Schriftauslegung und Kirche bei Heinrich Schlier

Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Magister theologiae

eingereicht von

Josef Christoph Promitzer

bei

Univ.-Prof. Dr. Bernhard Körner

Institut für Dogmatik an der Kath.-Theol. Fakultät

der Karl-Franzens-Universität Graz

Graz 2012 Inhaltsverzeichnis

Vor-Wort ...... 5

Ein Phönix der deutschsprachigen Theologie – Als Einführung ...... 7

Vor-Kapitel Schriftauslegung und Kirche - Ein Blick auf ein spannungsreiches Phänomen ...... 8 I. Mit Hass zum Leben Jesu Frühe Anfänge der kritischen Exegese ...... 11 II. Zwei „Väter“ im Portrait: Die Anfänge der historisch-kritischen Exegese ...... 12 1. Das intellektuelle Doppelleben des Hermann Samuel Reimarus...... 12 2. Das Kindliche deuten und richtig unterscheiden – Johann Philipp Gabler ...... 18 3. Der ‚M-Faktor’ – eine Art Zusammenfassung ...... 21

„Was ich bin“ – Über Leben und Theologie eines Grenzgängers ...... 24 I. Schwächlingszigarren in Bultmanns Wohnung oder Der Einfluss von auf die Entwicklung des Denkens Schliers ...... 25 1. Die „Bultmannsche Graeca“ ...... 25 2. Skizzen einer Freundschaft ...... 26 3. Exkurs: Blitzlichter auf die Theologie Rudolf Bultmanns...... 27 II. Rechenschaft nach der Entscheidung oder Warum Schlier katholisch wurde ...... 32 1. „Verlangen nach dem ‚Katholischen’“ – Von Büchern, Begegnungen und Bekenntnissen ...... 32 2. Einsicht-Nahme: Durch das Neue Testament zur Kirche ...... 36 III. Grenzgänger in Biographie und Werk oder Der heimatlose Heinrich Schlier ...... 38 IV. Gottes Augenblick am Lebensende oder Das Vermächtnis Schliers ...... 41

2

Zweites Kapitel Schrift und Schriftauslegung bei Heinrich Schlier ...... 43 I. Zu Schliers Verständnis der „Schrift“ ...... 43 1. „Die Schrift“ als „Heilige Schrift“ in der Geschichte ...... 43 2. Wort Gottes: Das Wort, das Gott durch Menschen spricht ...... 44 3. Das Evangelium – Wort Gottes und kerygmatische Existenz ...... 48 II. „Gespräche mit der überlieferten Offenbarung“ – Heinrich Schliers Exegese ...... 50 1. Zugänge zur Heiligen Schrift ...... 50 2. Auf der Suche nach der Wahrheit – Die Auslegungsmethodik Schliers ...... 51 3. Die Schriftauslegung und der hermeneutische Vollzug des Daseins ...... 54

Drittes Kapitel Exegese im Raum des Wortes Gottes: Die Kirche als Rahmen der Schriftauslegung ..... 56 I. Dem Geheimnis Christi auf der Spur – Heinrich Schlier und die Kirche ...... 56 1. Wie die Kirche zu Schliers Thema wurde und blieb ...... 56 2. Das ‚An-Wesen‘ des Wortes Gottes: Zu Schliers Verständnis von Kirche ...... 58 3. Das gesamte Leben der Kirche als Auslegungshorizont ...... 60 II. Das „unverlierbar Denk-Würdige“: Über das Dogma ...... 62 1. Das Dogma – neutestamentlich grundgelegt ...... 63 2. Das vorläufig Endgültige: Was ‚Dogma‘ bedeutet ...... 65 3. Evangelische Kritik an Schliers Dogmenverständnis ...... 67

Viertes Kapitel Biblisch – dogmatisch – katholisch: Schliers Theologie ...... 69 I. Keine Theologie ohne Kirche ...... 70 1. Schliers Versuch einer Theologie des Neuen Testaments ...... 71 2. Zum Theologiebegriff Heinrich Schliers ...... 73 II. Wenn Gott auf dem Spiel steht: Über das ‚bleibend Katholische‘ ...... 75 1. ‚Dammbruch‘ in der katholischen Theologie ...... 75 2. Die entschiedene Entscheidung Gottes ...... 77 3. Alles gut, so wie es ist? Kritische Anfragen ...... 80

3 Schluss Über unverlierbar Denkwürdiges und bleibend Katholisches Versuch eines resümierenden Ausblicks…………………………………………………...83 1. Gott in einer gott-losen Welt zur Sprache bringen: Das Wort Gottes ...... 85 2. Der Offenbarung Christi Raum geben: Die Kirche ...... 86 3. Den Brückenschlag wagen: Der Glaube ...... 87

Literaturverzeichnis ...... 88

4 Vor-Wort

Wir leben in einer wortreichen Zeit. Viel wird gesprochen, aber wirklich nützliche und aufbauende Worte sind rar. Auch Theologie und Kirche stehen manchmal vor dem Problem, nicht das rechte Wort zur rechten Zeit zu finden. Eine spezielle Herausforderung ist es, sich wissenschaftlich verantwortet mit dem zu beschäftigen, den wir das Wort schlechthin nennen, welches nach unserem christlichen Glauben Fleisch geworden ist und Jesus genannt wird. Wer etwas über diesen Jesus erfahren will, kann zwar in der Bibel fündig werden, wird sich aber angesichts mancher Widersprüche und Rätselhaftigkeiten in den Texten an einem bestimmten Punkt der Lektüre die Frage stellen müssen, wie man die für uns ChristInnen Heilige Schrift auslegen soll, um ein möglichst authentisches Bild von Jesus zu erhalten. Wer ist er, der Mann aus Nazareth? Diese Frage darf keine Nebensache oder intellektuelle Spielerei sein, sondern stellt die zentrale Frage des Christentums dar. Daher kann auch die Frage der Auslegung der Heiligen Schrift nicht am Stammtisch verhandelt werden, sondern verdient besondere Beachtung und Einsatz.

Die vorliegende Diplomarbeit beschäftigt sich mit dem Neutestamentler Heinrich Schlier (1900-1978), für den - nicht nur von Berufs wegen - das Problem der Schriftauslegung zum Thema seines Lebens geworden ist. Vor allem durch seine Beschäftigung mit dem Neuen Testament hat er den Weg zur Katholischen Kirche gefunden und ist im Jahre 1953 in Rom konvertiert. Die Auseinandersetzung mit der Biographie und den Werken Schliers war für mich eine spannende Erfahrung, das Ergebnis dieser Spurensuche liegt nun in Ihren Händen. Schon seit Beginn meines Theologiestudiums hat mich das Spannungsverhältnis zwischen Exegese und Dogmatik interessiert; die Thematik begleitete mich durch die Jahre auf der Uni und, was den zweiten Studienabschnitt betrifft, auch im Priesterseminar.

Durch Univ.- Prof. Dr. Bernhard Körner war es mir möglich, mich in diesem Feld der Theologie vertiefen zu können; ihm möchte ich auf diesem Wege herzlich für seine wichtigen Anregungen und für die umsichtige und geduldige Begleitung der Entstehung der Diplomarbeit danken.

Ein großes Dankeschön gilt auch Frau Dr. Gertraud Harb für die Mühe des Korrekturlesens und für das Sich-Durchkämpfen durch meine teils sehr ausgedehnten und verworrenen Sätze (die Prof. Körner bei einer Besprechung ob ihrer leseunfreundlichen Länge als „Uff!-Sätze“ bezeichnet hat ).

5 Meine Schwester Maria „Mirli“ Promitzer hat wesentlich dazu beigetragen, dass ich die Arbeit in ordentlichem Layout vorlegen kann. Liebe Mirli, du bist die Beste! Vielen lieben Dank für deine Bemühungen am Computer und für deine interessierte Anteilnahme am Entstehen des Textes!

Nicht schließen möchte ich, ohne mich bei all meinen Freundinnen und Freunden sowie bei meinen Mitbrüdern im Grazer Priesterseminar zu bedanken, die mich immer wieder motiviert und beim Schreiben mental unterstützt haben.

Meinen Eltern Anna und Josef Promitzer sei diese Arbeit in Liebe und tiefer Dankbarkeit gewidmet. Gott segne und beschütze euch!

Graz, im November 2012 Josef Christoph Promitzer

6 Ein Phönix der deutschsprachigen Theologie – Als Einführung

Was haben ein theologischer Heimlichtuer, ein Witze-Sammler und ein ‚Schwächlingszigarren‘-Raucher gemeinsam? Eine mögliche Antwort: Alle drei haben Wertvolles für die Neutestamentliche Bibelwissenschaft geleistet und werden uns in der vorliegenden Arbeit begegnen. Die Rede ist von Hermann Samuel Reimarus, Rudolf Bultmann und – um ihn wird es vor allem gehen – Heinrich Schlier. „Das Gespräch mit Schlier steht … seitens der katholischen Kirche und ihrer Theologie weitgehend noch aus“1 konstatiert Werner Löser, selbst katholischer Theologe, Ordensmann und, wenn man so möchte, Heinrich-Schlier-Forscher, im Jahre 1985. Kaum ein katholischer Gelehrter dürfte sich bis heute eingehender und dauerhafter mit Heinrich Schliers Werk beschäftigt haben, obwohl wir Löser, bis auf ein von ihm herausgegebenes Sammelbändchen zum 100. Geburtstag Schliers2, keine eigene Monographie oder sonst eine größere Publikation über den Theologen verdanken. In seinem wohl aktuellsten Beitrag über den Bonner Exegeten (so wird Schlier auch mehrmals im Laufe der vorliegenden Arbeit bezeichnet werden) und großen Schüler Rudolf Bultmanns3 aus dem Jahre 2012 hat Löser einmal mehr in Erinnerung gerufen, dass das Werk Schliers, „so scheint es, bis heute nur zu einem Teil die Aufmerksamkeit gefunden“4 habe, die es verdienen würde. Solche Lamentationen liest man meist in der Einleitung zu Abhandlungen oder kleineren Beiträgen über die Theologie Heinrich Schliers, in denen immer wieder bemängelt wird, wie wenig das Werk des Exegeten doch Widerhall in der Theologie gefunden habe5 - was einen seltsam schalen Beigeschmack hinterlässt und Schliers Opus noch mehr auf ein Abstellgleis schiebt, als dies ohnehin in der – nicht nur katholischen – Theologie bislang geschehen ist. Trotz alledem ist es verwunderlich, dass sich bis heute immer wieder kleinere oder größere theologische Schriften den Weg an die Öffentlichkeit bahnen, welche den Bonner Exegeten kritisch würdigen und ihn somit (wieder)

1 Löser, Werner: Das „bleibend Denkwürdige“. Zum Dogmenverständnis Erik Petersons und Heinrich Schliers, in: Löser, Werner/ Lehmann, Karl/ u. a. (Hg.): Dogmengeschichte und katholische Theologie. FS Heinrich Bacht, Alois Grillmeier, Adolf Schönmetzer, Würzburg: Echter 1985, 351. 2 Das Büchlein wird geführt unter: Löser, Werner/ Sticher, Claudia (Hg.): Gottes Wort ist Licht und Wahrheit. Zur Erinnerung an Heinrich Schlier, Würzburg: Echter 2003. 3 Vgl. Ratzinger, Joseph: Kirchliches Lehramt und Exegese. Reflexionen aus Anlaß des 100-jährigen Bestehens der Päpstlichen Bibelkommission, in: IKZ 32 (2003), 525. 4 Löser, Werner: Das Werk Heinrich Schliers: eine Theologie des Neuen Testaments, in: ThPh 87 (2012), 86. 5 Vgl. unter anderem Löser, Gottes Wort, 9; weiters ders.: (Rez.) Bendemann, Reinhard von, Heinrich Schlier. Eine kritische Analyse seiner Interpretation paulinischer Theologie, in: ThPh 74 (1999), 283 oder auch Bubel, Grzegorz: Die Sache zur Sprache bringen. Das Christusereignis in der Schriftauslegung Heinrich Schliers (FTS 63), Frankfurt am Main: Josef Knecht 2002, 1: „Die systematische Reflexion über sein [Heinrich Schliers, Anmerkung J.P.] exegetisch-theologisches Werk … lässt noch auf sich warten.“ 7 ins Gespräch mit der ‚aktuellen‘6 Theologie bringen. Man könnte Schlier damit überspitzt als einen ‚Phönix der deutschsprachigen Theologie‘ bezeichnen, der zwar nicht, wie der sagenumwobene Vogel aus dem Märchen, aus seiner eigenen Asche wieder ersteht, dem beziehungsweise dessen Werk aber, wenn auch nicht in großem Maß, aber doch stetig, immer wieder aus der Versenkung geholfen und so „der Vergessenheit entrissen“7 wird. Aus Schliers Schrifttum und der darin verpackten Gedankenfülle, die weitgehend vom Neuen Testament inspiriert ist, versuchen auch Jahre nach seinem Tod TheologInnen, Orientierungslinien für ihre Arbeit und Anstöße für ihr eigenes Gespräch mit der Zeit zu finden. In diese Serie reiht sich auch die vorliegende Arbeit ein. Sie stellt quasi die Summe des Studiums des Verfassers dar und seine Beschäftigung mit der für ihn in der Theologie wesentlichsten Frage, wie das Verhältnis von (historisch-kritischer) Exegese und Dogmatik angemessen zu bestimmen sei, ohne allzu sehr Vorurteilen oder Einseitigkeiten, die es freilich immer gibt und geben wird, Vorschub zu leisten. Weiters kann und will die Arbeit, gemäß ihrem Genus, keine neuen Beiträge zur Schlier-Forschung beisteuern, erhebt aber den Anspruch, neben vielen Texten Schliers etliche wichtige - auch neuere - sekundärliterarische Schriften zum Thema verarbeitet und alle bis dato erschienenen, größeren Abhandlungen8 über Schlier mit einbezogen zu haben. Der schlichte Titel der hier an die Hand gegebenen Arbeit lautet „Schriftauslegung und Kirche bei Heinrich Schlier“ und stellt das Programm dar, welchem sich der Studientext verpflichtet weiß: Unter der Perspektive und unter besonderer Berücksichtigung jener Texte Heinrich Schliers, welche sich dem Phänomen von Schriftauslegung und dem sie bergenden und befruchtenden Raum, der Kirche, widmen, soll hingehört werden auf einen Theologen, der als evangelischer Christ anhand seiner (nicht allein) beruflichen Beschäftigung mit dem Neuen Testament den Weg zur römisch- katholischen Kirche gefunden und ihn mit seiner Konversion konsequenterweise zu Ende gegangen ist. Seine Worte, die sich um das eine Wort Gottes drehen, können dem Gespräch über das Wort Gottes und – vor allem – zunächst mit ihm neue Impulse schenken und die

6 Mit ‚aktuell‘ ist in diesem Zusammenhang freilich nicht die Theologie selbst gemeint, sondern immer der Kontext – politisch, gesellschaftlich, kirchlich und ihre jeweiligen zeitgegebenen Kombinationen (kirchen- politisch, etc.) – in welchen sie sich eingebunden findet und entwickelt und der freilich auch auf sie abfärbt. Ansonsten hieße das für die Theologie, würde man hier scharf Grenzlinien ziehen, dass sie in einem schlechten Sinne zeitgemäß sei, also dass sie folglich jedem gesellschaftlich wehenden Lüftchen wie ein Schilfrohr würde und folglich nicht mehr Verweis auf die Offenbarung Gottes und dessen Erschließung, sondern allein Instrument menschlicher Zwecke wäre. 7 Ratzinger, Joseph: Geleitwort, in: Schlier, Heinrich: Der Geist und die Kirche. Exegetische Aufsätze und Vorträge IV. Herausgegeben von Veronika Kubina und Karl Lehmann, Freiburg im Breisgau: Herder 1980, IX. 8 Katholischerseits sind die umfangreichsten Arbeiten über Schlier bislang zum größten Teil ein ‚jesuitisches Phänomen‘, wenn man an Grzegorz Bubel oder Alfred Schneider denkt; die Ausnahme bildet hier Thomas Ervens, dessen Arbeit allerdings nicht allein das Werk Schliers, sondern auch jenes Erik Petersons berücksichtigt. Auf evangelischer Seite ist hier die große Studie „Heinrich Schlier. Eine kritische Analyse seiner Interpretation paulinischer Theologie“ von Reinhard von Bendemann zu nennen. 8 Theologie heutiger Tage wieder tapfer und selbstbewusst das sein lassen, was sie ihrem Namen nach ist: Theo-Logie, Rede von Gott, nichts weniger. Es ist hilfreich, sich bei der Behandlung von Themen zuerst die Grundlagen, die Geschichte der jeweiligen Sache zu vergegenwärtigen. Daher soll ein dem eigentlichen Thema dieser Arbeit vorangestelltes, aber innerlich zum Haupt-Inhalt gehörendes Kapitel, quasi zur ‚Bodenbereitung‘, einen kurzen Blick auf die Anfänge der kritischen Bibelforschung werfen (Vor-Kapitel). Die Theologie Schliers ist aufs Engste mit seiner Lebensgeschichte verbunden. Und da man die Werke eines Menschen erst dann wirklich verstehen kann, wenn man zumindest ansatzweise biographische Hintergründe jenes Schaffenden kennt, soll vor dem Blick auf Heinrich Schliers Werk das Augenmerk auf seine Vita gelegt werden (Erstes Kapitel). Anschließend steigen wir direkt in die Theologie Schliers ein, indem wir uns zuerst sein Verständnis von Schrift und Schriftauslegung vor Augen führen (Zweites Kapitel) und weiterführend von Schlier in den Raum führen lassen, in welchem das Wort Gottes zu Hause ist und von daher ausgelegt zu werden hat (Drittes Kapitel). Das unter dem besonderen Interesse der vorliegenden Arbeit ‚abgeklopfte‘ Werk Schliers soll weiters ganz allgemein auf dessen Theologie hin befragt werden (Viertes Kapitel), aus welcher dieses Werk gespeist ist und sich weiterentwickelt, bevor in einer kurzen, abschließenden Reflexion versucht wird, dem Opus Schliers einige Anstöße für die Theologie unserer Zeit, speziell für das Spannungsverhältnis Exegese – Dogmatik, zu entnehmen und zu entfalten (Schluss), wenn auch jenes Wort Schliers gilt, welches er erläuternd seiner dritten Aufsatzsammlung mit dem Titel „Das Ende der Zeit“ vorangestellt hat: Es „hilft nicht viel, die Lage zu analysieren. Man soll weniger zur Lage als zur Sache reden.“9 Ebendies soll nun in der vorliegenden Arbeit versucht werden.

9 Schlier, Heinrich: Einleitung, in: Ders.: Das Ende der Zeit. Exegetische Aufsätze und Vorträge III, Freiburg im Breisgau: Herder 21971, 15.

9 Vor-Kapitel

Schriftauslegung und Kirche -

Ein Blick auf ein spannungsreiches Phänomen

Warum soll einer Arbeit, die sich mit dem Verständnis von Schrift, deren Auslegung und dem Thema Kirche bei Heinrich Schlier auseinandersetzt, ein ‚Vor-Kapitel’ vorangestellt werden, welches in kurzen Blitzlichtern die Geschichte der kritischen Bibelforschung beleuchten möchte? Führt das nicht zu weit über das eigentliche Thema hinaus beziehungsweise von ihm weg? Ja und nein. Zunächst ist zu sagen, dass die vorliegende Arbeit vor allem eines möchte: Für die Problematik von Bibelauslegung und Kirche sensibilisieren. Und es ist durchaus ein breites Feld, das hier angesprochen wird. Das beinahe schon explosive Thema entzündet sich vor allem und ganz zentral an der Frage, wer Jesus war und ist (womit die Fragestellung bereits um eine gläubige Perspektive erweitert wurde), was wir von ihm wissen (können) und wie sich all das auf die Frage, was und an wen wir als Christen glauben und was wir damit auch mit dem Verstand (zur Selbstvergewisserung oder zur vernunftgemäßen Verteidigung nach ‚außen’) zu vereinbaren haben. Die Frage ist wichtig, und sie betrifft die ganze Kirche, bis in die kleinste Bibelrunde einer ‚einfachen’ Pfarrgemeinde hinein. Um zum Beginn dieses ‚Vor-Kapitels’, das als solches einen wichtigen Bestandteil der vorliegenden Arbeit bildet und dieser daher eben nicht einfach irgendwie ohne Bezug vor(an) - gestellt ist, zurückzukehren: Ja, die Frage führt hinaus über das, was nach dem Titel dieser Arbeit auszuführen ist. Nein, da die Frage berechtigt ist. Denn erst eine breit angelegte (wenn auch dennoch knappe und holzschnittartige) Auf- und Vorbereitung des Themengebietes ‚Exegese und Dogmatik’ kann die ganze Tragweite und Bedeutung für den Glauben an Jesus Christus sichtbar machen kann und ihre Versuche, diesen immer tiefer zu verstehen und damit auch ihn selbst, der, wie ihn die biblischen Schriften zeichnen, den Anspruch erhebt, nichts weniger als der Sohn Gottes zu sein. Ein solcher Verstehens-Versuch ist mit Heinrich Schlier gegeben, dessen Forschungsergebnisse für ihn nicht „nur“ eine Lebenswende - im wahrsten Sinne des Wortes - ermöglichten, sondern sogar notwendig machten. Als Beispiel eines glaubenden und diesen Glauben stets aufs Neue ehrlich zu ergründen suchenden Theologen (nicht „nur“ Exegeten!) reiht er sich in die lange und fortdauernde Geschichte all derer ein, die sich auf den Weg gemacht haben, die Wahrheit zu suchen: Die Wahrheit Christi und seines Evangeliums, an der nicht weniger hängt als die Wahrheit unserer Existenz. 10 Diese Geschichte, die nach Art der folgenden Darstellung im Wesentlichen eine Geschichte der historisch-kritischen Exegese10 und damit spannungsgeladen war und bis heute ist, soll kurz in ihren Anfängen betrachtet werden.

I. Mit Hass zum Leben Jesu

„Die geschichtliche Erforschung des Lebens Jesu ging nicht von dem rein geschichtlichen Interesse aus, sondern sie suchte den Jesus der Geschichte als Helfer im Befreiungskampf vom Dogma.“11 So charakterisiert der evangelische Theologe, Philosoph, Tropenarzt und Musiker Albert Schweitzer im ersten Kapitel seines Hauptwerks „Geschichte der Leben-Jesu- Forschung“ von 1906 das treibende Motiv der historisch-kritischen Exegese, die in der Zeit der Aufklärung, in der Mitte des 18. Jahrhunderts, ihren Anfang nahm. Weiters lobt er den Hass, aus dem heraus manche Darstellungen verfasst wurden: „Je stärker die Liebe, je stärker der Haß, desto lebendiger die Gestalt, die entsteht.“12 Die „großartigsten sind mit Haß geschrieben: das [Leben Jesu, Anmerkung J.P.] des Reimarus, des Wolfenbüttler Fragmentisten, und das von David Friedrich Strauß. Es war nicht so sehr der Haß gegen die Person als gegen den übernatürlichen Nimbus, mit dem sie sich umgeben ließ und mit dem sie umgeben wurde. Sie wollten ihn darstellen als einen einfachen Menschen, ihm die Prachtgewänder, mit denen er angetan war, herunterreißen und ihm die Lumpen wieder umwerfen, in denen er in Galiläa gewandelt hatte.“13 Besonders das Werk von Reimarus lobt Schweitzer in den höchsten Tönen - wir werden es und seinen Autor in den folgenden Ausführungen noch ein wenig kennenlernen. Zuvor aber soll ein kurzer Blick auf Frühformen der kritischen Exegese geworfen werden.

