßnahme ist sowohl für Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer in der Breite wenig attraktiv. Die Debatte hie­ Rente mit 63: Die falsche Antwort auf die Heraus­ rum gleicht einem symbolischen Schaukampf der die Ko­ forderung einer längeren Lebensarbeitszeit alition tragenden Fraktionen. Die Union möchte in diesem Schaukampf unbedingt punkten – erscheint sie in der öf­ Die Bundesregierung will (vorübergehend) eine abschlags­ fentlichen Wahrnehmung doch bislang als der schwächere freie Rente ab dem 63. Lebensjahr nach 45 Versicherungs­ Partner. Dabei übersieht die Union, dass die Rente ab 63 jahren einführen. Die SPD will damit ihre Stammwählerschaft schon an sich ein Frühverrentungsprogramm ist. Rund darüber hinwegtrösten, dass sie die Rente mit 67 eingeführt 200 000 Personen pro Jahr erfüllen die Voraussetzungen hat. Die Bundesregierung übersieht dabei, dass die Rente und gehen in Rente. Das sind 25–30% eines jeden Rent­ ab 63 eine Unzahl neuer Gerechtigkeitsfragen aufwirft. nerjahrgangs. Nach Auskunft der Bundesregierung auf eine weitere Anfrage von mir sind rund 150 000 dieser Personen Viele Beschäftigtengruppen etwa kommen überhaupt nicht auch schon unter geltendem Recht, dann aber unter In­ auf 45 Beitragsjahre und das, obwohl auch sie viel und hart kaufnahme von Abschlägen, früher in Rente gegangen. Im­

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merhin 50 000 Personen werden somit aber früher dem Es war und ist unehrlich insbesondere von CDU und CSU, Arbeitsmarkt entzogen. im Wahlkampf zu versprechen, keine Steuern zu erhöhen und dann alle neuen Wohltaten aus der Rentenkasse zu fi­ nanzieren. Die Mittel der Rücklage werden in dieser Wahl­ Solidarische Lebensleistungsrente: Der Bekämp­ periode praktisch komplett aufgebraucht. Die Beitragszah­ fung von Altersarmut fehlt am Ende das Geld ler finanzieren einen Teil durch die unterlassene Beitrags­ satzsenkung und die Rentner einen weiteren durch ein stär­ Die Einführung der »solidarischen Lebensleistungsrente« soll ker sinkendes Rentenniveau. Trotzdem reicht dies gerade voraussichtlich bis 2017 erfolgen, also deutlich später als mal über die Wahlperiode – der dann kommenden Regie­ die anderen in der Rente geplanten Leistungsverbesserun­ rung wird eine Last von 10 Mrd. Euro jährlich überlassen. gen. In der Antwort auf unsere Kleine Anfrage (Bundestags­ Selten in der Geschichte der Bundesrepublik betrieb eine drucksache 17/430) gibt die Bundesregierung aber unmiss­ Regierung so dreist Politik nach dem Motto »Nach mir die verständlich zu erkennen, dass die Lebensleistungsrente Sintflut«. unter Finanzierungsvorbehalt steht.

Die Lebensleistungsrente ist zudem keine Antwort auf Alter­ sarmut. Sie ist mit so hohen Zugangsvoraussetzungen ver­ sehen, dass von ihr nur 1% aller Rentnerinnen und Rentner profitieren würde. Zudem sind die Voraussetzungen für den Bezug für die Betroffenen kaum durchschaubar, und es wird auch kein Mindestniveau für langjährig Versicherte einge­ führt. Dahingegen wollen wir durch eine Garantierente sicher stellen, dass für langjährig Versicherte, die in Rente gehen, unzureichende Rentenansprüche auf ein Mindestniveau von 850 Euro aufgestockt werden. Voraussetzung für die Ga­ rantierente soll eine Mindestversicherungszeit von 30 Jahren sein. Neben Beitragszeiten sollen auch Zeiten der Arbeits­ losigkeit, Erwerbsminderung, Ausbildung, Kindererziehung und Pflege auf die Mindestversicherungszeit von 30 Jahren angerechnet werden. Die Voraussetzungen für die Garan­ tierente haben wir bewusst so gesetzt, dass sie gerade auch von Frauen realistisch zu erreichen sin. Die Garantierente wird durch Steuern finanziert.

Fazit: Spielräume für die sozialpolitisch wichtigen Verbesserungen werden auf Jahre zugestellt

Das Argument der Regierung Merkel ist immer, dass sie auf Sicht fährt. Nur, das Sichtfeld ist furchtbar klein. Die Regie­ rung Merkel sitzt nämlich krampfhaft am Lenkrad und schaut nur auf das nächste Stück der Wegstrecke. Gerade bei der Rentenversicherung würde es sich lohnen, den Blick zu he­ ben, auf lange Sicht zu fahren und auch die Warnschilder am Rand zu beachten. Da sehen wir nämlich die aufkom­ mende Altersarmut, den steigenden Beitragssatz, den de­ mographischen Wandel, das sinkenden Rentenniveau, das zunehmende Risiko einer Erwerbsminderung oder das spä­ tere Renteneintrittsalter.

Union und SPD behaupten, mit ihrem Rentenpaket Gerech­ tigkeitsprobleme zu lösen. Sie schaffen aber neue. Dazu nehmen sie in Kauf, dass mittelfristig erhebliche Finanzie­ rungsprobleme auf die Gesetzliche Rentenversicherung zu­ kommen.

ifo Schnelldienst 5/2014 – 67. Jahrgang – 13. März 2014 Ist die Marktwirtschaft noch sozial?*

26 Vortrag

I. schafts- und wirtschaftspolitisches Leit- bild mit dem Ziel, »auf der Basis der Wett- Glaubt man jüngsten Umfragen, so haben bewerbswirtschaft die freie Initiative mit nur noch weniger als die Hälfte der Bun- einem gerade durch die wirtschaftliche desbürger eine gute Meinung von der So- Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zialen Marktwirtschaft, auf dem Höhe- zu verbinden.« Er wollte damit der neuen, punkt der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 zukünftigen Wirtschaftsordnung des vom waren es sogar bisweilen nur noch ein Krieg zerstörten Deutschlands einen in- Drittel. Das Wort »Neoliberalismus« ist novativen Namen geben und dabei aus- zum negativen Kampfbegriff in der politi- drücklich einen »dritten Weg« zwischen schen Auseinandersetzung geworden schrankenlosem Kapitalismus und staat- und wird dabei mit sozialer Kälte und licher Planwirtschaft beschreiten. Martin Zeil schrankenlosem Kapitalismus gleichge- Staatsminister a.D. setzt. Unsere Gesellschaft, unsere Wirt- Erhard und Müller-Armack griffen bei ihrer schaftsordnung werden von vielen als »zu Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft wenig gerecht«, als »nicht mehr sozial« auf wissenschaftliche Grundlagen zurück, empfunden. die seit den 1930er Jahren unter den Be- griffen »Neoliberalismus« und »Ordolibe- Um die mir als Vortragsthema gestellte ralismus« entwickelt wurden, in die aber Frage »Ist die Marktwirtschaft noch sozi- auch die Prinzipien der Katholischen So- al?« beantworten zu können, ist es un- ziallehre und der Evangelischen Sozial­ ausweichlich, ein wenig in die geschicht- ethik eingeflossen sind. Herausragende lichen und wissenschaftlichen Grundla- gen des Begriffs »Soziale Marktwirt- Vertreter dieser Denkrichtungen, die na- schaft« zu gehen. türlich auch stark von dem seinerzeit in Europa vorherrschenden Dualismus von Kommunismus und den totalitären Regi- Woher kommt die Soziale men in Deutschland und Italien geprägt Markwirtschaft, wie ist sie waren, sind als Vertreter der »Freiburger entstanden, und was bedeutet sie? Schule« Walter Eucken, Franz Böhm, Constantin von Dietze und Adolf Lampe, Als Geburtsstunde der Sozialen Markt- sowie als Vertreter der »Österreichischen wirtschaft in Deutschland gilt allgemein Schule« Friedrich August von Hayek. Her- die von Ludwig Erhard in seiner damali- vorzuheben sind auch Alexander Rüstow gen Funktion als Direktor der Wirtschafts- und Wilhelm Röpke als führende Vertreter verwaltung in der Westzone am 20. Juni des Neoliberalismus, welche ihre Konzep- 1948 gegen erhebliche Widerstände von tionen für eine humane Wirtschaftsord- allen Seiten bekannt gegebene Wirt- nung als entschiedene Gegner des Nati- schafts- und Währungsreform. Wesentli- onalsozialismus im Exil entwickelten. Ein che Bestandteile waren die Einführung direkter Bezug zwischen dem Protestan- der D-Mark und die damit verbundene tismus und dem Neoliberalismus ergibt Aufhebung der staatlichen Preisbindung sich aus dem 1942/43 erstellten Memo- und die Abschaffung der staatlichen Be- randum unter dem Titel »Vorschläge für wirtschaftung. programmatische Grundlinien der Wirt- schafts- und Sozialordnung«, welches Bezeichnung und Konzeption der Sozia- von Eucken und Böhm unter Mitarbeit len Marktwirtschaft gehen im Wesentli- von Mitgliedern der Bekennenden Kirche chen auf Alfred Müller-Armack, einen en- wie Helmut Thielecke und Dietrich Bon- gen Mitarbeiter Erhards, zurück, der den hoeffer erstellt wurde. Es stellt deshalb Begriff zum ersten Mal 1947 in seinem einen besonders krassen Fall von Ge- Buch »Wirtschaftslenkung und Marktwirt- schichtsklitterung dar, wenn gerade auch schaft« verwendet hat. Müller-Armack kirchliche Kreise heutzutage in die sah die Soziale Marktwirtschaft als gesell- Schmähung des Neoliberalismus einstim- * Vortrag in der Veranstaltungsreihe der Evangeli- men. Wer das tut, verkennt nicht nur, dass schen Kirchengemeinde Immanuel-Nazareth in München, 19. Februar 2014. der Neoliberalismus die Wiege der Sozi-

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alen Marktwirtschaft ist, er verleugnet darüber hinaus ihre Schon früh ist deutlich geworden, dass es sich bei der So- christlichen Wurzeln. zialen Marktwirtschaft um weit mehr handelt als um eine bestimmte Wirtschaftsordnung oder Wirtschaftsverfassung. In seiner eindrucksvollen Rede zum 60. Geburtstag des Wal- Aufgrund ihrer geistigen Grundlagen und ihrer Entstehungs- ter-Eucken-Instituts in Freiburg vor wenigen Wochen hat geschichte wurde sie sehr schnell zu einem »freiheitlichen Bundespräsident Gauck diese Mode, den Begriff »Neolibe- Ordnungssystem mit sozialer Prägung«, wie es im Bericht ralismus« so negativ zu besetzen, als »merkwürdig« bezeich- der Kommission »Zukunft Soziale Marktwirtschaft«, welche net. Die auf dem Neoliberalismus fußende Soziale Markt- die Bayerische Staatsregierung 2009 eingesetzt hatte und wirtschaft ist, so Gauck, eine Ordnung, die »auf die Freiheit in der so unterschiedliche Temperamente und Experten wie des Menschen ausgerichtet« sei. Prof. Hans-Werner Sinn und Kardinal Reinhard Marx mitge- wirkt haben, zutreffend heißt. Dabei ging es den Vordenkern Bei allen Unterschieden im Detail und bei aller gebotenen der Sozialen Marktwirtschaft von Anfang an auch um eine Differenzierung der einzelnen Denkschulen sind allen Ver- wertgebundene Ordnung mit ethischen Maßstäben. Wilhelm tretern des Neo- oder Ordoliberalismus folgende Grund- Röpke hat dies in seinem Buch »Jenseits von Angebot und gedanken gemeinsam: Eine marktwirtschaftliche Ordnung Nachfrage« wie folgt formuliert: mit funktionierendem Wettbewerb bietet die beste Garan- tie für eine freiheitssichernde Wirtschaftsverfassung. Der »Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit, Fairness, Gemeinsinn, Ach- Neoliberalismus ist ein Modell des Ausgleichs zwischen tung vor der Menschenwürde des anderen sind Dinge, die der Staatswirtschaft sozialistischer Prägung auf der einen die Menschen bereits mitbringen müssen, wenn sie auf den Seite und schrankenlosem Kapitalismus auf der anderen Markt gehen und sich im Wettbewerb miteinander messen.« Seite. Als freiheitliche, marktwirtschaftliche Wirtschaftsord- nung mit privatem Eigentum strebt der Neoliberalismus Es ging und geht letztlich um die Frage, welche Wirtschafts- freie Preisbildung, Wettbewerbs- und Gewerbefreiheit an. ordnung der Konzeption des freiheitlichen Rechtsstaats des Innerhalb dieses Konzepts werden staatliche Eingriffe in Grundgesetzes (GG), und damit auch dem Menschenbild die Wirtschaft keineswegs ganz abgelehnt, sondern auf unserer Verfassung am besten entspricht. Das Grundgesetz das notwendige Minimum beschränkt. Sie sind dann ge- selbst hat diese Frage ja bekanntlich offen gelassen, zumal rechtfertigt und notwendig, wenn sie z.B. Informations­ die damaligen politischen Kräfte in dieser Frage noch völlig asymmetrien beheben, das Marktgeschehen fördern, die uneins waren, es waren die Zeiten, als zum Beispiel in der Bildung von Monopolen oder Kartellen verhindern und so Union noch über einen »christlichen Sozialismus« diskutiert für mehr Wettbewerb sorgen. wurde. So heißt es in Art. 20 Absatz 1 GG lediglich: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und so- Die daraus entwickelte Idee der Sozialen Marktwirtschaft zialer Bundesstaat.« Ein Hinweis auf eine bestimmte Wirt- beruht auf der Verbindung des Prinzips der Freiheit auf dem schaftsordnung fehlt. Markt und des Wettbewerbs mit dem des sozialen Aus- gleichs. Eigeninitiative, Leistungsbereitschaft und Wettbe- Das hat sich erst im Zuge der Wiedervereinigung geändert, werb sind dabei die zentralen Faktoren. als in dem Vertrag über die »Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion« zwischen den beiden deutschen Staaten vom Aufgabe des Staates in der Sozialen Marktwirtschaft ist es 18. Mai 1990 erstmals die »Soziale Marktwirtschaft« offiziell demnach, verlässliche Rahmenbedingungen zu schaffen, als »gemeinsame Wirtschaftsordnung« des vereinten die Investitionen, unternehmerischen Initiativen und inter- Deutschlands festgelegt und damit gleichsam in Verfas- national konkurrenzfähige Innovationen fördern. Schon sungsrang erhoben wurde. Auch auf europäischer Ebene Ludwig Erhard betrachtete die Marktwirtschaft als sozial, hat der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft durch den Ver- weil sie zugleich die Grundlage für einen breiten wirtschaft- trag von Lissabon 2009 Eingang in Art. 3 des EU-Vertrages lichen Wohlstand schafft und somit erst die finanziellen Mit- gefunden, wo nunmehr von einer »in hohem Maße wettbe- tel für die sozialen Leistungen erwirtschaftet. Aber er warn- werbsfähigen sozialen Marktwirtschaft« die Rede ist, welche te zugleich vor einer beliebigen Ausdehnung der Staats­ »auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt«. tätigkeit und mahnte, der Staat müsse sich auf seine Ker- naufgaben beschränken. Dazu passend hat er sein Men- Auch die Kirchen haben sich immer wieder mit dem Begriff schenbild innerhalb der Sozialen Marktwirtschaft so und der Entwicklung der Sozialen Marktiwrtschaft beschäf- beschrieben: tigt, wobei auch hier gewisse zeitgeistige Wendungen un- verkennbar sind. In der evangelischen Denkschrift »Gemein- »Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Ri- wohl und Eigennutz« aus dem Jahre 1991 heißt es: siko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge Du, Staat, dafür, dass ich dazu »Christen können dem Weg der sozialen Marktwirtschaft in der Lage bin.« grundsätzlich zustimmen, weil er zu der von ihrem Glauben

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gewiesenen Richtung des Tuns nicht in Widerspruch tritt, zuführen, dass die Erhardschen Reformen eine einmalige vielmehr Chancen eröffnet, den Impulsen der Nächstenlie- Erfolgsstory in der deutschen Geschichte ausgelöst haben. be und der Gerechtigkeit zu folgen.« Bei allen Rückschlägen, bei allen Irrungen und Wirrungen, die auch im Handeln von Regierungen und Unternehmen in Wenig später folgte das Gemeinsame Wirtschafts- und So- den letzten 65 Jahren zu kritisieren sind, trotz der großen zialwort beider Kirchen, in dem es zusammenfassend heißt: Herausforderungen im Zuge der Wiedervereinigung und der Finanzmarktkrise muss man, gerade auch im europäischen »Die Kirchen sehen im Konzept der sozialen Marktwirt- und internationalen Vergleich, feststellen: Deutschland ist schaft weiterhin den geeigneten Rahmen für eine zukunfts- heute eines der Länder mit dem höchsten Wohlstand, der fähige Wirtschafts- und Sozialpolitik.« höchsten Lebensqualität, den höchsten Sozialstandards und der geringsten Armutsquote auf der ganzen Welt. Damit Auch die katholische Kirche hat sich in ihrer kirchlichen So- soll in keiner Weise beschönigt werden, dass es auch bei zialverkündigung mit dem Gleichgewicht von Freiheit und uns nach wie vor Armut und Not gibt. Wenn es aber um die sozialer Sicherheit beschäftigt. Papst Johannes Paul II. hat Frage geht, wie diesen Entwicklungen zu begegnen ist, wel- ebenfalls im Jahr 1991 in der Enzyklika »Centesimus annus« ches die richtigen Rezepte sind, um unsere Gesellschaft auf dieses Zusammenspiel hingewiesen: immer ein Stück gerechter und sozialer zu machen, kommt es eben entscheidend darauf an, welche Wirtschaftsord- »Der Wohlfahrtsstaat, der direkt eingreift und die Gesell- nung dazu am besten in der Lage ist. schaft ihrer Verantwortung beraubt, löst den Verlust menschlicher Energie und das Aufblähen des Staatsappa- Und hier sollen drei Zahlen den Erfolg der Sozialen Markt- rates aus, die mehr von bürokratischer Logik als von dem wirtschaft verdeutlichen: Bemühen beherrscht werden, den Empfängern zu dienen.« 1. Das BIP pro Kopf (also die Wirtschaftsleistung) betrug in Hier wird also auch seitens der Kirchen eindeutig vor der jetzigen Preisen gerechnet 1950 5 150 Euro, 2008 waren Untergrabung der Freiheit und dem Entzug der eigenen Ver- es knapp 30 000 Euro je Einwohner. antwortung durch ein übermäßiges Versorgungsangebot gewarnt. Dahinter steht natürlich auch der enorme Erfolg deutscher Produkte im Außenhandel. Als Exportweltmeister in vielen Wenige Jahre später, im Jahr 1997, hat sich der Rat der Jahren konnte Deutschland seine Spitzenstellung auch ge- evangelischen Kirche in Deutschland in einem gemeinsamen genüber Ländern mit einer wesentlich höheren Einwohner- Wort auch eindeutig zum Unternehmertum bekannt: zahl erfolgreich behaupten.