Frühe Anfänge der kritischen Exegese

Freilich gab es auch schon vor Hermann Samuel Reimarus, vor allem im 16. und 17. Jahrhundert, kritische und auf den Literalsinn der Bibeltexte beschränkte Exegese.14 Als Vertreter sind hier u.a. Erasmus von Rotterdam, der Protestant Hugo Grotius und Richard

10 Ergänzend sei der kurze, aber gehaltvolle Überblick aus der Perspektive der Dogmatik, welcher sich ebenjener Geschichte anhand lehramtlicher Aussagen als Antwort auf das Aufkommen der modernen Auslegungsmethoden der Bibel annähert, erwähnt, in: Körner, Bernhard: Die Bibel als Wort Gottes auslegen. Historisch-kritische Exegese und Dogmatik, Würzburg: Echter 2011, 33-79. 11 Schweitzer, Albert: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. Band 1, München/Hamburg: Siebenstern 1966, 47. 12 Ebd., 48. 13 Ebd. 14 In diesem Abschnitt beziehe ich mich hauptsächlich auf Reiser, Marius: Die Prinzipien der biblischen Hermeneutik und ihr Wandel unter dem Einfluss der Aufklärung, in: Die prägende Kraft der Texte. Hermeneutik und Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments (Ein Symposium zu Ehren von Ulrich Luz), hg. v. Moises Mayordomo, Stuttgart: Kath. Bibelwerk 2005, vgl. hier: Reiser, Prinzipien, 65. 11 Simon zu nennen. Letzterer wird allgemein als der Begründer der kritischen Bibelwissenschaft angeführt, im Besonderen der Einleitungswissenschaft15, wobei in diesem Zusammenhang auch Johann Gottfried Eichhorn zu nennen wäre, der ebenfalls je eine Einleitung in das Alte und in das Neue Testament verfasst hat und laut Henning Graf Reventlow als „Begründer dieser Sparte der biblischen Wissenschaft“16 gilt. Das 18. Jahrhundert brachte die große Wende in der biblischen Forschung: Wenn auch schon seit der Zeit des Origenes die Grundannahme, die Bibel sei ein inspiriertes Buch, dessen Teile durch den Heiligen Geist eine Einheit bildeten17, das Fundament allen Nachdenkens und aller Auslegung war, so galt für die Aufklärer das Axiom, mit dem der Name Johann Salomo Semler verbunden ist, die Bibel sei ein Buch wie jedes andere und folglich auch genauso auszulegen18. Interessant ist, dass die hermeneutischen Prinzipien seit der Zeit Semlers, in immer anderen Abwandlungen und Kombinationen zwar, aber im Wesentlichen doch die gleichen geblieben sind. Seit der römischen Anerkennung herrschen diese auch in der katholischen Exegese bestimmend vor, wobei nach wie vor an der Inspiration und der geistgewirkten Ganzheit der Heiligen Schrift festgehalten wird. „Die übrigen Folgen dieser hermeneutischen Wende sind offenkundig. Exegese, Dogmatik und Spiritualität, die noch im Mittelalter eine selbstverständliche Einheit gebildet hatten, fallen auseinander.“19

II. Zwei „Väter“ im Portrait: Die Anfänge der historisch-kritischen Exegese

Als Vertreter der historisch-kritischen Exegese lassen sich, auch und gerade zu deren eigentlichen Beginn, einige Gelehrte anführen, die hier federführend bei der Entwicklung der und richtungsweisend für die hier angesprochene Methode der Schriftauslegung waren. Dem eigentlichen Anliegen dieser Arbeit entsprechend, soll die folgende Auswahl auf zwei klingende Namen beschränkt werden, die zu Recht als „Väter“ der historisch-kritischen Bibelauslegung gelten: Hermann Samuel Reimarus und Johann Philipp Gabler.

1. Das intellektuelle Doppelleben des Hermann Samuel Reimarus

Die Person, welche, Mitte des 18. Jahrhunderts, den Stein ins Rollen gebracht und damit einen Umsturz ungeahnten Ausmaßes in der theologischen Wissenschaftsgeschichte ausgelöst hatte, weilte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner „Apologie“ schon seit 46 Jahren nicht

15 Vgl. Reiser, Prinzipien, 66. 16 Vgl. Graf Reventlow, Henning: Den biblischen Mythos als „kindhafte“ Sprechweise deuten: Johann Gottfried Eichhorn und Johann Philipp Gabler, in: ders.: Epochen der Bibelauslegung. Band IV. Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, München: Beck 2001, 219. 17 Vgl. Reiser, Prinzipien, 83. 18 Vgl. ebd., 94. 19 Ebd., 95. 12 mehr unter den Lebenden: Hermann Samuel Reimarus war als geehrter, vielgelesener und frommer Mann gestorben. Welche Wirkung seiner lange unter Verschluss gehaltenen Schrift beschienen war, zeigte sich erst nach und nach. Am 22. Dezember 1694 wurde Reimarus in Hamburg als Sohn eines Lehrers, der seinen Sohn selbst einige Zeit als Privatlehrer unterrichtete, geboren. Die für Reimarus’ Werdegang bedeutsamsten Lehrpersonen waren der Hebraist Johann Christoph Wolf sowie der Altphilologe Johann Albert Fabricius, der auch Schwiegervater des Reimarus´ werden sollte. Ab dem Jahre 1714 besuchte er die Universität , an der er sich mit dem biblischen Urtext beschäftigte. Schon bald aber begann er sich mehr für philosophische Fragestellungen zu interessieren und gab in Folge sein Theologiestudium auf. Zwei Jahre später, 1716, wechselte der junge Gelehrte nach Wittenberg, wo er sich vollständig der Philosophie zuwandte und wenig später Adjunkt, d.h. Beisitzer der Philosophischen Fakultät wurde. Die darauffolgende Studienreise, die von 1720 bis 1722 dauerte, führte ihn nach Leiden, London und Oxford, wo er mit der Lehre der englischen Deisten in Berührung kam, die sein Denken ebenso prägen sollten wie die des rationalistischen Philosophen Christian Wolff (1679-1754), der davon ausging, dass alles mit mathematischer Vernunft zu überprüfen sei – ein Gedankenkonstrukt, das Reimarus einige Zeit beschäftigte, welches der Orientalist aber nie ganz in seine Art wissenschaftlichen Arbeitens integrieren konnte, obwohl er in einer Hinsicht sogar radikaler war als der Philosoph: Wolff anerkannte nämlich eine eigene Rolle der Theologie neben der Philosophie und war der Ansicht, dass „Gottes Wort ein Mehr an Erkenntnis biete, insofern sie die Vernunft übersteigt“20. Reimarus radikalisierte diese These, indem er „die Vernunft zum letzten Maßstab auch für die Kritik der Bibel“21 erhob. 1727 erhielt Reimarus den Lehrstuhl für orientalische Sprachen am Akademischen Gymnasium in Hamburg, den er bis zu seinem Lebensende – insgesamt 40 Jahre lang - innehatte. Der Lehrstoff, den er vorzutragen hatte, bestand aus hebräischer Philologie und Philosophie. Der Orientalist war überhaupt ein vielseitiger Gelehrter: Zunächst führte er die Vorarbeiten seines einstigen Lehrers und nunmehrigen Schwiegervaters Fabricius fort. Die Reihe von Reimarus´ eigenen philosophischen Werken beginnt erst 1754 mit dem aus zehn Traktaten bestehenden Opus „Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion“, mit der er, genau wie mit seiner im Jahre 1756 herausgegebenen „Vernunftlehre“ (eine Art Logik- Handbuch) auch, den Eindruck erweckte, „dass er der verbreiteten Auffassung orthodoxer

20 Vgl. Graf Reventlow, Henning: Die Vernunft-Religion zum Richter einsetzen: Hermann Samuel Reimarus, in: ders.: Epochen der Bibelauslegung. Band IV. Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, München: Beck 2001, 158. 21 Vgl. ebd. 13 Theologen anhinge, wonach die natürliche Religion eine Art „Vorhalle“ (praeambula) zum christlichen Glauben darstelle, der sich dann auf Bibel und Offenbarung gründet. In Wirklichkeit hielt er sie, wie nach seinem Tode deutlich wurde, für allein ausreichend.“22 So führte Reimarus jahrzehntelang ein intellektuelles Doppelleben: In der Öffentlichkeit gab er den brillanten Apologeten, der sich mit Schriften wie seiner „Verteidigung der im Neuen Testament zitierten alttestamentlichen Aussagen“ (1731) oder auch mit Texten, die für die Verhaltensforschung bahnbrechend waren, wie seine Untersuchung „Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere“ (1760-1762) einen Namen machte (auch wenn Schweitzer behauptet, dass Reimarus für seine Zeitgenossen nicht existierte23), während er im Geheimen dreißig Jahre lang mit großer Akribie am Manuskript seiner bibelkritischen, fundamentalen „Schutzschrift“ schrieb, in der er verarbeitete, was er wirklich dachte und die als sein eigentliches Hauptwerk zum großen Angriff auf die Bibel als christliche Offenbarungsquelle werden sollte. „Die Publikation hätte ihn [Reimarus] um seine Professur, sicherlich auch um seine bürgerliche Sicherheit gebracht. Aus solcher Doppelexistenz resultiert die Verbitterung, die die Auseinandersetzung mit der Staatskirche und ihrer Orthodoxie prägt.“24

Ein Thriller der Theologiegeschichte oder Wie die „Schutzschrift“ entstand

Die Veröffentlichungsgeschichte dieser Schrift liest sich beinahe wie ein Krimi, und sie beginnt am Ende: Am Ende des Lebens von Reimarus nämlich. Dieser hatte am 19. Februar 1768 noch seine besten Freunde eingeladen und jenes Zusammensein zum Abschiedsmahl erklärt, ehe er am 1. März 1768 friedlich und als angesehener Bürger und Gelehrter entschlief. Die schriftliche „Zeitbombe“, die in seiner Schreibtischlade tickte, und den Titel „ Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“ trug, hatte er der Nachwelt hinterlassen. Zwar kursierte unter engen Freunden und Bekannten des Reimarus schon ein frühes, anonymes Manuskript, aber die Endfassung war noch nicht veröffentlicht. Gotthold Ephraim Lessing, der ein guter Freund von Reimarus´ Tochter Elise war, veröffentlichte im Jahre 1774 erste Fragmente aus dem Manuskript, die aber wenig beachtet wurden. Bei seinem zweiten Versuch (1777), bei dem er weitere Textteile ins Rennen schickte, die angeblich aus dem „Manuskript eines Unbekannten“, welches er in der Wolfenbütteler Bibliothek gefunden hatte, wie er selbst zur Verschleierung des wahren Autors anführte, stammten, hatte Lessing bei Weitem mehr ‚Erfolg’ – und löste damit den sogenannten „Fragmentenstreit“ aus, bei dem

22 Reventlow, Vernunft-Religion, 159. 23 Vgl. Schweitzer, Leben-Jesu-Forschung, 57. 24 Schultze, Harald: Hermann Samuel Reimarus, in: TRE 28, 1997, 471. 14 es sich um eine heftige Kontroverse zwischen Lessing und vielen anderen Gegnern über die Schriftstücke des Reimarus handelt. Vor allem zwischen Lessing und seinem größten Gegenspieler, dem Hamburger Hauptpastor Johan Melchior Goeze, entbrannte der Disput. Die Reinschrift des umstrittenen und vielumkämpften Manuskripts wurde erst 1814 von Reimarus´ Sohn der Hamburger Stadtbibliothek „mit der Bitte um Vertraulichkeit übergeben und erst 1972 vollständig gedruckt“.25

„Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger“- Ein „Meisterwerk der Weltliteratur“?

Worum geht es nun in dieser „Schutzschrift“, oder, mit vollem Titel „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“? Die Endfassung, welche uns jetzt vorliegt, „zeigt die durch Vorwegveröffentlichung seiner positiven Auffassungen über Vernunft und natürliche Religion entlastende Kritik des Reimarus an der offiziellen Theologie und der Bibel Alten und Neuen Testaments als Ganzes.“26 Der Orientalist fällt - für die Aufklärung durchaus typisch - vernichtende Urteile über die moralische Beschaffenheit alttestamentlicher Personen und kritisiert unter anderem auch die Wunder des Alten Testaments. Dahinter steht nichts zuletzt auch der „traditionelle Antisemitismus“27, gegen den sich erst Lessing wenden wird.28 Nichtsdestotrotz hat Hermann Samuel Reimarus mit diesen seinen, wenn auch in polemischem Kontext stehenden, Aussagen einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für die alttestamentlichen Untersuchungen geleistet und kann damit als „wichtiger Vorläufer der historisch-kritischen Forschung am Alten Testament“29 angesehen werden. Im Bereich des Neuen Testaments hat Reimarus aber noch weitaus Bahnbrechenderes geleistet. Im Fragment über die Auferstehung Jesu schließt sich der Orientalist der alten These an, nach welcher das Grab Jesu deshalb leer gewesen sei, weil die Jünger den Leichnam gestohlen hätten. Aber nicht diese übernommene Einsicht des Reimarus ist interessant, sondern seine „Methode der Beweisführung gegen die Auferstehung Jesu aus den Widersprüchen zwischen den Berichten der Evangelien, die hier erstmals in solcher Ausführlichkeit aufgeführt werden.“30 Davon soll unten noch genauer die Rede sein.

25Vgl. Reventlow, Reimarus, 159. 26 Ebd., 160. 27 Ebd. 28 Vgl. ebd. 29 Ebd. 30 Reventlow, Reimarus, 162. 15 Die sieben Fragmente der Schutzschrift von 1778, von denen besonders das sechste und das siebte ‚Sprengstoff’ enthalten, wurden wie folgt bezeichnet: 31

 Von der Duldung der Deisten  Von der Verschreiung der Vernunft auf den Kanzeln  Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben können  Durchgang der Israeliten durchs Rote Meer  Daß die Bücher des Alten Testaments nicht geschrieben worden, eine Religion zu offenbaren  Über die Auferstehungsgeschichte  Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger

Fragment Nummer sieben und der Betrug der Jünger Jesu

Albert Schweitzer hält außerordentliches Lob für das siebte Fragment bereit: „Von der Großartigkeit der Darstellung in dem Fragment `Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger´ kann man nicht genug sagen. Diese Schrift ist nicht nur eines der größten Ereignisse in der Geschichte des kritischen Geistes, sondern zugleich ein Meisterwerk der Weltliteratur.“32 Auf jeden Fall handelt es sich dabei um „eine Kampfschrift, nicht“ um „eine objektive historische Studie“33, wie Schweitzer zugesteht. Gleich in § 1 des Fragmentes misst er das Alte Testament am „Lieblingsdogma der Aufklärungstheologie“, der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, die platonisch - neuplatonischen Ursprungs ist und schon in der alten Kirche verbreitet war.34 Historisch korrekt zeigt er an einigen Stellen auf, dass dem Alten Testament eine Lehre dieser Art nicht bekannt war und zieht daraus den Schluss, dass die Bücher des Alten Bundes keine göttliche Offenbarung beinhalten. Spannender sind allerdings, wie oben schon angedeutet, Reimarus´ Gedanken zum Neuen Testament. In § 3 prägt er eine Einsicht der Bibelwissenschaft, die bis heute eine Grundannahme derselben darstellt: Die Trennung der Taten, Absichten und Worte Jesu von der Theologie seiner Jünger. Später wird man dieses unterscheidende Vorgehen, das bei Reimarus seinen Anfang nahm, als Leben-Jesu-Forschung bezeichnen, als Suche nach dem

31 Aufbau und Überschriften wörtlich übernommen aus: Schweitzer, Leben-Jesu-Forschung, 57. 32 Schweitzer, 57-58. 33 Vgl. ebd., 64. 34 Vgl. Reventlow, Reimarus, 161. 16 historischen Jesus. Bemerkenswert ist, dass er sich auf die Evangelien als einzige Quelle beruft, durch die allein man sich an das Leben des Jesus von Nazareth annähern könne. In diesem Zusammenhang nennt er die Verfasser der Evangelien sogar „Geschichtsschreiber“.35 In einem weiteren Paragraphen geht Reimarus auf die Reden Jesu ein. Man könne sie alle, erklärt Reimarus, in dem Satz „Bekehret euch, denn das Himmelreich ist nahe gekommen“ zusammenfassen. Hier tritt der Charakter der Aufklärungstheologie wieder stark hervor, welche stark die Eschatologie und die Unsterblichkeit der Seele als Wesen einer Religion ausweist sowie die Moral, die durch den Aufruf „Bekehret euch“ angezeigt wird. Es kommt Reimarus deutlich darauf an, Bekehrung als Vorbereitung auf das Himmelreich anzusehen und zu leben: „So ist denn die Absicht der Predigten und Lehren Jesu auf ein rechtschaffenes thätiges Wesen, auf eine Aenderung des Sinnes, auf ungeheuchelte Liebe Gottes und des Nächsten, auf Demuth, [...] und Unterdrückung aller bösen Lust gerichtet.“36 Ausführlich entfaltet Reimarus auch die Betrugstheorie, die schon im Matthäusevangelium angedeutet wird (vgl. Mt 28,11) und besagt, dass die Jünger den Leichnam Jesu gestohlen und ihn 50 Tage lang versteckt hätten, da man die Leiche dann nicht mehr identifizieren hätte können. Jesus, so schreibt der Orientalist weiter, habe sich selbst in einem irdisch-politischen Sinne als Messias verstanden und habe die Hoffnung der Jünger und überhaupt der Menschen der damaligen Zeit geschürt, dass er der Befreier sei, der auf Erden seine Herrschaft anbrechen lasse und Israel erneuere. Als dies nicht eingetroffen sei, hätten die Jünger, um das Scheitern ihres Meisters und damit auch ihr eigenes zu vertuschen, Jesus als überweltlich- transzendenten Heilsbringer hochstilisiert und ihn so dargestellt, dass er in einem geistigen Sinn die Welt erlöst habe. Diese Theorie vom Betrug der Jünger wurde später von David Friedrich Strauß aufgegriffen, der die Grundthese von der mythischen Ausgestaltung der Jesusüberlieferung in die neutestamentliche Bibelforschung einbrachte. Dabei wird „Unhistorisches … – anders als bei Reimarus – nicht mehr auf bewußten Betrug zurückgeführt, sondern auf einen unbewußten Prozess mythischer Imagination.“37 Später wird Rudolf Bultmann hier mit seiner sogenannten „Entmythologisierungsthese“ anknüpfen, wie noch zu zeigen sein wird. Dennoch war das Jesusbild des Reimarus ein gebrochenes. Einerseits bezeichnete er Jesus als den Lehrer einer vorbildlichen Moral, auf der anderen Seite unterstellt er ihm, dass die Bekehrungsabsicht nur Vorbereitung war zu seinem eigentlichen Ziel hin, „sich als irdischer

35 Reimarus, Hermann Samuel: Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger, in: Die Frage nach dem historischen Jesus. Texte aus drei Jahrhunderten (Reader Theologie), hg. v. Manfred Baumotte, Gütersloh: Mohn 1984, 13. 36 Ebd., 15. 37 Theißen, Gerd/ Merz, Annette: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht32001, 23. 17 Thronprätendent an die Spitze eines Aufstandes gegen die Römer und das jüdische Synhedrium zu setzen.“38 Dieses Ziel, so Reimarus, wollte Jesus dadurch erreichen, dass er alttestamentliche Verheißungen auf sich selbst bezog, aber auch, indem er dem Volk und den Jüngern Wunder vorgaukelte. Reimarus geht am Ende seiner Ausführungen so weit, sogar das ganze Christentum für nichtig, weil bodenlos, zu erklären, da es ja auf der Auferstehung beruhe, die aber von den Jüngern erdichtet sei. Hermann Samuel Reimarus war aber, bei alledem, kein Atheist, sondern er glaubte an einen „allerweisesten, allergütigsten Gott, den die Vernunft in der Schöpfung erkennt und dem man in angemessener Weise allein mit moralischem Handeln dient.“39 Henning Graf Reventlow bemerkt abschließend Folgendes: „Spannungen in seinem Denken sind offensichtlich: Einerseits kam er zu wichtigen historischen Einzelbeobachtungen, von denen die Unterscheidung zwischen der Lehre des irdischen Jesus und der Botschaft seiner Jünger eine bleibende Erkenntnis darstellt, und gewann Einsichten über die zahlreichen inhaltlichen Widersprüche in der Bibel. Allerdings war ihm das literarische Problem der Entstehung der Evangelien und ihrer gegenseitigen Abhängigkeit noch fremd. Auch konnte er von seinem zeitlosen Systemdenken her für das Zeugnis einer geschichtlichen Religion, wie es die Bibel darstellt, kein Verständnis gewinnen.“40 Von den Problemen abgesehen, die der Beitrag des Reimarus mit sich brachte, gilt dieser als wichtiger Markstein für die wissenschaftliche Exegese, auch wenn Albert Schweitzer meint, dass „Reimarus die jung aufstrebende Wissenschaft seiner Zeit durch seine Wucht erdrückt hat.“41

2. Das Kindliche deuten und richtig unterscheiden – Johann Philipp Gabler

„Die ganze Sache aber läuft darauf zurück, daß wir teils in richtiger Weise ein rechtes Maß bei vorsichtiger Darstellung der Vorstellungen der heiligen Autoren einhalten, teils denen dogmatischen Gebrauch und deren Grenzen richtig festsetzen.“42 Mit diesem Wort aus der viel beachteten, aber auch oft deutlich missverstandenen Antrittsrede mit dem Titel „Von der richtigen Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beider Ziele“, die der protestantische Theologieprofessor Johann Philipp Gabler im Jahre 1787 an der Universität Altdorf gehalten hatte, befinden wir uns mitten in der

38 Reventlow, Reimarus, 163. 39 Ebd.,165. 40 Ebd., 166. 41 Schweitzer, Leben-Jesu-Forschung, 68. 42 Gabler, Johann Philipp: Von der richtigen Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beider Ziele, in: Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, hg. v. Georg Strecker, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975, 37. 18 Thematik, die den Gelehrten zeit seines Lebens umtrieb. Das letzte Fragment des Reimarus war vor neun Jahren von ‚seinem’ Herausgeber Lessing publik gemacht worden. Nun versuchte der junge Professor Gabler die klaffende Wunde, die der Orientalist in die Theologie gerissen hatte, zu versorgen und beiden getrennten Disziplinen, der Exegese (bei Gabler: biblische Theologie) und der Dogmatik, ihren jeweiligen Platz zuzuweisen bzw. ihr notwendiges Aufeinander-Verwiesen-Sein deutlich herauszustellen und fruchtbar zu machen. Johann Philipp Gabler wurde im Jahre 1753 in Frankfurt am Main geboren. Sein wohlhabender Vater, der Jurist war, ließ ihn von einem Privatlehrer unterrichten und bald schon, mit 16 Jahren (!) durfte er sogar schon öffentlich predigen, was später aber abgeschafft wurde.43 Die Bahnen für seine universitäre Laufbahn waren also gelegt und so begann er 1772 sein Philosophiestudium in Jena, einige Zeit darauf auch das Studium der Theologie unter Griesbach (von dem die berühmte Griesbach’sche Hypothese stammt, nach der das Markusevangelium das jüngste Evangelium darstelle und vom Lukas- sowie vom Matthäusevangelium abgängig sei) und unter Eichhorn. Mit ihm verbanden Gabler enge Freundschaft und Zusammenarbeit, obwohl, oder vielleicht gerade weil beide recht unterschiedlich in ihrer Art, Wissenschaft zu treiben, waren, aber gleich in ihren Ansichten über die zu erforschende Sache: Beide, Eichhorn (ganz Exeget und Historiker) wie Gabler (der stärker systematische Neigungen aufwies), leisteten ihre Arbeit vorwiegend aus apologetischem Interesse. Als Repetent in Göttingen lernte Gabler den Rhetorikprofessor Christian Gottlob Heyne kennen, dessen Mythostheorie er sich aneignete und auf die Bibel anwandte. Heyne war der Ansicht, dass die Mythen der klassischen Antike Ausdrucksformen des urtümlichen, mythischen Menschen seien, der noch unmittelbar von den Sinneseindrücken überwältigt wird und zur Abstraktion nicht fähig ist.44 Die Auslegung der Urgeschichte durch Eichhorn und vor allem die reichen Kommentare von Gabler, die in der Neuausgabe ebenjener Urgeschichte erschienen45, werden zu einem Gutteil von dieser Theorie getragen, wenn auch Eichhorn diese noch keineswegs übernommen zu haben scheint: Er versucht in seiner Urgeschichte psychologisch nachzuvollziehen, wie es zu bestimmten Formulierungen gekommen ist und lenkt seine Aufmerksamkeit dafür auf die noch unbedarfte, ja geradezu kindliche Vorstellungswelt des biblischen Verfassers, in die sich hineinzuversetzen er bestrebt ist. Im Gegensatz zu Gabler vermeidet er aber den Begriff Mythos, ja, er führt sogar etliche Argumente gegen die Annahme eines Mythos an. Gabler hingegen unterscheidet auf der Grundlage von Heyne drei Mythos-Typen: Den historischen,

43 Vgl. Reventlow, Johann Gottfried Eichhorn und Johann Philipp Gabler, 210. 44 Vgl. ebd., 211. 45 Vgl. ebd. 19 den poetischen und den philosophischen.46 In aller Ausführlichkeit wird der Gelehrte die Mythostheorie in ihrer Anwendung auf die biblische Urgeschichte aber erst in seiner (alles andere als schmalen) Einleitung zum zweiten Teil der Urgeschichte darstellen – sie kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht Gegenstand genauerer Betrachtung sein. Wohl aber soll nun noch kurz der als ‚Altdorfer Rede’ in die Theologiegeschichte eingegangene Vortrag Gablers zur Kenntnis gebracht werden. Um das Lebensbild Gablers, zumindest was die nachfolgenden Stationen seines universitären Weges betrifft, abzurunden, muss noch angeführt werden, dass es den Gelehrten auch nach Dortmund, nach Altdorf (wo er seine berühmte Rede hielt, wie wir anschließend sehen werden) und am Ende seines Lebens wieder nach Jena zurückführte, wo er 1826 auch starb.

Die berühmte Rede von 1787

Gabler spricht in seiner Antrittsrede „Von der richtigen Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beider Ziele“ zunächst die Meinungsverschiedenheiten über den biblischen Text an. Einen gewichtigen Grund für diese Uneinigkeit sieht er in der „Nichtbeachtung des Unterschieds zwischen Religion und Theologie“47: Den Begriff ‚Religion’ definiert der Gelehrte als „eine göttliche Lehre, die schriftlich überliefert ist; sie lehrt, was jeder Christ wissen, glauben und tun muß, um in diesem und im künftigen Leben Seligkeit zu besitzen“48, während er unter Theologie „eine subtile, ausgeformte, mit vielen anderen Wissenschaften in Verbindung stehend[e Wissenschaft]49“ versteht, die „nicht nur aus der heiligen Schrift, sondern auch anderswo her, aus dem Umkreis der Philosophie besonders und der Geschichte, entnommen“50 ist und daher eine Disziplin darstelle, welche durch Vernunft herausgebildet sei. Diese Unterscheidung sei vielfach nicht klar, daher komme es immer wieder zu „betrüblichen Meinungsverschiedenheiten“51, welche nicht selten das Vermischen verschiedener Dinge zur Folge hätten, was sich für Gabler auch an der unseligen Vermengung der „Einfachheit der sogenannten Biblischen Theologie mit dem Scharfsinn der Dogmatischen Theologie“52 zeigt. Seine These besteht nun darin, dass man aus der Bibel – vor allem aus dem Neuen Testament, da das Alte, wie wir bereits sahen, von den Aufklärern partikulär abgewertet wurde – allgemeine, immergeltende Begriffe (unter den zeitgebundenen) durch historische

46 Vgl. Reventlow, 217. 47 Gabler, Von der rechten Unterscheidung, 34. 48 Ebd., 34. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Gabler, Von der rechten Unterscheidung, 35. 52 Ebd., 34-35. 20 Untersuchung herausfinden sollte. Aus diesen Begriffen sei dann eine biblische Theologie zusammenzustellen, welche die Grundlage für die Dogmatik, das Glaubensgebäude der christlichen Religion, bilden solle.53 Die Vorstellung der Allgemeinbegriffe ist der Aufklärung lange bekannt gewesen, auch wenn sie Gabler offensichtlich vom Leipziger Philosophen S. F. Morus übernommen hatte.54 Typisch aufklärerisch ist das Gedankenkonstrukt aber auch durch die Tatsache, dass sie dem statischen Denken dieser geistesgeschichtlichen Epoche entspricht. Mit seiner These hatte Johann Philipp Gabler aber noch etwas anderes bewirkt, obwohl es nur bedingt von ihm beabsichtigt war: Er hatte zur Heranbildung einer neuen theologischen Disziplin, eben jener der biblischen Theologie, beigetragen, die der Trennung von alt- und neutestamentlicher Theologie im 19. Jahrhundert vorausging.55 Mit der Unterscheidung Gablers in biblische und dogmatische Theologie ist ein entscheidender Schritt geschehen, was das Verhältnis von Exegese und Dogmatik betrifft, war mit dieser Einsicht doch endlich eine Kompetenzbestimmung beider Disziplinen möglich geworden – was allerdings auch zu einer immer feineren Ausdifferenzierung derselben führte und einen immer größer werdenden Abstand der Beiden bewirkte.

… dass die theologische Wissenschaft „erfreulicher gedeihe“

Am Ende dieser Ausführungen soll noch einmal Johann Philipp Gabler selbst zu Wort kommen: Das Ziel nämlich der ganzen Rede war „die Methode, die Biblische Theologie sicherer und vorsichtiger zu fassen und ihre Grenzen richtiger zu bestimmen: Und ich wollte für andere, die sich eben in diesen Dingen besser auskennen, ein Gewährsmann und Ratgeber sein, damit sie wenigstens den Weg, der von mir beschrieben wurde, einhalten und so vollenden, wozu ich selbst mich nicht gewachsen fühle, sofern nur dies mit Demut und Ehrfurcht gegen Gott, die Religion und die heiligen Schriften und ohne überlegte Begier und Eile, Neues zu bringen, geschieht. Man muss allerdings wegen der Reinheit und Heiligkeit der Religion selbst bitten, daß die theologische Wissenschaft, sowohl die biblische als auch die dogmatische, von Tag zu Tag erfreulicher gedeihe!“56

3. Der ‚M-Faktor’ – eine Art Zusammenfassung

Es ist eine alte Weisheit, dass man auf die Anfänge schauen soll, um die gegenwärtige Situation besser verstehen zu können, aber auch Epochen und Zeitabschnitte dazwischen.

53 Vgl. Reventlow, Eichhorn und Gabler, 225. 54 Vgl. ebd. 55 Vgl. ebd. 56 Gabler, Von der rechten Unterscheidung, 44. 21 Diese wertvolle Einsicht gab den Anstoß, dieses ‚Vor-Kapitel’ zu schreiben und der vorliegenden Arbeit über Heinrich Schlier als längeres Geleit voranzustellen. Und hier verdienen die Anfänge des historisch-kritischen Arbeitens in der Theologie, die, wie wir sahen, in der Epoche der Aufklärung durch den Orientalisten Hermann Samuel Reimarus begründet wurden, spezielle Beachtung, um die Tragweite der so mit einem neuen Farbton versehenen Auslegungsgeschichte, die uns bis zu Heinrich Schlier und im Schlusskapitel – an seiner Hand beziehungsweise mit seinen Ideen ausgerüstet – auch über ihn hinausführen wird. Das Besondere am Beitrag des Reimarus ist nicht die (im Übrigen nicht haltbare) Betrugsthese, die davon ausgeht, dass die Jünger den Leichnam Jesu gestohlen und anschließend die Kunde von dessen Auferstehung verbreitet hätten. Reimarus ist, wie wir sahen, der Erste, der damit die Verkündigung und das Leben Jesu vom Glauben der Apostel an ihn trennt, und genau das war der Knalleffekt, der den Anstoß gab, die historisch-konkrete Gestalt Jesu von dem mit den ‚Glaubensgewändern‘ der Autoren der Evangelien umgebenden Jesus zu differenzieren. Der Anspruch lag darin, Jesus so zeigen zu wollen, ‚wie er wirklich war’, wobei man sicher vielfach eine Ablösung von der Kirche und deren als Machtsystem verstandenen oder erfahrenen Strukturen erwirken wollte, aber immer auch mit ehrlichem Interesse an der Person Jesu und dessen Leben Exegese betrieb. Die Spannung zwischen der Exegese und der kirchlichen Glaubenslehre, der Dogmatik, besteht jedenfalls nach wie vor. Etliche Versuche – etwa der oben unter der Bezeichnung „Altdorfer Rede“ kurz dargestellte des Theologieprofessors Johann Philipp Gabler - wurden in Laufe der Jahrzehnte, ja Jahrhunderte unternommen, um diese beiden theologischen Disziplinen zusammenzuführen bzw. ihnen ihren je eigenen Raum und Bereich zuzuweisen, damit beiderlei Arbeit fruchtbar geschehen könne. Und doch existieren, bei allen Bemühungen und auch allen Annäherungen beider theologischer Fachbereiche, Unstimmigkeiten (nicht nur) in der Frage nach Person und Leben Jesu, ebenso wie gegenseitige Verdächtigungen und Anschwärzungen. Diese werden wiederum unter anderem von der Unkenntnis der Arbeit des/r Anderen oder dem bewussten Sich-Verschließen vor dieser oder dessen Ergebnissen, sowie von Unsicherheit in der eigenen Sache oder schlicht von Arroganz genährt. Der (zwischen-)menschliche Faktor - oder kurz „M-Faktor“ - ist hier nicht zu gering zu bewerten: Sei es die eigene Biographie, die eine bestimmte Einstellung zu und Sichtweise auf die Dinge der Welt prägt, die sich aus keiner noch so gewünscht objektiv gehaltenen Arbeit heraushalten lässt, sondern - im Gegenteil - diese färbt, oder sei es der – vielleicht oft von außen auferlegte oder auch unbewusste – Druck durch das universitäre Umfeld, die Medien oder die Gesellschaft. Diese unumgängliche menschliche Komponente wird auch in den Biographien der beiden hier besprochenen

22 Wissenschaftler deutlich, ihre Prägungen durch große Lehrer und Vorbilder wie zum Beispiel bei Johann Philipp Gabler, oder das (auch) durch die gesellschaftlichen Vorgegebenheiten verursachte Konzept des intellektuellen Doppellebens von Hermann Samuel Reimarus – all dies fließt natürlich in deren Werke ein und verleiht diesen erst ihre persönliche Note. Freilich darf man den M-Faktor nicht überbewerten, da die Sache an sich schon Spannungen auslöst und fördert. Allerdings ist doch immer zu fragen, wie wir an Aufgaben herangehen, auf welche Art und Weise zwischenmenschliche Kommunikation gelebt wird. Daher soll - wie es bei Schriften über mehr oder weniger berühmte Persönlichkeiten und ihre Werke üblich ist - diese Arbeit nun, nach diesem längeren Anweg, mit einem Blick auf die Biographie Schliers beginnen, welcher freilich von Berufs wegen selbst um die Probleme des Theologie-Treibens und damit auch um jene des von mir als „M-Faktor“ Bezeichneten wusste: „Daß im übrigen zwischen der dogmatischen Theologie und der Biblischen Theologie harte Konflikte entstehen können, wen sollte das bei der Schwierigkeit der Sache, bei der Verschiedenheit der Methoden, bei der großen Entfremdung der beiden Disziplinen, bei ihrer unterschiedlichen Reife und nicht zuletzt bei unserer menschlichen Beschränktheit und Bosheit wundern?“57

57 Schlier, Heinrich: Biblische und dogmatische Theologie, in: Schlier, Heinrich: Besinnung auf das Neue Testament. Exegetische Aufsätze und Vorträge II, Freiburg im Breisgau: Herder 1964, 34, Fußnote 12. Mit diesem Wort schließt Schlier – bezeichnenderweise – seine Ausführungen des von ihm in diesem Aufsatz dargestellten Themas, welcher den Vergleich mit dem Text der Antrittsrede von Gabler durchaus nicht zu scheuen braucht. 23 Erstes Kapitel

„Was ich bin“ – Über Leben und Theologie eines Grenzgängers

Wer eine Lebensbeschreibung über jemanden verfasst beziehungsweise anhand zu Gebote stehender Quellen nachzuzeichnen versucht, beginnt üblicherweise mit Geburtsdaten und setzt mit weiteren Viererkombinationen von Ziffern sowie mit die zu beschreibende Person prägenden Orten fort. Dies soll natürlich auch in der vorliegenden, bewusst knapp gehaltenen Vita (die freilich keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern eher in den Sektor ‚biographische Notizen’ einzuordnen ist) Heinrich Otto Ludwig Albin Schliers geschehen. Hier muss aber gleich zu Beginn mit Reinhard von Bendemann – und ausgerechnet von ihm, der sich eingehend mit Leben und Werk Schliers auseinandergesetzt hat und dem wir eine reichhaltige Quelle, gerade für biographische Fragen, verdanken, stammt das folgende Zitat - gesagt werden, dass „eine Biographie Heinrich Schliers … ein Desiderat der Forschung“58 bleibt. Von Bendemann nennt für das Fehlen einer ausführlichen Lebensbeschreibung des Exegeten eine Ursache, die nicht unwesentlich ist: Heinrich Schlier selbst, der „zu Lebzeiten kaum von sich redete“59, wie Schliers Tochter Veronika Kubina und der Rahner-Schüler Karl Lehmann, die als Herausgeber des vierten Bandes der gesammelten Aufsätze und Vorträge Schliers verantwortlich zeichnen, in ihrem Nachwort des nach Schliers Tode erschienenen Buches bemerken. Diese stille Bescheidenheit Schliers und seine unaufdringliche Art wird immer wieder (nicht nur) von akademischen Weggefährten positiv hervorgehoben: „Er, der ein Meister des Wortes war und dem Wort in leidenschaftlicher Liebe zugetan gewesen ist, weil er in den Worten den suchte, der das Wort ist – er hat eben darum jene Ehrfurcht vor dem Wort eingehalten, die ihm leeres und lautes Gerede verbot. Weil er um das Wort wußte, wußte er auch um die Größe des Schweigens … das ist darum … auch der Grund für den Tiefgang und für die Beständigkeit seines Werkes.“60 Forscher unserer Tage stehen aber somit vor der Schwierigkeit, „die ‚Lücken’ des Schlierschen Lebensweges aus den z.T. nur spärlich fließenden Quellen zu schließen und ein einigermaßen rundes und vollständiges Bild zu gewinnen.“61 Dennoch können, so die Überzeugung des Verfassers dieser Arbeit, auch spärliche Hinweise kleine Lichter auf das Leben und durch es auf Schrifttum und Denken Schliers werfen und zu deren besseren Verständnis beitragen. Eine kleine Vorbemerkung sei

58 Bendemann, Reinhard von: Heinrich Schlier. Eine kritische Analyse seiner Interpretation paulinischer Theologie, Gütersloh: Kaiser 1995, 23. 59 Schlier, Heinrich: Der Geist und die Kirche. Exegetische Aufsätze und Vorträge IV. Herausgegeben von Veronika Kubina und Karl Lehmann, Freiburg im Breisgau: Herder 1980, 308. 60 Ratzinger, Joseph: Geleitwort, VII, in: Schlier, Geist und die Kirche. 61 Bendemann, Schlier, 23, Fußnote 98. 24 an dieser Stelle noch erlaubt: Man kann, wie der Homo sapiens sapiens mittlerweile weiß, alles von verschiedenen Standpunkten betrachten, auch und besonders das Leben eines Menschen wie Heinrich Schlier, der nicht ohne Grund, wie noch gezeigt werden soll, als „Grenzgänger“62 bezeichnet worden ist. Diese für unseren Exegeten (aber nicht für ihn allein) charakteristische Gratwanderung in Leben und Werk soll in diesem Kapitel - und nur in diesem Kapitel - durch den Modus der doppelten Überschriften zum Ausdruck gebracht werden – eben zur Verdeutlichung dieser oben erwähnten menschlichen Erfahrung, dass man die Dinge der Welt auf eine, aber auch immer auf eine ganz andere Art und Weise betrachten kann. Beide Perspektiven sollen hier zur Darstellung gebracht werden. Zwei Jahreszahlen werden nun gleich zu Beginn genannt, um den ersten Rahmen für einen Blick auf entscheidende Wegmarkierungen „unseres“ Exegeten unter der Perspektive unseres Themas – Schriftauslegung und Kirche – im Denken Schliers abzustecken: 1930 bis 1935. Schlier, am 31.3.1900 in Neuburg (Bayern) geboren und in dem von uns hier zum Einstieg in die biographischen Notizen über Schlier gewählten Zeitraum folglich zwischen 30 und 35 Jahre alt, ist damals Dozent an der evangelisch-theologischen Fakultät in (wo er auch die Griechisch-Kurse übernimmt) und hat als solcher einen Lehrauftrag für neutestamentliche Exegese inne.63

I. Schwächlingszigarren in Bultmanns Wohnung oder Der Einfluss von Rudolf Bultmann auf die Entwicklung des Denkens Schliers

1. Die „Bultmannsche Graeca“

Jeden Donnerstag nun trafen sich junge und jung gebliebene Gelehrte, Philosophen wie Theologen, darunter in den Jahren 1930 bis 1935 eben auch Heinrich Schlier, in der Wohnung des Marburger Exegeten Rudolf Karl Bultmann, zur sogenannten „Bultmannschen Graeca“64. Der deutsche Philosoph Hans-Georg Gadamer schildert in seinem Lebensrückblick „Philosophische Lehrjahre“ eindrucksvoll die Szenerie und lässt den Leser/die Leserin an der damaligen Atmosphäre teilhaben, die er selbst, wie er schreibt, 15 Jahre lang erleben durfte65: „Sie [die Bultmannsche Graeca, Anmerkung J.P.) fand jeden Donnerstag, wenn ich mich

62 Vgl. unter anderem Werner Löser, der den Begriff gleich in drei aufeinanderfolgenden Sätzen erwähnt, in: Löser, Werner/ Sticher, Claudia (Hg.): Gottes Wort ist Licht und Wahrheit. Zur Erinnerung an Heinrich Schlier, Würzburg: Echter 2003, 17-18. 63 Vgl. die biographische Zeittafel in: Schlier, Heinrich: Der Geist und die Kirche. Exegetische Aufsätze und Vorträge IV. Herausgegeben von Veronika Kubina und Karl Lehmann, Freiburg im Breisgau: Herder 1980, 304. 64 Gadamer, Hans-Georg: Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1977, 37-38. 65 Vgl. ebd., 38. 25 nicht irre, in Bultmanns Wohnung statt. Heinrich Schlier, Gerhard Krüger, ich selber, später Günther Bornkamm und Erich Dinkler bildeten die kleine Gruppe, die mit Rudolf Bultmann die Klassiker der griechischen Literatur las. Es war keine gelehrte Arbeit. Einer wurde verurteilt, eine deutsche Übersetzung vorzulesen, und die anderen folgten am griechischen Text. […] [W]ir durcheilten die ganze antike Welt, 15 Jahre lang wöchentlich einen Abend. Das wurde von Bultmann mit Beharrlichkeit und Strenge festgehalten, Woche für Woche.“66 Im Bericht der von Gadamer so bezeichneten „Nachsitzung“ des Lektüre- und Diskussionsabends entdecken wir ein liebevoll für die Nachwelt erhaltenes alltäglich- menschliches Detail über Heinrich Schlier, welches für Gadamer offensichtlich von gewissem Wert gewesen sein dürfte, da es eigens Erwähnung findet: „Rauchen durfte man vorher, nur daß Bultmann keine Zigaretten liebte, sondern schwarze Brasil oder Pfeife, und nur für Schlier hatte er aus besonderer Nachsicht die sogenannten Schwächlingszigarren, die mit einem blonden Deckblatt versehen waren.“67 Auch nach seiner Marburger Zeit blieb Heinrich Schlier den Mitgliedern dieses humanistischen Zirkels um seinen Lehrer Rudolf Bultmann verbunden.68 Heinrich Schlier, dessen Denken von den Römerbriefkommentaren Karl Barths nicht unwesentlich geprägt war, verdankt Rudolf Bultmann und dem frühen Martin Heidegger (dessen Philosophie auch Bultmanns Theologie eine starke Prägung verlieh) maßgebliche Impulse und legte im Juli 1924 das erste theologische Examen ab, bevor er bereits 1926 mit einer Dissertation im Bereich der Religionsgeschichte („Religionsgeschichtliche Untersuchungen zu den Ignatiusbriefen“), deren Thema ebenfalls von Bultmann angeregt worden war, die Doktorwürde der evangelisch-theologischen Fakultät Marburg erlangte.69

2. Skizzen einer Freundschaft

Insgesamt war die Beziehung Schliers zu seinem Lehrer Bultmann „ein vielschichtiges Phänomen“70, was sowohl positive als auch negative Aspekte miteinschließt. Beginnen wir mit den erfreulichen Seiten. In seiner Rudolf Bultmann-Biographie kann Konrad Hammann über das für Schlier (mindestens) zweifach wichtige Jahr 1926 - Doktor der Theologie (siehe oben) und Verlobung mit Erna Hildegard Haas („die ebenfalls in enger wissenschaftlicher Beziehung zu Rudolf Bultmann stand und fortan an Schliers theologischer Arbeit in hohem

66 Gadamer, Lehrjahre, 38. 67 Ebd. 68 Löser, Werner: Heinrich Schlier. Zum 100. Geburtstag, in: Löser Werner/ Sticher, Claudia (Hg.): Gottes Wort, 13. 69 Vgl. Hammann, Konrad: Rudolf Bultmann. Eine Biographie, Tübingen: Mohr Siebeck 2009, 231. 70 Hahn, Ferdinand: Heinrich Schlier – Rudolf Bultmann: Ein Vergleich, in: Löser/ Sticher: Gottes Wort, 62. 26 Maße Anteil nahm“71) – schreiben: „Getragen von einem weitgehenden theologischen Konsens, hatte sich das Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Bultmann und Schlier um 1926 zu einer freundschaftlichen Beziehung entwickelt“72, was auch dazu führte, dass Bultmann im November 1927 der kirchlichen Trauung zwischen Heinrich und Erna Schlier vorstand und 1930 Taufpate des ersten der vier Schlier-Kinder, Christoph Schlier, wurde.73 Das gute Übereinkommen der Familien Bultmann und Schlier zeigte sich unter anderem auch darin, dass die Bultmann-Töchter im Sommer 1929 einige Wochen im Pfarrhaus Casekirchen (Thüringen) bei Ehepaar Schlier untergebracht waren, damit sich Rudolf und Helene Bultmann einige der ohnehin spärlichen „Auszeiten“ zu zweit nehmen konnten.74 Heinrich Schlier hatte das Casekirchener Pfarramt von 1927 bis 1930 inne; während dieser Zeit legte er an der Universität Jena seine Habilitation mit dem Titel „Christus und die Kirche im Epheserbrief“ ab.75 Die private wie wissenschaftliche Verbindung Schliers zu Bultmann erlebte allerdings eine nicht unerhebliche Belastung durch den Übertritt Schliers zur Katholischen Kirche im Jahre 1953, worauf noch zurückzukommen sein wird. Zuvor aber soll ein holzschnittartiger Abriss der Theologie Rudolf Bultmanns geboten werden, der einen kleinen Einblick in die Denkwerkstatt des Marburger Neutestamentlers gewähren und dadurch den Positionen Schliers, die deutlich in Abgrenzung zum Bultmann’schen Programm stehen, schärfere Konturen - und damit bessere Verständlichkeit - verleihen soll.