»Unternehmer, die sich mit ihrem Kapitaleinsatz und ihrer 2. Die Löhne und die Kaufkraft sind enorm gestiegen, so Entscheidungsfreudigkeit den Risiken des Wettbewerbs betrug der durchschnittliche Bruttostundenlohn im Jahre aussetzen und dabei Arbeitsplätze und Güter schaffen, ver- 2008 das 24-fache des Bruttolohns aus dem Jahr 1950. dienen auch unter ethischen Gesichtspunkten hohe Aner- Musste ein Arbeitnehmer Ende der 1940er Jahre noch eine kennung.« Stunde und 13 Minuten für ein halbes Pfund Butter oder gar 20 Stunden für 500 gr Kaffee schuften, so genügen aktuell Anderthalb Jahrzehnte und einige Wirtschaftskrisen später etwa fünf bzw. 20 Minuten. klingt dies im Wort der Synode der evangelischen Landes- kirche »Lernen aus der Krise« vom November 2010 nicht 3. Generell hat die Soziale Marktwirtschaft in Verbindung mit mehr ganz so eindeutig. So findet sich darin zwar nach wie dem medizinischen Fortschritt dazu geführt, dass die Men- vor ein allgemeines Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft, schen auch mehr Zeit zum Leben haben. Die durchschnitt- doch überwiegen im praktischen Teil zahlreiche Forderungen liche Lebenserwartung ist bei Männern seit 1950 von 64,6 nach staatlichen Eingriffen und staatlicher Umverteilung, die auf heute über 77 Jahre und bei Frauen von 68,5 auf heute mit deren Prinzipien nicht ohne weiteres in Einklang zu brin- über 82 Jahre gestiegen, die Wochenarbeitszeit von 48,2 gen sind, so etwa die Forderung nach Einführung mittel- auf heute ca. 38 Stunden gesunken, und der Jahresurlaub stands- und leistungsfeindlicher Steuern und nach einem hat sich von zwölf Tagen auf knapp 31 Tage erhöht. neuen schillernden Wachstumsbegriff. Auch bei der Einkommens- und Vermögensverteilung, der Verteilung von steuerlichen Lasten und hinsichtlich der Wirt- Soziale Marktwirtschaft als Erfolgsgeschichte schaftsstruktur steht Deutschland heute im internationalen Vergleich besser da als nahezu alle anderen Länder auf der Der Durchbruch des Begriffs »Soziale Marktwirtschaft« auf Welt. Die Binnendiskussion innerhalb Deutschlands, nationaler und europäischer Ebene ist auch darauf zurück- z.B. über die Feststellungen des zuletzt im März 2013 vor-

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gelegten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregie- »Soziale Sicherung ist nicht gleichbedeutend mit Sozialver- rung lenkt bisweilen von diesem Befund ab. Dabei soll ja gar sicherung für alle. Am Anfang muss die eigene Verantwor- nicht verniedlicht werden, dass nach den amtlichen Zahlen tung stehen, und erst dort, wo diese nicht ausreicht oder zum Beispiel: versagen muss, setzt die Verpflichtung des Staates und der Gemeinschaft ein.«1 –– die jährlichen Bruttodurchschnittseinkommen bis 2005 leicht gesunken sind und der Anteil der Niedriglöhne im Auch die Kirchen haben sich immer wieder an der Debatte selben Zeitraum leicht gestiegen ist. um den »Sozialbegriff« beteiligt. Das Thesenpapier der Deut- –– der Anteil am Gesamteinkommen, das von den 20% der schen Bischofskonferenz »Das Soziale neu denken« aus Bevölkerung mit dem niedrigsten Einkommen erreicht dem Jahr 2003 hat zum Beispiel auch die Diskussion um wurde, leicht gesunken, und der Anteil am Gesamtein- die »Agenda 2010« befördert. kommen, das von den oberen 10% der Einkommensbe- zieher erreicht wurde, leicht gestiegen ist. Die Soziale Marktwirtschaft geht also – hier durchaus in An- –– bei den Privatvermögen 50% der Haushalte in der unte- lehnung an ihre christlichen Wurzeln – von einem Menschen- ren Hälfte nur über gut 1% des gesamten Nettovermö- bild aus, welches dem selbst bestimmten, mündigen Bürger gens verfügen, während die vermögensstärksten 10% entspricht, der sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. der Haushalte über die Hälfte des gesamten Nettover- »Jeder ist seines Glückes Schmied,« das heißt also »Hilfe mögens auf sich vereinen. zur Selbsthilfe« statt staatlicher Alimentierung in allen Le- benslagen. Die Vorstellung von Sozialpolitik fußt auf der Er- Aber was sagt das über die Frage aus, ob Deutschland ein kenntnis, dass die Menschen eben nicht gleich, sondern im positiven Sinne verschieden sind, mit all ihren vielfältigen »sozialer Staat« im Sinne von Art. 20 GG ist und die Markt- Begabungen, Anlagen und Lebensentwürfen. Es geht also wirtschaft (noch) sozial ist? um Chancengerechtigkeit am Start des Lebens, nicht um Gleichmacherei mit der Folge der unmündigen Abhängigkeit Zunächst einmal muss an dieser Stelle mit einem Missver- des sozialen Untertans. ständnis darüber aufgeräumt werden, was die Soziale Marktwirtschaft ist und was sie zu leisten vermag. Sie ist als Legt man diese Auslegung des »Sozialen« in der Marktwirt- »dritter Weg« zwischen Kapitalismus und Sozialismus gera- schaft zugrunde, so steht Deutschland hervorragend da: de keine sozial verbrämte Umverteilungsmaschinerie, die dem alten Traum der Linken von der ökonomischen Gleich- –– Der allgemeine Wohlstand hat sich – bei aller Differenzie- heit der Menschen eine moderne Gestalt gibt. Ich erinnere rung über seine Verteilung – bis heute stark vermehrt. nochmals an das bereits weiter oben angeführte Menschen- Noch nie gab es in allen Bevölkerungsschichten so viele bild, das der Sozialen Marktwirtschaft zugrunde liegt, und Eigentümer, was gerade übrigens das Eigentum an den welches Ludwig Erhard in seinem Buch »Wohlstand für alle« eigenen »vier Wänden« angeht. Hier nimmt Deutschland so formuliert hat: einen weltweiten Spitzenplatz ein. –– 2013 war das Jahr, in dem in Deutschland so viele Men- »Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Ri- schen sozial versicherungspflichtig beschäftigt waren wie siko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst noch nie in der deutschen Geschichte, allein bei uns in verantwortlich sein. Sorge du, Staat dafür, dass ich dazu Bayern fast 5 Millionen, eine Steigerung von fast 500 000 in der Lage bin.« innerhalb von fünf Jahren. –– Die Arbeitslosigkeit steht auf einem absoluten Tiefstand, Hier wird der entscheidende Unterschied zu dem allumsor- in weiten Teilen, vor allem hier bei uns in Bayern, herrscht genden Wohlfahrtsstaat deutlich, der die Einkommensver- Vollbeschäftigung. Vor allem die Jugendarbeitslosigkeit ist wendung so stark sozialisiert, bis die Kollektivierung der Le- so niedrig wie in keinem anderen Land Europas. Und dies bensplanung und die Abhängigkeit von Transferleistungen in einer Zeit, in der einige Länder Südeuropas eine Ju- aus dem mündigen Bürger den »sozialen Untertan« macht, gendarbeitslosigkeit zwischen 30% und 60% aufweisen wie es Erhard formulierte. und man dort schon einer »verlorenen Generation« spricht. –– Dabei zeigt sich auch bei einer näheren Analyse, dass Am Ende dieser Entwicklung, so Erhard, stehe nicht nur der einige Trends, die vor wenigen Jahren noch Sorge ge- allmächtige Staat, sondern die Lähmung des wirtschaftlichen macht haben, in die positive Richtung weisen: Fortschritts in Freiheit. Im Zusammenhang mit der Einführung • Die Erwerbsbeteiligung älterer Menschen, also der 55- der »dynamischen Rente«, dem berühmten Generationen- bis 64-Jährigen, steigt seit Jahren deutlich an. vertrag von 1957, dem Erhard von Anfang an skeptisch ge- 1 genüberstand (wie wir heute wissen, zu Recht), hat Erhard Dieses Zitat habe ich dem sehr lesenswerten Buch einer der ersten Mit- arbeiterinnen Ludwig Erhards, Luise Gräfin Schlippenbach, unter dem sein Verständnis vom sozialen Staat wie folgt formuliert: Titel »Im Wandel stets dabei« entnommen.

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• Die Zahl der Langzeitarbeitslosen hat sich seit 2005 Ist er zu hoch, vernichtet er Arbeitsplätze, ist er zu niedrig, fast halbiert. braucht man ihn nicht. Das belegen im Übrigen auch die • Die Zahl der sog. »Minijobber« stagniert. Sie betrug Erfahrungen in den europäischen Ländern wie Griechen- 2012 etwa 11% aller Erwerbstätigen, wobei 40% aller land, Spanien und Frankreich, in denen es zwar gesetzliche Minijobber Schüler, Studenten und Rentner waren. Mindestlöhne gibt, aber zu wenige Arbeitsplätze. Vor Ein- • Der Anteil der Zeit- bzw. Leiharbeitnehmer liegt bei 2% führung der Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 galt aller Erwerbstätigen, Tendenz sinkend. Viele Leihar- Deutschland als »kranker Mann« Europas. Heute ist beitnehmer werden in unbefristete Arbeitsverhältnisse Deutschland nicht nur wegen dieser Reformen, aber eben übernommen. auch deswegen die Wachstums- und Wohlstandslokomo- • In Deutschland leben derzeit etwa insgesamt 1,3 Mil- tive innerhalb Europas und mitverantwortlich für das immer- lionen Menschen, die zusätzlich zu ihrem Lohn auf hin zarte Wachstum der EU. Die Lohnfindung ist in einer Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind. Das sind etwa Sozialen Marktwirtschaft ausschließlich Sache der Tarifver- 3% aller Erwerbstätigen. Schaut man bei den soge- tragsparteien. nannten »Aufstockern« noch genauer hin, so ist eines besonders erfreulich: Die Anzahl der Aufstocker, die In Anlehnung an Ludwig Erhard muss auch darauf hinge- vollzeitbeschäftigt sind, ist in den letzten beiden Jah- wiesen werden, dass sich die Frage des »Sozialen« innerhalb ren stark gesunken, nämlich um 113 000 auf derzeit der Sozialen Marktwirtschaft weder an der Anzahl noch der 218 000. Das sind weniger als 0,5% aller Erwerbstä- Höhe der staatlichen Transferleistungen bemisst. Dass der- tigen. Für Bayern sind die Zahlen im Ländervergleich jenige, der arbeiten kann, seinen Lebensunterhalt ganz oder nochmals wesentlich günstiger. zumindest teilweise selbst bestreitet, ist auch eine Frage seiner Würde. Zumal die Mittel aus dem sozialen Ausgleich Diese wenigen Zahlen mögen an dieser Stelle genügen. Was dann für diejenigen in der Gesellschaft zur Verfügung stehen, damit gesagt werden soll, ist dies: Die Prinzipien der Sozi- die nicht arbeiten und sich eben nicht selbst helfen können. alen Marktwirtschaft funktionieren im Großen und Ganzen Den Hartz-IV-Reformen lag im Übrigen der Gedanke einer gerade in einem Bereich, der existentiell für die Menschen aktivierenden Sozialhilfe zugrunde, d.h. also Anreize dafür ist, auf dem Arbeitsmarkt. Bei allen notwendigen Diskussi- zu schaffen, dass es attraktiver ist zu arbeiten, wenn man onen im Detail, über weiteren Flexibilisierungsbedarf, über kann, als nicht zu arbeiten (→ Prinzip »Fördern und For- Arbeitsbedingungen, über die Höhe von Löhnen, über Al- dern«). Es geht also letztlich darum, ob man durch falsche tersarmut und befristete Verträge, ist eines festzustellen: Weichenstellungen, wie z.B. gesetzliche Mindestlöhne oder andere Eingriffe in den Niedriglohnsektor, die betroffenen Gerade bei der Beschäftigung wird deutlich, was Ludwig Menschen in die 100%ige Alimentierung des Staates treibt, Erhard meinte, als er in seinem Buch »Wohlstand für alle« denn das wäre in den meisten Fällen die zwangsläufige Fol- sagt: ge, oder ob man ihren Weg in eine auskömmliche Vollzeit- beschäftigung finanziell unterstützt. Sozialer Untertan des »Das berechtigte Verlangen, dem Individuum größere Si- all umsorgenden Wohlfahrtsstaats oder selbst bestimmter cherheit zu geben, kann m.E. nur dadurch erfüllt werden, Bürger in der Sozialen Marktwirtschaft – das sind hier die dass wir über eine Mehrung des allgemeinen Wohlstandes wahren Alternativen. Und dass dieser Weg nach marktwirt- jedem einzelnen das Gefühl seiner menschlichen Würde schaftlichen Prinzipien auch funktioniert, zeigen zwei Ent- (...) vermitteln.« wicklungen:

Es ist und bleibt die wichtigste Aufgabe der Politik, und es –– In den letzten Jahren haben rund 25% der Beschäftigten ist auch die zentrale Aufgabe jeglicher Wirtschaftsordnung, in dem Niedriglohnbereich, das sind Arbeitnehmer mit daran mitzuwirken und den Rahmen dafür zu setzen, dass einem Stundenlohn unter 9,15 Euro, innerhalb eines Jah- die Menschen Arbeit haben, und damit Selbstwertgefühl res den Aufstieg in eine höher entlohnte Beschäftigung und Würde. geschafft –– Rund zwei Drittel der bereits erwähnten vollzeitbeschäf- Dabei muss sich die Politik hüten, von den Prinzipien der tigten Aufstocker schaffen spätestens nach einem Jahr Sozialen Marktwirtschaft abzuweichen, zum Beispiel da- den Ausstieg aus dem sogenannten »Fürsorgebezug«. durch, dass sie sich in die Festsetzung von Löhnen und Gehältern einmischt. Wie die vorgenannten Zahlen belegen, Das bedeutet: Die Soziale Marktwirtschaft funktioniert, man würde ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn, wie er ab muss die Menschen nur vor zu vielen gut gemeinten, aber und zu auch von kirchlichen Kreisen gefordert wird, kein schlecht wirkenden Eingriffen schützen. Das gilt insbeson- einziges Problem lösen, aber viele neue schaffen, wie dies dere auch bei der Rettung von Unternehmen, die in finan- ja auch die aktuelle Debatte innerhalb der neuen Bundes- zielle oder unternehmerische Schwierigkeiten geraten. Hier regierung zeigt. ist die Politik, gerade auch in den letzten fünf Jahren immer

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wieder in Versuchung gewesen, einem vermeintlich »sozi- se, kerngesunde Betriebe unverschuldet in finanzielle Eng- alen Helfersyndrom« folgend einzugreifen und selbst Unter- pässe zu geraten drohten. Nach diesen klaren ordnungspo- nehmer zu spielen. Dem liegt ein völlig falsches Verständnis litischen Prinzipien hat die bayerische Wirtschaftspolitik in von der Rollenverteilung zwischen Staat und Wirtschaft in den letzten fünf Jahren gehandelt, und wir waren damit, wie der Sozialen Marktwirtschaft zugrunde. Der Staat darf da- man sieht, höchst erfolgreich. bei, so der Fußballsachverständige Ludwig Erhard, nur Schiedsrichter sein, aber selbst nicht mitspielen. Und so erwächst aus der zerstörerischen Wirkung des Marktes II. auch zukunftsfähiges Neues. Veraltete Strukturen und Ge- schäftsmodelle gehen unter, um neuen, wettbewerbsfähi- Noch einige Beispiele dafür, wo wir die Prinzipien der Sozi- gen Produkten Platz zu machen. Rettet die Politik ein Un- alen Marktwirtschaft künftig wieder stärker beachten müs- ternehmen, obwohl dessen Produkte nicht mehr marktfähig sen, um wirklich erfolgreich zu ein. sind, so verzerrt sie den Wettbewerb, das Kernstück der Sozialen Marktwirtschaft, indem sie sich unternehmerische 1. Beim schwierigen Thema »Altersversorgung« steht Entscheidungen anmaßt und dafür auch noch Steuergeld Deutschland im internationalen Vergleich nicht schlecht da, in die Hand nimmt. allerdings könnten wir noch viel besser dastehen, wenn man die notwendigen Reformen rechtzeitig eingeleitet und von Wäre zum Beispiel die Rettung von Schlecker, wäre die zu vielen systemwidrigen Eingriffen abgesehen hätte. Auch staatliche Finanzierung einer Transfergesellschaft »sozialer« hier kann man dem Buch von Gräfin Schlippenbach die gewesen als die Übernahme der Beschäftigten in die Maß- großen Bedenken der handelnden Personen bei der Einfüh- nahmen der Bundesagentur für Arbeit? rung der umlagefinanzierten Rente 1957 entnehmen, die in dem klassischen Wort Konrad Adenauers zu Ausdruck kom- Es gehört wahrlich zu den schwersten Entscheidungen, die men: man als Politiker treffen muss, in einem solchen Fall »nein« zu sagen, obwohl das Herz gerne »ja« sagen würde. Es gibt »Tja, meine Herren, das ist ja alles ganz schön, solange es aber drei Argumente, die das »Nein« begründen: bergauf geht, was aber ist, wenn es bergab geht.«

–– Dem Niedergang eines Unternehmens wie z.B. Schle- Hier hat die deutsche Politik viel zu spät auf die demogra- cker liegen oftmals jahrelange Managementfehler und phische Entwicklung reagiert und unterliegt bis heute der auch finanzielle Machenschaften der Gesellschafter zu- verhängnisvollen Versuchung, den Beitragszahlern immer grunde. Wer hier staatliche Mittel einsetzt, entlässt ge- mehr versicherungsfremde Leistungen aufzubürden, die ei- rade diejenigen aus ihrer Verantwortung, die eigentlich gentlich durch die Allgemeinheit der Steuerzahler aufzubrin- haften sollten. gen wären. Der Einstieg in die Kapitaldeckung ist ebenso –– Es gibt in der Sozialen Marktwirtschaft keine Insolvenz unausweichlich wie flexiblere Formen des Renteneintritts, »erster« oder »zweiter« Klasse. Die Politik darf hier schon welche Rücksicht auf neue Erwerbsbiographien und die aus Gründen der Gleichbehandlung nicht nach dem Möglichkeit von Lebensarbeitszeitkonten nehmen. Weder Grundsatz handeln: »Sind 1000 Arbeitnehmer betroffen, die starren Regelungen der Rente mit 67 noch die jüngsten sind wir mit Steuergeld zur Stelle, bei zehn mal 100 Ar- Beschlüsse der neuen Bundesregierung sind geeignet, un- beitnehmern in mittelständischen Betrieben halten wir ser Rentensystem dauerhaft zukunftssicher zu machen. uns 'raus«. Schlimmer noch: Um schön klingende Versprechen wie »Le- –– Staatlich finanzierte Transfergesellschaften führen zum bensleistungs- oder Mütterrente« zu finanzieren, werden den Verlust von Abfindungsansprüchen der Arbeitnehmer, sie Beitragszahlern nicht nur ihnen bereits zugesagte Beitrags- wiegen die Arbeitnehmer auch oft in trügerischer Sicher- senkungen genommen, sondern den kommenden Genera- heit, weil sie den Eintritt der Arbeitslosigkeit nur zeitlich tionen auch noch weitere Belastungen aufgebürdet. Mit dem hinausschieben. Gedanken der Beitragsgerechtigkeit und der Generationen- gerechtigkeit hat das gar nichts mehr zu tun. Es gab in diesem Fall, wie übrigens in vielen anderen ähnlich gelagerten Fällen, daher nach den Prinzipien der Sozialen 2. Das deutsche Steuersystem ist wohl das schlimmste Bei- Marktwirtschaft nur die Entscheidung, kein Geld der Steu- spiel dafür, was passiert, wenn die Prinzipien der Sozialen erzahler bereitzustellen und den vielen, zum Teil sehr gut Marktwirtschaft dauerhaft missachtet werden. Zu Beginn ausgebildeten ArbeitnehmerInnen die Chancen auf einem bestand hier durchaus noch Übereinstimmung, denn der exzellenten Arbeitsmarkt zu eröffnen. Anders kann und darf soziale Ausgleich sollte nach den Vorstellungen von Rüstow der Staat nur handeln, wenn es gilt, in zukunftsfähige Ge- und Röpke durchaus über ein progressives Steuersystem schäftsmodelle zu investieren, weil ein Investor vorhanden – »Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit« – erfolgen. Und ist, oder wenn, wie auf dem Höhepunkt der Finanzmarktkri- betrachtet man den Ist-Zustand, dann führt das bestehen-