3. Exkurs: Blitzlichter auf die Theologie Rudolf Bultmanns

Im Folgenden soll in knapper und vereinfachter Form eine Darstellung zweier wesentlicher Bultmann’schen Herangehensweisen an biblische - genauer: neutestamentliche - Texte gegeben und die durch diese Methodik aus der Bibel resultierende Bedeutung für den Menschen als Adressaten der Schrift angedeutet werden. Diesen Methoden liegt ein theologischer Unterbau zugrunde, der, wie jedes Denkgebäude, von bestimmten Vorannahmen und Einsichten bestimmt ist. Wenn in diesem Unterkapitel nun von „existentialer Interpretation“ beziehungsweise von „Entmythologisierung“ die Rede ist, muss zunächst darauf hingewiesen werden, dass sich beide nicht eigentlich trennen lassen und es daher in den nun anschließenden Ausführungen zu - notwendigen - inhaltlichen Überschneidungen kommen wird und muss. Als eine Art Vorspann lässt sich mit Eberhard

71 Bendemann, Schlier, 28. 72 Hammann, Bultmann, 232. 73 Vgl. ebd., 232. Zu Bultmanns Taufpatenschaft siehe Fußnote 539 auf selbiger Seite. Die weiteren Kinder der Familie Schlier sollen der Vollständigkeit halber ebenfalls genannt werden: Thomas (*1931), Barbara (*1933) und Veronika (*1936), vgl. Bendemann, Schlier, 29, Fußnote 21. 74 Vgl. ebd., 250. 75 Vgl. die biographische Zeittafel in: Schlier, Geist und die Kirche, 304. 27 Jüngel sagen: „Entmythologisierung war […] nur die negative Formulierung für das, was mit der Forderung einer existentialen Interpretation der neutestamentlichen Texte positiv intendiert war: eine den gegenwärtigen Menschen auf sich selbst ansprechende Auslegung der neutestamentlichen Botschaft von Gottes Heilstat in Jesus Christus.“76

3.1 Die sogenannte „existentiale Interpretation“ des Neuen Testaments

„Das Stichwort ‚existentiale Interpretation der biblischen Botschaft’ weist auf die von Bultmann intendierte Antwort auf die Infragestellung des Glaubens durch die moderne Wissenschaft hin“77 und meint, dass es keinerlei von Gott kommende Wahrheit ohne Bezug zum konkreten Dasein, zur je persönlichen existentiellen Situation des Menschen gäbe.78 Rudolf Bultmann versteht also, von Martin Heideggers Daseinsanalyse geprägt, unter „existentialer Interpretation“ eine, wie die Bezeichnung bereits erahnen lässt, „Methode zur Herausarbeitung des existentialen Sinns von Texten, speziell der biblischen Schriften“.79 Es geht Bultmann um die Frage nach der Existenz des Menschen, die „als bewußte oder unbewußte Gottesfrage ein Vorverständnis von Gott einschließt.“80 Die existentiale Interpretation (deren hermeneutischer Ansatz nach Andreas Lindemann in Bultmanns Kommentar zum Johannesevangelium „glänzend durchgeführt“ ist und der ebenjenem Kommentar damit „bleibenden Rang“ sicher stelle81) kann, so lässt sich zusammenfassend sagen, als eine Auslegungsweise der biblischen Schriften verstanden werden, welche die neutestamentliche Botschaft des Christusereignisses vom Menschen her versteht, beziehungsweise wieder zum Menschen hinführt, damit dieser sich und seine Existenz aus seiner konkreten Situation heraus befragen und letztlich (neu, anders und tiefer) verstehen lernt.

3.2 Das Programm der „Entmythologisierung“

Der Name Rudolf Bultmann erscheint heute unweigerlich mit dem Begriff der „Entmythologisierung“ verbunden, welcher von ebenjenem Exegeten zwar sein

76 Jüngel, Eberhard: Einleitung, in: Bultmann, Rudolf: Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung (BEvTh 96), München: Kaiser 1985, Nachdruck 1988, 7. 77 Schmithals, Bultmann, 388. 78 Vgl. ebd. 79 Evang, Martin: Existentiale Interpretation, in: LThK3 3, 1995, 1115. 80 Ebd., 1116. 81 Vgl. Lindemann, Andreas: Bultmann, Rudolf, in: RGG4 1, 1998, 1859. 28 unverwechselbares Gepräge erhalten, aber laut Graf Reventlow „keineswegs die Hauptsache in Bultmanns Theologie“82 dargestellt hat beziehungsweise darstellt. „Unter Entmythologisierung verstehe ich ein hermeneutisches Verfahren, das mythologische Aussagen bzw. Texte nach ihrem Wirklichkeitsgehalt befragt“83, so Bultmann in einem Text aus dem Jahre 1961, also genau zwanzig Jahre nach seinem großen Aufsatz mit dem Titel „Neues Testament und Mythologie“ (1941), in dem er die sogenannte „Entmythologisierungs“-These erstmals formulierte, welche allerdings zu diesem Zeitpunkt, also 1941, bereits eine gewisse theologische Entwicklung und somit eine längere Vorgeschichte aufweisen konnte. Dieser eigenen, oben zu Beginn dieses Unterkapitels wiedergegebenen Kurzdefinition fügt der Exeget ein Zweifaches hinzu: „Vorausgesetzt ist dabei, daß der Mythos zwar von einer Wirklichkeit redet, aber in einer nicht adäquaten Weise. Vorausgesetzt ist ebenso ein bestimmtes Verständnis von Wirklichkeit.“84 Da das Weltbild des Neuen Testaments ein mythisches sei, dessen einzelne Motive „sich leicht auf die zeitgeschichtliche Mythologie der jüdischen Apokalyptik und des gnostischen Erlösungsmythos zurückführen“85 ließen, könne der, wie Bultmann ihn nennt, „moderne Mensch“86 den biblischen Texten, eben weil jene von vielen für zeitgenössisches Denken oftmals unverständlichen Denktraditionen herkommen und von ihnen durchzogen, ja, geprägt sind, keinen wirklichen Sinn abgewinnen, geschweige denn, sie verstehen. Einige Bekanntheit erlangte in diesem Zusammenhang das folgende Zitat Bultmanns, indem er pointiert den Graben aufzuzeigen versuchte, der sich für den modernen Menschen im Spannungsfeld zwischen 1) der aktuellen alltäglichen, selbstverständlich erscheinenden Welt mit ihren technischen Errungenschaften und ihrem wissenschaftlichen Fortschritt und 2) dem Glaubenshorizont der biblischen Erzählungen auftut: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“87 Und Bultmann fügt hinzu: „Und wer meint, es für seine Person tun zu können,

82 Graf Reventlow, Henning: Die Botschaft des Neuen Testaments existential auslegen: Rudolf Bultmann, in: ders.: Epochen der Bibelauslegung. Band IV: Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, München: Beck 2001, 387. 83 Bultmann, Rudolf: Zum Problem der Entmythologisierung, in: Bartsch, Hans-Werner u.a. (Hg.): Kerygma und Mythos VI-1. Entmythologisierung und existentiale Interpretation, Hamburg-Bergstedt: Herbert Reich 1963, 20. 84 Ebd., 20. 85 Bultmann, Rudolf: Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, in: Bartsch, Hans-Werner (Hg.): Kerygma und Mythos. I: Ein theologisches Gespräch (Theologische Forschung 1/1948), Hamburg-Bergstedt: Reich und Heidrich 51967, 16. Im Folgenden wird mehrfach auf diesen - im wahrsten Sinne des Wortes - grundlegenden Aufsatz Bultmanns zur „Entmythologisierung“ einzugehen sein. 86 Ebd., 18. 87 Ebd. 29 muß sich klar machen, daß er, wenn er das für die Haltung christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht.“88 Die Aufgabe, vor die Rudolf Bultmann nicht nur sich selbst stellt, sondern die ob ihrer Schwierig- und Reichhaltigkeit eine ganze theologische Generation beschäftigen müsse89, kann nach dem Exegeten nicht ‚einfach’ darin bestehen, das Mythologische90 durch Auswahl oder durch Abstriche an Umfang zu vermindern und ihm so Herr zu werden91. Ebenso wenig kann es, laut Bultmann, darum gehen, mythologische Aussagen, Passagen, Einsichten und dergleichen einfach auszumerzen. Das Programm der Entmythologisierung lautet vielmehr: Mythologisches im biblischen Text nicht eliminieren, sondern interpretieren.92 In anderen Worten: Insofern „das Mythische seiner eigentlichen Intention nach ein bestimmtes Verständnis menschlicher Existenz zum Ausdruck bringe, stelle sich die Aufgabe, das neutestamentliche Kerygma zu entmythologisieren, positiv als Aufgabe seiner durchgängigen existentialen Interpretation“93 (vgl. das Jüngel-Zitat zu Beginn dieses Exkurses). Schließlich zeichnet Bultmann in seinem Text von 1941 auch Grundzüge dessen, was er nun unter dem Vollzug der „Entmythologisierung“ versteht, vor und nimmt dazu zwei große Themenbereiche, die sich im Neuen Testament als wesentlich und für den/die Christen/in darbieten, exemplarisch in Angriff: A) Das christliche Seinsverständnis94, welches er einerseits gewandt auf das menschliche Sein außerhalb des Glaubens und andererseits freilich auch im Glauben betrachtet und B) das Heilsgeschehen95, wobei er unter anderem speziell auf das Christusereignis eingeht. Diesen Punkt gliedert Bultmann wiederum in drei Unterpunkte, indem er sich a) vom Problem der Entmythologisierung des Christusereignisses zum b) Kreuz vortastet und schließlich c) bei der Auferstehung Christi ankommt.

88 Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 18. 89 Vgl. ebd., 26. 90 Allerspätestens an dieser Stelle muss vermerkt werden, was Bultmann unter dem bedeutungsreichen Begriff „Mythos“ versteht, mit dem er aus religionsgeschichtlicher Perspektive arbeitet, wie er selbst in seinem in diesem Abschnitt mehrmals zitierten Aufsatz „Neues Testament und Mythologie“ in Fußnote 2 auf Seite 22 angibt. Weiters führt Bultmann dazu aus, dass „vom Mythos also nicht in jenem modernen Sinne die Rede [ist], wonach er nichts weiter bedeutet als Ideologie“, sondern dass für ihn [Bultmann] jene Vorstellungsweise mythologisch ist, „in der das Unweltliche, Göttliche als Weltliches, Menschliches, das Jenseitige als Diesseitiges erscheint […]“ (Bultmann, Neues Testament und Mythos, 22). Eine Ergänzung zum eben Erwähnten, die Bultmann an anderer Stelle im gerade benannten Aufsatz vornimmt, sei noch gegeben: „Die mythologische Rede will im Grunde nichts anderes als eben die Bedeutsamkeit des historischen Ereignisses zum Ausdruck bringen“ (Bultmann, Neues Testament und Mythos, 43) – dies ist besonders bei Bultmanns Verständnis der Auferstehung Jesu von Bedeutung. 91 Vgl. ebd., 21. 92 Vgl. ebd., 24. 93 Evang, Martin: Entmythologisierung, in: LThK3 3, 1995, 683. 94 Vgl. Bultmann, Neues Testament, 27. 95 Vgl. ebd., 31. 30 Da nun das Christusgeschehen nach Bultmann’scher Diktion vom Neuen Testament als mythisches Geschehen präsentiert wird, kommt man auch und vor allem beim zentralen Ereignis, der Auferstehung Jesu, über welche die Schriften des Neuen Bundes berichten, nicht an der Entmythologisierung vorbei:96 Im Christusereignis sei „Historisches und Mythisches […] eigentümlich verschlungen“97, was Bultmann dahingehend erklärt, als mythische Aussagen, wie zum Beispiel die Jungfrauengeburt, die Bedeutsamkeit der Person Jesu für den Glauben aufzeigen und ausdrücken wollen98. Mit Kreuz und Auferstehung verhält es sich nach Ansicht des Exegeten ebenso: Die Auferstehung Jesu ist für Bultmann kein historisches Ereignis – zu dieser Einsicht war der Exeget bereits in seinem Hauptwerk zur Formgeschichte mit dem Titel „Die Geschichte der synoptischen Tradition“ aus dem Jahre 1921 (welches zehn Jahre später stark erweitert und des Öfteren nachgedruckt wurde99) gelangt.100 Heinrich Schlier hat sich im Laufe der Jahre theologisch deutlich von seinem Lehrer Rudolf Bultmann und (nicht nur) von dessen Entmythologisierungsthese abgesetzt, was nicht zuletzt Schliers Aufsatz „Das Neue Testament und der Mythus“ (1956) belegt, in dem der Exeget die Bultmann´sche These, das Weltbild des Neuen Testaments sei aufs Stärkste mythologisch durchformt, kritisch be- und hinterfragt, während er den Sachverhalt, dass es im Neuen Testament mythische Elemente gäbe, nicht bestreitet. Nach Schlier seien Letztere aber „in das geschichtliche Zeugnis des Urchristentums integriert“101 und hätten damit einen „ganz anderen Stellenwert“102, ja, die mythologische Sprache und die durch sie erzeugten Bilder seien sogar unerlässlich, um bestimmte christliche Inhalte überhaupt erst tradieren zu können. Schlier schließt daraus, dass es „keine ‚Entmythologisierung’ des NT geben“103 kann, denn „weder deren ältere Form, die Ausscheidung der angeblich rein mythologischen Aussagen, noch ihre moderne Form, die existentiale Interpretation des Mythus, werden auch nur dem Sachverhalt gerecht, daß im NT der Mythus im nun aufgewiesenen Sinn bereits entmythologisiert ist.“104 Die Schlier’sche Position zur Entmythologisierungsthese knapp zusammenfassend, lässt sich mit Ferdinand Hahn sagen, dass Schlier „Bultmanns Beurteilung des Mythos und die Forderung nach dessen Preisgabe strikt abgelehnt [hat], weil er gerade

96 Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 40. 97 Ebd., 41. 98 Vgl. ebd. 99 Vgl. Lindemann, Bultmann, 1859. 100 Vgl. Graf Reventlow, Botschaft, 389. 101 Löser/Sticher, Gottes Wort, 69. 102 Ebd. 103 Schlier, Heinrich: Das Neue Testament und der Mythus, in: Schlier, Heinrich: Besinnung, 95. 104 Ebd. 31 auch in der Sprache des Mythos einen notwendigen und legitimen Ausdruck der christlichen Botschaft sah, wenngleich diese der aktualisierenden Interpretation“105 bedürfe.

II. Rechenschaft nach der Entscheidung oder Warum Schlier katholisch wurde

„Ich bin jeden Tag froh, daß ich jetzt katholisch bin, und weiß eigentlich gar nicht, warum. Aber es ist so.“106 Diese Zeilen von Heinrich Schlier finden sich in einem Brief an einen seiner theologischen Weggefährten, Erik Peterson107, aus dem Jahre 1955, zwei Jahre nach Schliers großen Schritt, seiner Konversion zur Katholischen Kirche, die er am 25. Oktober 1953 während eines sechswöchigen Aufenthaltes in Rom (der sich über die Monate Oktober und November 1953 erstreckte), im Beisein Petersons108, der auch das Patenamt übernahm109, vollzog. Am 3. November desselben Jahres wurde der nunmehr katholische Exeget – ebenfalls in der Ewigen Stadt – durch den Bischof von Regensburg gefirmt.110 Die Freundschaft zwischen Schlier und Bultmann kühlte ob dieses Schrittes in die römisch-katholische Kirche, den Schlier gegenüber seinem Lehrer schon seit August 1947 zur Sprache gebracht111 und nun Letztgenanntem aus Rom per Postkarte mitgeteilt hatte - was von Bultmann als äußerst stillos empfunden worden war112 – stark ab. Der Marburger Gelehrte konnte die Gründe seines Schülers für diesen Schritt nicht anerkennen – auf welche Art und Weise Bultmann selbst aber auf den Übertritt Schliers reagierte, kann nicht mehr eindeutig festgestellt werden, da „gemäß einer testamentarischen Verfügung Schliers … alle an ihn gerichteten Briefe in seinem Nachlaß nach seinem Tod vernichtet“113 wurden.

1. „Verlangen nach dem ‚Katholischen’“ – Von Büchern, Begegnungen und Bekenntnissen

Was war nun die Motivation für Schliers Wendung zur und Eintritt in die katholische Kirche? Heinrich Schlier lässt im Jahre 1955, also zwei Jahre nach besagtem Übertritt in die Katholische Kirche, das Buch „Die Zeit der Kirche“ – seine erste (in den Jahren darauf

105 Löser/Sticher, Gottes Wort, 70. 106 Brief Schliers vom 4.6.1955 an Erik Peterson, zitiert nach: Bendemann, Reinhard von: Heinrich Schlier. Eine kritische Analyse seiner Interpretation paulinischer Theologie, Gütersloh: Kaiser 1995, 405, Fußnote 6. 107 Erik Peterson war bereits 23 Jahre zuvor, im Dezember 1930, zur katholischen Kirche übergetreten. Vgl. dazu Ervens, Thomas: Keine Theologie ohne Kirche. Eine kritische Auseinandersetzung mit Erik Peterson und Heinrich Schlier, Innsbruck: Tyrolia 2002, 16. 108 Vgl. ebd., 16; vgl. auch Bendemann, Schlier, 61. 109 Vgl. Bendemann, Schlier, 61. 110 Vgl. Schlier, Geist und die Kirche, Zeittafel, 305. 111 Vgl. Hammann, Bultmann, 487. 112 Vgl. ebd. 113 Ebd., Fußnote 70. 32 werden drei weitere folgen) Sammlung exegetischer Aufsätze unter dem Hauptaspekt herausgeben, die theologischen Beweggründe seine Konversion anschaulicher zu machen, wenngleich er dabei „freilich nicht indirekte biographische Dokumente der Vorbereitung dieser Entscheidung bekanntgeben“114 wollte und seine LeserInnen ermahnte, nicht im Blick auf ebenjene vermutbaren (aber eben von Schlier nicht intendierten) Details aus dem Leben des Exegeten am Wesentlichen der neu veröffentlichten Texte, an der sie auslegenden Sache, vorbeizugehen.115 Ebenfalls im Jahre 1955 legt Schlier in einem kleinen Aufsatz mit dem Titel „Kurze Rechenschaft“, welcher uns im Folgenden besonders beschäftigen wird, die Gründe seiner Entscheidung sehr persönlich dar116. Schlier beginnt seine Ausführungen dort, wo seine Wurzeln als – religiös geprägter und sozialisierter – Mensch liegen: In seiner Heimat. „Gewiß wirkte die schlichte Frömmigkeit meines Vaters, die von bayerischem Luthertum geprägt war, unbewußt auf mich ein“, schreibt Schlier und er fügt erläuternd hinzu: Diese Frömmigkeit „trug in manchem ‚katholische’ Züge.“117 Weiters nennt Schlier die Faszination der Marienkirche „Zur Schönen Unserer Lieben Frauen“ und die dort spürbare Atmosphäre des Ortes als zwei Konstitutiva, die ihn vor einem, wie er ausführt, „antikatholischen Affekt bewahrt“ hätten.118 Aber auch von ihn bewegenden Begegnungen spricht Schlier in seiner „Rechenschaft“. Wenn er auch keine Namen von Menschen nennen will, welche zum Zeitpunkt der Abfassung beziehungsweise der Veröffentlichung seines Aufsatzes noch leben (könnten)119, so greift er von „den Toten“120 doch zwei ihn besonders prägende Gestalten namentlich heraus: Zum einen Abt Angelus von Ettal, den Schlier, nicht ohne Überschwang, als „wahrhaften Boten des Herrn und echten Sohnes des heiligen Benedikt“121 bezeichnet und zum anderen den Jesuiten und „inoffiziellen“ Hauspatron des Bischöflichen Priesterseminars der Diözese Graz- Seckau, Pater Rupert Mayer122, welcher ins bayerische Benediktinerkloster Ettal – sozusagen