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de Einkommensteuersystem ja auch zu einer erheblichen 3. Die Finanzmarktkrise und die aus ihr folgende Weltwirt- Umverteilung. Die oberen 20% der Steuerpflichtigen an der schaftskrise haben eines deutlich gemacht: Die Abhängig- Spitze der Einkünftepyramide erwirtschaften derzeit 70% keit voneinander ist in einer globalisierten Wirtschaft inzwi- des Gesamtaufkommens. Bei den oberen 5% sind es im- schen so groß, dass Spielregeln auf nationaler, selbst auf merhin schon über 40%. Blickt man hingegen auf den un- europäischer Ebene längst nicht mehr ausreichen. Dieser teren Teil der Einkünftepyramide, so zeigt sich, dass bereits Irrglaube, man könne hier weiterhin nebeneinander herleben, ein Drittel der Personen mit dem niedrigsten Markteinkom- ist eine der Ursachen für die Krise. Es wäre aber ganz falsch, men durchschnittlich 900 Euro mehr vom Staat an Trans­ die Krise auf ein Scheitern der Sozialen Marktwirtschaft zu- ferleistungen erhalten, als sie an Steuern und Abgaben be- rückzuführen, wie dies leider viele Mitbürger tun. Die Kom- zahlen. mission »Zukunft Soziale Marktwirtschaft« hat dazu in großer Klarheit und Übereinstimmung aller Kommissionsmitglieder Die in weiten Kreisen der Bevölkerung, auch in manchen festgestellt: Kirchenkreisen vorherrschende Auffassung, das Steuer- system benachteilige die geringeren Einkommen und be- »Nicht die Soziale Marktwirtschaft ist in der Krise. Die Krise vorzuge die sogenannten Reichen, wie sie leider auch in geht auf das Fehlverhalten einer ganzen Reihe von System­ dem schon zitierten Wort der Landeskirche »Lernen aus akteuren zurück. Sie haben sich nicht an die Spielregeln der Krise« zum Ausdruck kommt, hat mit der Realität we- der Sozialen Marktwirtschaft gehalten. Im Mittelpunkt des nig zu tun. Versagens steht ein Finanzsystem, in dem Haftung und Risikobewusstsein minimiert wurden.« Vielmehr leidet das Steuersystem seit Jahrzehnten vor allem unter dem verhängnisvollen Hang der Politik, unter Verstoß Dem ist nur noch hinzuzufügen, dass auch massives Ver- gegen alle Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft mit der sagen staatlicher Institutionen, wie zum Beispiel der Ban- Steuerpolitik Ziele der Einzelfallgerechtigkeit und der gesell- ken- und Finanzmarktaufsicht, und eine falsch verstandene schafts- und wirtschaftspolitischen Steuerung zu verfolgen. Deregulierung in den USA wesentlich zum Zusammenbruch Dies hat zu einer textlichen und inhaltlichen Ausuferung des der Finanzmärkte beigetragen haben. deutschen Steuerrechts geführt, die weltweit einmalig ist. Es spricht Bände, dass einzelne Bestimmungen des Ein- Hier müssen die Lehren erst noch vollständig gezogen wer- kommensteuergesetzes, namentlich der berühmt-berüch- den, und zwar nach den Prinzipien der Sozialen Marktwirt- tigte § 2a EStG, betreffend die sog. »Negativen Einkünfte schaft. Es muss gelingen, eine internationale Finanzmarkt- mit Bezug zu Drittstaaten«, durch die anhaltende Kunst des architektur zu entwickeln, welche alle Märkte und alle Ak- Gesetzgebers so kompliziert geworden sind, dass selbst teure in die Regulierung einbezieht, gleiche Maßstäbe für international anerkannte Professoren des Steuerrechts an Transparenz und Eigenkapitalunterlegung durchsetzt und ihrer verbindlichen Auslegung gescheitert sind. Alle Versu- auch dafür sorgt, dass Handlung und Haftung wieder bes- che, hier im System selbst zu Reformen zu kommen, haben ser in Einklang gebracht werden. zwar zur einen oder anderen Vereinfachung geführt, aber zu keiner durchgreifenden Änderung. Mein Vorschlag wäre hier »Too big to fail« – darf nie wieder zur Richtschnur von Not- in zwei Stufen vorzugehen: maßnahmen zur Rettung von Banken werden. Stattdessen müssen weltweit Maßnahmen zur Sicherung des Finanzwe- –– Umgehende Beseitigung der sog. »Kalten Progression«, sens umgesetzt werden, die ein geordnetes Scheitern und weil sie eindeutig leistungsfeindlich ist und vor allem un- auch eine Abwicklung von Banken ermöglichen, ohne dass tere und mittlere Einkommen unverhältnismäßig belastet. die Allgemeinheit der Steuerzahler dafür aufkommen muss. Es ist ein Armutszeugnis, dass die neue Bundesregierung hier nichts unternimmt, obwohl die Mittel dafür im Haus- Leider ist festzustellen, dass die USA und Großbritannien in halt bereit stehen. wesentlichen Punkten (Eigenkapitalanforderungen, Trans- –– Einführung eines Bundessteuergesetzbuchs nach dem parenz und Haftung) immer noch nicht zu einheitlichen Stan- Vorschlag von Prof. Paul Kirchhof, wodurch von mehr als dards bereit sind. 33 000 Steuerparagraphen nur etwa 146 übrig bleiben würden. Die Abschaffung nahezu aller Ausnahmetatbe- 4. Auch in der Schuldenkrise innerhalb der Europäischen stände und die Einführung von einheitlichen Steuersätzen Währungsunion weist die Soziale Marktwirtschaft den Weg bei Einkommen-, Umsatz- und Erbschaftsteuer sind nach zur Besserung. Schuldenabbau, keine Hilfe ohne Gegen- meiner Überzeugung der einzig gangbare Weg zu einem leistung und Reformen, weniger Staat und mehr Eigeniniti- Steuerrecht, welches den Prinzipien der Sozialen Markt- ative – das alles sind keine bequemen, aber unausweichliche wirtschaft entspricht und sich endlich von dem Irrglauben Schritte, die viele unserer Nachbarn noch gehen müssen, verabschiedet, das Steuerrecht sei dazu da, alle gesell- wenn Europa und der Euro nicht auseinanderbrechen sollen. schaftlichen und politischen Probleme zu lösen. Auch hier gilt: Nicht die Soziale Marktwirtschaft hat Europa

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in diese Situation gebracht, sondern die nachhaltigen, zum eine reine Wirtschaftsordnung, genauso den Weg in eine Teil vorsätzlichen Verstöße gegen die Prinzipien der Sozialen demokratischere und sozialere Zukunft weisen, wie dies für Marktwirtschaft, zu denen insbesondere auch die Stabilität Europa nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen ist. der Währung gehört. Unter dem bezeichnenden Titel »Gute Sozialpolitik erfordert Währungsstabilität« sagt Ludwig Er- Es bleiben zum Schluss noch zwei Fragen: hard dazu: 1) Wem gehört die Soziale Marktwirtschaft heute? »Es ist ein grandioser Irrtum, wenn ein Volk oder ein Staat 2) Ist die Soziale Marktwirtschaft noch sozial? glaubt, eine inflationistische Politik einleiten und betreiben, sich aber gleichzeitig gegen deren Folgen absichern zu Zu 1) Bisweilen wird gefragt, wem die Soziale Marktwirt- können. Dies kommt dem Versuch gleich, sich an den ei- schaft heute gehört. In der Ausgabe des Handelsblatts vom genen Haaren hochheben zu wollen.« vergangenen Wochenende wird schon gefragt: »Sind die Linken die besseren Wirtschaftsversteher?« Und tatsächlich Das sind geradezu prophetische Worte, wobei Erhard sich schickt sich die Ex-Kommunistin und Vordenkerin der Lin- sicher nicht hat vorstellen können, dass eine solche Ent- ken, Sahra Wagenknecht, an, Erhards »Wohlstand für alle« wicklung auch noch innerhalb ein und desselben Währungs- für sich zu beanspruchen. Woher kommt diese Wandlung? gebiets mehrerer Staaten eintreten könnte. Nach dem parlamentarischen Aus der FDP fehlt eine politi- sche Kraft, um die Gedanken der Sozialen Marktwirtschaft Auch hier gilt: Es ist die Soziale Marktwirtschaft, die den sehr politisch und vor allem parlamentarisch zu verteidigen. Die beschwerlichen, dornigen und risikoreichen, aber einzig Union, die selbst ernannte Partei Ludwig Erhards, hat ihren gangbaren Weg aus der Krise in Europa weist. Dabei muss Reformeifer, der noch im letzten Jahrzehnt charakteristisch bei den Fragen der Bankenunion und der Ausgestaltung der war, längst aufgegeben. Auch der marktwirtschaftliche Flü- Hilfsmaßnahmen dringend darauf geachtet werden, dass gel, auf den die Partei einst sehr stolz war, ist inzwischen weder direkt noch durch die Hintertür eine Vergemeinschaf- auf eine vernachlässigbare Restgröße zusammenge- tung der Schulden erfolgt und damit die Haftung und Ver- schrumpft. Dieses Vakuum wird nun offenbar von anderen antwortung der einzelnen Staaten aufgegeben wird. Gruppierungen gefüllt. Warum bekennt sich ausgerechnet die Linke Wagenknecht zum Ordoliberalismus? Es ist eben Noch ein Wort zur »Internationalisierung«. Die Vordenker und eine Marktlücke, die Frau Wagenknecht entdeckt hat und Begründer der Sozialen Marktwirtschaft haben natürlich zu nun scheinbar erfolgreich vermarktet. Dass das Programm allererst von der besonderen deutschen Situation aus ge- der »Linken« nur so von planwirtschaftlichen Elementen dacht. Es ging darum, wie Bundespräsident Gauck es for- wimmelt und das Gegenteil von Sozialer Marktwirtschaft ist, muliert hat, »die Deutschen mit Marktwirtschaft und Wett- wird dabei ausgeblendet. Es ist deshalb dringend notwen- bewerb zu befreunden.« dig, Grundlagen und Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft immer wieder deutlich zu machen und sie nicht der Belie- Aber sie haben von Anfang an auch international gedacht bigkeit von politischen Erbschleichern preiszugeben. und geforscht, insbesondere die Emigranten unter ihnen. Dieser Aspekt des weltweiten Verständnisses einer wert Zu 2.) In der zurückliegenden Wirtschafts- und Finanzmarkt- gebundenen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ge- krise hat sich die Soziale Marktwirtschaft als das stabilste winnt nicht nur vor dem Hintergrund von Finanzmarkt-, System innerhalb der Industriestaaten erwiesen. Kaum ein Währungs- und Schuldenkrisen an Bedeutung, sondern Land hat sich so schnell von der Krise erholt und zurück auf auch angesichts der Transformationsprozesse in wirtschaft- den Wachstumspfad gefunden wie Deutschland. Man kann lich starken, aber demokratisch noch rückständigen Ge- es auch so ausdrücken: Nach dem Scheitern des planwirt- sellschaften. So ist China heute ein Land, welches wirt- schaftlichen Experiments des Sozialismus Ende der 1980er schaftlich viel stärker nach einem »Laissez-faire«-Kapitalis- Jahre hat die Finanzmarktkrise vor fünf Jahren die Perversi- mus alter Prägung ausgerichtet ist als Europa und sogar on eines schranken- und verantwortungslosen Kapitalismus weit stärker als die USA. In den Sozialversicherungssyste- gezeigt. Ungezähmte Gier und egoistische Rücksichtslosig- men, bei der Gesundheitsversorgung und beim Umwelt- keit, wie sie bisweilen an den Finanzmärkten anzutreffen wa- schutz sucht China einen Weg, den wachsenden Wohl- ren, haben mit der Grundidee der Sozialen Marktwirtschaft, stand der Bevölkerung mit modernen Standards zu verbin- mit den Prinzipien von Freiheit und Verantwortung, nichts den. Gleichzeitig wird der Wunsch der Bevölkerung nach gemein. Die Soziale Marktwirtschaft lebt von einer Kultur der politischer Partizipation und gesellschaftlicher Freiheit im- Mäßigung und von einer nachhaltigen Ausrichtung. mer drängender, ohne dass das bestehende autokratische Machtsystem bisher eine angemessene Antwort darauf ge- Nach der Krise haben viele Staaten Elemente der Sozialen funden hat. Für ein solches Land im Umbruch kann die Marktwirtschaft adaptiert, so etwa die Tarifpartnerschaft. Soziale Marktwirtschaft, die ja schon immer mehr war, als Auch das Bekenntnis zum Mittelstand und zur Industrie als

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Pfeiler der Sozialen Marktwirtschaft wird von vielen anderen Staaten heute gerne übernommen. Manche sprachen in der Krise gar von einer »industriellen Renaissance«. Es sind gerade die mittelständischen und familiengeführten Unter- nehmen, die die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft täglich vorleben, die Verantwortung für ihre Mitarbeiter, ihre Region und die Zukunft des Landes übernehmen. Zugleich behaupten sie sich, oftmals als Marktführer oder »hidden champions« in ihrem Segment erfolgreich auf den globalen Märkten.

Auch die großen wirtschaftspolitischen Herausforderungen

–– Abbau der enormen Staatsverschuldung, –– Gestaltung gesellschaftlicher Veränderungen wie z.B. des demographischen Wandels, –– Schutz der Umwelt, –– Energiewende und –– Globalisierung (Globalisierung als Chance begreifen, Warnung vor zunehmendem Protektionismus)

lassen sich nur nach den Prinzipien der Sozialen Marktwirt- schaft bewältigen, wenn Demokratie und Wohlstand, Frei- heit und sozialer Ausgleich im Gleichgewicht bleiben sollen.

Im internationalen Vergleich, aber auch in Anbetracht unse- rer eigenen Geschichte und der Ergebnisse von 65 Jahren Sozialer Marktwirtschaft, ist Deutschland heute ein besse- res, ein sozialeres Land. Dieser Prozess ist aber dynamisch und muss immer wieder aufs neu gestaltet und austariert, Wettbewerbspositionen müssen immer wieder errungen und verteidigt werden. Wenn wir uns auf diese Grundlagen unseres Erfolges besinnen und uns den Mut zu Veränderun- gen und zu Neuem bewahren, dann bleibt die Soziale Markt- wirtschaft mit den Worten von Walter Eucken »eine Wirt- schafts- und Sozialordnung, die wirtschaftliche Leistung und menschenwürdige Daseinsbedingungen gleichermaßen ge- währleistet.« Und deshalb lautet die Antwort auf die Frage meines Themas:

»Ja, die Marktwirtschaft ist noch sozial«, und sie wird es in noch größerem Maße sein, wenn wir ihre Prinzipien ernst nehmen und mit Mut und Voraussicht danach handeln.

ifo Schnelldienst 5/2014 – 67. Jahrgang – 13. März 2014 Branche im Blickpunkt: Das Textil- und Bekleidungs- gewerbe in Europa und Deutschland – Totgesagte leben länger Daten und Prognosen 35 Michael Ebnet

Das Bekleidungsgewerbe in Europa hat weite Teile seiner industriellen Basis verloren. In deutlich eingeschränkterem Maße trifft dies mittlerweile auch für das Textilgewerbe zu. Dennoch können sich die Textil- und Bekleidungsunternehmen einiger weniger europäischer Länder vergleichsweise gut in dem wie kaum ein anderer Industriesektor von der internationalen Arbeitsteilung geprägten Gewerbe behaupten. Hierzu zählen insbesondere Vertreter der deutschen Textil- und Bekleidungs- branche, die sich seit der Wirtschaftskrise 2008/09 nicht nur besser als der EU-Durchschnitt, son- dern auch als fast alle ihre westeuropäischen Kontrahenten entwickelt haben. Wachstumsraten wie im Fall der Türkei, die sich noch auf einem deutlich steileren wirtschaftlichen Entwicklungs- pfad befindet, sind freilich nicht mehr erreichbar. Im Textilgewerbe ist der Erfolg deutscher Fir- men ihrer Fokussierung auf die (hoch-)technischen Textilsegmente zu verdanken. Doch auch hier machen inzwischen Textilunternehmen aus China der deutschen Branche ihre führende Stellung streitig. Nichtsdestotrotz werden auch künftig deutsche Firmen im Geschäft mit Textilien und Mode erfolgreich national und international mitmischen.

Das Textilgewerbe in der Europäischen Konfektionsschritte, wie das Nähen oder Union (EU 281) zählte im Jahr 2011 (aktu­ Schneidern, in Länder mit deutlich niedri­ ellere Strukturdaten sind derzeit noch geren Produktionskosten ausgelagert – in nicht verfügbar) rund 60 800 Unterneh­ erster Linie nach Asien, Osteuropa oder men. Damit waren in diesem Industrie­ Nordafrika – und fokussieren sich in ihren zweig schwerpunktmäßig nur in etwa halb hiesigen Zentralen auf den Kollektionsent­ so viele Firmen tätig wie im Bekleidungs­ wurf, die Organisation der Beschaffungs­ gewerbe (rund 130 000 Unternehmen).2 kette sowie Qualitätskontrolle, Verwaltung Gleichwohl wiesen beide Branchen ein und Vertrieb. Industrielle Fertigungskapa­ ähnlich hohes Umsatzvolumen von in et­ zitäten werden meist nur noch für die Mus­ wa 80 bzw. 77 Mrd. Euro auf (vgl. Tab. 1). ter- oder Kleinserienproduktion vorgehal­ Gemessen am Umsatz sind demnach in ten. Im Extremfall agieren die Beklei­ der Bekleidungsherstellung im Durch­ dungsfirmen als Handelsunternehmen, schnitt erheblich kleinere Unternehmens­ die das komplette Bekleidungsstück im einheiten vorzufinden als in der Textilpro­ eigenen Auftrag im Ausland fertigen las­ duktion. Bedeutendstes Land ist in beiden sen und sich lediglich auf die Distribution Branchen mit Abstand Italien. Allein 44% der dann als Vollimport eingeführten Ware der EU-weiten Umsätze im Bekleidungs­ beschränken. So überrascht es nicht, gewerbe wurden 2011 von dort ansässi­ dass das Verhältnis aus Produktionswert gen Unternehmen erzielt. Im Textilgewer­ und Umsatz3 in den Bekleidungssektoren be lag der Anteil zwar niedriger, fiel mit der fünf großen westeuropäischen Indus­ 31% aber immer noch stattlich aus. trienationen systematisch niedriger liegt, als dies jeweils im Textilgewerbe der Fall Vor allem für das Bekleidungsgewerbe in ist (vgl. Tab. 1), wo noch in höherem Maße den meisten westeuropäischen Industrie­ im Inland gefertigt wird.4 nationen beschreibt der Terminus »Her­ stellung von Bekleidung« die Branche je­ 3 Für eine detaillierte Darstellung der Korrelation von Produktion und Umsatz am Beispiel des doch nur mehr unzureichend. In der Regel deutschen Textil- und Bekleidungsgewerbes sie­ haben die Unternehmen arbeitsintensive he Kasten. 4 In Wirklichkeit ist gerade im Bekleidungsgewerbe der Anteil des inländischen Produktionswertes 1 Alle verwendeten Daten beziehen sich – mit Aus­ am Branchenumsatz noch weitaus geringer, nahme zweier Werte in Tabelle 1 – auf die Europä­ denn die europäische Statistik dürfte zahlreiche ische Union nach heutiger Abgrenzung (EU 28). nur teilweise oder im letzten Fertigungsschritt im Eurostat stellt hierfür rückwirkend entsprechende Inland hergestellte Erzeugnisse mit vollem Pro­ Aggregate zur Verfügung. duktionswert der Inlandsproduktion des jeweili­ 2 Die hier verwendeten Branchenabgrenzungen gen Landes zurechnen. Verwendet man dage­ folgen der aktuellen Fassung der Statistischen gen bei der Berechnung Daten des Statistischen Sys­tematik der Wirtschaftszweige in der Europä­ Bundesamtes, ergibt sich ein Anteilswert von ischen Gemeinschaft (NACE Rev. 2): Herstellung 86% für das deutsche Textilgewerbe und von von Textilien (NACE-Code 13), Herstellung von lediglich 22% für das deutsche Bekleidungsge­ Bekleidung (NACE-Code 14). werbe in 2011.

ifo Schnelldienst 5/2014 – 67. Jahrgang – 13. März 2014 36 Daten und Prognosen

Tab. 1 Das Textil- und Bekleidungsgewerbe in der EU und ihre wichtigsten Vertreterländera) 2011 Unternehmen Produktionswert (nom.) Umsatzb) (nom.) Verhältnis Anteil an Anteil an Anteil an Produktions- gesamt in gesamt in gesamt in wert/Umsatz in Land Anzahl % in Mrd. € % in Mrd. € % % Textilgewerbe Italien 15 799 26 24,8 33 24,4 31 102 (Türkei)c,d) (18 147) (–) (14,9) (–) (15,9) (–) 94 Deutschland 4 008 7 12,7 17 13,3 17 95 Frankreich 4 612 8 7,2 9 7,9 10 91 Vereinigtes König- reich 3 872 6 5,9 8 6,3 8 93 Spanien 6 138 10 5,0 7 5,1 6 98 Belgien 1 218 2 4,4 6 4,6 6 96 Portugal 3 429 6 2,9 4 3,0 4 97 Niederlande 1 693 3 2,6 3 2,8 3 93 Polen 4 609 8 2,2 3 2,3 3 94 Tschechien 2 822 5 1,8 2 1,9 2 95 ⁞ ⁞ ⁞ ⁞ ⁞ ⁞ ⁞ ⁞ EU 28e) 60 800 100 76f) 100 80 100 95f) Bekleidungsge- werbe Italien 32 972 25 33,8 47 34,0 44 99 (Türkei)c,d) (51 158) (–) (13,2) (–) (13,8) (–) 95 Deutschland 2 943 2 8,4 12 9,3 12 90 Frankreich 8 256 6 6,3 9 8,1 11 78 Spanien 9 420 7 5,8 8 6,0 8 96 Vereinigtes König- reich 3 381 3 3,0 4 3,5 5 86 Portugal 9 388 7 3,0 4 3,1 4 96 Rumänien 4 111 3 2,1 3 2,1 3 98 Polen 13 652 11 1,8 3 1,9 3 93 Bulgarien 4 379 3 1,1 2 1,1 1 97 (Schweiz)c) (262) (–) (1,0) (–) (1,0) (–) 101 ⁞ ⁞ ⁞ ⁞ ⁞ ⁞ ⁞ ⁞ EU 28e) 130 000 100 71 100 77 100 93 a) Geordnet nach Umsatz. – b) Ohne Umsatzsteuer – c) Kein EU-Mitglied. – d) Werte beziehen sich auf das Jahr 2009. – e) Werte für EU 28 teilweise geschätzt und von eingeschränkter Zuverlässigkeit. – f) EU 27. – Branchenabgrenzung: NACE- Code 13 (Herstellung von Textilien) und 14 (Herstellung von Bekleidung). Quelle: Eurostat; Berechnungen des ifo Instituts.

Die türkische Textil- und Bekleidungsindustrie als Besonders beeindruckend ist die Entwicklung der türki­ Gewinner des Strukturwandels in der Branche, … schen Textil- und Bekleidungsindustrie nach der Wirt­ schaftskrise 2008/09. Während beide Gewerbe im Durch­ Ergänzt man die Liste der wichtigsten EU-28-Vertreterländer schnitt der EU 28 nach einer Phase moderater Erholung beider Branchen um die Türkei, rangiert das Land – gemes­ wieder auf ihren ursprünglichen Schrumpfkurs zurück­ 5 sen am Umsatzvolumen seiner Textil- und Bekleidungsin­ kehrten, expandierten die realen Branchenumsätze in der dustrie im Jahr 2009 (neuere Werte sind nicht verfügbar) – in Türkei seither beträchtlich (vgl. Abb. 1). Ein Verlauf, der beiden Fällen noch vor Deutschland auf Platz 2 in Europa. nicht zuletzt aber auch vor dem Hintergrund betrachtet Dabei wurden im türkischen Textil- und Bekleidungsgewer­ werden muss, dass sich das Land nach wie vor in einem wirtschaftlichen Aufholprozess gegenüber den entwickel­ be jeweils bereits mehr Umsätze generiert als in den ent­ ten westeuropäischen Volkswirtschaften befindet, und der sprechenden Wirtschaftszweigen des Vereinigten König­ durch die im Zuge des Strukturwandels in der Textil- und reichs und Spaniens zusammen. Zurückzuführen ist das Bekleidungsbranche ausgelösten Verlagerungen von hohe Umsatzniveau in der Türkei auf die vielen dort ansäs­ Produk­tionskapazitäten – u.a. eben in die Türkei – zusätz­ sigen Lohnfertiger mit ihren vertikal integrierten Produk­ lich befeuert wurde. tionsstandorten, wie es sie sonst nur in China gibt. Das Land profitiert von der geographischen Nähe zu seinen westeu­ ropäischen Abnehmern und kann in Zeiten immer kürzerer 5 Kollektionsentwicklungszyklen mit kurzen Belieferungszeiten Die Darstellung der Umsatzentwicklung basiert auf dem Volumenindex (2010 = 100) der Eurostat-Konjunkturstatistik. Für die hier verwendeten punkten. Zwecke erfolgte eine Umrechnung auf das Basisjahr 2009.

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Kasten 1 Korrelation von Produktion und Umsatz im deutschen Textil- und Bekleidungsgewerbe

Inländische Produktion und Branchenumsatz korrelieren im Textilgewerbe eng miteinander. Korrelation von Produktion und Umsatz im deutschen Textil- und Bekleidungs- gewerbe, 1992–2013 (Betriebe mit 50 und mehr Beschäftigten) Stellt man die Jahresveränderungsraten beider Größen (zugrunde gelegt werden hier die amtli­ Inländische Produktion Veränderung zum Vorjahr in % (real) che Produktions- und Umsatzvolumenindizes 15 2010 für Betriebe mit 50 und mehr Beschäftigten) ge­ Textilgewerbe 10 genüber, so zeigt sich, dass sich preisbereinigte Bekleidungsgewerbe Produktion und reale Umsätze über den kom­ 5 Trendlinie pletten verfügbaren Betrachtungszeitraum 1992 bis 2013 hinweg nicht nur weitestgehend in die­ 0 Trendlinie, selbe Richtung bewegen, sondern im Durch­ -5 Trendlinie, ohne Extremwerte schnitt zugleich im nahezu identischen Umfang ohne Extremwerte -10 fallen oder steigen. Im Bekleidungsgewerbe ist Trendlinie die Korrelation zwischen inländischer Produkti­ -15 on und Umsatz deutlich schwächer. Dies hängt in erster Linie damit zusammen, dass in der -20 2009 Branche bereits weitestgehend in ausländischen -25 Fertigungsstätten produziert wird und das inlän­ -35-30 -25-20 -15-10 -5 0510 15 dischen Herstellungsvolumen nur noch einen Umsatz Teil des gesamten Absatzes ausmacht, wohin­ Quelle: Statistisches Bundesamt; Berechnungen des ifo Instituts. gegen der Branchenumsatz auch Re-Exporte von Vollimporten oder die Erlöse direkt im Aus­ land abgesetzter Produkte mit einschließt. Schwankungen der Produktion im Inland erlauben also nur noch bedingt Rückschlüsse auf das konjunkturelle Befinden bzw. sinkende oder wachsende Umsätze des deutschen Bekleidungsgewerbes. Lässt man Extremwerte (neben dem Krisenjahr 2009 mit erheblichen Produktions- und Umsatzeinbußen zählt hierzu für das Textilgewer­ be zusätzlich das Jahr 2010, das von einer konjunkturellen Gegenbewegung geprägt war) in der Betrachtung außen vor, hat dies im Textilgewerbe auf das Ergebnis so gut wie keinen Effekt (gestrichelte blaue Trendlinie). Anders im Bekleidungsgewerbe: Hier weisen in­ ländische Produktion und Umsatz nun eine höhere Korrelation auf (gestrichelte rote Trendlinie), wenngleich diese weiterhin sichtlich schwächer ausfällt als im Textilgewerbe. Mit Berücksichtigung des Krisenjahres 2009 wird demnach das (rein statistische) Zusammenspiel beider Größen für das Bekleidungsgewerbe verglichen zu »Normaljahren« unter- bzw. die Entkopplung beider Parameter überzeichnet.

… doch auch innerhalb der EU gibt es Lichtblicke schen Textilien7 und seiner dort zum Tragen kommenden hohen Innovationskraft zusammen. Schwerpunktmäßig in Innerhalb der EU 28 verlief die Entwicklung jedoch keines­ diesem Segment – zu dem im weiteren Sinne auch Vliesstoff wegs einheitlich. Insbesondere das deutsche Textil- und und Erzeugnisse daraus gezählt werden – tätige Unterneh­ Bekleidungsgewerbe konnte sich nicht nur positiv vom men konnten sich nämlich deutlich von der wirtschaftlichen Durchschnitt in der Europäischen Gemeinschaft absetzen, Entwicklung in den übrigen Textilsparten abkoppeln (vgl. sondern beide Branchen steigerten jeweils ihre preisbe­ Abb. 2). Insbesondere nach 2009 waren die technischen reinigten Umsätze seit dem Krisenjahr 2009 dabei auch Segmente die treibende Kraft für eine Umsatzerholung im stärker als fast alle ihrer wichtigsten westeuropäischen Textilgewerbe und wirkten, mit Ausnahme des Jahres 2012, Gegenspieler, wie Italien, Frankreich (nur im Textilgewer­ dem Bedeutungsverlust traditioneller Textilsparten entgegen. be), das Vereinigte Königreich und Spanien, die teilweise sogar weitere Erlösrückgänge zu verzeichnen hatten (vgl. Eine entscheidende Rolle beim Erfolg technischer Textilen Abb. 1).6 deutschen Ursprungs spielt die Forschungslandschaft hier­ zulande mit ihren 16 Textilforschungsinstituten. Sie bietet ein Umfeld, in dem Textilunternehmen bereits beim Entwick­ Technische Textilien als Wegbereiter für eine lungsprozess neuartiger Textilien mit Zuliefer- und (immer Erholung des Textilgewerbes in Deutschland … häufiger industriellen) Abnehmerbereichen kooperieren und so gemeinsam Funktionalität und Einsatzmöglichkeiten tex­ Das relativ gute Abschneiden des deutschen Textilgewerbes, tiler Stoffe und Fasern bedarfsgenau vorantreiben. Damit das seine realen Umsätze – im Vergleich zum deutschen schafft es die deutsche Textilindustrie, ihre zunehmend tech­ Bekleidungsgewerbe – seit dem 2009 erreichten Tiefpunkt nischen Produkte auch international erfolgreich zu vermark­ wieder erkennbar erhöhen konnte, hängt eng mit der Fokus­ 7 Technische Textilien sind textile Vorprodukte, Erzeugnisse und Stoffe mit sierung deutscher Textilfirmen auf das Gebiet der techni­ besonderen physikalischen, chemischen oder funktionalen Charakteristi­ ka und hohem Innovationsgehalt. Sie kommen vor allem in der Automo­ 6 Zwar wurde gerade das deutsche Bekleidungsgewerbe von dem Umsatz­ bil-, Bau-, Luft- und Raumfahrt- oder Verpackungsindustrie sowie in der einbruch 2009 überdurchschnittlich stark getroffen, seitdem scheint sich Umwelt-, Hygiene- und Medizintechnik zum Einsatz, finden aber bei­ der Wirtschaftszweig in Deutschland jedoch deutlich stabiler zu entwi­ spielsweise als Schutz- und Funktionskleidung oder feuerfeste Gardinen ckeln als beispielsweise in Spanien oder Italien. auch im Bekleidungs- sowie Heim- und Haustextilbereich Verwendung.

ifo Schnelldienst 5/2014 – 67. Jahrgang – 13. März 2014 38 Daten und Prognosen

Abb. 1 Umsatzentwicklung im europäischen Vergleich

Volumenindex 2009 = 100, arbeitstäglich bereinigt Textilgewerbe Bekleidungsgewerbe 190 190

160 160

130 130 EU-28 EU-28

100 100

70 70 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 20052006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 vorläufig vorläufig Frankreich Italien Spanien UK Deutschland

190 190

160 160

EU-28 130 130 EU-28

100 100

70 70 2005 2006 2007 2008 20092010201120122013 20052006 2007 2008 2009 2010 2011 20122013 vorläufig vorläufig

Türkei Tschech. Rep. Niederlande Belgien Polen Bulgarien Rumänien

Textilgewerbe ohne Portugal, Bekleidungsgewerbe ohne Portugal und Schweiz, da keine entsprechenden Daten verfügbar. Quelle: Eurostat; Berechnungen des ifo Instituts.

ten – und das trotz des auch bei technischen Textilien mitt­ technologischer Spitzenprodukte.8 Ohnehin werden inzwi­ lerweile sehr hohen Wettbewerbsdrucks. Denn neben einem schen auch technische Textilien, sofern es sich um bereits der Hauptwettbewerben, den USA, versucht auf diesem standardisierte und ausgereifte Produkte handelt, in vielen Sektor inzwischen auch China den deutschen Herstellern Fällen nicht mehr in Deutschland, sondern als Massenware Marktanteile streitig zu machen. Die dortige Textilindus­trie im (u.a. asiatischen) Ausland gefertigt. wendet sich zunehmend vom unteren Preissegment ab und betätigt sich verstärkt in der eigenständigen Entwicklung … und Katalysator für die dynamische Abb. 2 Entwicklung des polnischen Textilgewerbes Umsatzentwicklung der wichtigsten deutschen Textilsparten (Betriebe mit 50 und mehr Beschäftigten) Zu erwähnen ist im Zusammenhang mit technischen Textilen Volumenindex 2009 = 100, Orginalwerte 180 Weberei auch das polnische Textilgewerbe. Es ist der einzige (dem Teppiche 160 Umsatzvolumen nach relevante) Vertreter dieses Industrie­ zweigs innerhalb der Europäischen Union, der einen klaren 140 Textilveredlung wirtschaftlichen Aufwärtstrend vorweisen und zumindest an­ Vliesstoff(-erzeugnisse) 120 satzweise mit der Wachstumsdynamik der Türkei Schritt hal­ technische Textilien

100 8 konfektionierte Textilwaren Gemäß Chinas 12. Fünfjahresplan (2011–2015) unterstützt die Volksre­ (Heimtextilien) publik die Entwicklung des Textilsektors, der dort immer noch zu den 80 Spinnstoffaufbereitung u. wichtigsten Industriebereichen des Landes zählt, in vier Kernbereichen Spinnerei (Neue textile Fasern, Hightech-Produktionsausrüstung, High-Performan­ 60 ce-Textilien und Klassische Textilien) intensiv. Der Schwerpunkt liegt 2005 20062007200820092010 20112012 2013 vorläufig dabei auf Forschung im eigenen Land, Qualitätsmanagement, Ausbil­ Quelle: Statistisches Bundesamt; Berechnungen des ifo Instituts. dung von Fachkräften und Energieeinsparung.

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ten kann (vgl. Abb. 1). Ausschlaggebend hierfür ist u.a. die in Abb. 3 Ertragsentwicklung im deutschen Textil- und Bekleidungsgewerbe Polen stark vertretende Automobilzulieferindustrie. In ihrer Um­ (Unternehmen mit 20 und mehr Beschäftigten) gebung dürften sich zahlreiche Textilfirmen angesiedelt haben, bereinigtes betriebswirtschaftliches Ergebnisa) als Anteil am Bruttoproduktionswert in % 7 die wichtige technische Vorprodukte und Ausstattungsele­ Textilgewerbe Zum Vergleich: Verarbeitendes Gewerbe mente auf textiler Basis liefern und ihrerseits wiederum vom 6 Bekleidungsgewerbe weiteren Ausbau der Produktionskapazitäten der Automobil­ 5 industrie in dem osteuropäischen EU-Mitgliedstaat profitieren. 4 3.7% 3

2

1 Geschäft mit Textilien und Mode in Deutschland im Branchendurchschnitt bis zuletzt ertragreich 0 – auch künftig wird es profitable deutsche -1 2005 2006 20072008 2009 2010 2011 Textil- und Bekleidungsunternehmen geben a) Ergebnis vor Steuern, verringert um einen fiktiven Unternehmerlohn. Quelle: Statistisches Bundesamt, Kostenstrukturstatistik; Berechnungen des ifo Instituts. Deutschland beheimatet Textil- und Bekleidungsunterneh­ es in Deutschland in beiden Branchen einen – wenn auch men, die in einem durch vornehmlich asiatische Billigkonkur­ stark geschrumpften – Sockel an Unternehmen, die auch renz äußerst kompetitiven Marktumfeld erfolgreich wirtschaf­ künftig mindestens auskömmliche Erträge generieren dürften. ten können. Das zeigen Auswertungen der amtlichen Kos­ Doch selbst wenn Textil- und Bekleidungsunternehmen in tenstrukturstatistik bis zum Jahr 2011 (aktuellere Zahlen sind Deutschland ertragreich wirtschaften können, heißt das nicht derzeit noch nicht verfügbar). So wurde trotz zwischenzeitlich automatisch, dass der Bestand an Unternehmen nicht weiter starker Umsatzeinbußen in beiden Wirtschaftszweigen seit sinken wird. Durch einen Selektionseffekt bleiben gerade die­ 2005 im Branchendurchschnitt ein nahezu durchweg positi­ jenigen Firmen erhalten, die die internationale Arbeitsteilung ves betriebswirtschaftliches Ergebnis erzielt (vgl. Abb. 3). Ein­ am besten für sich nutzen und ihr Geschäftsmodell an Ver­ zige Ausnahme bildet das Krisenjahr 2009, in dem das Tex­ änderungen anpassen können – wodurch die Erträge im tilgewerbe im Durchschnitt leichte Verluste hinnehmen muss­ Branchendurschnitt wieder steigen. Textilien und Mode blei­ te. Während das Textilgewerbe in den übrigen Jahren – mit ben auch weiterhin ein Wirtschaftsfaktor in Deutschland. einer bereinigten Umsatzrendite zwischen 0,9 und 3,7% – ausreichende bis zufriedenstellende Gewinne verbuchte, wur­ de im Bekleidungsgewerbe – mit Ergebniswerten von 3,3 bis Konjunkturelle Perspektiven für beide Branchen 6,4% – nicht selten sogar ein gutes durchschnittliches Er­ ordentlich, … tragsniveau erreicht. Auch der Vergleich mit dem Verarbeiten­ den Gewerbe für das Jahr 2011 zeigt: Die Erträge lagen »zu­ Unabhängig von diesen strukturellen Prozessen wird das kon­ letzt« im Textilgewerbe exakt im Industrieschnitt, im Beklei­ junkturelle Umfeld gegenwärtig von den deutschen Textil- und dungsgewerbe sogar weit darüber. Besonders ertragsstark Bekleidungsfirmen außerdem wieder günstiger eingeschätzt. zeigten sich die Hersteller von technischen Textilen (7,9%) Analog zum Verarbeitenden Gewerbe insgesamt tendiert das sowie die Produzenten von Arbeits- und Berufsbekleidung ifo Geschäftsklima vor allem im Bekleidungsgewerbe seit ei­ (7,6%). Von einem manchmal beschworen, nicht mehr Ge­ nigen Monaten aufwärts (vgl. Abb. 4). Optimistisch für das winn bringenden Geschäft mit Textilien und Bekleidung in Textilgewerbe stimmen speziell die Meldungen aus der vor­ Deutschland kann demnach bisher keine Rede sein. gelagerten Chemiefaserindustrie. Neben dem Textilmaschi­ nenbau und den Lieferanten pflanzlicher und tierischer Fasern Den ein oder anderen aktuellen Meldungen aus der Beklei­ zählt sie mittlerweile zu den wichtigsten Zulieferern, gerade dungsbranche9 und den bereits seit August 2012 laufenden Klagen einiger Textilunternehmen gegen die EEG-Umlage10 Abb. 4 zum Trotz, dürfte sich auch 2012 und 2013 nichts Wesentli­ Geschäftsklimaa) im deutschen Textil- und Bekleidungsgewerbe ches an dieser Situation geändert haben. Nach wie vor gibt Index 2005 = 100, gleitende 12-Monatsdurchschnitte, saisonbereinigt 130 Textilgewerbe 9 Nach Meldungen kann das mittelständische Modeunternehmen Strenesse 120 seine im März 2013 ausgegebene und mit 9% verzinste Anleihe im Umfang Bekleidungsgewerbe

von 12 Mill. Euro, die im März 2014 fällig wird, nicht wie geplant zurück­ 110 zahlen. Auch die Mittelständler Seidensticker und Eterna, beide Fabrikan­

ten von Hemden, haben mit Schwierigkeiten zu kämpfen und schrieben im 100 ersten Halbjahr 2013 Verluste. 10 Die Zahlungslast durch die EEG-Umlage bewog im August 2012 drei 90 Textilunternehmen, die Versorger auf Rückzahlung des Strompreisauf­ Verarbeitendes Gewerb e schlags zu verklagen, mit dem Ziel die Verfassungsmäßigkeit der Abgabe 80 in Frage zu stellen. Zwar wurden die Klagen in den ersten Instanzen von Chemiefaserindustrie

den Gerichten abgewiesen, die Textilveredlung Drechsler GmbH hat den 70 Fall allerdings mittlerweile bis vor den Bundesgerichtshof gebracht, des­ 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 sen Urteil noch aussteht. Letztendlich wird eine Entscheidung durch das a) Durchschnittswert aus den Einschätzungen zur Geschäftslage und den Geschäftserwartungen. Bundesverfassungsgericht angestrebt. Quelle: ifo Institut, Konjunkturtest Deutschland.

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was die Herstellung technischer Textilien betrifft. Schon na­ Literatur hezu das komplette Jahr 2013 hindurch hellte sich das Ge­ schäftsklima in der deutschen Chemiefaserindustrie auf, was Aichele, R., G. Felbermayr und I. Heiland (2014), »EEG und Internationaler Wettbewerb: Ist die besondere Ausgleichsregelung haltbar?« ifo Schnell- sich zeitversetzt auch in der Textilindustrie bemerkbar machen dienst 67(2), 23–29. dürfte. BAFA – Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (2013), Statistische Auswertungen zur »Besonderen Ausgleichsregelung«, online verügbar Die Aussichten für das Jahr 2014 sind demnach ordentlich. unter: http://www.bafa.de/bafa/de/energie/besondere_ausgleichsregelung_ Sowohl für das deutsche Textil- als auch das deutsche Be­ eeg/publikationen/statistische_auswertungen/index.html. kleidungsgewerbe werden leichte nominale Umsatzsteige­ Ebnet, M. (2012), »Das Textil- und Bekleidungsgewerbe: Perspektiven eines rungen sowie eine im Branchenmittel weiterhin zufrieden­ »Frontrunners« der internationalen Arbeitsteilung«, in: ifo Institut (Hrsg.), Tagungsband »ifo Branchen-Dialog 2012«, ifo Institut, München. stellend bzw. gute Ertragslage erwartet. Ebnet, M. (2013), »Textilgewerbe«, Branchen special, November, Deutscher Genossenschafts-Verlag eG, Wiesbaden.