114 Schlier, Heinrich: Nachwort, in: Die Zeit der Kirche. Exegetische Aufsätze und Vorträge, Freiburg im Breisgau: Herder 51972, 308. 115 Vgl. ebd. 116 Darin findet allerdings die 1932 erfolgte Konversion von Paula Schlier, der Schwester Heinrich Schliers, keine gesonderte Erwähnung, obwohl Von Bendemann davon ausgeht, dass dieses Ereignis für Paulas Bruder Heinrich „sehr bedeutsam“ gewesen sei. Die Schlier-Geschwister standen in „stetem Kontakt“; durch Paula lernte Heinrich katholische Personen kennen. Vgl. Bendemann, Schlier, 62-63. 117 Schlier, Heinrich: Kurze Rechenschaft, in: Schlier, Heinrich: Der Geist und die Kirche. Exegetische Aufsätze und Vorträge IV. Herausgegeben von Veronika Kubina und Karl Lehmann, Freiburg im Breisgau: Herder 1980, 271. 118 Vgl. ebd. 119 Vgl. ebd., 272. 120 Ebd. 121 Schlier, Rechenschaft, 272. 122 Schlier gibt - gegen die dem Verfasser der vorliegenden Arbeit geläufige Schreibweise („Pater Rupert Mayer“) - in seiner „Rechenschaft“ den Namen des im Jahre 1987 von Papst Johannes Paul II. seliggesprochenen Ordenspriesters mit „Pater Rupert Maier“ wieder. Welche Schreibweise die ursprünglichere 33 – ‚verbannt’ wurde. Dies stellte einen Versuch der Nationalsozialisten dar, den Ordensmann mehr oder minder mundtot zu machen, für dessen Situation Schlier die Worte findet: „Wie ein gefangener Löwe kam er mir vor, der ungeduldig an den Gittern streicht. Wie wartet er Tag und Nacht auf die Freiheit zum Dienst!“123 Neben diesen Persönlichkeiten, welche Schlier als „Vorbilder“ charakterisiert, nennt er auch „katholische Schriften“, die sein Denken und Glauben zu formen verstanden und ihm den Weg zur katholischen Kirche erleichterten. Hier fallen unter anderem die Namen Georges Bernanos, Paul Claudel, aber auch – bezeichnenderweise – John Henry Newman und Erik Peterson, welche sich ebenfalls dem Katholizismus zugewandt hatten und denen es Heinrich Schlier mit seinem Übertritt in die katholische Kirche gleichtat. Seien es heimatliche Einflüsse, faszinierende Persönlichkeiten oder Schriften – all das hätte, so Schlier, „wahrlich längst nicht die Wirkung auf mich gehabt, wenn nicht meine Bereitschaft, ja, mein Verlangen nach dem ‚Katholischen’ durch bestimmte Erfahrungen, die ich im Zusammenhang mit meinem Pfarramt und im Kampf der ‚Bekennenden Kirche’ gemacht hatte, sehr bestärkt worden wäre.“124 Hier muss ein weiterer Sprung in die Lebensgeschichte Schliers, wie wir ihn oben mit der „Bultmannschen Graeca“ schon getan haben, erfolgen – ein Sprung, der uns ins Jahr 1935 führt und zunächst in landen lässt, einer Stadt, die für Schlier der „wichtigste Platz und Ausgangspunkt seiner Aktivitäten in der Bekennenden Kirche“125 war. Eben diese Zugehörigkeit zur Bekennenden Kirche hatte ihn zuvor den Ruf auf einen Lehrstuhl in der Theologie gekostet, und das sowohl in Marburg, als auch in Königsberg und in .126 Schlier hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er gegen das NS-Regime und gegen Tendenzen seitens kirchlicher Verantwortlicher, die sich mit Nationalsozialismus arrangieren wollten, stand. Schliers jüngste Tochter, Veronika Kubina-Schlier, bemerkte dazu in einem Interview: „Als Christ und politisch klar denkender Mann hat er – wie meine Mutter auch – die braune Bewegung von Anfang an richtig eingeschätzt und Widerstand geleistet dort, wo es möglich und sinnvoll erschien.“127 Dieser Widerstand Schliers schlug sich auch in

ist, kann und soll hier nicht behandelt werden. Dass es sich im Text Schliers jedenfalls um den seligen P. Rupert Mayer (oder eben Maier) handeln muss, lässt sich mit äußerst hoher Wahrscheinlichkeit dem Kontext, in dem der Name bei Schlier fällt, entnehmen, vgl. dazu Schlier, Rechenschaft, 272. Auch Werner Löser gibt in seinen Ausführungen zur „Rechenschaft“ Schliers den Namen des Seligen mit „Pater Rupert Mayer“ wieder, in: Löser, Werner: Im Spiegel der Zeit. Theologie als Zeugnis. Weg und Vermächtnis Heinrich Schliers, in: Geist und Leben. Zeitschrift für Aszese und Mystik 52 (1979), 61. 123 Schlier, Rechenschaft, 272. 124 Ebd., 273. 125 Löser, Werner: Heinrich Schlier, in: Löser/ Sticher, Gottes Wort, 13. 126 Vgl. ebd., 14. 127 Cappelletti, Lorenzo: Das Unbehaust-Sein in dieser Welt, in: 30 Tage in Kirche und Welt. Internationale Monatszeitschrift geleitet von Giulio Andreotti, 11 (2008). Dieser Artikel wurde in der vorliegenden Arbeit 34 Dokumenten nieder, die, wenn nicht aus seiner Feder stammend, so doch mit seiner Unterschrift versehen waren, wie etwa das in aller Deutlichkeit verfasste und sich ausdrückende „Gutachten zum Arierparagraphen in der Kirche“ von Hans Freiherr von Soden aus dem Jahre 1933128 oder die Erklärung „Neues Testament und Rassenfrage“ (ebenfalls 1933), die grundlegend auf Rudolf Bultmann zurückgeht, in dem Schlier noch in Marburger Zeiten neben oben erwähntem von Soden einen Mitstreiter im Kampf gegen das Regime fand.129 Im Herbst 1935 jedenfalls zog Schlier nach Wuppertal, wo ihm die Leitung der „Kirchlichen Hochschule“ übertragen wurde. Dieselbe wurde allerdings am 1. November 1935, an ihrem Gründungstag, wieder verboten, konnte aber schon kurz darauf als „Abteilung B“ der „Theologischen Schule“ Elberfeld „zwei Semester lang in einem angemieteten Logenhaus“130 ihren „Lehrbetrieb relativ unbehelligt vonstatten“ gehen lassen.131 Schlier wirkte in besagter „Abteilung B“ - welche dann am 14. Dezember 1936 von der Gestapo geschlossen wurde - als Dozent für neutestamentliche Exegese mit. Im Jahre 1936 gesellte sich Peter Brunner dazu, mit dem Schlier enge Freundschaft schließen sollte. In diesen Jahren ist auch, trotz der schwierigen Lage - unter anderem wurde im Jahre 1943 Schliers Wohnung und große Teile seiner Bibliothek bei einem Bombenangriff zerstört132 - Schliers Galaterbrief-Kommentar entstanden. All diese knappen biographischen Hinweise mögen genügen, um anzudeuten, dass Schliers „Lebensweg wie seine theologische Entwicklung […] entscheidend durch die Ideologie der Nazis wie durch die kirchenpolitischen Verhältnisse geprägt“133 wurden, wie Veronika Kubina-Schlier berichtet und damit einmal mehr einen charakterlichen Grundzug ihres Vaters - die Kunst des feinfühligen Abwägens von Sprechen und Schweigen – hervorstreicht; sie belegt dadurch einmal mehr, wie sehr die NS-Zeit Schlier ge- und betroffen (gemacht) hat: „Mein Vater hat nur selten über diese Jahre gesprochen; es war meine Mutter, die für uns Kinder die Geschichte lebendig erhielt.“134

anhand der Online-Ausgabe besagter Zeitschrift verwendet, zu finden unter http://www.30giorni.it/articoli_id_19947_l5.htm [abgerufen am 20. 6. 2012]. 128 Vgl. Bendemann, Schlier, 37. 129 Ebd. 130 Ebd., 45. 131 Ebd. 132 In einem Brief an Bultmann vom 3.8.1943 schreibt Schlier über diesen Vorfall: „In der Tat ist meine Bibliothek nur noch ein Fragment. Was erhalten ist, reicht nicht zur zusammenhängenden Arbeit aus […] Meine Manuskripte habe ich z.T. gerettet, ungeschickter Weise nur eine weiter zurückliegende Fassung des 3. Teiles des Gal [Galaterbrief, Anmerkung J.P.]. Die letzte lag auf meinem Schreibtisch. Ich hatte gerade drei Stunden vor dem Angriff noch daran gearbeitet.“ Zitiert nach: Bendemann, Schlier, 52, Fußnote 137. 133 Cappelletti, Unbehaust-Sein. 134 Cappelletti, Unbehaust-Sein. 35 In seiner „Kurzen Rechenschaft“ schreibt Schlier - um nach diesem wichtigen Umweg nun doch wieder den Faden des Themas dieses Unterkapitels, die Konversion Schliers, aufzunehmen - dass sich gerade unter der Herrschaft der Nationalsozialisten (mindestens) eines für die evangelischen Kirchen sichtlich abzeichnete: Dass nämlich ihre Bekenntnisschriften - also jene der evangelischen Kirchen (Mehrzahl) - nicht als „verbindliche dogmatische Grundlage der Kirche“135 (Einzahl!) galten, sondern im Gegenteil als „Konfessionalismus verschrien“136 wurden. Nur auf den Glauben, so hieß es, komme es an, was Schlier zur kritischen Feststellung führte, dass „das dogmatische Prinzip durch das charismatische ersetzt“137 worden sei. „Aber“, so bemerkt er erläuternd, „die persönliche Geistesgabe, hier des an der Schrift sich entzündenden persönlichen Glaubens, ruht auf dem Dogma, sie kann nicht an seine Stelle treten. Das Charisma ist wohl die Bewegung der Kirche, aber nicht ihr Fundament.“138 Die Vormachtstellung des Charismas wirkte sich von dort aus auch auf andere Fragen, wie etwa auf diejenige des Amtes, aus, und ließ auch das maßgebende Prinzip der evangelischen Kirche(n), den Kanon der Heiligen Schrift, davon nicht unbehelligt, indem ebenjener Kanon von manchen demontiert (um nicht zu sagen, zersetzt) und durch den „Kanon des Ereignisses“139 - des Ereignisses, welches durch Inspiration in Begegnung mit dem Wort der Schrift ermöglicht werde - substituiert würde. Deutlich lässt sich an diesen analytischen Darlegungen der inneren Kämpfe der evangelischen Kirche(n) zur NS-Zeit erkennen, wie Schlier selbst an dieser Situation gelitten haben muss. Von hier aus wird auch die Frage verständlich, welche Schlier, bevor er auf den wirklich gewichtigen Anstoß zu seinem großen Schritts zu sprechen kommt, stellt: „Wie sollten diese oder ähnliche Entwicklungen nicht immer dringender nach der Kirche ausschauen lassen, die bei allen Schäden und Trübungen im einzelnen nach wie vor die fundamentalen Prinzipien bewahrt hat und deshalb die Kirche Christi geblieben ist, die sich immer wieder erneuern kann?“140

2. Einsicht-Nahme: Durch das Neue Testament zur Kirche

„Es war …, wenn ich so sagen darf, ein echt protestantischer Weg, auf dem ich zur Kirche kam, ein Weg, der geradezu in den lutherischen Bekenntnisschriften vorgesehen, wenn natürlich auch nicht erwartet ist ... Was mich zur Kirche wies, war das Neue Testament, so

135 Schlier, Rechenschaft, 273. 136 Ebd. 137 Ebd. 138 Ebd., 273/274. 139 Ebd., 274. 140 Ebd. 36 wie es sich unbefangener historischer Auslegung darbot.“141 Da er im Rahmen der „Kurzen Rechenschaft“ keine erschöpfende Theologie des Neuen Testaments entwerfen und darlegen könne, wolle Schlier, „nur ein paar Einsichten andeuten“142, welche sich ihm durch die Erforschung und Betrachtung des Neuen Testaments anboten und ihn letztendlich „entscheidend auf den Weg zur Kirche drängten“143. Fünf solcher Einsichten legt Schlier im Folgenden seines „Rechenschaft“- Aufsatzes nieder und entfaltet diese: „Die erste, wenn ich sachlich ein wenig ordne, war diese: daß das Neue Testament selbst schon den für das Verständnis der Tradition im weiteren Sinn so grundlegenden Sachverhalt der Entfaltung der apostolischen Hinterlassenschaft kennt und darbietet“144. Es geht Schlier mit dieser ersten Einsicht darum, zu zeigen, dass die Weitergabe des Jesusereignisses, welche damit zur Jesusüberlieferung und zur notwendigen Entfaltung und neuen Erhellung des Jesusereignisses wird (dessen prominenteste Zeugnisse die Evangelien sind), nur als „Schriftauslegung des ‚Urwortes’ Jesu Christi durch den Heiligen Geist im Glauben der Kirche“145 verstanden werden kann. In diesem Sinne lässt sich für Schlier auch von „Selbstüberlieferung Christi“ sprechen, was ihn schließlich zwei Grundsätze des Neuen Testaments formulieren lässt: Zum Einen eben den Grundsatz der „wesentlich integren Überlieferung“, mit der Schlier die Gewähr der im Letzten irrtums- und fehlerlosen Weitergabe der Selbstüberlieferung Christi in der Kirche durch den Heiligen Geist meint, und zum Zweiten das johanneische „das Wort ist Fleisch geworden“ (Joh 1,14), welches für Schlier nichts weniger als „der Schlüssel zum Verständnis alles Christlichen überhaupt“146 ist und mit dem „eigentlich alles zum Verständnis der römisch-katholischen Kirche bereitgestellt“147 sei, da es die sinnlich-weltliche Dimension des Wortes Gottes, das sich in Jesus und (zeitlich) nach ihm und durch ihn in den Sakramenten, aber auch in der Institution und im Recht niedergelassen, dort neu „Fleisch geworden“ ist. Dies bedeutet, und damit befinden wir uns bereits bei der dritten Einsicht Schliers, dass Gott sich mit und in Christus für die Welt entschieden hat, und dass damit „die Folge seiner Entschiedenheit für uns … die [ist], daß das Vorläufige (der Welt) in seiner ganzen konkreten Vorläufigkeit Endgültiges in sich birgt“148. Weiters stellt Schlier fest, dass - Einsicht Nummer vier – „die Kirche vor dem

141 Schlier, Rechenschaft, 274/275. 142 Ebd., 275. 143 Ebd. 144 Ebd. 145 Ebd. 146 Ebd., 277. 147 Ebd. 148 Schlier, Rechenschaft, 278. 37 einzelnen Christen ist“149, wobei dieses „vor“ nach Schlier nicht zeitlich, sondern sachlich zu verstehen sei150. Aus dieser Einsicht folgert der Exeget, woran er zeit seines Lebens festhalten wird, nämlich „daß die Auslegung der Schrift von der Kirche getragen und letztlich normiert sein muß.“151 Als letzte und fünfte Einsicht nennt Schlier die sich ihm aus dem Neuen Testament erschlossen habende Einheit der Kirche, die sich zwar erst in der Zukunft als Erfüllung ereignen werde, die aber schon mit dem Kreuz begonnen habe und nach Schlier „darin begründet [sei], daß die Kirche nach dem Neuen Testament nichts anderes ist als die irdisch-himmlische Konkretion des alle Welt umfassenden Liebeswillens Gottes, jener alles wohlwollenden Einheitsbewegung seiner Liebe.“152 Am Ende seiner „Rechenschaft“ schreibt Schlier über ebenjene, oben kurz wiedergegebenen Einsichten, dass sie sich ihm zwar nicht als ein Gesamtes plötzlich vor ihn gestellt und so diese seine Lebensentscheidung von vorneherein unumgänglich gemacht hätten, sondern dass sie sich, wie er formuliert, „unter steter, neuer Erwägung des Neuen Testaments und unter dem Einfluß manchen Geschicks und mancher Begegnung allmählich als klare Gründe so auf[legten], daß es mir gegeben und geboten war, mich nach langem Zögern, aber dann doch entschlossen und froh in die Fremde aufzumachen, in der sich die Heimat ankündigte und, so Gott will, die Heimat immer mehr und einmal endgültig auftut.“153

III. Grenzgänger in Biographie und Werk oder Der heimatlose Heinrich Schlier

Wer denkt, wenn er die Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift (herausgegeben 1980) zur Hand nimmt, daran, dass Heinrich Schlier an ihrer Übertragung (zumindest, was das Neue Testament betrifft) ins Deutsche mitgewirkt hat? Sein Name findet sich neben dem von Joachim Gnilka, Anton Vögtle, Rudolf Schnackenburg und anderer prominenter Bibelwissenschafter, als Dreißigster der 39 Mitarbeiter im Abschnitt „Die Übersetzer des Neuen Testamentes“ im Anhang der oben genannten Bibelausgabe. Bekannter dürfte dagegen die Tatsache sein, dass Heinrich Schlier, gemeinsam mit , im Jahre 1958 die theologische Reihe „Quaestiones disputatae“ mitbegründet und herausgegeben hat.154 Ab 1968 fungierte Schlier außerdem zehn Jahre lang als Berater der deutschen

149 Ebd., 283. 150 Vgl. ebd. 151 Ebd., 285. 152 Ebd., 287. 153 Ebd., 289. 154 Die biographischen Eckdaten dieses Unterkapitels finden sich, falls nicht anders vermerkt, in: Schlier, Geist und die Kirche, 305f. 38 Bischofskonferenz und war als Mitglied der päpstlichen Bibelkommission aktiv – letztere Aufgabe legte er allerdings, nach zweijähriger Tätigkeit, aus Altersgründen zurück (1974). Nach der Wuppertaler Zeit wird Schlier, als Nachfolger Erik Petersons, am 1. November 1945 Ordentlicher Professor für Neues Testament und Geschichte der alten Kirche der Universität , deren Evangelisch-Theologischen Fakultät er im Sommersemester 1946 auch als Dekan (für die Dauer eines Jahres) vorsteht. Für Schliers akademisches Wirken155 lassen sich auch Österreichbezüge herstellen (in punkto Vortragstätigkeit sogar bis nach Graz, wie mir der derzeitige Generalvikar der Diözese Graz-Seckau, Dr. Heinrich Schnuderl, erzählt hat): So konnten etwa die Studierenden im Sommersemester 1966 bei Professor Schlier Vorlesungen an der Universität Innsbruck hören. Die wissenschaftlichen Leistungen Schliers wurden von österreichischer Seite auch mit zwei Ehrendoktoraten gewürdigt: Innsbruck verlieh dieses im Jahre 1970, Salzburg zwei Jahre darauf.

Futterneid? Kritische Stimmen auf beiden Seiten

All diese Hinweise belegen sehr anschaulich und greifbar das vielgestaltige und reichhaltige Wirken Schliers, das sich weit über den universitären Bereich erstreckte. Und doch blieb Schlier besonders nach seiner Konversion, was Leben und Werk betrifft, vor allem eines: Ein Grenzgänger, und zwar „mehr, als das gewöhnlich gesehen und gesagt wird, ein Grenzgänger zwischen Kirchen und ihren Theologien“156, ein „Wanderer zwischen den Welten“157, den „die in ihrer Welt Wohnenden und Bleibenden außer acht“158 ließen und gelassen haben, was nicht zuletzt an seinem Denken und seiner wissenschaftlichen Sprache, welche, wie schon erwähnt, starke Formung und Prägung durch die heideggersche Philosophie und die bultmannsche Theologie aufwiesen, gelegen haben dürfte. Werner Löser fasst die Problematik der Situation treffend zusammen, wenn er schreibt: Für „die Dogmatiker ist Schlier allzu sehr doch nur ein Exeget und für die Exegeten ist er doch allzu sehr nur ein Dogmatiker.“159 All dies dürfte Heinrich Schlier durchaus als Heimatlosigkeit empfunden haben: Zunächst der sich immer mehr innerlich anbahnende Abschied von seiner – wenn man so will – „ersten“ Heimat, der evangelischen Kirche, und sein – dann im Letzten auch äußerliches – Eintreten in die, von ihm als neue Heimat angedeutete, römisch-katholische Kirche, wie die Aussage Schliers am Ende der „Rechenschaft“160 ausgelegt werden kann. Schliers Tochter Veronika

155 Vgl. ebd. 156 Löser/ Sticher: Gottes Wort, 17. 157 Ebd., 18. 158 Ebd. 159 Ebd. 160 Schlier, Rechenschaft, 289. 39 Kubina-Schlier meint zu diesem vom Sinn her uneindeutig gebliebenen Satz ihres Vaters: „Ich denke, er [der Satz, Anmerkung J.P.] entsprang einem tiefen Gefühl des Unbehaust-Seins in dieser Welt; einem Lebensgefühl, das aus mancherlei Quellen gespeist wurde. Ausgegrenzt haben ihn zuweilen Neid und Missgunst seiner katholischen Kollegen“161, und sie führt als Beispiel an: Als „seine Berufung nach München anstand – wenn ich mich recht erinnere, war der Lehrstuhl von Romano Guardini vakant –, verhinderte ‚man’ sie gezielt, indem man einen alten Paragraphen ausgrub, der einem Laien das Lehren auf einem katholischen Lehrstuhl untersagte. Dieses Zeugnis massiver Missgunst, ich könnte auch sagen: des ‚Futterneides’, verletzte meinen Vater tief, auch wenn er vornehm darüber schwieg! Er hatte gelernt, sich von äußerem Erfolg unabhängig zu machen und die Erfüllung seines Lebens nicht in Kategorien der Ehre zu suchen.“162 Wenn Heinrich Schlier auch, wie Thomas Ervens schreibt, bis zu seinem Tod „vor allem in katholischen Kreisen hohes Ansehen“163 genoss, so ist doch, nach der Beobachtung Werner Lösers, „Schliers exegetisches und theologisches Werk weitgehend unbeachtet geblieben und im Ausland bis heute überhaupt unbekannt“164, wie Löser im Jahre 2003 - 25 Jahre nach dem Tod Schliers - zu Papier bringt. „Die Reaktionen des Umfeldes [auf Schliers Konversion, Anmerkung J.P.] fielen erwartungsgemäß unterschiedlich aus: sie reichten vom unverhohlenen Jubel (auf katholischer Seite) über verständnisvoll-freundschaftliche Zustimmung bis zu Unverständnis und versteckt-bösartigen Anfeindungen“165, weiß Kubina- Schlier zu berichten, und fügt hinzu, dass „zahlreiche Freunde und Mitarbeiter aus schwierigen Jahren … meinem Vater weiterhin treu verbunden [blieben], unter Umständen trotz erheblicher sachlicher Differenzen. Ich nenne nur einige Namen: Ernst Bizer, Helmut Gollwitzer, Hans-Georg Gadamer, Günther Bornkamm und Peter Brunner.“166 Das Gros dessen, was über Schliers Theologie geschrieben worden sei, „wurde von dessen Konversion hervorgerufen und von ihrer Wirkung geprägt“167, was „vor allem für die Äußerungen von protestantischer Seite“168 gelte, wie Alfred Schneider, freilich im Jahre 1981 - drei Jahre nach dem Tod Schliers –, zumindest andeutungsweise argumentativ abzusichern sucht. Dabei sieht Schneider Vieles in von protestantischer Seite vorgebrachten Vorwürfen als „in der Tat gegen

161 Cappelletti, Unbehaust-Sein. 162 Ebd. 163 Ervens, Keine Theologie, 16. 164 Löser/Sticher, Gottes Wort, 19. 165 Cappelletti, Unbehaust-Sein. 166 Ebd. 167 Schneider, Alfred: Wort Gottes und Kirche im theologischen Denken von Heinrich Schlier, Frankfurt am Main: Lang 1981, 35. 168 Ebd. 40 die Grundzüge des katholischen Denkens überhaupt“169 gerichtet. Schneider kann dies am Inhalt jener Schriften Schliers erkennen, auf welche etliche protestantische Kritiker Schliers rekurrieren und zeichnet drei Stränge der Kontroverse um Heinrich Schlier und dessen Opus nach: Erstens „die Lehre Schliers über das Verhältnis vom [sic!] Kerygma und Dogma, zweitens, seine vom Epheserbrief inspirierte Ekklesiologie und drittens, sein Denken als Ganzes unter dem besonderen Gesichtspunkt seiner Konversion.“170 Auf diese - ohne Zweifel höchst spannenden - Auseinandersetzungen mit dem Werk Schliers kann hier nicht eingegangen werden. Erwähnt sei an dieser Stelle allein der Artikel von Walter Fürst, welcher auf die Anfragen Schliers an die protestantische Theologie (im Nachwort Schliers zu „Die Zeit der Kirche“) Antworten zu geben versucht und zuerst – interessanterweise – die Bedeutung Schliers für die Theologie sowie die Bedeutsamkeit des Schrittes Schliers zur katholischen Kirche herausstellt, wenn er schreibt, dass man sich entschließen müsse „die Bedeutsamkeit der Konversion Schliers für die evangelische Theologie wahrzuhaben … Denn statt des üblichen Kopfschüttelns nur über den Apostaten war die Überprüfung der eigenen Grundlagen fällig, an denen kaum eine Konversion so energisch, so bedrohlich bisher gerüttelt hatte.“171

IV. Gottes Augenblick am Lebensende oder Das Vermächtnis Schliers

Was bleibt, ist man geneigt zu fragen, von einem so reichhaltigen und vielfältigen Theologenleben? Zunächst ist die Vielzahl an Texten zu erwähnen, die zum Schlier’schen Opus gehören und die von den großen Kommentaren über Aufsätze, Vorlesungsskripten, Lexikonartikel, aber auch Predigten und anderen geistlichen Schriften reichen, die allesamt „in Gehalt und Gestalt […] von hoher Qualität“172, aber dennoch bis heute größtenteils unbeachtet geblieben sind.173 Auch hat Schlier im ökumenischen Gespräch der vergangenen Jahre wenig an Aufmerksamkeit erhalten. Und das, obwohl er in zwei ökumenischen Gremien mitgearbeitet hat – man denke etwa an seine Tätigkeit als Übersetzer (siehe oben) des Neuen Testaments

169 Ebd., 36. 170 Ebd. 171 Fürst, Walter: Ist das Neue Testament doch katholisch? Zu den Anfragen Heinrich Schliers, in: Wolf, Ernst (Hg): Verkündigung und Forschung. Theologischer Jahresbericht 1958/59, München 1960/62, 58. 172 Löser/Sticher: Gottes Wort, 16. 173 Die zum Zeitpunkt der Abfassung der vorliegenden Arbeit jüngsten größeren theologischen Abhandlungen wurden beide im Jahre 2002 im Fachbereich Dogmatik als überarbeitete Dissertationen veröffentlicht: Ervens, Keine Theologie, der wiederum auf folgendes Werk Bezug nimmt: Bubel, Grzegorz: Die Sache zur Sprache bringen. Das Christusereignis in der Schriftauslegung Heinrich Schliers (FTS 63), Frankfurt am Main: Josef Knecht 2002. 41 aufgrund der 1980 erschienenen Einheitsübersetzung sowie an seine Mitgliedschaft im Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen, dem sogenannten „Jäger-Stählin-Kreis“, welchem Schlier ab 1946 (also noch als protestantischer Theologe) angehörte.174 Viele Fragen, die (nicht nur für die ökumenische Diskussion interessant sind und) durch die Werke und die Methodik Schliers auf die Tagesordnung gesetzt wurden, sind noch unbeantwortet; einige von ihnen werden wir in den kommenden Kapiteln dieser Arbeit (zumindest) streifen. Bevor der Fokus nach dem eher ungewöhnlichen Blick auf die Biographie Schliers im Folgenden zunächst auf dessen Verständnis von Schrift und deren Auslegung gelegt wird, soll noch ein kurzer Text, der vermutlich von Schlier selbst stammt und auf dem Totengedenken des Exegeten, der am 26. Dezember 1978 in Bonn verstorben ist, abgedruckt wurde, wiedergegeben werden. Das Gedicht trägt den Titel „Was ich bin“175:

Ich bin nicht ein Gläubiger, aber ich möchte es sein, damit die liebliche, fruchtbare Wahrheit sich öffne.