… aber im Textilgewerbe Unsicherheiten im Ebnet, M. (2014), »Bekleidungsgewerbe«, Branchen special, Januar, Deut­ Zusammenhang mit aktuellen Entwicklungen scher Genossenschafts-Verlag eG, Wiesbaden. beim EEG Frankfurter Allgemeine Zeitung (2013), »Deutsche Bekleidung ist gefragt«, 12. September. Für energieintensive Textilhersteller könnten allerdings Ent­ Gesamtverband textil+mode (2013), Informationen zu den t+m-Musterkla- wicklungen im Zusammenhang mit dem EEG das wirtschaft­ gen gegen das EEG, online verfügbar unter: http://www.textil-mode.de/ liche Abschneiden beeinflussen. Je nach Ausgang des im deutsch/Themen/Energie-und-Umwelt/EEG/EEG/K540.htm. Dezember 2013 von der Europäischen Kommission gegen Handelsblatt (2012), »Musterklagen: Textilbranche will Ökoenergie-Umlage Deutschland eröffneten Beihilfeverfahrens droht den bislang kippen«, 14. August, online verfügbar unter: http://www.handelsblatt.com/ begünstigten Unternehmen die Abschaffung der besonderen unternehmen/industrie/musterklagen-textilbranche-will-oekoenergie-umla­ ge-kippen/6999580.html. Ausgleichsregelung des EEG sowie die Rückzahlung der in den letzten Jahren durch sie gewährten Vorteile. Im Jahr 2013 Handelsblatt (2013), »Made in Germany«, 5./6./7. Juli.

haben von dieser sogenannten Härtefallregel 43 Textilfirmen Handelsblatt (2014), »Aus der Mode: Gefahr für deutsche Fashion-Mar­ (2012: 16 Unternehmen) profitiert, die von der Entrichtung ken«, 4. Februar. der EEG-Umlage weitestgehend befreit waren. Für 2014 sind Institut der deutschen Wirtschaft Köln (2012), Alternative Möglichkeiten der Betriebsstätten von 64 Textilunternehmen nahezu freige­ steuerlichen Finanzierung der EEG-Kosten, Köln. stellt.11 Ein Wegfall dieser Vergünstigungen hätte aber wahr­ Institut der deutschen Wirtschaft Köln und Bundesarbeitsgemeinschaft scheinlich keine allzu großen Auswirkungen. Das ifo Institut SCHULEWIRTSCHAFT (Hrsg.) (2014), »Wirtschaftsfaktor Mode«, Wirt- kommt in einer – im Zuge eines Sachverständigengutachtens schaft und Unterricht(1), Köln. für das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie vorge­ Manssen, G. (2012), Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit der EEG-Umla- nommenen – Abschätzung der »branchen­spezifischen ge und der besonderen Ausgleichsregelung des Erneuerbare-Ener­gien- Umsatz­einbußen durch Abschaffung der besonderen Aus­ Gesetzes i. d. F. des Gesetzes zur Neuregelung des Rechtsrahmens für die Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien vom gleichsregelung des EEG« für das Jahr 2012 zu dem Ergeb­ 28. Juli 2011, Regensburg. nis, dass sich diese im Textilgewerbe auf durchschnittlich nur Paul, D. (2008), Die Textil- und Bekleidungsindustrie der EU, IGEL Verlag 0,4% belaufen. Auch verglichen mit den prozentualen Um­ GmbH, Hamburg. satzeinbußen anderer ebenfalls von der Umlagebefreiung be­ günstigter Branchen ist der Effekt eines Wegfalls der Sonder­ TextilWirtschaft (2013a), Die größten europäischen Bekleidungslieferanten 2012, online verfügbar unter: http://www.textilwirtschaft.de/business/pdfs/ 12 regel ausgesprochen niedrig. 617_org.pdf.

11 Gemessen an der Gesamtzahl deutscher Textilunternehmen ist diese Zahl TextilWirtschaft (2013b), Die größten Textilhersteller in Europa 2012, online weiterhin gering. Ohnehin pocht die Branche aufgrund der energiepreis­ verfügbar unter: http://www.textilwirtschaft.de/business/pdfs/625_org.pd. bedingten – und im internationalen Wettbewerb vermeintlich zu einem Nachteil führenden – Kostenlast vieler nicht von der EEG-Umlage ausge­ TextilWirtschaft (2013c), Die Spinnweberei Uhingen ist insolvent, online nommener Betriebe seit längerem auf eine Abschaffung bzw. grundlegen­ verfügbar unter: http://www.textilwirtschaft.de/business/Die-Spinnwebe­ de Reform des EEG. So hat der Gesamtverband der deutschen Textil- rei-Uhingen-ist-insolvent_89244.htm. und Modeindustrie (GV textil+mode) bereits im Januar 2012 bei Professor Gerrit Manssen, Universität Regensburg, ein verfassungsrechtliches Gut­ TextilWirtschaft (2013d), Die Schmerzgrenze ist erreicht (44), 18–21. achten zur EEG-Umlage in Auftrag gegeben. Es kommt zu dem Ergebnis, dass der Finanzierungsmechanismus des EEG gegen die Finanzverfas­ TextilWirtschaft (2013e), Perspektiven für Europas Industrie (45), 50. sung des Grundgesetzes verstößt. In einem weiteren Gutachten vom Oktober 2012 ließ der GV textil+mode gemeinsam mit dem Wirtschafts­ TextilWirtschaft (2013f), Weitere EEG-Klage abgewiesen, online verfügbar verband Stahl und Metallverarbeitung (WSM) zudem durch das Institut der unter: http://www.textilwirtschaft.de/business/Weitere-EEG-Klage-abge­ deutschen Wirtschaft Köln (IW Köln) alternative Möglichkeiten der steuer­ wiesen_85677.html. lichen Finanzierung der EEG-Kosten aufzeigen. 12 Besonders stark betroffen von einer Abschaffung der Sonderregel wären den Berechnungen zufolge die Zementindustrie (durchschnittliche Um­ satzeinbuße: 14,6%), die Hersteller von NE-Metallen (11,1%) sowie das Papiergewerbe (7,2%). Eine ausführliche Darstellung der Analyse findet sich bei Aichele, Felbermayr und Heiland (2014).

ifo Schnelldienst 5/2014 – 67. Jahrgang – 13. März 2014 Neue Ergebnisse der ifo Investorenrechnung für das Jahr 2011 Daten und Prognosen 41 Stefan Sauer und Klaus Wohlrabe

Die ifo Investorenrechnung ist ein umfangreiches Werkzeug zur Untersuchung wirtschaftlicher Entwicklungstendenzen und Verschiebungen der Investitionsstrukturen in den Wirtschaftsberei- chen Deutschlands (vgl. Strobel et al. 2013). Unter Verwendung einer Vielzahl von Datenquellen liefert sie verdichtete Investitionsmatrizen für 50 Wirtschaftszweige und zwölf Gütergruppen in Deutschland, die Aufschluss über den Anteil einzelner Produktgruppen an den Investitionen eines Wirtschaftszweigs geben.1 Dabei ist das Rechenwerk in seinen Aggregaten konsistent mit den Zahlen des Statistischen Bundesamtes nach WZ2008 und GP2002 abgestimmt. Der vorliegende Artikel beschreibt die aktuellsten Ergebnisse der ifo Investorenrechnung für das Jahr 2011 und geht darüber hinaus besonders auf verschiedene Aspekte in Bezug auf Investitionen in Straßen- fahrzeuge ein.

Während die Bruttoanlageinvestitionen aktuellsten Ergebnisse beziehen sich auf- in den offiziellen Statistiken für die ein- grund des um zwei Jahre verzögerten zelnen Wirtschaftsbereiche jeweils ledig- Veröffentlichungszeitpunkts offizieller In- lich in Bau- und Ausrüstungsinvestitio- vestitionsdaten auf Wirtschaftszweigebe- nen unterteilt sind, liefert die ifo Investo- ne durch das Statistische Bundesamt auf renrechnung eine tiefergehende Aufglie- das Jahr 2011.3 In Tabelle 1 ist der Aus- derung in verschiedene Gütergruppen. schnitt einer Investitionsmatrix mit der Als einzigartige Eigenschaft bietet sie prozentualen Veränderung der nominalen zudem neben dem Eigentümerkonzept, Investitionen nach dem Nutzerkonzept im mit dem in der volkswirtschaftlichen Ge- Jahr 2011 gegenüber dem Vorjahr dar- samtrechnung die Käufe von neuen gestellt. Bauten und Ausrüstungsgütern beim Ei- gentümer der Anlagen nachgewiesen Angesichts der guten konjunkturellen Si- werden, eine Darstellung von Investiti- tuation war das Jahr 2011 von einem onszeitreihen nach dem Nutzerkonzept dynamischen Wachstum der gesamt- an. Bei diesem werden Investitionen los- wirtschaftlichen Investitionsausgaben gelöst vom Eigentümer der Güter be- geprägt. Der Anstieg der Bruttoanlage­ trachtet und dem Wirtschaftszweig zu- investitionen um 8,9% setzte sich aus geordnet, der die Anlagen tatsächlich für um 11,1% höheren Bauinvestitionen so- seine Produktionszwecke nutzt. Eigen- wie einem Wachstum der Ausrüstungs- tümer und Nutzer sind beispielsweise investitionen (inkl. immaterielle Anlagen) dann nicht identisch, wenn Investitions- von 6,8% zusammen. Für den Anstieg objekte geleast statt gekauft werden. im Ausrüstungsgüterbereich war beson- Die ifo Investorenrechnung führt mit Hil- ders die rege Nachfrage bei Maschinen- fe detaillierter Informationen aus dem ifo bauprodukten (+ 17,2%) und Fahrzeu- Investitionstest Leasing2 zu Leasinggü- gen (+ 18,4%) verantwortlich; diese bei- tern und Leasingnehmersektoren die den Gütergruppen machten zusammen selbstbilanzierten mit den geleasten In- mehr als die Hälfte der gesamten nomi- vestitionen zusammen. Dadurch lassen nalen Ausrüstungsinvestitionen dieses sich Rückschlüsse auf den gesamten Jahres (228,6 Mrd. Euro) aus. Mit Hilfe Umfang der in einem Sektor tatsächlich der dargestellten Matrix lassen sich nun eingesetzten Investitionsgüter und das einzelne Wirtschaftsbereiche näher un- daraus resultierende Produktionspoten­ tersuchen. So weist etwa das Verarbei- zial ziehen. tende Gewerbe bei den Ausrüstungsin- vestitionen ein deutliches Wachstum von Das Rechenwerk der ifo Investorenrech- 13,1% auf. Gliedert man die Betrachtung nung wird jährlich aktualisiert und liegt in nach Gütergruppen auf, so ergibt sich Jahreswerten seit 1991 vor. Die derzeit den Ergebnissen der ifo Investorenrech- 1 Strobel et al. (2012) liefern eine ausführliche Be­ schreibung der verwendeten Quellen und Me­ 3 Ab dem Jahr 2014 wird die ifo Investorenrech- thoden. nung unter anderem durch die Einbeziehung von 2 Für eine ausführliche Dokumentation des ifo Ergebnissen des ifo Investitionstests jeweils bis Investitionstests Leasing vgl. Goldrian (2007). zum aktuellen Jahr geschätzt.

ifo Schnelldienst 5/2014 – 67. Jahrgang – 13. März 2014 42 Daten und Prognosen Quelle: ifo Investorenrechnung. Wirtschaftszweige: Investitionen Nutzerkonzept, nach dem in jeweiligen Preisen, Ausschnitt einer Investitionsmatrix mit ausgewählten Wirtschafts Veränderung der Investitionen im Jahr 2011 gegenüber 2010 in % 1 Tab. 01 – 41 – 38 – 35 – 29 – 26 – 26 – 3 – 50 50 40 37 33 28 50 34 25 24 23 22 18 17 16 15 14 13 11 10 21

9 3 2 1

Alle Wirtschaftsbereiche Andere Dienstleistungsbereiche Erbringung von Finanz und Versicherungsdienstleistungen Information und Kommunikation Gastgewerbe Verkehr und Lagerei Handel Dienstleistungsbereiche Baugewerbe Abwasser Wasserversorgung Energieversorgung Herstellung von Kraftwagen Kraftwagenteilenund Maschinenbau Herstellung von elektrischen Ausrüstungen Erzeugnissen Herstellung von DV Herstellung von Metallerzeugung und - Herstellung von Gummi Herstellung von pharmazeutischen Erzeugnissen Herstellung von chemischen Erzeugnissen Ernährungsgewerbe und Tabakverarbeitung Verarbeitendes Gewerbe Bergbau und Gewinnung von Steinen und Erden Land -

und Forstwirtschaft,

- , Abfallentsorgung, Rückgewinnung

Metallerzeugnissen

-

Geräten, elektronischen und optischen

- bearbeitung

und Kunststoffwaren

Fischerei

Gütergruppen: – – – – – Metallerzeugnisse 15,1 12,5 42,8 15,7 28,6 15,1 19,3 17,2 14,8 21,0 21,2 11,0 36,5 16,8 12,5 22,9

9,3 9,6 0,0 9,5 2,6 7,2 7,0 4,7 6,7

17,2 24,1 35,0 28,5 30,5 12,9 19,0 14,1 11,4 11,6 26,7 32,3 37,3 29,8 20,2 19,0 17,5 29,6 21,3 Maschinen 1,3 1,6 2,0 9,6 9,3 4,0

– – – – – – Büromaschinen, DV- – – – – –

23,7 25,6 21,2 11,3 13,8 15,9 10,5 25,0

3,8 1,8 5,1 8,0 0,0 4,6 6,6 3,1 3,3 5,0 6,3 0,0 4,1 6,7 7,0 4,4 6,8 Geräte und -Einrichtungen

– – – – – – – Elektrizitätserzeugung 10,6 11,6 24,5 12,4 38,2 18,4 11,7 22,4 24,8 28,9 19,1 25,0 21,4 10,3 26,4

1,4 4,5 7,4 8,1 7,0 8,7 6,2 2,3 4,6 3,3

– – – – Medizin-, Mess-, Rege- – – – –

15,2 23,3 12,7 20,2 21,5 18,9 13,5 19,9 12,8 19,4 44,7 10,8 16,8 12,0 23,1

2,4 0,0 6,6 5,8 8,9 9,3 1,6 5,1 4,2 0,5 lungs- und Steuerungs-

geräte, Optik

Straßenfahrzeuge 18,4 14,2 15,0 59,6 24,4 23,5 18,5 16,9 22,8 10,6 33,3 23,8 22,0 18,4 32,9 34,7 34,4 27,4 11,2 21,8 12,5 23,2 5,2 6,8 8,4 bereichen

… … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … … …

– – – – – – – – – – – – Immaterielle Anlagen 21,7 16,5 21,0 24,0 13,5 15,8 17,2 25,0

4,5 2,1 6,8 0,0 5,3 6,5 4,3 4,7 7,0 3,3 0,7 8,3 5,2 9,8 5,8 3,1 4,7

– – – – – – – – 1 Bauten 11,1 13,4 11,6 14,0 12,0 50,1 65,1 28,7 34,4 33,2 10,7 16,4 10,4 55,1

0,8 4,9 0,4 9,6 1,0 5,8 6,1 0,9 6,7 3,1 0,8

– – – Ausrüstungen 12,3 10,5 13,0 16,5 20,5 32,6 26,7 20,7 13,0 13,1 29,2 19,6

6,4 5,4 6,4 4,0 8,4 3,2 5,1 3,8 3,0 7,0 3,9 8,5 0,9

– – – Anlagen 11,6 11,5 14,5 14,0 19,5 35,1 26,9 17,0 15,0 13,3 22,4 19,0

8,9 4,4 4,5 2,9 4,8 8,4 5,8 0,0 2,0 8,8 4,6 4,5 7,6

ifo Schnelldienst 5/2014 – 67. Jahrgang – 13. März 2014 Daten und Prognosen 43

Abb. 1 Mit einer Betrachtung dieser Entwicklungen Anteil verschiedener Gütergruppen an den Ausrüstungsinvestitionen des über mehrere Jahre hinweg können wichtige Verarbeitenden Gewerbes Erkenntnisse über die Verschiebung von In- vestitionsstrukturen innerhalb eines Sektors % Nutzerkonzept, in jeweiligen Preisen 100 gewonnen werden. Für den Fall des Verar- 8.8 13.9 11.4 11.6 15.4 15.7 2.1 2.5 beitenden Gewerbes lässt sich etwa eine 3.4 9.1 80 6.5 5.6 6.7 7.2 9.5 5.5 7.2 7.4 spürbar steigende Bedeutung von Fahrzeug­ 17.8 21.8 9.6 10.3 12.1 20.2 investitionen erkennen. Anfang der 1990er 60 Jahre lag der Anteil der Ausgaben für Stra- ßenfahrzeuge4 an den gesamten Ausrüs- 40 60.9 tungsinvestitionen dieses Bereichs noch un- 59.0 58.0 59.2 55.5 57.7 20 ter der 10%-Marke. Nach einem kontinuier- lichen Anstieg hat sich dieser Anteil inzwi- 0 schen mehr als verdoppelt und lag im Jahr 1991 1995 2000 2005 2010 2011 2011 bei 21,8% (vgl. Abb. 1). Dagegen hat Maschinenbauerzeugnisse Straßenfahrzeuge Medizin- und Messtechnik Büromaschinen, DV-Erzeugnisse sich beispielsweise die Bedeutung von In- sonstige Ausrüstungsgüter vestitionen in Büromaschinen und DV-Er- Quelle: ifo Investorenrechnung. zeugnisse relativ zu den gesamten Ausrüs- tungsinvestitionen (Nutzerkonzept, in jewei- ligen Preisen) des Verarbeitenden Gewerbes nung zufolge ein heterogenes Bild: Auf der einen Seite seit dem Jahr 2000 deutlich verringert. haben sich die Ausgaben der Industrieunternehmen be- sonders für Maschinen und Straßenfahrzeuge erheblich Gerade bei den Fahrzeuginvestitionen zeigt sich auch, wie erhöht, auf der anderen Seite verringerten sich die nomi- wichtig eine Unterscheidung von Eigentümer- und Nutzer- nalen Investitionen in Büromaschinen und DV-Geräte sowie konzept für die Analyse des Investitionsverhaltens und die in immaterielle Anlagen (Software, Lizenzen etc.). Prognose der Investitionsausgaben nach Wirtschaftszwei- gen ist, da das Leasing die eindeutig bedeutendste Beschaf- Abb. 2 fungsform bei Fahrzeuginvestitionen ist (vgl. Städtler 2013). Kfz-Investitionen des Jahres 2011 nach Sektoren Im Jahr 2011 entfielen wertmäßig 67,6% der Leasinginves- titionen auf Straßenfahrzeuge, und deren Anteil am Wert der Eigentümerkonzept gesamten gewerblichen Fahrzeugkäufe (Leasingquote) be- Nutzerkonzept lief sich auf rund 58%. in Mrd. € (nominal) 03691215 In Abbildung 2 werden die Kfz-Investitionen der verschiede- nen Sektoren im Jahr 2011 nach dem Eigentümerkonzept Land-, Forstwirtschaft, Fischerei sowie dem Nutzerkonzept miteinander verglichen. Es fällt Bergbau, Energie, Wasser, auf, dass sich bei Verwendung des Nutzerkonzepts für die Entsorgung meisten Sektoren ein wesentlich höherer Wert ergibt. Im

Verarbeitendes Gewerbe Bereich Verkehr und Lagerei oder für Finanzen und Versi- cherungen etwa fallen die Investitionen in Straßenfahrzeuge Baugewerbe nach dem Nutzerkonzept mehr als dreimal so hoch aus wie nach dem Eigentümerkonzept, im Verarbeitenden Gewerbe Verkehr und Lagerei sind sie um rund 4,5 Mrd. Euro höher. Lediglich im Dienst- leistungsbereich, in dem die Leasinginvestitionen nach dem Handel, Gastgewerbe Eigentümerkonzept bilanziert werden, ist das Verhältnis um- gekehrt. Hier liegt der Wert nach dem Nutzerkonzept Information und Kommunikation (24,8 Mrd. Euro) bei nur etwa 60% des Eigentümerkonzepts (41,3 Mrd. Euro). Finanzen und Versicherungen

Literatur andere Dienstleistungen Eigentümerkonzept Nutzerkonzept Goldrian, G. (2007), Handbook of Survey-Based Business Cycle Analysis, Edward Elgar, Cheltenham. 01020304050 in Mrd. € (nominal) 4 Pkw, Lkw, Anhänger, Sattelzugmaschinen, Busse und sonstige Kraftfahr- Quelle: ifo Investorenrechnung. zeuge (Krankenwagen, Löschfahrzeuge etc.).

ifo Schnelldienst 5/2014 – 67. Jahrgang – 13. März 2014 44 Daten und Prognosen

Städtler, A. (2013), »Investitionen 2013 noch rückläufig – Leasinggeschäft stagniert, 2014: Wachstum in Sicht«, ifo Schnelldienst 66(23), 68–78.

Strobel, T., S. Sauer und K. Wohlrabe (2012), ifo Investorenrechnung – Dokumentation von Quellen, Verarbeitung und Methodik, ifo Beiträge zur Wirtschaftsforschung 42, ifo Institut, München.

Strobel, T., S. Sauer, und K. Wohlrabe (2013), »Die ifo Investorenrechnung: Ein Werkzeug zur Analyse von Investitionsstrukturen in Deutschland«, ifo Schnelldienst 66(6), 29–33.

ifo Schnelldienst 5/2014 – 67. Jahrgang – 13. März 2014 Zur Einführung des ESVG 2010: Auswirkungen auf das Bruttoinlandsprodukt Daten und Prognosen 45 Wolfgang Nierhaus

Im September 2014 werden vom Statistischen Bundesamt im Rahmen der nächsten großen Revi- sion der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen erstmalig Ergebnisse nach dem neuen Europä- ischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG 2010) präsentiert. Der vorliegende Beitrag beleuchtet die zu erwartenden Wirkungen auf das Bruttoinlandsprodukt.