Ich bin nicht ein Priester, aber ich trage Leid um vieles, ich trage viele – im Leid.

Ich bin nicht ein Heiliger, aber ich möchte es sein. Wenn nur das Kreuz nicht wäre! Doch wo ist Heiligkeit, wenn nicht in ihm?

Was bin ich? Gott sieht mich. Ich bin sein Augenblick.

174 Vgl. Löser/Sticher: Gottes Wort, 125. 175 Löser, Spiegel der Zeit, 60. 42 Zweites Kapitel

Schrift und Schriftauslegung bei Heinrich Schlier

Das folgende Kapitel geht, bevor sich der Fokus auf Schliers Auslegung der Schrift legt, der Frage nach, was Heinrich Schlier unter „Schrift“ verstanden hat. Es soll zunächst gezeigt werden, dass „die Schrift“ für Schlier „Heilige Schrift“ ist. Diese Deutekategorie ist der Rahmen und der Schlüssel zu seiner Exegese. Die Bibel als Heilige Schrift zu verstehen, bedeutet, selbiger zuzugestehen, dass in ihr Göttliches und somit Verehrungswürdiges, ja, das Wort Gottes selbst, aufbewahrt wird. Das Wort Gottes sagt sich im Menschenwort der Schrift aus – auf diese Weise wird Gott dem Menschen gegenwärtig.176 Daher soll im Anschluss an die Ausführungen zur „Heiligen Schrift“ die „Wort Gottes“- Thematik bei Schlier folgen, bevor wir noch einen kurzen Blick auf die Sichtweise unseres in dieser Arbeit behandelten Exegeten auf das Phänomen des Evangeliums werfen.

I. Zu Schliers Verständnis der „Schrift“

1. „Die Schrift“ als „Heilige Schrift“ in der Geschichte

Bereits der Titel des Aufsatzes „Was heißt Auslegung der Heiligen Schrift?“ gibt die Richtung für das Verständnis der von Schlier Zeit seines Lebens exegetisch bearbeiteten Texte vor: „Schrift“ meint für Schlier die „Heilige Schrift“, einen Text(komplex) also, der (um es möglichst objektiv zu umschreiben) – zumindest – an Heiliges rührt beziehungsweise von einer Glaubensgemeinschaft als heilig anerkannt wird. Die Heiligkeit der Schrift, zu der sich Schlier im christlichen Glauben bekennt, prägt sein methodisches Vorgehen und seine Motivation in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Bibel, mit ebenjener, wie er sie nennt, Heiligen Schrift, die „wie sie selbst erkennen läßt, ein im weitesten Sinn geschichtliches Zeugnis geschichtlicher Vorgänge, in denen sich Gott in der geschichtlichen Welt offenbart“177, darstellt. Diese von Schlier dreimal aufgeführte Geschichtlichkeit betrifft zunächst die bezeugten Ereignisse, die selbst geschichtlich sind, also an einem bestimmten Zeitpunkt geschehen und per se (bei allen Bedingungen der Möglichkeit, wie etwa einer geeigneten Quellenlage und –fülle, um nur eine Gegebenheit anzudeuten) historisch nachweisbar sein müssen, aber eben auch das Zeugnis der Ereignisse, welches, als

176 Vgl. Schlier, Heinrich: Grundzüge einer neutestamentlichen Theologie des Wortes Gottes, in: Ders.: Das Ende der Zeit. Exegetische Aufsätze und Vorträge III, Freiburg im Breisgau: Herder 21971, 21. 177 Schlier, Heinrich: Was heißt Auslegung der Heiligen Schrift?, in: Ders.: Besinnung auf das Neue Testament. Exegetische Aufsätze und Vorträge II, Freiburg im Breisgau: Herder 1964, 35. 43 geschichtliches Zeugnis, zu einer bestimmten Zeit mit den damals zu Gebote stehenden sprachlichen Mitteln ausgedrückt wurde und daher heute größtenteils fern und fremd erscheinen muss. Und auch die Welt, in der sich sowohl Ereignis als auch Bezeugung geschichtlich abspielen, ist notwendigerweise geschichtlich, da sonst Tat und die sie verlautende worthafte (um ein Schlier´sches Sprachbild zu verwenden) Weitergabe ihren Grund verlieren würden. Schlier sichert also, wie wir sahen, an drei Stellen seine Annäherung an den Begriff „Heilige Schrift“ gegen das Verständnis des in der Schrift Bezeugten als Mythos ab: Nicht um ein zeitloses, allgemeingültiges und damit immer und zugleich niemals geschehenes (Gründungs-)Ereignis handelt es sich, sondern um das Wort Gottes, welches sich in der menschlichen Geschichte ein für alle Mal niedergelassen (was durchaus im doppelten Sinne verstanden werden kann) und ausgebreitet hat. Der Begriff, in dem diese geschichtliche Wahrheit ihren Niederschlag findet und der laut Schlier grundlegend ist „für alle Rede vom Wort Gottes für das Neue Testament“178 heißt „Inkarnation“179. Nur wenn Gott sein ewiges Wort in die Begrenztheiten menschlicher Geschichte hineinsagt, ist wirklich Inkarnation, Menschwerdung des Wortes Gottes, des Logos, geschehen. Somit ist klar: „Der Glaube hat durchgängig eine geschichtliche Dimension.“180 Damit könnte man „Schrift“ im Sinne Heinrich Schliers zunächst als Versprachlichung von als heilig (weil von Gott kommendem) in der menschlichen Geschichte Erkanntem und Erlebtem umschreiben, ja, sie als „Heilige Schrift“ ausweisen, die „nicht totes Dokument, sondern lebendiges Zeugnis über die Geschichte und in ihr [ist]. Dabei handelt es sich konkret um die Geschichte Jesu Christi.“181

2. Wort Gottes: Das Wort, das Gott durch Menschen spricht

Im Jahre 1981 wurde im Rahmen der Europäischen Hochschulschriften die Dissertation von Alfred Schneider mit dem Titel „Wort Gottes und Kirche im theologischen Denken von Heinrich Schlier“ veröffentlicht.182 Schneider legt damit eine äußerst gründliche Studie über das Wort Gottes im Werk Schliers vor, weshalb im Folgenden des Öfteren auf diese Forschungsarbeit Bezug genommen wird. Schneider folgt den Auslegungen Schliers über das Wort und ordnet diese heilsgeschichtlich an, beginnend beim „Schöpferwort“ (Schneider, zweites Kapitel) über das „Bundeswort“ des Volkes Israel (drittes Kapitel) bis hin zum Wort

178 Schlier, Grundzüge, 16. 179 Ebd., 16. 180 Körner, Bibel, 162. 181 Ervens, Keine Theologie, 122. 182 Schneider, Alfred: Wort Gottes und Kirche im theologischen Denken von Heinrich Schlier, Frankfurt am Main: Lang 1981. 44 Gottes schlechthin, Jesus Christus (viertes Kapitel), welches sich im apostolischen Evangelium je neu ereignet, da der Heilige Geist das Erkennen des Wortes Gottes in den Worten der Schrift und der Überlieferung möglich macht (sechstes Kapitel); Letzteres vollzieht sich - und muss sich vollziehen - im „Raum des Wortes Gottes“, der Kirche183: Nur in ihr, durch den Geist, kann das Wort wirklich seine ihm innewohnende Fülle entfalten und, in Treue zum Ursprung, der in Gott liegt, von ihr authentisch weitergegeben werden.

Das Wort Gottes erscheint in Doxa

Den Ausführungen zum Wort Gottes stellt Schneider allerdings die Frage voraus, wie das Wort Gottes in der Welt erscheint und er rekurriert damit auf die Antwort, die Heinrich Schlier in einem Aufsatz gibt: Das „Wesen der Erscheinung Gottes“184 – und somit des Wortes Gottes, welcher sich selbst im Wort dem Menschen mitteilt – ist „Doxa“185. Diesen Begriff hat Schlier im Corpus Paulinum eingehend untersucht, da dieser seiner Meinung nach für Paulus eine gewichtige Rolle spielt.186 ‚Doxa‘ lässt sich „am besten mit Machtglanz übersetzen“187. Das Wort Gottes erscheint in der Geschichte mit Herrlichkeit, mit Macht. Es „erweckt endlich von seiten des Geschöpfes und Israels die antwortende Aussage auf ihr Wesen“188 – gemeint ist das Wesen der Doxa als Machtglanz des Erscheinen Gottes im Wort - und diese Antwort besteht laut Schlier im „Ehren, Rühmen und Lobpreisen“189. Gott teilt sich selbst dem Menschen mit, und das inmitten der Geschichte, auf vielfältige Weise, in Glanz und Macht, im Wort. Damit berühren wir einen „Grundgedanke[n] der Theologie H. Schliers“190, nämlich den, „daß jede Aussage Gottes eine Selbstaussage ist, die Aussage seines Wesens.“191

Jesus Christus, „das zentrale Wort Gottes“

Noch einmal: „Die Grundlage für alle Rede vom Wort Gottes ist für das NT der Sachverhalt, daß Gott selbst in seinem ewigen Wort ‚Fleisch’ geworden ist“192, ja, in „Jesu Person und

183 Vgl. das Inhaltsverzeichnis in: Schneider, Alfred: Wort Gottes und Kirche im theologischen Denken von Heinrich Schlier, Frankfurt am Main: Lang 1981. 184 Schlier, Heinrich: Doxa bei Paulus als heilsgeschichtlicher Begriff, in: Schlier, Heinrich: Besinnung auf das Neue Testament. Exegetische Aufsätze und Vorträge II, Freiburg im Breisgau: Herder 1964, 309. 185 Vgl. ebd., 309. 186 Vgl. ebd., 308. 187 Ebd., 309. 188 Ebd. 189 Ebd. 190 Schneider, Wort Gottes, 119. 191 Ebd. 192 Schlier, Grundzüge, 16. 45 Geschichte hat sich Gott endgültig ausgesprochen“193, in „ihm sprach er sich zuletzt aus.“194 Gottes Wort ist Jesus Christus selbst, beziehungsweise das „Heilsereignis Jesus Christus in Judäa“195. So darf man Jesus Christus mit Schlier als „das zentrale Wort Gottes“196 betrachten, in dessen Licht erst „die Schöpfung und der Bund als wahrhaftige Aussagen Gottes“197 erscheinen. Hier kehren zwei Motive wieder, die uns bereits im vorangegangenen Kapitel begegnet sind: Die Inkarnation, also die Mensch- beziehungsweise (wortgetreuer) ‚Fleisch‘-Werdung Christi, und die Entschiedenheit Gottes für diese Welt. Schlier bezeichnet beide in seiner „Kurzen Rechenschaft“ als „Grundsätze“ des Neuen Testaments, wobei ihm besonders der erste – dass das „Wort Fleisch geworden“ ist (Joh 1,14) – als „Schlüssel zum Verständnis alles Christlichen überhaupt“198 gilt. Mit der Inkarnation kommt abermals die Geschichtlichkeit des Christusereignisses – im wahrsten Sinne des Wortes – zu Wort, oder besser: als Wort Gottes zur Sprache, und das im zerbrechlichen Gefäß menschlicher Sprache.

Gotteswort und Menschenwort

„Das Wort Gottes [ist] immer Gottes Wort in Menschenwort und Menschenwort als Gottes Wort, ist es im geschichtlichen Wort Gottes Wort“199, kann Schlier, Bezug nehmend auf Lk 10,16 („Wer euch hört, hört mich“), sagen und somit bereits die Linien in Richtung apostolische Verkündigung und Evangelium ausziehen. Gerade weil sich aber Gottes Wort in menschlichen Worten niederschlägt und sich somit der Zwei- und/oder Mehrdeutigkeit menschlicher Sprache aussetzt, besteht auch die Gefahr, das Gotteswort mit dem beziehungsweise im und durch das Menschenwort zu zer-reden oder sich zu ver-sprechen.200 Das Gotteswort gibt sich so in die Brüchigkeit und ins zu Fragment und Missverständnis neigende System menschlicher Worte und Grammatik hinein, welches seine authentische Weitergabe erschweren und damit dessen Sinn, der sich im wesentlichen Aussagen Gottes ausdrückt, gefährden könnte. Es geht damit aber auch notgedrungen ein in die jeweils vorherrschende Denkwelt, in die konkrete Situation des/der Menschen und in den je aktuellen Verstehenshorizont. Um mit Schlier zu sprechen: „Gottes Wort, das im Menschenwort vorkommt, teilt im allgemeinen Struktur und Geschick des

193 Schlier, Grundzüge, 16. 194 Schlier, Auslegung, 42. 195 Ebd., 16. 196 Schneider, Wort Gottes, 119. 197 Ebd. 198 Schlier, Kurze Rechenschaft, 277. 199 Schlier, Grundzüge, 19. 200 Vgl. Schlier, Heinrich: Gotteswort und Menschenwort, in: Schlier, Heinrich: Das Ende der Zeit. Exegetische Aufsätze und Vorträge III, Freiburg im Breisgau: Herder 21971, 28. 46 Menschenwortes.“201 Kann aber angesichts dieser für das Gotteswort prekären Lage davon ausgegangen werden, dass ebenjene Selbsterschließung Gottes wirklich unverfälscht beim Menschen ankommt? Mit dieser Frage wird sich der anschließende Unterpunkt, der vom Verhältnis Wort Gottes – Evangelium handelt, beschäftigen. Zuvor sollen noch in knapper Weise sieben Punkte angeführt werden, welche Schlier in seinem im Jahre 1971 erstmals erschienenen Aufsatz „Gotteswort und Menschenwort“ genannt hat und die die Eigenart des Wortes Gottes herausstellen sollen:

1. Das Menschenwort als Gotteswort kommt immer vom Ereignis Jesu her und verweist auf dieses. Gottes Wort „kommt immer von draußen“202, da es sich der Mensch nicht selbst sagen kann. Um diese Schlier’sche Feststellung mit einem Bild zu veranschaulichen: Ein Geliebter ist immer darauf angewiesen, dass ihm die Geliebte ihre Liebe zuspricht und umgekehrt – er kann sich diese Liebe der Geliebten nicht selbst zu-sagen, auch wenn er sich ihrer gewiss ist. Wie die Liebe zwischen zwei Menschen, so lebt auch die Gottesliebe immer vom gegenseitigen „Ich liebe dich“. 2. Das Wort Gottes ist von seinem Ursprung her ein öffentliches Wort. Nicht in die Verborgenheit hinein ist es gesprochen oder gar für diese bestimmt, sondern es möchte den Menschen – und damit alle Menschen – erreichen. 3. „Das Wort Gottes im Menschenwort ist immer auch ein Wort der Sendung“203, es soll also weitergetragen werden, was durch die Apostel, aber letztlich durch die Kirche als Gesamte geschieht. 4. Das Wort Gottes hat als Wort der Sendung ‚prinzipiell’ autoritativen Charakter durch den Gesandten/die Gesandte, der/die transparent wird für den ihn/sie Sendenden, für Christus. 5. Das Wort Gottes im Menschenmund ist aber auch Zeugnis.204 Das bedeutet a) dass das Wort Gottes als Zeugnis vor der Öffentlichkeit abgelegt wird (siehe hier Punkt 2), b) dass dieses Zeugnis ‚existentielles Zeugnis‘ ist, das heißt mit dem ganzen Leben des es Bezeugenden abgelegt wird, c) dass es als ‚geschichtliches Wort‘ sich nur dem erschließt, „der sich darauf einlässt“205, d) dass es, wenn es Zeugnis ist, von seinem Wesen her Stellungnahme, Antwort fordert (diese kann, zum Beispiel, auch Gebet sein), e) dass es ein kritisches Wort ist, welches zur Entscheidung herausfordert und

201 Schlier, Gotteswort, 29. 202 Ebd., 31. 203 Ebd., 30. 204 Vgl. ebd., 32. 205 Ebd., 33. 47 gängige Muster hinterfragt, ja, am Wort Gottes misst und so mitunter auch den Weg zum Martyrium Grund legen kann. 6. Das Wort Gottes im Menschenwort ist eine unverdiente Gabe und drückt „das Zutrauen Gottes zu uns“206 aus. Niemand kann sich dieses Wort selbst ‚nehmen’, sich selbst sagen. 7. Letztendlich ist das Wort Gottes im Menschenwort ein Wort, das Gemeinschaft schafft und „primär Akklamation und Doxologie“207 ist, also auf Liturgie verweist und in selbiger ‚ihren‘ Ort sieht.

Schlier gesteht nach der Ausführung seiner (von mir oben nur kurz und zum größten Teil in eigenen Worten wieder gegebenen) sieben Punkte, dass es „noch eine Reihe anderer Züge, die die Eigenart des Wortes Gottes in Menschenmund kennzeichnen“208, gäbe. Wichtig scheint hier abschließend noch die Aussage Schliers, dass sich das Wort Gottes im Menschenwort von jedem anderen Wort „auch hinsichtlich dessen … was es bewirkt und ergibt“209 unterscheidet.

3. Das Evangelium – Wort Gottes und kerygmatische Existenz

„Weil aber das Wort Gottes das Wort ist, das Gott sagt, und das Wort des Herrn das, welches der Herr sagt, weil es sich in beiden um das eine Wort handelt, das Gott durch Christus sagt, kann dieses Wort“, so Schlier, „‚das Wort’ oder ‚das Evangelium’ schlechthin heißen.“210 Dieses Evangelium aber ist, obwohl es ein echt menschliches Wort ist, nicht allein menschliches Wort211, sondern geht darüber hinaus, sodass sich eine eigene, analogielose literarische Gattung – eben das Evangelium – herausbildet, welche im Christusgeschehen wurzelt212 und eben dieses - welches ja, wie jede Mitteilung Gottes, immer Selbstmitteilung Gottes ist und somit ebenfalls als Wort Gottes bezeichnet werden muss - aufbewahrt. Im Evangelium ist also, nach Schlier, Jesus Christus selbst, der ja das eigentliche Wort Gottes ist, enthalten und zugänglich213, und das in den verschiedensten Arten: Das „Evangelium ist von

206 Schlier, Gotteswort, 33. 207 Ebd., 34. 208 Ebd., 33. 209 Ebd., 36. 210 Schlier, Heinrich: Wort Gottes. Eine neutestamentliche Besinnung, Würzburg: Werkbund-Verlag 21962, 11. ‚Evangelium’ ist an dieser Stelle als allgemeiner Begriff zu verstehen. 211 Vgl. Schneider, Wort Gottes, 194. 212 Vgl. Schlier, Gotteswort, 27. 213 Vgl. dazu Schlier, Wort Gottes, 37: „In der Verkündigung des Evangeliums setzt sich gewissermaßen das Geschehen des Ursprungs in dem Sinn fort, dass der Jesus Christus, der sich in das Evangelium offenbarte, durch das Evangelium offenkundig wird.“ 48 Anfang an nicht nur das mündliche Wort der Apostel, sondern auch das schriftliche, nicht nur das spontane, sondern auch das mündlich oder schriftlich geformte, nicht nur die viva vox, sondern auch die Tradition, das Wort, das in die Überlieferung eingegangen und dort verwahrt ist.“214 Schlier kann also den Begriff Evangelium sehr weit verstehen und darlegen. Das wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass er, wie oben ersichtlich, auch die Tradition in den Definitionsbereich des Wortes Evangelium einordnet. Was im Evangelium geschieht, lässt sich mit Schlier knapp zusammenfassen: Das „Offenkundigwerden Jesu Christi, seiner Heilstat und Heilsperson, der durch ihn eröffneten Heilssituation und des durch ihn erhobenen Heilsanspruches.“215 Dieses Sicht- und Hörbarwerden des Wortes, das Jesus Christus selbst ist, ereignet sich in einer bestimmten Form, nämlich „im Modus des apostolischen Wortes, das Aussage, Ansage, Zeugnis und Lehre ist.“216 Damit steht eine ganz wesentliche Frage neu im Raum, die bis hier noch nicht explizit bedacht worden ist: Ob und wie das Wort Gottes, das sich im Evangelium niederschlägt und als solches Ausdruck findet, weitergeht. Schlier kann, gemäß seinem ihm erwachsenen Verständnis des Neuen Testaments und seiner Hermeneutik, darauf lapidar sagen: „Die Antwort, die unsere Texte [also ebenjene des Neuen Testaments, Anmerkung J.P.] auf diese Frage erteilen, ist: Das Wort, das das Heil in Christus Jesus erschließt, Gottes Wort in Menschenmund, geht in der Kirche weiter.“217 Und er fügt hinzu, dass „eine Reihe von direkten oder indirekten Aussagen erkennen [lassen], daß das Wort Gottes oder das Evangelium sich fortsetzt.“218 Damit berühren wir eine wesentliche denkerische Konstante bei Heinrich Schlier, die Konstante des apostolischen Amtes, welches die Aufgabe hat, das Wort des Evangeliums weiterzugeben: „Die unmittelbare Selbstenthüllung des erhöhten Jesus Christus an den Apostel, durch die Jesus Christus Erkenntnis und Sprache des Apostels zum Evangelium bildete, hat den Apostel zugleich in den Dienst des Evangeliums gerufen und hat also sein Evangelium von vornherein zu einem Dienst-Wort, zu einem ‚amtlichen’ Wort, besser: zu einem Mandat gemacht, das über jedes persönliche Wort also, auch das persönliche Wort des Apostels, hinausgeht.“219 Das Wort Gottes ist also laut Schlier „kein freischwebendes Wort“220, denn ihm sind „von seinem Ursprung her Sendung und Dienst zugeordnet“221. Die Person des Apostels, der im vollsten Sinn des Wortes ‚kerygmatische Existenz’ wird und als

214 Schlier, Wort Gottes, 36. 215 Ebd. 216 Ebd. 217 Ebd. 218 Ebd. 219 Schlier, Heinrich: Grundzüge einer paulinischen Theologie, Freiburg im Breisgau: Herder 21978, 207-208. 220 Schlier, Grundzüge einer neutestamentlichen Theologie, 20. 221 Ebd. 49 solche das Wort Gottes durch sein Leben bezeugen soll, ist notwendig für die Weitergabe des Wortes, welches aber somit – wie alles in Menschenhand Gegebene – auch in die Gefahr des Zerstörens und Scheiterns hineingeschenkt ist. Nach Schlier ist der „Dienst am Wort … erfüllt, wenn der Wandel des Apostels selbst Zeugnis geworden ist.“222 All diese Ausführungen, so kurz und holzschnittartig sie auch seien, mögen genügen, um anzudeuten, wie Heinrich Schlier den Gegenstand seiner Forschung - die biblischen Schriften, ganz besonders jene des Neuen Testamentes - verstanden und aus dieser seiner Sicht auf die Bibel die Art, wie sie selbst ausgelegt werden will, zu eruieren und diese Methodik durchzuführen versucht hat, von welcher der nun folgende Abschnitt handelt.

II. „Gespräche mit der überlieferten Offenbarung“ – Heinrich Schliers Exegese

1. Zugänge zur Heiligen Schrift

Laut Jakob Laubach ist für Heinrich Schlier „die Exegese nie eine ‚rein historische’ Disziplin, er hat stets an ihrer ‚Aktualität’ im hermeneutischen Vollzug des Daseins und an ihrer selbständigen Funktion im Ganzen der Theologie festgehalten.“223 Thomas Ervens unterscheidet mit Werner Löser drei Dimensionen, also Kontexte und Zugänge der beziehungsweise zur Auslegung der Schrift bei Heinrich Schlier, die als historische, theologische und ekklesiale Dimension benannt werden.224 Löser hatte diese Trias zuvor als die Kernaussagen des Schlier-Aufsatzes „Was heißt Auslegung der Heiligen Schrift?“ herausgefiltert und sinngemäß, wie folgt, formuliert: Die drei Punkte seien zwar voneinander unterschieden, bildeten nach Löser aber zusammen ein komplexes Ganzes.225 In diesen Aussagen, die gut an unseren vorangegangenen Abschnitt über das Schriftverständnis Schliers anknüpfen, geht es ebenfalls um die Frage, was die Bibel für Schlier sei und wie man sie daher konsequenterweise auszulegen habe. Der erste Zugang betrachtet die Schrift als Schrift in der Geschichte, welche auch mit Methoden der Geschichtswissenschaft erforscht werden könne und - gerade um einem Missverständnis des Christusereignisses als unhistorischen Mythos zu wehren - müsse. Zugang zwei nimmt die theologischen Implikationen des Wortes Gottes in den Blick und sucht, ganz auf der Linie des Lehrers Schliers, Rudolf Bultmann, diese der zeitgenössischen Leserin/dem Leser klar und verständlich zu machen (wenn auch nicht, wie wir bei Bultmann

222 Schlier, Grundzüge einer neutestamentlichen Theologie, 20. 223 Laubach, Jakob: Jakob Laubach über Heinrich Schlier, in: Reinisch, Leonhard (Hg.): Theologen unserer Zeit. Eine Vortragsreihe des Bayerischen Rundfunks, München: C.H. Beck 1960, 161. 224 Vgl. Ervens, Keine Theologie, 127. 225 Vgl. Löser, Werner: Dimensionen der Auslegung des Neuen Testaments. Zum Gespräch Heinrich Schliers mit Rudolf Bultmann, in: ThPh 57 (1982), 482. 50 sahen, mittels existentialer Interpretation, sondern nach dem Maßstab einer am Dogma ausgerichteten Exegese). Zugang drei hält die Perspektive auf die Kirche gerichtet, die nach Schlier der eigentliche Ort der Schriftauslegung ist. Das soll im nächsten Kapitel (Drittes Kapitel der vorliegenden Arbeit) noch ausführlicher bedacht werden.

2. Auf der Suche nach der Wahrheit – Die Auslegungsmethodik Schliers

Heinrich Schlier fasst in der ihm eigenen Art des Formulierens seinen (Rudolf Bultmann zu dessen 80er gewidmeten und oben bereits erwähnten ‚Jubiläums’-) Aufsatz über den Sinn der Schriftauslegung mit dem Titel „Was heißt Auslegung der Heiligen Schrift?“ wie folgt zusammen: Wenn die Auslegung der Schrift „auch nichts anderes darstellt als einen immerwährenden Aufhellungsprozeß, einen immer wieder durch neue Fragen immer neue und doch die alten Antworten erfragenden, nie zu Ende kommenden Dienst, so öffnet doch gerade sie, wenn sie sich recht versteht und ihre Zeit nicht mit Unnützem vergeudet, den in der Geschichte geschehenen und in der Schrift für alle Gegenwart erhobenen Anspruch der Wahrheit Gottes und hält ihre Herrschaft in der Welt und für die Welt offen.“226 Diese Suche nach der Wahrheit, der Wahrheit des Menschen, die letztlich die Wahrheit Gottes ist und nur aus dieser zugänglich wird (was wiederum nur in Form des Glaubensaktes möglich ist), gilt als Grundsatz der Exegese Schliers und weist damit zugleich auf den sein Denken prägenden Einfluss der Theologie Karl Barths hin, welcher sich nicht zuletzt in der Bedeutung der Wahrheitsfrage und in der Ausrichtung auf die ‚Sache’ im Opus Schliers ausdrückte.227 Bei einem derart anspruchsvollen Programm stellt sich freilich umso deutlicher die Frage, auf welche Weise ebenjenes von Heinrich Schlier in über 50 Jahren akademischen Wirkens verfolgt und durchgeführt wurde. Daher ist es unerlässlich, auf einige Aspekte der Schriftauslegungsmethodik Schliers einzugehen, was nun erfolgen soll.

2.1 Zwei Tendenzen

Laut Grzegorz Bubel, für den die Schriftauslegungsmethode Schliers „als theologischer Vorläufer und nach 1965 als theologischer Vertreter“228 der Aussagen des Zweiten Vatikanums zur Aufgabe der Exegeten, die sich in Artikel 12 und 23 des Dekretes über die Offenbarung, ‚Dei Verbum’, findet229, gilt, wird die exegetische Methode Schliers von zwei

226 Schlier, Auslegung, 62. 227 Vgl. Bubel, Sache zur Sprache bringen, 101. 228 Ebd., 7. 229 „Aufgabe der Exegeten ist es, nach diesen Regeln auf eine tiefere Erfassung und Auslegung des Sinnes der Heiligen Schrift hinzuarbeiten, damit so gleichsam auf Grund wissenschaftlicher Vorarbeit das Urteil der Kirche reift“ (DV 12). „Die katholischen Exegeten und die anderen Vertreter der theologischen Wissenschaften müssen in eifriger Zusammenarbeit sich darum mühen, unter Aufsicht des kirchlichen Lehramts mit passenden 51 Tendenzen bewegt, da sie zum Einen von Wissenschaftlichkeit, zum Anderen von Kirchlichkeit gekennzeichnet sei.230 Erstere war Schlier als Professor freilich ein großes Anliegen, seine Genauigkeit und Korrektheit wissenschaftlichen Arbeitens waren durchwegs bekannt und lassen sich an Schliers Werken bestens exemplifizieren. Bubel unterscheidet in der Methodik Schliers zwei Phasen, wobei die erste, die sogenannte „rekonstruktive Phase“231 die Schrift als geschichtliches Dokument versteht und sie mit den Mitteln der Philologie und der historisch-kritischen Methode insgesamt untersucht, während die zweite, die „applikative Phase“232, versucht, die Ergebnisse der ersten Phase auf das gegenwärtige (weil immer aktuelle) Heilsereignis Christi zu beziehen und dabei den Kontext der kirchlichen Lehre zu berücksichtigen.233 Beide Phasen lassen sich in den Bereich der Wissenschaftlichkeit einordnen, was allerdings (besonders bei der applikativen Phase) durchaus auf Kritik stößt, da diese Form von Wissenschaftlichkeit von der Vorannahme des Glaubens bestimmt ist und sich somit nicht in den (eng gefassten) Wissenschaftlichkeitsbegriff etwa der Naturwissenschaften einordnen lässt. Besonders Schliers „Vorbestimmung der komplementären Relation von Glaube und wissenschaftlicher Theologie“234 scheint „kaum mit den Kriterien der modernen Wissenschaft vereinbar.“235 Die zweitgenannte Hinneigung in der exegetischen Arbeit des Bonner Neutestamentlers, die Tendenz zur Kirchlichkeit, gilt als das „besondere Merkmal der Schlierschen Schriftauslegung.“236 Nach Schlier geben die biblischen Schriften selbst vor, wie sie ausgelegt werden wollen, ja, mehr noch: „Die Heilige Schrift führt über sich hinaus, oder besser: durch sich hindurch zur Kirche.“237 Über die kirchliche Dimension, die nichts weniger als den Schlüssel zu Hermeneutik und theologischem Denken Schliers darstellt, wird im folgenden Kapitel gehandelt werden. Die Schriftauslegungsmethodik Schliers kann, soviel sei bereits

Methoden die göttlichen Schriften so zu erforschen und auszulegen, daß möglichst viele Diener des Wortes in den Stand gesetzt werden, dem Volke Gottes mit wirklichem Nutzen die Nahrung der Schriften zu reichen, die den Geist erleuchtet“ (DV 23), vgl. Rahner, Karl/ Vorgrimler, Herbert: Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums. Allgemeine Einleitung – 16 spezielle Einführungen – ausführliches Sachregister, Freiburg im Breisgau: Herder 62007, 374; 380. 230 Vgl. Bubel, Geistliche und kirchliche Schriftauslegung, in: Löser, Gottes Wort, 106; vgl. auch Bubel, Sache zur Sprache bringen, 265. 231 Bubel, Sache zur Sprache bringen, 265. 232 Ebd. 233 Vgl. ebd. 234 Ebd. 235 Ebd. 236 Ebd. 237 Schlier, Nachwort, 311. 52 vorweg gesagt, als „eine vom intellectus fidei238, bewegte, im kirchlichen Verstehensraum vollzogene Schriftauslegung einer geschichtlichen Wissenschaft“239 bezeichnet werden.

2.2 Kritisch gegenüber der historisch-kritischen Methode der Exegese

Die Spannungen, die zwischen der Lehre der Kirche sowie deren aktualisierter beziehungsweise für das Verständnis des gegenwärtigen Menschen je neu zu aktualisierender Auslegung - der Dogmatik - und der aus der historisch-kritischen Erforschung der biblischen Schriften gewonnenen Ergebnisse existieren, bestehen nicht erst in der Theologie unserer Tage, wie das Vorkapitel dieser Arbeit versucht hat, deutlich zu machen. Heinrich Schlier hat sich der historisch-kritischen Untersuchungen in seinen späteren Schriften eher enthalten240, setzt sie allerdings oft als Grundlage in seinen Abhandlungen voraus241 und weiß sich im letztgenannten Punkt ganz auf der Linie seines Lehrers Bultmann, insofern auch er der Überzeugung ist, dass „die historisch-kritische Methode auf der Ebene der hermeneutischen Mittel angenommen werden muß, um – so weit es möglich ist – den historisch feststellbaren Sachverhalt der neutestamentlichen Verkündigung in ihrem ursprünglichen Kontext wiederherzustellen.“242 Allerdings warnt Schlier vor einem allzu einseitigen Verständnis von Geschichte und Geschichtswissenschaft243, ja, von Wissenschaftlichkeit überhaupt: „So groß ist das Sicherungsbedürfnis, das man durch eine ‚objektive‘ Rückführung auf das Verständliche, wie sie die Historie betreibt, erfüllt zu sehen meint.“244 Und der Exeget fügt hinzu: „Schlecht beraten … wäre man, wenn man durch das Pochen auf den ‚historischen‘ Zugang zum Heilsgeschehen eine sehr beschränkte und vorübergehende Grundeinstellung zur Geschichte sanktionierte und darüber die Geschichte versäumte.“245 Besonders prekär wird

238 ‚Intellecus fidei’ wird hier verstanden als eine vom christlichen Glauben durchformte und geprägte menschliche Vernunft beziehungsweise Vernünftigkeit. 239 Bubel, Sache zur Sprache bringen, 265. 240 Reinhard von Bendemann mutmaßt hierzu, dass beim - mit den zunehmenden Lebensjahren Schliers von demselben vorgenommene - Abstand zur diesem wissenschaftlichen Zugang zur Schrift eine Rolle spielen könnte, „daß ihm die historisch-kritische Methode protestantisch affiziert erscheint.“ Vgl. dazu Bendemann, Schlier, 363, Fußnote 39. 241 Vgl. Bubel, Sache zur Sprache bringen, 267, Fußnote 11. 242 Ebd., 266. 243 Besonders augenfällig zeigt sich diese Warnung Schliers unter anderem in seinem Aufsatz „Zur Frage: Wer ist Jesus?“ aus dem Jahre 1974, indem er in Relation zur diesen Text bestimmenden Aufgabenstellung über den historischen Jesus ausführt: „Der sogenannte ‚historische‘ Jesus ist nichts anderes als der unter bestimmten Voraussetzungen und auf dem davon bestimmten Weg der sogenannten historisch-wissenschaftlichen Forschung entdeckte Jesus.“ Vgl. Schlier, Heinrich: Zur Frage: Wer ist Jesus?, in: Geist und die Kirche, 22. 244 Schlier, Biblische und dogmatische Theologie, 28, Fußnote 3. 245 Auch dieses Zitat findet sich in der vergleichsweise umfangreichen Fußnote 3 des oben bereits angegebenen Aufsatzes „Biblische und dogmatische Theologie“, 29. Dass Schlier eine so grundlegende Einsicht zur Thematik ‚Historisch-kritische Exegese und Dogmatik‘ nicht im Fließtext seines Aufsatzes, sondern in der Fußnote vermerkt, mag daran liegen, dass sich die Aussage nicht unmittelbar in den Gedankengang einordnen lässt, kann aber auch den Schluss nahelegen, dass die angesprochene Thematik für Schlier (zum Zeitpunkt der Abfassung) nicht von vorrangiger Bedeutung war. 53 die Lage freilich dann, wenn man diese sehr allgemein gehaltenen erkenntnistheoretischen Überlegungen in Bezug auf die Historie und die Wege ihrer Erforschung auf die Frage nach Jesus, von dem letztlich das ganze Neue Testament handelt, konkretisiert. Schlier ruft dazu in Erinnerung, dass mit Hilfe der historisch-kritischen Methode nur jeweils eine Interpretation Jesu zu bekommen sei und „zwar eine solche, deren Implikationen für die Erfassung des wirklichen Jesus, d. h. des Jesus, wie er ist, nicht zureichen.“246 Ungefähr 22 Jahre später wird Joseph Ratzinger, zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als ein Jahr lang Papst Benedikt XVI., mit seinem Jesus-Buch in die selbe Kerbe schlagen, wenn auch er vom wirklichen Jesus schreibt, den er im Jesus der Evangelien sieht und in seinem Buch „als den ‚historischen Jesus‘ im eigentlichen Sinn darzustellen“247 versucht. Mit Bernhard Körner gesprochen ist es sinnvoll, „in dieser Aussage vor allem eine Abwehr jener historisch-kritischer Rekonstruktionen zu sehen, die die göttliche Dimension Jesu als spätere Interpretationen ansehen und den wirklichen Jesus mit einem Menschen aus Nazareth gleichsetzen.“248 Dies entspricht unbestritten auch der Sicht Schliers.249

3. Die Schriftauslegung und der hermeneutische Vollzug des Daseins

Am Ende dieses Kapitels soll noch ein Wort Heinrich Schliers stehen, welches eine bündige und anspruchsvolle Charakteristik der Schriftauslegung als solcher und ihrer Aufgabe beziehungsweise ihres Standortes innerhalb der Theologie aus der Feder des Bonner Exegeten zum Inhalt hat. Der kurze Textabschnitt findet sich im Nachwort des ersten der vier Sammelbände Schliers, „Die Zeit der Kirche“, in dem er die Aktualität seiner veröffentlichten Aufsätze zu verteidigen sucht: „Wer … sieht, daß Exegese zum hermeneutischen Vollzug des Daseins überhaupt gehört und daß biblische Exegese nicht nur der Bereitung einer wesentlichen Quelle der Dogmatik dient, sondern auch eine innerhalb des Ganzen der Theologie selbständige Funktion der Entbergung der Wahrheit durch die Kirche hat, wird die ‚Aktualität‘ der exegetischen Aufsätze grundsätzlich für sachgemäß halten.“250 Die Auffassung, Schriftauslegung gehöre ganz wesentlich zum Sich-Verwirklichen in der Welt, eben zum ‚Vollzug des Daseins’, hat sich bei Schlier, wie vieles für sein Denken Prägende,

246 Schlier, Wer ist Jesus?, 22. 247 Ratzinger, Joseph/ Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. I. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg im Breisgau: Herder 2006, 20. 248 Körner, Bernhard: Der wirkliche Jesus, der ‚historische Jesus‘ im eigentlichen Sinne. Überlegungen zu einer Aussage im Jesus-Buch des Papstes, in: ThPh 86 (2011), 111. 249 „Es ist der Historie und ihrem Verfahren eigentümlich, daß sie ihrem verborgenen Ziel nach nicht das Wesen der geschichtlichen Vorgänge oder Personen suchen, sondern ihr Wesen.“ Die Historie ist somit „außerstande … eine Antwort auf die Frage: ‚Wer ist Jesus?‘ zu geben. Sie kann höchstens auf die Frage antworten: ‚Wer war Jesus?‘“ Vgl. bei beiden Zitaten Schlier, Wer ist Jesus?, 25. 250 Schlier, Nachwort, 309. 54 durch Rudolf Bultmann und „in einem lebenslangen – später mehr monologischen – Gespräch mit diesem“251 entfaltet. Ex-egese betrifft die ‚Ex-istenz’ - das ‚Heraus-Tun/Lesen‘ (wenn man diese - wenn auch vielfach bedeutungsbefrachteten - Begriffe wörtlich nimmt) steht in Beziehung mit dem ‚Heraus-Stehen‘ (aus der Welt) des Menschen, mit seinem Verständnis dessen, was ihn umgibt und mit der Art und Weise, wie er es sich verständlich macht. Spinnt man diesen Gedanken weiter, kann man durchaus im Anklang das bultmannsche Anliegen der existentialen Interpretation heraushören. Weiters ist interessant, zu sehen, dass die Exegese nach Schlier nicht allein (!) eine Dienstfunktion für die Dogmatik erfülle, nein, ihr wird ‚auch‘ ein Dienst am Enthüllen, am Ent-Decken der Wahrheit zugestanden, da „doch gerade sie [die Exegese, Anmerkung J.P.], wenn sie sich recht versteht und ihre Zeit nicht mit Unnützem vergeudet, den in der Geschichte geschehenen und in der Schrift für alle Gegenwart erhobenen Anspruch der Wahrheit Gottes [öffnet] und … ihre Herrschaft in der Welt und für die Welt offen“252 hält – womit sich der Kreis unserer Ausführungen über die Schriftauslegung bei Heinrich Schlier schließt.

251 Bendemann, Schlier, 358. 252 Schlier, Auslegung, 62; siehe auch II.2. im vorliegenden Kapitel. 55 Drittes Kapitel

Exegese im Raum des Wortes Gottes: Die Kirche als Rahmen der Schriftauslegung

„Schliers Blick … ruht mit einer wundersamen Ruhe, Gelassenheit und Sicherheit auf den Realitäten, die das Wesen der Kirche ausmachen, er bewundert ihre Schönheit und umfaßt mit vertrauensvoller Zuneigung alles, was die Kirche ist und was zu ihr gehört ... Das tut er aber nicht aus einem übertriebenen oder gar blinden Optimismus. Er wußte um die menschlichen Unzulänglichkeiten innerhalb der Kirche … Er besitzt aber trotz all dem die Fähigkeit, das Wesen der Kirche ungestört zu betrachten. In seinen Schriften spiegelt sich eine kirchentreue Gesinnung, die neben dem klaren Blick inneren Halt und Geborgenheit bietet.“253 – so charakterisiert Alfred Schneider, durchaus pathetisch, Schliers Verhältnis zur Kirche Christi, welche dieser, nach langen Jahren des Ringens (siehe in der vorliegenden Arbeit vor allem Kapitel 1, II), in der römisch-katholischen Kirche verwirklicht sah – und aus dieser Erkenntnis Konsequenzen zog. „Die Kirche … ist das eigentliche große Thema Heinrich Schliers“254, ein Thema, an und in dem „seine Exegese des Neuen Testaments, vor allem der Paulusbriefe, wahrhaft existentielle Interpretation [wurde], hier bereitet jede Textstelle, jedes Wort, jede Silbe, die er nicht historisierend oder psychologisierend, sondern nach ihrem sachlichen Sinn befragt, seine personale Entscheidung [seine Konversion, Anmerkung J.P.] vor.“255 Im folgenden Kapitel soll es daher um Schliers Verständnis von Kirche und um die daraus resultierenden Konkretionen wie etwa seine Sicht von ‚Dogma‘ gehen. Beides ist Schlier aus seiner (nicht nur) wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Schrift erwachsen.

I. Dem Geheimnis Christi auf der Spur – Heinrich Schlier und die Kirche

1. Wie die Kirche zu Schliers Thema wurde und blieb

Wie sich bereits gezeigt hat, ist die Kirche das entscheidende Thema, das Hauptmotiv der Schlierschen Schriftauslegung und dessen roter Faden. Mit Schneider gesprochen, ist die „Entwicklung seines [Schliers, Anmerkung J.P.] theologischen Denkens … von der Entfaltung seines Kirchengedankens getragen.“256 Schliers ‚Kirchenforschung‘ beginnt mit den Untersuchungen der Briefe des Ignatius von Antiochien, deren religionsgeschichtlichen

253 Schneider, Alfred: Wort Gottes und Kirche im theologischen Denken von Heinrich Schlier, Frankfurt am Main: Lang 1981, 9. 254 Laubach, Über Schlier, 166. 255 Ebd. 256 Schneider, Wort Gottes, 260. 56 Hintergrund er zu beleuchten versucht. Dieses Werk, welches 1928 in Marburg als Inauguraldissertation angenommen wurde257, bildete Schliers „erste wissenschaftliche Begegnung mit der Kirche“258. Schliers zweite Publikation, entstanden im Jahre zuvor, handelte vom „Begriff der Kirche im Epheserbrief“259 – ein Aufsatz, die wohl aus Vorarbeiten zu seiner umfassenden Studie „Christus und die Kirche im Epheserbrief“ erwachsen ist, welche ein Jahr später, 1928, als Habilitationsschrift an der Universität Jena angenommen wurde.260 Der Epheserbrief, der eine durchaus breit entfaltete Reflexion über die Kirche enthält, hat es Schlier ermöglicht, nach diesem neutestamentlichen ‚Muster‘ sein eigenes Kirchenbild zu entwerfen, was zur Folge hatte, dass nach Schneider die Ekklesiologie Schliers „bis zuletzt die des Epheserbriefes geblieben“261 ist. „Elemente anderer neutestamentlicher Schriften hat Schlier harmonisch in dieses Bild eingearbeitet.“262 Später hat der Bonner Exeget seine Forschung über die Kirche im Neuen Testament auf andere paulinische Schriften, etwa auf den Römer- und den Korintherbrief ausgeweitet, bevor im Jahre 1972 Schliers mit Abstand umfangreichste Studie zu diesem seinem Lebensthema erschien, die „Ekklesiologie des Neuen Testaments“ im vierten Band der heilsgeschichtlichen Dogmatik „Mysterium Salutis“. Diese Arbeit Schliers beansprucht, in der Schlier eigenen Bescheidenheit und der von ihm immer wieder vorausgeschickten Begrenzt- und Fragmenthaftigkeit seines Werkes, eine Lehre von der Kirche, wie sie im gesamten Neuen Testament erscheint, zu entwerfen. Schlier tut dies allerdings nicht, ohne die Mahnung voranzustellen, dass dem Missverständnis zu wehren sei, nach welchem das Neue Testament „ein einheitliches Bild der wahren Gestalt von Kirche anzubieten habe, zu dem man dann auch mit einigem guten Willen über die Jahrtausende hinweg zurückkehren könne, weil es das maßgebende ‚Modell‘ für Kirche überhaupt wäre.“263 So ein Versuch muss nach Schlier schon deshalb scheitern, weil in einer derartigen Sicht auf das Neue Testament die Unterschiedlichkeit und Eigenart der einzelnen Schriften wie die konkrete Situation, in die hinein sie geschrieben wurden, um ganz konkrete Probleme der damaligen (!) Zeit zu behandeln, eingeebnet und man damit keinem der Texte, die bei aller sie enthaltenden Theologie immer auch Zeitdokumente sind, gerecht wird. Erwähnenswert ist an dieser Stelle

257 Vgl. Bibliographie Heinrich Schlier, in: Geist und die Kirche, 290. 258 Schneider, Wort Gottes, 262. 259 Bibliographie, 290. 260 Vgl. ebd. 261 Schneider, Wort Gottes, 260. 262 Ebd. 263 Schlier, Heinrich: Ekklesiologie des Neuen Testaments, in: Feiner, Johannes/ Löhrer, Magnus (Hg.): Mysterium Salutis. Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik. Band 4/1: Das Heilsgeschehen in der Gemeinde, Einsiedeln/Zürich/Köln 1972, 102. 57 auch das Interesse Schliers an der Einheit der Kirche, welches nach Schneider alle Untersuchungen Schliers um Thema Kirche in irgendeiner Form tangiert.264 Diese Einheit der Kirche sei nach Schlier bereits im Neuen Testament grundgelegt, was es auch möglich mache, eine Theologie (aus den ‚Theologien‘) des Neuen Testaments zu entwerfen, da dieses eine „Tendenz zur Einheit in bezug auf ‚die Wahrheit des Evangeliums‘ (Gal 2!)“265 aufweise. Zum Opus Schliers gehören auch mehr oder weniger umfangreiche Arbeiten, die sich nicht unmittelbar mit dem Thema Kirche befassen, aber doch darauf hin ausgerichtet sind, etwa Untersuchungen der neutestamentlichen Schriften unter der Perspektive des (Priester-)Amtes. Des Weiteren hat Heinrich Schlier immer wieder die Wechselwirkung zwischen dem Wort Gottes und der Kirche herausgearbeitet266, die die Kirche Gottes ist267, weil sie das Wort Gottes aufbewahrt, zur immer neuen Durchdringung ihres Gehaltes freigibt und ihm so einen Raum schafft, der das Wort Gottes nicht einengt, sondern es - im Gegenteil - befreit und zugänglich macht. Dies wird nun näher zu bedenken sein.