In den Volkswirtschaftlichen Gesamtrech­ Die quantitativ bedeutsamste VGR-Ände­ nungen (VGR) werden Konzepte, Defi­­ rung mit Auswirkungen auf das Niveau nitionen, Klassifikationen und Bewer­ des nominalen Bruttoinlandsprodukts be­ tungsregeln auf internationaler Ebene trifft die Verbuchung der Aufwendungen festgelegt, um eine weitgehende Ver­ für Forschung und Entwicklung (FuE). gleichbarkeit nationaler Ergebnisse zu Diese wurden bisher in den VGR als Vor­ gewährleisten (vgl. Braakmann 2013, leistungen behandelt. Vorleistungen sind S. 521 f.). Mit dem neuen System of Na­ Güter und Dienstleistungen, die als Input tional Accounts (SNA) 2008 werden die im Produktionsprozess verwendet und bisherigen Regelungen nach dem SNA dabei verbraucht oder weiterverarbeitet 1993 aktualisiert. Gegenüber seiner Vor­ werden (z.B. Roh-, Hilfs- und Betriebs­ läuferversion enthält das SNA 2008 ins­ stoffe, Vorprodukte, laufende Reparatu­ gesamt 44 Revisionspunkte. Zehn Neue­ ren, Transportkosten, gewerbliche Mieten rungen ziehen einen quantitativen Effekt usw.). Da Vorleistungen vom Produktions­ auf das nominale Bruttoinlandsprodukt wert abgezogen werden, waren FuE-Auf­ (BIP) nach sich, zehn weitere beinhalten wendungen bisher nicht im BIP enthalten. Methodenänderungen, die keinen BIP-Ef­ Das aus Forschung und Entwicklung re­ fekt haben. Außerdem gibt es sieben Re­ sultierende Wissen wird jedoch im Pro­ visionspunkte für Methodenänderun­ gen,­ duktionsprozess nicht verbraucht, son­ die in Europa bereits gelten. Schließlich dern wiederholt genutzt. Nach dem ESVG gibt es 17 Neuerungen, in denen Verdeut­ 2010 werden die FuE-Aufwendungen nun lichung bzw. Klarstellungen zu bestimm­ als Bruttoanlageinvestitionen verbucht, ten Sachverhalten enthalten sind, ohne d.h., sie werden als Kapital behandelt, die bisherigen Methoden zu verändern das zur Unterstützung des Produktions­ (vgl. Spies 2013). prozesses dient. Deshalb wird auch von einer »Kapitalisierung« der FuE-Aufwen­ Für die Mitgliedstaaten der Europäischen dungen gesprochen (vgl. Schweizerische Union gilt im Besonderen das Europäische Eidgenossenschaft, Bundesamt für Sta­ System Volkswirtschaftlicher Gesamtrech­ tistik 2013, S. 4).. nungen, das den Vorgaben des SNA folgt. Ein Grund für die Entwicklung einer eigen­ ständigen Gesamtrechnung sind beson­ Für das BIP ergibt sich damit folgender dere europaspezifische Anforderungen an Rechengang (vgl. Braakmann 2013, die Daten. So werden methodisch harmo­ S. 524): Zunächst werden für die privaten nisierte Daten z.B. bei der Finanzierung bzw. öffentlichen FuE-Aktivitäten die Pro­ des EU-Haushalts als Grundlage­ für die duktionswerte ermittelt. Bei den Unter­ Berechnung der Beiträge der Mitgliedstaa­ nehmen wird die produzierte FuE-Leis­ ten benötigt oder aber bei der europäi­ tung als Bruttoanlageinvestition gebucht schen Haushaltsüberwachung im Rahmen und erhöht so uno actu das Bruttoinlands­ des Stabilitäts- und Wachstumspakts. produkt. Auch die FuE-Leistungen des Auch die Verteilung der Mittel aus dem Staates werden als Bruttoanlageinvestiti­ EU-Struktur- und Regionalfonds basiert on verbucht, im gleichen Ausmaß sinken auf harmonisierten VGR-­Daten. Das ESVG aber aufgrund der reduzierten Vorleistun­ ist für die EU-Mitgliedstaaten rechtsver­ gen die staatlichen Konsumausgaben, so bindlich festgelegt (vgl. Statistisches Bun­ dass sich das BIP per saldo zunächst desamt 2014). Ab dem 1. September nicht ändert. Staatliche FuE-Leistungen 2014 sind europaweit die VGR-Daten führen aber indirekt zu einem höheren BIP, nach den Konzepten des ESVG 2010 zu weil der Abschreibungsbedarf auf das liefern. FuE-Anlagevermögen die in diesem Sek­

ifo Schnelldienst 5/2014 – 67. Jahrgang – 13. März 2014 46 Daten und Prognosen

tor additiv über die Kostenkomponenten er­ Tab. 1 1 mittelte Bruttowertschöpfung erhöht. Einfluss der Änderungen nach ESVG 2010 auf das BIP Niveau- Anzahl Beitrag Eine andere BIP-wirksame Änderung betrifft anhebung der Länder zum EU- die Zuordnung von militärischen Gütern in des BIP in % Länder BIP in % Lettland, Litauen, Polen, den VGR: Nach dem ESVG 1995 waren zivil 0 bis 1 5 5,1 Ungarn, Rumänien nutzbare militärische Anlagen (wie Kasernen) Tschechien, Estland, Irland, als Anlageinvestitionen zu buchen. Alle sons­ Spanien, Italien, Luxemburg, 1 bis 2 10 25,5 tigen Militärgüter (wie Panzer) wurden als Malta, Portugal, Slowenien, Vorleistungen des Staates verbucht und Slowakei Belgien, Dänemark, 2 bis 3 4 41,7 schlugen sich deshalb in den staatlichen Deutschland, Frankreich Konsumausgaben nieder. Nunmehr werden Österreich, Niederlande, 3 bis 4 3 20,8 militärische Waffensysteme zu den Anlage­ Vereinigtes Königreich gütern gezählt, und ihre Anschaffung wird 4 bis 5 2 Finnland, Schweden 4,5 a) als Investition gebucht. Damit wird dem Fak­ 2,4 24 EU Durchschnitt 97,7 a) Ohne Bulgarien, Griechenland, Zypern und Kroatien. tum Rechnung getragen, dass Waffensyste­ me kontinuierlich für die Bereitstellung von Quelle: Eurostat (2014).

Sicherheitsdienstleistungen genutzt werden (vgl. Statistisches Bundesamt 2014). In Hö­ he der nunmehr auch auf militärische Waffensysteme anfal­ Vergleichsweise kleine BIP-Effekte in einer Größenordnung lenden Abschreibungen wird sich durch die vorgesehene von bis zu 1% dürften sich in Lettland, Litauen, Polen, Un­ Umbuchung das BIP erhöhen, was quantitativ aber nicht garn und in Rumänien einstellen. Mit überdurchschnittlich allzu groß ins Gewicht fallen dürfte. großen BIP-Effekten, die sich in einem Intervall von 4 bis 5% bewegen, ist in Finnland und Schweden zu rechnen. Weitere Änderungen im ESVG 2010 mit BIP-Wirkung be­ Deutschland liegt zusammen mit Belgien, Dänemark und ziehen sich auf die Erfassung von Schaden- bzw. Rückver­ Frankreich im Mittelfeld. In den USA, die bereits seit Juli 2013 sicherungen sowie von Renten- und Pensionsansprüchen nach dem neuen SNA-Standard rechnen, beläuft sich die privater Haushalte an private und staatliche Träger von Al­ revisionsbedingte Niveauanhebung des Bruttoinlandspro­ terssicherungssystemen. Letztere werden erstmalig im Jahr dukts im Zeitraum 2010 bis 2012 gegenüber den Ergebnis­ 2017 in einer Zusatztabelle außerhalb des Kernsystems der sen nach dem SNA 1993 auf 3%, davon entfallen 2,5 Pro­ VGR dargestellt (vgl. Braakmann 2013, S. 524 ff.). zentpunkte auf die Kapitalisierung der FuE-Aufwendungen (vgl. Eurostat 2014). Alles in allem zeigen vorläufige Schätzungen des Statisti­ schen Bundesamts, dass das nominale Bruttoinlandspro­ Aufgrund der Niveau-Anhebung des Bruttoinlandsprodukts dukt in Deutschland, berücksichtigt man die Konzeptände­ im Zuge der nach dem ESVG 2010 erforderlichen Neube­ rungen und die -präzisierungen durch das ESVG 2010, um rechnung ändern sich c.p. naturgemäß alle Quoten, für die etwa 3% höher wäre als nach dem geltendem ESVG 1995. das nominale BIP den Referenzwert darstellt. So werden die Maßgeblich hierfür ist vor allem die Verbuchung von FuE- Defizitquote (staatliche Neuverschuldung in Relation zum Aufwendungen­ als Investitionen (vgl. Statistisches Bundes­ BIP), die Schuldenstandsquote (staatlicher Bruttoschulden­ amt 2014). Einer ergänzenden Statistik von Eurostat zufolge stand in Relation zum BIP) und auch der Anteil des Leis­ dürfte sich im EU-Durchschnitt für das Stichjahr 2011 die tungsbilanzsaldos am BIP approximativ im Ausmaß der (pro­ durchschnittliche Niveauanhebung des nominalen BIP auf zentualen) BIP-Anhebung sinken. Nennenswerte Quoten­ 2,4% belaufen. Davon entfallen 1,9 Prozentpunkte (oder 80% rückgänge ergeben sich hieraus aber nur dann, wenn die des Gesamteffekts) auf die Kapitalisierung der Aufwendun­ nach dem bisherigen ESVG 1995 berechneten länderspe­ gen für Forschung und Entwicklung (vgl. Tab. 1). Die restli­ zifischen Quoten hoch und zugleich auch die zu erwarten­ chen Änderungen durch das ESVG 2010 bewirken zusam­ den BIP-Änderungen aufgrund der Einführung des ESVG mengenommen einen BIP-Anstieg um 0,5 Prozentpunkte, 2010 groß sind.2 wobei die Kapitalisierung von militärischen Waffensystemen hier den quantitativ bedeutsamsten Effekt (0,1 Prozentpunk­ te) bewirkt. Insgesamt waren in die Eurostat-Untersuchung Legt man die Ergebnisse der amtlichen Statistik für das 24 EU-Mitgliedstaaten einbezogen, die zusammen 97,7% Jahr 2011 zugrunde, dann läge die vergleichsweise recht des EU-BIP erwirtschaften (vgl. Eurostat 2014). niedrige deutsche Defizitquote bei einer BIP-Neuberech­ nung nach dem ESVG 2010 unverändert bei 0,8%, wäh­ 1 Die Bruttowertschöpfung des Staates umfasst das geleistete Arbeit­ 2 nehmerentgelt, die Abschreibungen sowie die geleisteten sonstigen Für die absolute Änderung der Quoten gilt: QESVG2010 – QESVG1995 =

Produk­tions­abgaben abzüglich der empfangenen sonstigen Subven­ – QESVG1995•ΔBIP/(1 + ΔBIP), wobei ΔBIP die relative Änderung des Brut­ tionen. toinlandsprodukts bezeichnet.

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Abb. 1 Fazit Modellrechnung zur Änderung der Schuldenstandsquoten in der EU a) durch die Einführung des ESVG 2010 Ab September 2014 werden die VGR-Daten Prozentpunkte europaweit nach den Konzepten des ESVG 4 Änderung der Schuldenstandsquoten gegenüber dem Stand nach ESVG 1995 2010 erstellt, das auf dem neuen SNA 2008 3 basiert. Durch die vielfältigen Konzeptände­ 2 rungen und Präzisierungen wird sich die in­ 1 ternationale Vergleichbarkeit der Volkswirt­ 0 -0.1 schaftlichen Gesamtrechnungen weiter er­ -0.3 -0.4 -0.4 -0.4 -1 -0.6 -0.8 -0.8 -0.9 -0.9 höhen. -1.4 -1.4 -1.4 -2 -1.8 -2.0 -2.1 -2.3 -2.3 -3 -2.4 -2.5 -2.5 -2.8 -2.9 Vorläufigen Schätzungen des Statistischen -3.2 -4 Bundesamts zufolge dürfte das nominale k g n d n d d a d h h Bruttoinlandsprodukt in Deutschland auf Ba­ Malt Irlan Polen Italien Ungar n Litaue Belgien Estland Lettlan Spanien Portugal Finnlan Slowakei sis des ESVG 2010 und hier vor allem auf­ Rumänien Slowenien Dänemar Österreic Schwede Frankreic Luxembur Niederlande Deutschlan

Tschech. Rep. grund der Verbuchung von FuE-Aufwendun­ Ver. Königreich a) Berechnet für das Jahr 2011; EU (28 Länder) ohne Bulgarien, Griechenland, Zypern und Kroatien. gen als Investitionen in geistiges Eigentum Quelle: Eurostat, Berechnungen des ifo Instituts. um etwa 3% höher sein als das nach gelten­ dem ESVG ermittelte Ergebnis (vgl. Statisti­ rend die deutlich höhere (Brutto-)Schuldenstandsquote sches Bundesamt 2014). Für das Stichjahr (80,0%) um 2,3 Prozentpunkte auf 77,7% sinken würde 2011 dürfte sich nach Eurostat die durchschnittliche Ni­ (vgl. Abb. 1). Bei diesen Rechnungen wird unterstellt, dass veau-Anhebung des nominalen Bruttoinlandsprodukts in der sich die Zähler der entsprechenden Quoten aufgrund der EU auf 2,4% belaufen. Aufgrund der Niveau-Anhebung sin­ Umstellung auf das ESVG 2010 nicht nennenswert än­ ken zugleich alle Quoten, für die das nominale Bruttoinlands­ dern.3 Der im Rahmen des Macroeconomic Imbalance produkt den Referenzwert­ darstellt, was nennenswerte nu­ Procedure (MIP) relevante deutsche Leistungsbilanzsaldo merische Effekte allerdings nur bei den vergleichsweise ho­ in Relation zum BIP in Höhe von 6,2% des Jahres 2011 hen öffentlichen (Brutto-)Schuldenstandsquoten zeitigt. Die (vgl. Europäische Kommission 2014, S. 11) fiele nach einer deutsche Schuldenstandsquote des Jahres 2011 in Höhe BIP-Neuberechnung leicht, nämlich um 0,2 Prozentpunk­ von 80,0% würde z.B. auf Basis des ESVG 2010 c.p. um te, auf 6,0%. 2,3 Prozentpunkte geringer ausfallen. Keine größeren Aus­ wirkungen dürfte die Kapitalisierung der FuE-Aufwendungen Im Durchschnitt der Europäischen Union würde die öffent­ schließlich auf die Veränderungsraten des Bruttoinlandspro­ liche Defizitquote des Jahres 2011 – nunmehr nach dem dukts haben, da FuE-Leistungen erfahrungsgemäß im Zeit­ ESVG 2010 berechnet – gegenüber dem heutigen amtli­ ablauf keinen größeren Schwankungen unterliegen (vgl. Olt­ chen Stand marginal um 0,1 Prozentpunkte zurückgehen. manns, Bolleyer und Schulz 2009, S. 135). Für das Vereinigte Königreich und auch für Irland sänken die Defizitquoten jeweils um 0,3 Prozentpunkte. Für Frank­ Das Statistische Bundesamt plant, bei der Umstellung der reich, Spanien und die Niederlande gingen die Defizitquo­ Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen alle Aggregate in ten jeweils um 0,2 Prozentpunkte zurück. Was die öffent­ voller Tiefe bis zum Jahr 1991 zurückzurechnen. Neben den lichen (Brutto-)Schuldenstandsquoten anbetrifft, so würde neuen ESVG-Konzepten werden im Rahmen der General­ sich diese im EU-Durchschnitt um 1,9 Prozentpunkte er­ revision 2014 wie immer auch Ergebnisse aus unregelmä­ mäßigen. Der größte Quotenrückgang wäre für das Verei­ ßigen Erhebungen und Großzählungen in die VGR einge­ nigte Königreich zu verzeichnen (3,2 Prozentpunkte), ge­ baut. Insbesondere werden Ergebnisse des Zensus 2011 folgt von Belgien (2,9 Prozentpunkte), Österreich (2,8 Pro­ berücksichtigt, die in den VGR unter anderem bei der Er­ zentpunkte), den Niederlanden sowie Frankreich (jeweils werbstätigenrechnung und für die Berechnung der Woh­ 2,5 Prozentpunkte, vgl. Abb. 1). Bei diesen Berechnungen nungsnutzung benützt werden (vgl. Statistisches Bundes­ wurde jeweils von den oberen Intervallgrenzen der BIP-Ni­ amt 2013). All dies wird sich zusätzlich auf die VGR-Er­ veau-Anhebung in Tabelle 1 ausgegangen; von daher stel­ gebnisse auswirken, allerdings können heute die sich hier­ len alle vorgestellten Ergebnisse für die einzelnen Länder aus ergebenden numerischen Effekte noch nicht hinreichend Maximaleffekte dar. Zudem wurde auch hier unterstellt, abgeschätzt werden. dass sich die Zähler der entsprechenden Quoten aufgrund der Umstellung auf das ESVG 2010 nicht nennenswert ändern. Literatur 3 So wirkt sich beispielsweise die Kapitalisierung von FuE-Ausgaben und militärischen Waffensystemen beim Finanzierungssaldo des Staates nicht Braakmann, A. (2013), »Revidierte Konzepte für Volkswirtschaftliche Ge­ aus (vgl. Braakmann 2013, S. 526). samt­­rechnungen«, Wirtschaft und Statistik, August, 521–527.

ifo Schnelldienst 5/2014 – 67. Jahrgang – 13. März 2014 48 Daten und Prognosen

Europäische Kommission (2014), Statistical Annex of Alert Mechanism Report 2014, online verfügbar unter: http://ec.europa.eu/economy_finance/ economic_governance/documents/alert_mechanism_report_2014_statisti­ cal_annex_en.pdf.

Eurostat (2014), »Technical Press Briefing«, 16 Januar, online verfügbar unter: http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/esa_2010/documents/ technical_press_briefing_ESA_2010.pdf.

Oltmanns, E., R. Bolleyer und I. Schulz (2009), »Forschung und Entwicklung nach Konzepten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen«, Wirtschaft und Statistik (2), 125–136.

Schweizerische Eidgenossenschaft, Bundesamt für Statistik (2013), Studie zum Beitrag von Forschung und Entwicklung für die Schweizer Wirtschaft aus Sicht der makroökonomischen Statistik, Neuchâtel.

Spies, V. (2013), »Aktuelle VGR-Entwicklungen«, Vortrag gehalten auf dem 6. Berliner VGR-Kolloquium 13. und 14. Juni 2013.

Statistisches Bundesamt (2013), »Kurznachrichten, Zensus 2011 und Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen«, Wirtschaft und Statistik, Juni 2013, 1–2, online verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Methoden/ VGRRevision/ZensusVGR_WiSta_2013.pdf?__blob=publicationFile.

Statistisches Bundesamt (2014), Generalrevision 2014: Methodische Wei­ terentwicklung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, Januar, online verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Methoden/VGRRevisi­ on/Revision2014_pdf.pdf?__blob=publicationFile.

ifo Schnelldienst 5/2014 – 67. Jahrgang – 13. März 2014 Kurz zum Klima: Ausbau des Stromnetzes in Deutschland – Stand und Pläne Im Blickpunkt 49 Christoph Weissbart und Julian Dieler

Die Debatte um den Ausbau des Übertragungsnetzes in PlG, das im Juli 2013 vom Gesetzgeber verabschiedet wur- Deutschland hat kürzlich erneut an Fahrt aufgenommen. de, betrachtet werden. Dies hat mehrere Ursachen: Der Wirtschafts- und Energie- minister hat am 21. Januar dieses Jahres dem Bundeskabinett seinen Eckpunkteplan zu einer Re- Das Genehmigungsverfahren form des Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) vorgelegt. Dieser sieht unter anderem eine jährliche Ausbaudecke- Das Verfahren des Netzausbaus lässt sich in fünf Schritte lung der Kapazitäten aus erneuerbaren Energien vor (vgl. unterteilen (vgl. Abb. 1): Startpunkt des Genehmigungsver- BMWi 2014). Nach dem derzeitigen Fahrplan könnte die fahrens bildet ein Szenariorahmen. Daraufhin wird ein Netz- Novelle des EEG zum 1. August 2014 in Kraft treten. Kurz entwicklungsplan erstellt und eine Umweltprüfung durchge- darauf haben die vier deutschen Übertragungsnetzbetrei- führt, bevor der Bundesbedarfsplan verabschiedet wird. ber (ÜNB) – Amprion, 50 Hertz, TransnetBW und Tennet Dar­an schließt sich die Bundesfachplanung bzw. das Raum­ – genauere Pläne zu möglichen Trassenverläufen von zwei ordnungsverfahren an. Zu guter Letzt findet das Verfahren großen Nord-Süd-Verbindungen vorgelegt, die haupt- seinen Abschluss mit dem Planfeststellungsverfahren sächlich Windstrom aus dem Norden in den Süden der (BNetzA 2014a). Republik transportieren sollen. Obwohl die Notwendigkeit beider Trassen bereits gesetzlich im Bundesbedarfsplan- Der erste Schritt – der Szenariorahmen – dient der Bedarfs- gesetz (BBPlG) verankert ist, regte sich daraufhin Wider- planung des Kraftwerkparks. Hier sind die vier ÜNB gefor- stand aus der bayrischen Staatskanzlei, also aus einem dert, die zukünftige Zusammensetzung der deutschen der Bundesländer welches diese neuen Leitungen drin- Kraftwerksflotte zu prognostizieren. Die Ausgestaltung der gend benötigt, wenn 2022 die letzten Atomkraftwerke Szenarien berücksichtigt unterschiedliche Annahmen auf stillgelegt werden. Die Chefin der Staatskanzlei Christine der Angebots- und der Nachfrageseite. Dazu gehören die Haderthauer sagte, dass sich in den vergangenen Mona- Entwicklung der Stromnachfrage und die installierte Leis- ten die »Geschäftsgrundlage« geändert habe, und spielt tung unterschiedlicher Kraftwerkstypen. Nach Abschluss damit auf die bevorstehende Reform des EEG an, die Fol- der Planungen der ÜNB wird der Szenariorahmen der Öf- gen für die »gesamte Energiearchitektur« habe (vgl. Süd- fentlichkeit vorgelegt und je nach Bedarf angepasst. In ei- deutsche Zeitung 2014a). Diesen Äußerungen gingen un- nem letzten Schritt muss der Szenariorahmen von der Bun- ter anderem Proteste aus der Bevölkerung in Kulmbach desnetzagentur (BNetzA) genehmigt werden. (Oberfranken) voraus, wo nach derzeitigen Planungen eine der beiden Leitungen vorbeiführen soll (vgl. Süddeut- Die nächste Stufe des Verfahrens quantifiziert den aus dem sche Zeitung 2014b). Szenariorahmen zusätzlichen Bedarf an Netzkapazität. Dieser Beitrag beschreibt die Pläne und den aktuellen Nach dem neuen Verfahren gemäß des BBPlG errechnen Stand des Ausbaus der Übertragungsnetze in Deutsch- die ÜNB diesen Ausbaubedarf. Nach dem EnLAG, dem land. Gerade um die Geschwindigkeit des Netzausbaus Vorgängergesetz des BBPlG, wurden die Ausbauprojekte nachvollziehen zu können, wird zunächst auf den Ablauf auf Grundlage der dena Netzstudie I (vgl. dena 2005) und des Genehmigungsverfahrens eingegangen. den Leitlinien für die transeuropäischen Energienetzte (TEN-E) der Europäischen Union festgelegt. Die von der Die rechtliche Grundlage des Stromnetzausbaus ist das Deutschen Energie Agentur GmbH (dena) in Auftrag gege- Energieleitungsausbaugesetz (EnLAG) und das BBPlG. bene Netzstudie wurde von den ÜNB durchgeführt. Der Beide Gesetze wurden im Rahmen der Energiewende be- Netzentwicklungsplan fasst diesen Entwicklungsbedarf zu- schlossen, um den notwendigen Ausbau des Übertra- sammen und wird nach dessen Veröffentlichung der gungsnetzes zu beschleunigen. Die primäre Auswirkung BNetzA übermittelt. Diese unterzieht den Netzentwick- auf das Genehmigungsverfahrens, die aus diesen beiden lungsplan einer strategischen Umweltprüfung, die Konse- Gesetzen hervorgeht, besteht darin, dass den Vorhaben, quenzen des Netzausbaus für Menschen, Tiere und Um- die in den Gesetzen genannt werden, eine wirtschaftliche welt abschätzt. Jedoch ist dessen Aussagekraft begrenzt, Notwendigkeit im Gesetz attestiert wird. Daher genießen da der exakte Verlauf der Stromleitungen zu diesem Zeit- diese Vorhaben auch einen gewissen Rechtsschutz. Das punkt noch nicht festgelegt wird. heißt, Einzelentscheidungen der BNetzA im Genehmigungsverfahren können aus- Abb. 1 schließlich direkt vor dem Bundesverwal- Ablauf des Genehmigungsverfahrens tungsgericht angefochten werden. Damit Bundesfach- Netzentwick- Szenario- Bundesbe- Planung/ Planfest- wird der Rechtsweg um einige Klageinstan- lungsplan/ Rahmen darfsplan Raumordnungs- stellung Umweltprüfung zen verkürzt. Das 2009 verabschiedete En- verfahren

LAG kann als das Vorgängergesetz des BB- Quelle: BNetzA (2014a), Darstellung des ifoInstituts.

ifo Schnelldienst 5/2014 – 67. Jahrgang – 13. März 2014 50 Im Blickpunkt

Der aus der Umweltprüfung resultierende Abb. 2 Umweltbericht und der Netzentwicklungs- Leitungsvorhaben aus dem Energieleitungsausbaugesetz plan gelten als Grundlage für die Ausgestal- tung des Bundesbedarfsplans. Diesen legt die Bundesregierung in einem regelmäßigen Turnus von drei Jahren dem Gesetzgeber – und Bundesrat – vor. Der Bun- desbedarfsplan enthält zunächst ausschließ- lich Start- und Endpunkte der geplanten Trassen, die maßgeblich für den weiteren Verlauf des Verfahrens sind.

Im Rahmen der Bundesfachplanung oder des Raumordnungsverfahrens stellt der ÜNB den Antrag auf Bau einer Stromtrasse. Hier muss er zunächst alternative Routen benennen und auf Auswirkungen für Mensch und Umwelt eingehen. Entspre- chende Planungstrassenkorridore können bis zu 1 000 m breit sein.

Verläuft eine Stromtrasse ausschließlich durch ein Bundesland, liegt die Kompetenz des Raumordnungsverfahrens bei den Lan- desplanungsbehörden. Befinden sich Start- und Endpunkt der Trasse jedoch in unter- schiedlichen Bundesländern oder in be- nachbarten Staaten, kann seit Einführung des Netzausbaubeschleunigungsgesetzes (NABEG) im Jahr 2011 die Bundesfachpla- nung beantragt werden. Die Bundesfach- planung wird anstatt von den betreffenden Landesplanungsbehörden zentral von der BNetzA durchgeführt. Der Prozess der Bun- desfachplanung beginnt mit einer Antrags-

konferenz, die eine genaue Definition der Quelle: BNetzA (2013b). vorzulegenden Unterlagen und des Aus- maßes des Umweltberichts zu Folge hat. Nach erfolgreichem Durchlaufen dieses Prozesses kann Darüber hinaus wird eine Koordination mit den Fachbehör- dann der Spatenstich zum Leitungsbau stattfinden. den der betroffenen Länder angestrebt. Offshore-Trassen unterliegen wiederum einem gesonderten Verfahren. Hier gilt ein eigener Bundesfachplan, den das Bundesamt für Dauer des Stromleitungsbaus in der Seeschifffahrt und Hydrographie erstellt. Vergangenheit

Der letzte Schritt des Verfahrens – die Planfeststellung – Um die Dauer des oben beschriebenen Genehmigungspro- wird durch den erneuten Antrag eines ÜNB eingeleitet. In zesses einordnen zu können, soll im Folgenden auf die Aus- diesem beantragt der ÜNB den Bau einer konkreten Strom- und Neubauprojekte aus dem EnLAG eingegangen wer- 1 trasse. Die entsprechenden Dokumente enthalten den ex- den. Die Vorhaben aus dem EnLAG umfassen insgesamt akten Verlauf der Trasse, die Übertragungstechnik und Um- eine geplante Streckenlänge von 1 876 km und teilen sich weltauswirkungen. Darauf richtet die BNetzA oder Landes- auf 23 Einzelvorhaben auf. Bei den genannten Vorhaben behörde eine erneute Antragskonferenz unter Beteiligung handelt es sich sowohl um Streckenneubau als auch um der Öffentlichkeit aus. In einem letzten Schritt führt die ver- Ersatz und Verstärkungen bestehender Leitungen. Von den antwortliche Behörde – BNetzA oder Landesplanungsbe- 1 876 km die bis 2020 gebaut werden sollen, wurden bis-

hörde – eine Umweltverträglichkeitsprüfung durch und ent- 1 Die Projekte aus dem BBPlG stecken noch zu sehr in den Anfängen, um scheidet über den Antrag des ÜNB. halbwegs verlässliche Aussagen über ihre Gesamtdauer treffen zu können.

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lang 322 km realisiert.2 Trotz diverser neuer Abb. 3 gesetzlicher Bestimmungen, die das Geneh- Leitungsvorhaben aus dem Bundesbedarfsplangesetz migungsverfahren beschleunigen sollen, werden die Vorhaben aus dem EnLAG vor- aussichtlich im Schnitt ca. sechs Jahre und fünf Monate dauern. Davon beträgt die reine Bauzeit voraussichtlich ca. ein Jahr und zehn Monate. Diese Zahlen sind Durch- schnittswerte aus den Angaben des EnLAG Monitoring (vgl. BNetzA 2013a) und dienen ausschließlich der Verdeutlichung und nicht als Grundlage für Verallgemeinerungen oder Extrapolationen, da sowohl Genehmigungs- als auch Bauzeiten mitunter stark zwischen den Leitungsbauprojekten schwanken. Die Dauer der Vorhaben hängt vor allem von den geographischen Gegebenheiten im Trassen- gebiet ab, z.B. der Nähe zu Siedlungen und Natur- und Tierschutzgebieten.

Neben den hier beschriebenen knapp 1 900 km Netzausbau auf Grundlage des EnLAG sieht der Netzentwicklungsplan, der den Planungen der Bundesregierung zu- grunde liegt, noch weitere 2 600 km an Net- zausbau bis 2020 vor.3 Dies erscheint unter den gegebenen Umständen sowohl hin- sichtlich der Dauer der Genehmigungsver- fahren als auch hinsichtlich der Kapazitäts- beschränkungen der ÜNB recht ambitio- niert. Denn diese haben selbst bei Vorliegen aller Genehmigungen, wie sich in der Ver- gangenheit bei der Anbindung von Offsho- re-Windparks bereits gezeigt hat, nicht un- endlich große Kapazitäten, um eine so gro- ße Zahl an Leitungen in Kürze zu realisieren.

Quelle: BNetzA (2013c).

Aktuelle Netzausbaupläne für Netz von Nachbarländern (Dänemark, die Niederlande und Deutschland Polen). Die Verstärkung der Anbindung an das Ausland hat drei primäre Gründe: erstens, den Abtransport von EEG- Wie eingehend erläutert, lässt sich zwischen Leitungsvor- Strom, zweitens, die Vermeidung von Netzengpässen. Die- haben nach dem EnLAG und dem BBPLG unterscheiden. se können mit der Netzintegration der Stromerzeugung aus Im Folgenden soll über bestehende Leitungsvorhaben un- erneuerbaren Energien und einer somit erhöhten Volatilität ter den beiden Gesetzen informiert werden. des Stromangebotes einhergehen. Der dritte Grund für die Vermaschung des deutschen mit dem Netz der Nachbar- 2009 wurden im EnLAG 23 Leitungsvorhaben als notwen- länder ist die Erhöhung der Ringflusskapazitäten. dig im Rahmen der Energiewende eingestuft (vgl. BNetzA 2014b). Deren Verläufe werden in Abbildung 2 veranschau- Die Gesamtleitungslänge von 1 876 km der Bauvorhaben licht. Ein Großteil der Vorhaben befindet sich vor oder in der im Rahmen des EnLAG lassen sich in 976 km Neubaupro- Planungsphase (orange Linien). Vier Vorhaben dienen der jekte und 900 km Austauschprojekte unterteilen. Neubau Anbindung des deutschen Übertragungsnetzes an das bedeutet in diesem Zusammenhang, dass neue Trassen 2 Stand EnLAG-Monitoringbericht Quartal 4, 2013 der Bundesnetzagentur erschlossen werden. Unter Austausch fallen all jene Vorha- (vgl. BNetzA 2013a). ben, die bestehende Leitungen ersetzen bzw. die Leitungs- 3 Netzausbau bedeutet sowohl Leitungsneubau als auch Austausch und Aufrüstung bestehender Leitungen. kapazität der bestehenden Leitungen erhöhen. Von den

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976 km neu erschlossener Trassen sind 403 km Leitung zur Verfahren/Verfahren-node.html;jsessionid=B7649DB6B96691DB3DD65B- 1596BD9D13, aufgerufen am 18. Februar 2014. Erprobung von Erdkabeln ausgeschrieben.4 Bundesnetzagentur (BNetzA) (2014b), Leitungsvorhaben aus dem Ener- Im Juli letzten Jahres wurde im Rahmen der Verabschie- gieleitungsausbaugesetz, online verfügbar unter: http://www.netzausbau. de/cln_1932/DE/Vorhaben/EnLAG-Vorhaben/EnLAGVorhaben-node.html, dung des BBPlG 36 Vorhaben die Relevanz für den zuver- aufgerufen am 20. Februar 2014. lässigen Netzbetrieb zugesprochen (vgl. BNetzA 2014c). Bundesnetzagentur (BNetzA) (2014c), Leitungsvorhaben aus dem Bun- Wie Abbildung 3 aufzeigt, befinden sich hierunter drei desbedarfsplangesetz, online verfügbar unter: http://www.netzausbau.de/ Nord-Süd-Korridore, jeweils mit westlichem, zentralem und cln_1932/DE/Vorhaben/BBPlG-Vorhaben/BBPlG-Vorhaben-node.html, aufgerufen am 20. Februar 2014. östlichem Verlauf. In Analogie zum EnLAG beinhaltet das BBPlG fünf Trassen zur Anbindung an Stromnetze benach- dena (2005), Energiewirtschaftliche Planung für die Netzintegration von barter Staaten (Belgien, Dänemark, Norwegen, Österreich). Windenergie in Deutschland an Land und Offshore bis zum Jahr 2020, DEWI / E.ON Netz / EWI / RWE Transportnetz Strom / VE Transmission, Köln. Darüber hinaus wird die Netzintegration von offshore er- zeugter Windenergie umgesetzt. Eine Unterscheidung der Süddeutsche Zeitung (2014a), »Seehofer bremst Stromautobahnen«, 31. Januar, online verfügbar unter: http://sz.de/1.1876442, aufgerufen am Vorhaben kann anhand der zuständigen Behörde vorge- 20. Februar 2014. nommen werden. Vorhaben, deren Zuständigkeit bei der Süddeutsche Zeitung (2014b), »Kabinett zieht den Stecker«, 4. Februar, BNetzA liegt, bei denen es sich also um länderübergreifen- online verfügbar unter: http://sz.de/1.1879927, aufgerufen am 20. Februar de Projekte handelt, sind in Abbildung 3 mit quadratischer 2014. Umrandung der Vorhabennummer gekennzeichnet. Insge- samt 16 Projekte werden zentral durch die BNetzA koordi- niert. Liegt die Kompetenz bei der zuständigen Landesbe- hörde, ist die Vorhabennummer in Abbildung 3 umrundet. Mit 20 Vorhaben wird die Mehrzahl von den Landespla- nungsbehörden bearbeitet.

Unabhängig von einer zeitnahen EEG-Novelle und der wei- teren Ausgestaltung der Energiewende ist das Übertra- gungsnetz der Flaschenhals der Energiewende und bedarf eines zügigen Ausbaus. Hier ist vor allem die Politik gefor- dert, die langfristige Notwendigkeit des Netzausbaus zu kommunizieren. Darüber hinaus sollte die oben angespro- chene Debatte für oder gegen einzelne Trassen ergänzt werden um eine Debatte zur Verbesserung und Beschleu- nigung des Genehmigungsverfahrens.

Literatur

BMWi (2014), Eckpunkte für die Reform des EEG, online verfügbar unter: http://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/E/eeg-reform-eckpunkte,pro- perty=pdf,bereich=bmwi2012,sprache=de,rwb=true.pdf, aufgerufen am 20. Februar 2014.

Bundesnetzagentur (BNetzA) (2013a), EnLAG-Monitoring: Stand zum Aus- bau von Energieleitungen nach dem Energieleitungsausbaugesetz (EnLAG) zum vierten Quartal 2013, online verfügbar unter: http://nvonb.bundesnetz- agentur.de/netzausbau/Gesamtuebersicht2013Q4.pdf.

Bundesnetzagentur (BNetzA) (2013b), Leitungsvorhaben aus dem Ener- gieleitungsausbaugesetz, online verfügbar unter: http://www.netzausbau. de/cln_1931/DE/Vorhaben/EnLAG-Vorhaben/EnLAGVorhaben-node.html, aufgerufen am 20. Februar 2014.

Bundesnetzagentur (BNetzA) (2013c), Leitungsvorhaben aus dem Bun- desbedarfsplangesetz, online verfügbar unter: http://www.netzausbau.de/ cln_1931/DE/Vorhaben/BBPlG-Vorhaben/BBPlG-Vorhaben-node.html, aufgerufen am 20. Februar 2014.

Bundesnetzagentur (BNetzA) (2014a), Das Verfahren – Netzausbau in fünf Schritten, online verfügbar unter: http://www.netzausbau.de/cln_1932/DE/

4 Berechnungen des ifo Instituts auf Grundlage des EnLAG Monitoring (vgl. BNetzA 2013a).

ifo Schnelldienst 5/2014 – 67. Jahrgang – 13. März 2014 ifo Architektenumfrage: Deutlich erhöhte Auftragsbestände Im Blickpunkt 53 Erich Gluch

Nach den Umfrageergebnissen des ifo In­ Abb. 1 stituts hat sich das Geschäftsklima bei den Geschäftsklima bei den freischaffenden Architekten freischaffenden Architekten zu Beginn des Urteile zur derzeitigen und voraussichtlichen Auftragssituation ersten Quartals 2014 etwas verbessert (vgl. 30 Abb. 1). Dies ist überwiegend auf eine opti­ 20 mistischere Einschätzung der Entwicklung in den kommenden sechs Monaten zurück­ 10 zuführen, während sich die Lageurteile nur 0 unbedeutend aufhellten. -10

Wie bereits im Vorquartal waren 42% der -20 befragten Architekten mit ihrer aktuellen -30 Geschäftslage zufrieden; gleichzeitig ver­ Ursprungswerte ringerte sich der Anteil der Architekten, die -40 geglättete Werte ihre Geschäftslage mit »schlecht« bezeich­ -50 neten, auf 18% (Vorquartal: 19%). 1993 19961999 2002 2005 2008 2011 2014

Quelle: ifo Architektenumfrage. Bezüglich der Geschäftserwartungen für die nächsten sechs Monate nahm die Zu­ versicht wieder zu. Die tendenziell positive Abb. 2 Einschätzung der zukünftigen Entwicklung Geschätztes Bauvolumen der freischaffenden Architekten im hat sich damit weiter fortgesetzt. Der Auf­ Nichtwohnbau (EUR) wärtstrend, der seit gut sieben Jahren zu Index 1990 = 100 beobachten ist, ist demnach immer noch in­ 140 Ursprungswerte takt. Gegenüber dem Vorquartal stieg der geglättete Werte 120 Anteil der Testteilnehmer, die ihre Auftrags­ situation in etwa einem halben Jahr als vor­ 100 aussichtlich »eher günstiger« einschätzten, von 12 auf 15%. Die Zahl der Skeptiker, die 80 von einer »eher ungünstigeren« Entwicklung im kommenden halben Jahr ausgingen, ver­ 60 ringerte sich sogar sichtlich auf 15% – nach 40 19% im Vorquartal.

20 Im vierten Quartal 2013 konnte gut die Hälf­ 1993 1996 1999 2002 2005 2008 2011 2014 te (53%) der Testteilnehmer neue Verträge Quelle: ifo Architektenumfrage. abschließen. Das waren zwar etwas mehr als im Durchschnitt der letzten 20 Jahre (51,7%), der Vorquartalswert wurde jedoch Abb. 3 um einen Prozentpunkt knapp verfehlt. Geschätztes Bauvolumen der freischaffenden Architekten im Wohnungsbau (EUR)

Im vierten Quartal 2013 expandiert das ge- Index 1990 = 100 schätzte Bauvolumen aus den neu abge­ 200 schlossenen Verträgen (Neubauten ohne Ursprungswerte 175 geglättete Werte Planungsleistungen im Bestand) gegenüber dem Vorquartal um über 40%. Diese Zunah­ 150 me resultierte allein aus einer sichtlich höhe­ 125 ren Nachfrage nach Planungsleistungen für Nichtwohngebäude (+ 88%; vgl. Abb. 2). Im 100

Wohnungsbau wurde das Volumen des Vor­ 75 quartals dagegen leicht verfehlt (vgl. Abb. 3). 50

Die Aufträge zur Planung von Ein- und 25 Zweifamilienhäusern lagen nur knapp un­ 1993 1996 1999 2002 2005 2008 2011 2014 ter dem Niveau des Vorquartals. Bei den Quelle : ifo Architektenumfrage.

ifo Schnelldienst 5/2014 – 67. Jahrgang – 13. März 2014 54 Im Blickpunkt

Planungsaufträgen für Mehrfamilienge- Abb. 4 bäude ging es, nach dem offensichtlichen Auftragsbestände der freischaffenden Architekten Auftragsschub im vierten Quartal 2012, zum in Monaten vierten Mal in Folge abwärts. Das gesamte 8 Ursprungswerte Volumen der im Berichtsquartal hereinge­ geglättete Werte nommenen Aufträge erreichte damit nur 7 noch gut die Hälfte dieses außergewöhnli­ chen Spitzenwertes. Orientiert man sich al­ 6 lerdings nicht an diesem Ausreißer, so sieht die Situation in diesem Teilsegment gar nicht so schlecht aus: Das Volumen der im 5 vierten Quartal 2013 akquirierten Aufträge

lag nämlich um fast 60% über dem langjäh­ 4 rigen Durchschnittswert.

3 Im Berichtsquartal erhielten die befragten 1993 199619992002 2005 2008 2011 2014 Architekten – nach zwei Quartalen mit ei­ Quelle: ifo Architektenumfrage. nem relativ schwachen Zugang von Pla­ nungsaufträgen privater und gewerblicher Auftraggeber – wieder sichtlich mehr neue Aufträge in die­ sem Teilsegment. Das Plus gegenüber dem Vorquartal fiel dabei mit rund 50% sogar recht deutlich aus. Das Volumen der neu hereingenommenen Planungsaufträge von öffent- lichen Auftraggebern war im vierten Quartal 2013 sogar mehr als doppelt so hoch wie im Vorquartal.

Die durchschnittliche Reichweite der Auftragsbestände er­ höhte sich eindrucksvoll von 5,9 auf 6,5 Monate (vgl. Abb. 4). Damit erreichten die Auftragsreserven erstmals wieder die Größenordnung, die letztmals im Rahmen des Wohnungsbaubooms nach der Wiedervereinigung ver­ zeichnet werden konnte.

ifo Schnelldienst 5/2014 – 67. Jahrgang – 13. März 2014 ifo Konjunkturtest Februar 2014 in Kürze: Deutsche Wirtschaft optimistisch, aber nicht euphorisch1 Im Blickpunkt 55 Klaus Wohlrabe

Der ifo Geschäftsklimaindex für die gewerbliche Wirtschaft Abb. 1 Deutschlands ist im Februar weiter gestiegen. Die aktuelle Gewerbliche Wirtschafta) Geschäftslage ist von den Unternehmen deutlich besser Geschäftsentwicklung bewertet worden als im Vormonat. Die Erwartungen an den Indexwerte, 2005 = 100, saisonbereinigt 130 weiteren Geschäftsverlauf haben einen kleinen Dämpfer er- halten, bleiben jedoch weiterhin optimistisch ausgerichtet. 120 Die deutsche Wirtschaft behauptet sich in einer wechsel- Geschäftslage haften Großwetterlage. 110

100 Der Anstieg des Geschäftsklimaindex ist auf eine Verbes­ serung der entsprechenden Indices in der Industrie und im 90 Geschäftserwartungen Ein­zelhandel zurückzuführen. Im Bauhauptgewerbe, Dienst­ Geschäftsklima ­leistungen­ und dem Großhandel verschlechterte sich hinge- 80 gen das Geschäftsklima. 70 2009 2010 2011 2012 2013 2014 Das ifo Beschäftigungsbarometer für die gewerbliche a) Wirtschaft Deutschlands, einschließlich des Dienstleis- Verarbeitendes Gewerbe, Bauhauptgewerbe, Groß-und Einzelhandel. tungssektors, ist auf den höchsten Stand seit Mai 2012 ge­ Quelle: ifo Konjunkturtest. stiegen. Die Bereitschaft, neues Personal einzustellen, hat vor allem im Dienstleistungssektor zugenommen. Im Verar- Abb. 2 beitenden Gewerbe ist das Beschäftigungsbarometer nach Geschäftsklima nach Wirtschaftsbereichen sieben Anstiegen in Folge leicht zurückgegangen. Die ge- im Februar 2014 genwärtig gute Lage in der Industrie führt aber weiter dazu, Salden, saisonbereinigte Werte 50 dass eine leicht expansive Personalpolitik verfolgt wird. Klima positiv Klima positiv 40 Auch im Baugewerbe gab der Index etwas nach, liegt aber aber verschlechtert und verbessert 30 weiterhin deutlich über dem langfristigen Durchschnitt. Im Dienstleistungen 20 Verarbeitendes Gewerbe Handel zeichnen sich keine größeren Bewegungen bei der Großhandel 10 Einzelhandel Beschäftigung ab. Im Dienstleistungssektor hat die Bereit- 0 Bauwirtschaft schaft, zusätzliches Personal einzustellen, deutlich zuge- -10 nommen. -20 -30 Klima negativ Das Geschäftsklima für das Verarbeitende Gewerbe hat -40 Klima negativ und verschlechtert aber verbessert sich zum vierten Mal in Folge verbessert. Die Unternehmen -50 sind deutlich zufriedener mit ihrer aktuellen Geschäftslage. -20-16 -12-8-40 4812 16 20

Die immer noch zuversichtlichen Erwartungen an den wei- Veränderung in Prozentpunkten teren Geschäftsverlauf haben sich jedoch leicht verschlech- tert. Die Exportaussichten der Industriefirmen trübten sich Quelle: ifo Konjunkturtest. zwar deutlich ein, blieben jedoch mehrheitlich optimistisch. Während die Produktion im Vormonat deutlich stieg, wur- Abb. 3 den die Produktionspläne leicht zurückgenommen. Die be- ifo Beschäftigungsbarometer Deutschland Gewerbliche Wirtschafta) fragten Unternehmen gehen davon aus, in Zukunft etwas im Februar 2014 häufiger die Preise heraufsetzen zu können. Ein Teil der Indexwerte, 2005 = 100, saisonbereinigt Nachfrage wird weiterhin aus dem Lager bedient. Nur noch 115 sehr wenige Firmen berichten davon, dass ihr aktueller La- gerbestand zu groß ist. Im Investitionsgüterbereich ist der 110 Geschäftsklimaindikator leicht gestiegen. Während die ak- tuelle Lage etwas positiver beurteilt wurde, gaben die Er- 105 wartungen auf einem sehr guten Niveau etwas nach. Ein Grund dürften die eingetrübten Exportaussichten gewesen 100 sein. Dementsprechend wurden auch die Produktionspläne leicht nach unten angepasst. Nach einem starken Personal­ 95

90 1 Die ausführlichen Ergebnisse des ifo Konjunkturtests, Ergebnisse von 2009 2010 2011 2012 2013 2014 Unternehmensbefragungen in den anderen EU-Ländern sowie des Ifo a) Verarbeitendes Gewerbe, Bauhauptgewerbe, Groß-und Einzelhandel, World Economic Survey (WES) werden in den »ifo Konjunkturpers­ Dienstleistungssektor. pektiven« veröffentlicht. Die Zeitschrift kann zum Preis von 75,– EUR/Jahr abonniert werden. Quelle: ifo Konjunkturtest.

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aufbau in der Vergangenheit sind weitere Expansionspläne Abb. 4 zunächst einmal zurückgestellt worden. Auf den höchsten Verarbeitendes Gewerbea) Wert seit mehr als einem Jahr verbesserte sich das Ge- Exporterwartungen Salden schäftsklima im Konsumgüterbereich. Dies ist vor allem auf 30 deutlich verbesserte laufende Geschäfte zurückzuführen, 20 während der Ausblick sich leicht eintrübte. Im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen in der Industrie stiegen die Ex- 10 porterwartungen. Im Ernährungsgewerbe hat sich die Ge- 0 schäftslage sprunghaft verbessert. Während die Nachfrage im Vormonat stark rückläufig war, verzeichneten die Firmen -10 im Februar einen deutlichen Nachfrageschub. Die Produk- -20 tionspläne waren zudem nochmals stärker auf Expansion saisonbereinigt ausgerichtet als zuletzt. Einen deutlichen Anstieg des Ge- -30 saisonbereinigt, geglättet

schäftsklimaindex wurde im Bereich der Mineralölverarbei- -40 tung beobachtet. Die aktuelle Geschäftslage wurde deut- 2009 2010 2011 2012 2013 2014 lich weniger negativ beurteilt. Zudem blickten die Firmen Salden aus den Prozentsätzen der Meldungen über zu- und abnehmende Exportgeschäfte. a) Ohne Ernährungsgewerbe und Tabakverarbeitung. optimistischer auf den weiteren Verlauf ihrer Geschäfte. Ein Hauptgrund sind verbesserte Absatzchancen im Ausland. Quelle: ifo Konjunkturtest. Die Mitarbeiterzahl soll deutlich erhöht werden. Im Fahr- Abb. 5 zeugbau hat sich das Geschäftsklima im Februar etwas ab- Bauhauptgewerbe gekühlt. Während die aktuelle Lage nahezu unverändert gut Auftragsbestand bewertet wurde, blickten die Firmen mit verringertem Opti- Produktionsmonate mismus auf die kommenden sechs Monate. Auch die Ex- 3.2 portaussichten trübten sich deutlich ein. Die Produktions- saisonbereinigt 3.0 pläne waren daher auf Kürzungen ausgerichtet. saisonbereinigt, geglättet

Im Bauhauptgewerbe ist der Geschäftsklimaindex leicht 2.8 gesunken. Die aktuelle Geschäftslage ist, auf einem hohen Niveau, als etwas weniger gut beurteilt worden. Ebenso hat 2.6 der Optimismus im Hinblick auf die nächsten sechs Mona- te etwas nachgelassen. Der Auslastungsgrad sank erneut 2.4 und fiel auf den niedrigsten Wert seit mehr als einem Jahr. 2.2 Bei steigender Auftragsreichweite planen die Firmen eine 2009 2010 2011 2012 2013 2014 leichte Ausweitung ihrer Bautätigkeit. Im Vorjahresmonat war der Anteil dieser Firmen jedoch erheblich höher. Im Fe-

bruar gaben 58% der Firmen Behinderungen bei der Bautä- Quelle: ifo Konjunkturtest. tigkeit an. Den größten Anteil stellten hierbei wiederum die Witterungseinflüsse. Mit 40% liegt der Wert jedoch deutlich schlechtert. Sowohl die Bewertung der aktuellen Lage als unter dem des Vorjahres (77%). Auftragsmangel (26%) wur- auch der Ausblick auf die kommenden Monate trübten sich de als zweitwichtigster Hinderungsgrund angegeben. Die leicht ein, liegen jedoch weiter deutlich über ihrem langfris- Firmenmeldungen lassen erkennen, dass die Preise etwas tigen Durchschnitt. Im Gegensatz zum Tiefbau berichteten häufiger heraufgesetzt werden konnten. Für die nächsten weniger als ein Drittel der Firmen von Behinderungen durch Monate erwarteten die befragten Firmen zudem größere die Witterung. Auch der Anteil der Firmen, die über Auf- Preiserhöhungsspielräume. Die Bereitschaft der Unterneh- tragsmangel berichteten, fiel geringer aus. men, in der nahen Zukunft zusätzliches Personal einzustel- len, ging zwar zum dritten Mal in Folge zurück. Die Beschäf- Im Großhandel hat der Geschäftsklimaindex nach dem tigtenzahl dürfte jedoch weiter zunehmen. Im Tiefbau ist starken Anstieg im Vormonat etwas nachgegeben. Die der Geschäftsklimaindikator leicht gestiegen. Die Baufir- Großhändler waren nochmals erheblich zufriedener mit den men bewerteten ihre aktuelle Lage etwas besser. Die Er- laufenden Geschäften. Mit Blick auf die weiteren Aussich- wartungen änderten sich kaum und sind weiterhin mehr- ten sind sie jedoch nicht mehr ganz so optimistisch. Bei heitlich optimistisch. Die Geräteauslastung stieg leicht, liegt etwas weniger steigenden Umsätzen nahm der Lagerdruck jedoch unter dem entsprechenden Vorjahreswert. Von den wieder zu. Vielerorts kam es zu Preissenkungen, gleichzei- befragten Baufirmen gaben 56% Behinderungen aufgrund tig ging weiterhin eine Mehrheit der Großhändler davon aus, des Wetters an. Zudem klagten 30% über Auftragsmangel. höhere Preise in naher Zukunft durchsetzen zu können. Im Hochbau hingegen hat sich das Geschäftsklima ver- Nach dem Hoch im Vormonat nahm die Orderbereitschaft

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etwas ab, bleibt jedoch weiterhin expansiv ausgerichtet. Abb. 6 Die Bereitschaft, zusätzliches Personal einzustellen, nahm Großhandel zwar etwas ab, dennoch ist von einem weiteren Personal- Beurteilung der Lagerbestände aufbau auszugehen. Im Großhandel mit Konsumgütern Salden 25 sank der Geschäftsklimaindex. Während die aktuelle Lage etwas besser beurteilt wurde, konnte der starke Anstieg 20 der Erwartungen im Vormonat nicht gehalten werden. Bei steigendem Lagerdruck sollen die Bestellpläne nicht mehr 15 so expansiv ausfallen. Eine ähnliche Entwicklung konnte auch im Nahrungsmittelgroßhandel festgestellt werden. Die 10 Geschäftslage im Produktionsverbindungshandel stellte sich den Testergebnissen zufolge als sehr gut dar. Da die 5 saisonbereinigt Firmen für die nahe Zukunft nicht mehr so häufig mit einer saisonbereinigt, geglättet weiteren Verbesserung rechneten, kühlte sich das Ge- 0 schäftsklima dennoch leicht ab. Der Lagerdruck nahm wei- 2009 2010 2011 2012 2013 2014 ter ab und fiel deutlich unter seinen langfristigen Durch- Salden aus den Prozentsätzen der Meldungen über zu große und zu kleine Lagerbestände. schnitt. Entsprechend soll die Bestelltätigkeit weiter ausge- baut werden. Dies korrespondiert mit der sehr guten Ent- Quelle: ifo Konjunkturtest. wicklung der Investitionsgüterhersteller in der Industrie. Abb. 7 Dienstleistungen Im Gegensatz zum Großhandel ist der Geschäftsklimaindex Geschäftsentwicklung im Einzelhandel deutlich gestiegen. Die aktuelle Lage hat Salden, saisonbereinigt sich verbessert und wurde so gut bewertet wie zuletzt im 40 Frühjahr 2012. Auch die Erwartungen an den zukünftigen Geschäftslage 30 Geschäftsverlauf haben sich weiter aufgehellt. Bei steigen- den Umsätzen nahm jedoch der Lagerdruck wieder etwas 20 zu. Dementsprechend sollen die Bestellpläne für die Zu- 10 kunft zurückhaltender ausfallen. Im Gebrauchsgüterbereich 0 verbesserte sich das Geschäftsklima deutlich. Die Ge- Geschäftserwartungen schäftslage wurde wesentlich positiver beurteilt, und bei -10 Geschäftsklima den Einschätzungen der Geschäftsperspektiven stieg die -20 Zahl der zuversichtlichen Stimmen ebenfalls. Obwohl die Lagerbestände seit dem Vormonat nahezu unverändert ge- -30 2009 2010 2011 2012 2013 2014 blieben sind, wollten sich die Betriebe bei der Ordervergabe stärker zurückhalten. Die Personalpläne waren weiter auf

Kürzungen ausgerichtet. Auch im Verbrauchsgüterbereich Quelle: ifo Konjunkturtest. ist der Geschäftsklimaindikator gestiegen. Die positiven Stim­men bei der Bewertung der aktuellen Geschäftssitua- züglich des weiteren Geschäftsverlaufs hat sich vergrößert. tion mehrten sich. Bezüglich der weiteren Geschäftsent- Sowohl im Neu- als auch im Gebrauchtwagenhandel wur- wicklung äußerten sich die Testteilnehmer unverändert zu- de die aktuelle Geschäftslage im Februar so gut bewertet rückhaltend. Die Lagerbestände wurden als zu groß einge- wie zuletzt im Dezember 2011. Bei den Neuwagenhändlern stuft. Demzufolge sollen die Bestellvolumina gekürzt wer- hat sich die Zuversicht bezüglich der Erwartungen für die den. Die Firmen hatten vor, die Mitarbeiterzahl zu verklei- nächsten sechs Monate allerdings leicht verringert. nern. Im Einzelhandel mit Nahrungs- und Genussmitteln (einschließlich Getränke) ist der Geschäftsklimaindikator Der ifo Geschäftsklimaindikator für das Dienstleistungsge- deutlich gestiegen und liegt nun wieder in etwa auf dem werbe Deutschlands hat im Februar nachgegeben. Die ak- Niveau vom November 2013. Während sich die Bewertung tuelle Geschäftslage ist etwas weniger gut beurteilt worden der aktuellen Geschäftslage nur leicht verbesserte, fielen als im Vormonat. Auch die optimistischen Erwartungen ha- die Erwartungen deutlich optimistischer aus als im Vormo- ben einen deutlichen Dämpfer erhalten. An den expansiven nat. Bei deutlich gestiegenem Lagerdruck soll die expansi- Personalplänen wollen die Firmen jedoch weiterhin festhal- ve Bestelltätigkeit zurückgefahren werden. Weiterhin ist von ten. Im Transportwesen hat der Geschäftsklimaindikator im einer Ausweitung des Mitarbeiterstamms auszugehen. Im Bereich Personen- und Güterbeförderung zu Land merklich Kfz-­Einzelhandel setzte sich der Anstieg des Geschäftskli- nachgegeben. Bei sinkenden Umsätzen bewerteten die Fir- maindikators fort. Die Kfz-Einzelhändler waren überaus zu- men ihre aktuelle Geschäftslage deutlich weniger gut als im frieden mit der aktuellen Situation, und der Optimismus be- Vormonat. Jedoch hellten sich die Erwartungen für das

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nächste halbe Jahr auf. Im Bereich Güterbeförderung im Straßenverkehr trübte sich der Geschäftsausblick bei stag- nierendem Auftragsbestand hingegen erheblich ein. Da auch die aktuelle Lage etwas weniger gut beurteilt wurde, sank der Geschäftsklimaindikator deutlich auf + 4,4 Pro- zentpunkte. Es ist jedoch weiterhin geplant, den Personal- bestand auszubauen. Der Bereich Spedition und sonstige Verkehrsdienstleistungen (einschließlich Logistik) berichtete von einer etwas weniger guten Beurteilung der aktuellen Geschäftslage. Auch die sehr guten Erwartungen an den weiteren Geschäftsverlauf wurden etwas zurückgenom- men. Bei geplanten Preiserhöhungen gingen die befragten Dienstleister weiterhin mehrheitlich von steigenden Umsät- zen aus. Zudem sollen deutlich mehr Mitarbeiter eingestellt werden. Im Bereich Werbung hat sich das Geschäftsklima deutlich eingetrübt. Bei sinkenden Umsätzen wurde die ak- tuelle Geschäftslage merklich weniger gut eingeschätzt als zuletzt. Die im Januar weit überdurchschnittlich guten Er- wartungen für die nächsten sechs Monate sanken um mehr als 40 Prozentpunkte. Die Preise dürften seltener steigen und die expansiven Personalpläne zurückgestellt werden. Im Bereich Vermittlung und Überlassung von Arbeitskräften verbesserte sich die aktuelle Lagebeurteilung weiter. Je- doch nahm der Optimismus mit Blick auf den weiteren Ge- schäftsverlauf merklich ab. Der Geschäftsklimaindikator sank. Das Gastgewerbe bewertete seine momentane Situ- ation etwas weniger gut, und auch die Erwartungen wur- den etwas zurückgenommen. Im Beherbergungsgewerbe (Hotels, Gasthöfe, Pensionen) hat die positive Beurteilung der aktuellen Geschäftslage merklich nachgegeben. Auch beim Ausblick auf die nächsten Monate waren die Firmen erstmals seit drei Monaten mehrheitlich leicht skeptisch. Bei erwarteten sinkenden Umsätzen soll der Personalbe- stand unverändert gehalten werden. In der Gastronomie (Restaurants, Cafés) wurde die aktuelle Lage nach einem Rückgang im Vormonat wieder spürbar günstiger bewertet. Auch die Erwartungen waren zuletzt im März 2013 ähnlich optimistisch. Im Bereich Touristik hat sich das Geschäftskli- ma deutlich verbessert. Die Reisebüros und Reiseveran- stalter waren bei erheblich gestiegenen Umsätzen sichtbar zufriedener mit ihrer aktuellen Geschäftslage. Auch der Op- timismus bezüglich des weiteren Verlaufs hat zugenom- men. Trotz geplanter Preisanhebungen gingen weniger Fir- men von Umsatzsteigerungen in den kommenden Mona- ten aus.

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Spring Forum 2014 Volume 15, no. 1

reSponSibility of StateS and Central bankS in the euro CriSiS

Hans-Werner Sinn ifo Institut im Internet: http://www.cesifo-group.de