2. Das ‚An-Wesen‘ des Wortes Gottes: Zu Schliers Verständnis von Kirche

Wir erinnern uns: Für Schlier ist die Schrift „Heilige Schrift“, da in ihr Göttliches im Medium des Wortes ver- und bewahrt wird, welches in seiner Fülle und Bedeutung für das Heil der Menschheit nur innerhalb der Kirche, wenn auch niemals erschöpfend, begriffen und in seinem wesentlichen Gehalt erhoben werden kann268. Diesen Anspruch, die allein autorisierte Sachwalterin der Wahrheit der Schrift zu sein, komme der Kirche aber nur deshalb zu, weil sie vor den biblischen Texten da war. Dieses ‚vor‘ ist, mit Schlier gesprochen, nicht zeitlich, sondern sachlich zu verstehen.269 Der Exeget folgert daraus, „daß die Auslegung der Schrift von der Kirche getragen und letztlich normiert sein muß.“270 Daran wird Schlier Zeit seines Lebens festhalten. Die Schrift ist also, wie wir sahen, nicht hauptsächlich, aber doch entscheidend auch Ergebnis und ‚Produkt‘ der Kirche, „sofern die Kirche von ihm [Schlier, Anmerkung J.P.] als der von Gott gewollte Verstehensraum des in die Schriftsprache eingegangenen Wortes Gottes begriffen wird.“271

264 Vgl. Schneider, Wort Gottes, 294. 265 Schlier, Biblische und dogmatische Theologie, 30. 266 Vgl. Schneider, Wort Gottes, 260. 267 Vgl. Schlier, Heinrich: Die Kirche nach dem Briefe an die Epheser, in: Die Zeit der Kirche, 174. 268 Nach Schlier schafft das geschichtliche Offenbarungsereignis „selbst in seinem Geschehen einen Daseinsraum und Wirkungshorizont … in dem es verstanden-unverstanden verwahrt wird, da es selbst sich einer Gemeinschaft zueignet und sie zu eigen fordert.“ Vgl. Schlier, Was heißt Auslegung?, 41. 269 Vgl. Schlier, Rechenschaft, 283. 270 Ebd., 285. 271 Bubel, Sache zur Sprache bringen, 268. Der Ausdruck „Schriftsprache“ ist an dieser Stelle unglücklich gewählt. 58 Schlier benennt allerdings auch klar, was Kirche nicht ist und versucht so, durch scharfe Grenzziehungen das für ihn Wesentliche des Kirchenbegriffs herauszustellen: „Die Kirche ist nicht das Reich oder die Herrschaft Gottes … Wohl aber ist die Kirche das Volk (aus Juden und Heiden), das, von der Nähe der Herrschaft Gottes überwältigt, sich zu der und für die in Jesus Christus nahegekommene, zukünftige Herrschaft Gottes zusammengefunden hat.“272 Und nochmals verdeutlicht Schlier: „Sie [die Kirche] ist das Anwesen der nahegekommenen Herrschaft Gottes auf Erden“273 , ja, der Bonner Exeget stellt der Leserschaft sogar vor Augen, dass die Kirche „das eine An-Wesen Christi ist, der Raum, in, mit und unter dem er selbst sein An-Wesen hat, wo uns deshalb sein Wesen an-geht … Sie ist der heilige Raum, den sich der Geist Gottes, der der Geist Christi ist, in den Gläubigen einräumt und den er durchwaltet als der vielfache Gaben gewährende Geist Gottes.“274 Schlier kann Kirche, die er nicht zuletzt als das „Geheimnis Christi“275 versteht, sehr weit (um in seinem Wortgebrauch zu bleiben) anbe-raumen – eine denkerische Konstante, die Ergebnis seiner Arbeit am Epheserbrief ist: „Die neue Schöpfung Gottes, der von Christus erfüllte neue Äon, den der Heilige Geist durchwaltet, der Leib, der vom Haupte lebt, die heilige Braut, die die Liebe Christi erfährt, der Tempel Gottes und seine Familie, die himmlische Stadt, das ist die Kirche nach dem Epheserbrief“276, fasst Schlier zusammen. Ähnlich den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils legt auch er keine Definition von Kirche vor, sondern bedient sich, wie wir sahen, der reichen Bildersprache des dem Paulus zugeschriebenen Briefes. In seinem Aufsatz mit dem Titel „Zu den Namen der Kirche in den Paulinischen Briefen“ aus dem Jahre 1963, rund zehn Jahre nach Schliers Konversion, betrachtet der Exeget vornehmlich drei Bezeichnungen für Kirche, wie sie sich im paulinischen Schrifttum finden und von denen Schlier sagt, dass es Begriffe seien, in denen der Apostel „hauptsächlich das Wesen der Kirche zur Sprache brachte“277 und die auch vom Zweiten Vatikanischen Konzil als Zentralbegriffe für Kirche betont wurden: Kirche ist also, nach Paulus, in hervorragender Weise Volk Gottes beziehungsweise ekklesia, Leib Christi und Tempel des Heiligen Geistes. Der Begriff ekklesia ist nach Schlier wohl die neutralste Benennung von Kirche.278 Er bedeutet „die Herausgerufene“ und meint damit die Sammlung der Kinder Gottes aus allen

272 Schlier, Heinrich: Reich Gottes und Kirche nach dem Neuen Testament, in: Schlier, Ende der Zeit, 50. 273 Ebd. 274 Schlier, Heinrich: Die Einheit der Kirche im Denken des Apostels Paulus, in: Schlier, Zeit der Kirche, 294. 275 Dies ist schon am Titel seines Aufsatzes „Die Kirche als das Geheimnis Christi. – Nach dem Epheserbrief“, in: Schlier, Zeit der Kirche, 299 f., einsehbar. 276 Schlier, Kirche nach dem Briefe an die Epheser, 176/177. 277 Schlier, Heinrich: Zu den Namen der Kirche in den Paulinischen Briefen, in: Schlier, Besinnung auf das Neue Testament, 294. 278 Vgl. Ervens, Keine Theologie, 166. 59 Völkern, die somit zu einem Volk, zur einen Fest- und Weggemeinschaft werden, zu Pilgernden hin zu Gott und zur Gemeinschaft mit ihm. Dass dieses Volk zu Christus gehört, ja, dass die Kirche in Jesus Christus das Volk Gottes ist279, drückt der Begriff ‚Leib Christi‘ aus, der Paulus „erst im Kol und Eph … in seiner ganzen Fülle zur Verfügung“280 steht und erst seit hier Paulus‘ Worte über die Kirche „beherrscht.“281 Schließlich leuchtet mit der Bezeichnung der Kirche als Tempel des Geistes „noch ein anderer Wesenszug der Kirche auf. Sie ist die Wirkungsstätte Gottes im Heiligen Geist.“282 Das ist - nicht nur - für das Thema der vorliegenden Arbeit von großer Bedeutung, wird doch nach Schlier das Wort Gottes im Kerygma der Kirche, im Raum der Verkündigung „grundgelegt [und] in der Kraft des Geistes zu Verständnis und Sprache gebracht.“283 Heinrich Schlier war sich durchaus bewusst, dass diese drei Namen das Wesen der Kirche nur andeuten und dieselbe in ihrer Vielschichtigkeit - schon allein was ihre Reziprozität von Göttlichem und Irdischem betrifft - nicht definitorisch festlegen, sondern immer nur „Ausblicke auf einige Wesenszüge“284 von Kirche eröffnen könnten. Diese stets neuen Versuche des Anzielens würden nach Schlier bereits zeigen, „wie vielfältig nach dem Apostel Paulus ihr Wesen ist und wieviel man schon in den Ansätzen bedenken muß, will man ihrem Wesen gerecht werden.“285 All dies kann nur auf kürzestem Wege andeuten, wie Schlier (die) Kirche verstanden hat. In einem nächsten Schritt soll nun gezeigt werden, welche Auswirkungen diese Erkenntnisse des Exegeten auf seine Schriftauslegung haben.

3. Das gesamte Leben der Kirche als Auslegungshorizont

Wir hatten gesehen, dass Grzegorz Bubel die Schriftauslegung Schliers von zwei Tendenzen bestimmt sieht, von jener der Wissenschaftlichkeit und von jener der Kirchlichkeit286, die das „besondere Merkmal der Schlierschen Schriftauslegung“287 darstelle. Der Frankfurter Dogmatiker und Jesuit Werner Löser charakterisiert dieses ‚Merkmal‘, welches von ihm als dritte Dimension der Exegese Schliers bezeichnet wird, mit folgender These: „Das Neue Testament ist als ein Dokument auszulegen, das sich die Kirche als seinen Verstehensraum

279 Vgl. Schlier, Namen der Kirche, 299. 280 Ebd. 281 Ebd. 282 Ebd., 305. 283 Schlier, Grundzüge einer neutestamentlichen Theologie, in: Ende der Zeit, 24. 284 Schlier, Namen der Kirche, 306. 285 Ebd. 286 Vgl. Bubel, Geistliche und kirchliche Schriftauslegung, in: Löser, Gottes Wort, 106; ders., Sache zur Sprache bringen, 265. 287 Bubel, Sache zur Sprache bringen, 268. 60 einräumt und sich nur im Dialog mit dem Leben und der Geschichte der Kirche erschließt.“288 Hier wird nach Schlier, wie ihn beziehungsweise dessen Einsichten Löser in diesem Punkt zu summieren versucht, ein sehr weites Verständnis des Merkmals ‚Kirchlichkeit‘ eröffnet: Das Neue Testament soll nicht nur in ein Gespräch mit der ‚Kirche von heute‘289 eintreten, sondern auch den Austausch mit der Kirche aller vorangegangenen Zeiten, mit ihrer Geschichte suchen, „deren Eigenart durchaus so gekennzeichnet werden kann: sie sei die Geschichte der Auslegung der Hl. Schrift“290. Dies meint, dass sich Auslegung „im Leben der Kirche insgesamt“291 vollzieht, ja, sie geschieht nach Schlier „nicht nur in der Exegese, sondern auch und oft eindrücklicher im Kult, in der Lehre, im Charisma, im Recht.“292 Hier klingt der Begriff der ‚Tradition‘ an, den Schlier ins Spiel bringt. Tradition besagt, dass die Offenbarung Gottes in Jesus Christus nicht allein worthaften Niederschlag, etwa im Evangelium, gefunden hat, sondern dass ebenjene Selbstmitteilung Gottes auch in anderen Formen und Dimensionen des menschlichen Lebens, die somit eine eigene Ausprägung und Umdeutung erfahren, überliefert wurde und wird. Augenfällig wird das unter anderem in bestimmten liturgischen Gebräuchen, die sich nicht deckungsgleich (gerade, was ihre Feiergestalt betrifft) in der Heiligen Schrift finden, aber doch nachweislich auf Jesus und/oder die Apostel zurückgehen. Dieses Verständnis von Tradition steht nicht zuletzt gegen eine diese Bräuche ausloten wollende Deutung, welche beispielsweise in den Sakramenten und, darauf aufbauend, in ihrer konkreten Ausformung und Weiterentwicklung kirchliche Willkürakte sieht und sie daher als unbiblisch - und damit als menschengemacht und im schlimmsten Fall nutzlos - abqualifiziert. Schlier warnt dahingehend vor „Originalitätssucht“293 des Auslegers/der Auslegerin, aber auch vor einem Auslegungsideal, welches „von reiner und objektiver Auslegung träumt und den geschichtlichen Charakter des Auslegungsvorganges … nicht wahrhaben will.“294 Nach Schlier ist also Auslegung selbst ein geschichtliches Vorgehen, und sie war es zu allen Zeiten, in denen Menschen versuchten, tiefer in das Geheimnis Gottes, das dieser selbst seinen Geschöpfen eröffnete, einzutreten und es zu verstehen. In diesem Sinne kann nach dem Bonner Exegeten (Kirchen-)Geschichte, wie

288 Löser, Dimensionen, 492. 289 Der Ausdruck ‚Kirche von heute‘ meint an dieser Stelle Kirche in ihrer Ganzheit – wie Schlier sie versteht – als der eine Raum des Wortes Gottes, wie er sich aktuell, mit und in der Gesamtheit all seiner Strömungen und Einsichten darstellt (und als solcher in ebenjener Gesamtheit nur schwer überblickt werden kann). 290 Löser, Dimensionen, 493. Diese Sicht von Geschichte hat Schlier dem Titel eines Buches des evangelischen Theologen Gerhard Ebeling, „Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift“ (1947), entnommen. Vgl. Schlier, Was heißt Auslegung?, 59, Fußnote 34. 291 Ebd. 292 Ebd., 58-59. Schlier stützt sich hier auf das oben genannte Werk von Gerhard Ebeling, Kirchengeschichte als Geschichte, 24. 293 Schlier, Was heißt Auslegung?, 59. 294 Ebd. 61 wir sahen, immer auch als Geschichte der Auslegung - nicht nur der Schrift, sondern des Mysteriums, welches Gott ist - bezeichnet werden. Bevor wir uns dem zweiten Abschnitt des vorliegenden Kapitels zuwenden, sei an dieser Stelle der Versuch einer kurzen und bereits weiterführenden Zusammenfassung des bisher über Heinrich Schlier und die Kirche Bedachten gegeben. Die Kirche ist nach Schlier, um an dieser Stelle (s)eine musikalische Metapher zu verwenden, „der Resonanzraum, den sich das im Neuen Testament bezeugte Wort Gottes schafft und dessen es bedarf, damit es in der Geschichte hörbar wird.“295 Dieser Raum des Gotteswortes entsteht nach Schlier durch das Ereignis von Kreuz und Auferstehung: Christus öffne der Welt „allenthalben und auf jede Weise seiner Macht, der Macht des Kreuzes, einen Lebensraum in seinem Herrschaftsraum, der sich konkretisiert in der Kirche durch die von ihm bevollmächtigten apostolischen Gesandten.“296 Ihnen, den Aposteln, ist das Wort der Verkündigung anvertraut, das Wort, das Christus selbst ist297 und das die Kirche schafft – das Wort, das Fleisch geworden ist und sich so letztlich in menschlich verbindliche Sprache hinein konkretisiert hat. Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden Dogmenbegriff und - verständnis bei Heinrich Schlier untersucht werden.

II. Das „unverlierbar Denk-Würdige“: Über das Dogma

„Wer meint, Dogmen hätten sich überlebt, der weiß nicht, was Dogma ist, oder er meint, daß sich in der Kirche die eindeutige Entscheidung und der Anspruch einer Entscheidung in Sachen der Wahrheit überlebt haben. Aber das eindeutige Wort muss man dann auch sagen.“298 So hat Heinrich Schlier in einer Predigt des Jahres 1935, die von Inhalt und Stil des Textes her wohl als ‚flammende‘, leidenschaftliche Rede bezeichnet werden kann, zu den Gläubigen der Bekenntnisgemeinde Gießen der – wie Schlier im Vorwort dieser Predigt erläutert – „bedrängten Kirche Hessens“299 gesprochen. Diese kleine Schrift beinhaltet laut Thomas Ervens die frühesten Ansätze Schliers, die sich mit dem Dogma als solchem beschäftigen und die der Bonner Exeget nach dem Zweiten Weltkrieg in größeren Abhandlungen ausfalten wird.300 Als erster größerer Text in dieser Reihe ist der im Jahre 1948 publizierte Aufsatz „Über das Hauptanliegen des 1. Briefes an die Korinther“301 zu nennen, in dem Schlier die Einsicht formuliert, welche er zwei Jahre später, 1950, in seiner Schrift

295 Löser, Dimensionen, 493. 296 Schlier, Heinrich: Über die Auferstehung Jesu Christi (Kriterien 10), Einsiedeln: Johannes 51983, 58. 297 Vgl. Schlier, Grundzüge, 16. 298 Schlier, Heinrich: Das Schifflein der Kirche, in: Schlier, Geist und die Kirche, 217. 299 Ebd., 207. 300 Vgl. Ervens, Keine Theologie, 180. 301 Dieser Text findet sich in: Schlier, Zeit der Kirche, 147-159. 62 „Kerygma und Sophia – Zur neutestamentlichen Grundlegung des Dogmas“302 ein weiteres Mal breiter und besser fundiert darlegen wird: Das Kerygma, die Verkündigung des Paulus, lasse sich nach Schlier mit dem, was man später ‚Dogma‘ nennen wird, gleichsetzen.303 Zum besseren Verständnis muss daher zunächst in groben Zügen Wesentliches des Gedankenganges Schliers, den er im gerade genannten Aufsatz entfaltet, nachgezeichnet werden. Als Bemerkung sei zuvor an dieser Stelle noch erwähnt, dass Schlier nicht nur das mit dem Begriff ‚Dogma‘ Gemeinte bereits im Neuen Testament zu entdecken glaubt – es ist auch interessant, dass er dies Jahre vor seiner Konversion tut und somit die Weichen zu dieser seiner Lebenswende zum Katholischen hin schon gestellt scheinen.

1. Das Dogma – neutestamentlich grundgelegt

Schlier meint, das Dogma (welches der Exeget, wie wir oben sahen, mit dem Kerygma identifiziert) im Bereich des Neuen Testaments, konkret in Kapitel eins und zwei des ersten Korintherbriefs, aufgespürt zu haben304. Im vierten Abschnitt seiner Schrift „Kerygma und Sophia“ erläutert Schlier das Wesen des Kerygmas – und dies so, „daß sich dabei alle Elemente einstellen, die das Dogma im Prinzip ausmachen“305: Das paulinische Kerygma ist nach Schlier zuerst „als eine authentische, die Öffentlichkeit angehende, zur Formulierung neigende Kund- und Wiedergabe einer Mitteilung zu verstehen“306 und diese Mitteilung ist nichts weniger als das Christusereignis – Jesus Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene, der im und durch das Kerygma proklamiert wird.307 Der auferstandene Christus zeigt sich den Zeugen, er „überliefert sich durch seine Erscheinung vor den Zeugen an das Wort und damit an die Sprache und an den Satz.“308 Dieses Festhalten des Apostels am Wort-Laut des Wortes, welches aus dem Ereignis Christi, aus seiner Person und deren Tod und Auferstehung, hervorgeht, soll die Gemeinde vor Irrlehren schützen309. Dieses Wort bezeichnet Schlier mit „Paradosis“310, was sich wohl sinngemäß mit „Überlieferung“ übersetzen lässt. Kerygma geht nach Schlier „als normative apostolische Paradosis … zeitlich und zuletzt auch sachlich dem

302 Schlier, Zeit der Kirche, 206-232. 303 Vgl. Löser, Werner: Das „bleibend Denkwürdige“. Zum Dogmenverständnis Erik Petersons und Heinrich Schliers, in: Löser, Werner/ Lehmann, Karl/ u. a. (Hg.): Dogmengeschichte und katholische Theologie. FS Heinrich Bacht, Alois Grillmeier, Adolf Schönmetzer, Würzburg: Echter 1985, 343. 304 Vgl. Schlier, Heinrich: Über das Hauptanliegen des 1. Briefes an die Korinther, in: Ders., Zeit der Kirche, 147-159. 305 Löser, Das „bleibend Denkwürdige“, 344. 306 Schlier, Heinrich: Kerygma und Sophia – Zur neutestamentlichen Grundlegung des Dogmas, in: Schlier, Zeit der Kirche, 214. 307 Vgl. ebd. 308 Ebd., 215. 309 Vgl. ebd., 216. 310 Ebd. 63 Evangelium als Verkündigung voraus“311, ja, „zum Wesen des Kerygmas im Sinne des Paulus [gehört], daß es die als Offenbarungslogos der Auferweckung Christi Jesu gesetzte, authentische, zur Formulierung neigende, von der Sache her zur Einheit drängende, normative, apostolische und den Christen vorgelegte Paradosis in sich birgt, bzw. nichts anderes als diese ist.“312 Heinrich Schlier kann sogar von der Offenbarung Gottes als dem einen Paradosisereignis des Wortes313 sprechen, „das Gott in der Person Jesus Christus geredet hat, und das die Apostel durch den heiligen Geist vielfältig und doch einmütig gesagt und niedergeschrieben haben.“314 Es ist ein Wort, das auf Antwort drängt, wie Schlier schreibt, ein Wort, das die Kirche zum Bekenntnis herausfordert und das letztlich „die Entscheidung des Glaubens hervor[holt] bis in bestimmte Sätze oder Dogmen hinein.“315

1.1 Praesymbola und Homologien

Das Dogma steht, so lässt sich der bisherige Gedankengang in eine Art zusammenfassendes Wort gießen, „an der Schnittstelle der Elongatur der Offenbarung ins Kerygma und der im Heiligen Geist gewirkten kirchlichen Homologie.“316 Damit bringt Schlier nun zwei Begriffe ins Spiel, die nicht unwesentlich sind und daher kurz Erwähnung finden sollen: Zum einen den Terminus ‚Homologie‘, ein sprachlicher Ausdruck, der durch die Art und Weise, wie er sich darstellt, ein Zeichen für dessen inhaltliche Bedeutsamkeit gibt. Man könnte hier auch von ‚Übereinstimmung‘ oder ‚Verwandtschaft‘ sprechen. Thomas Ervens setzt ‚Homologie‘ und ‚Dogma‘ indirekt317 gleich, wenn er, ganz auf der Linie Schliers, formuliert: „Die Homologie bzw. das Dogma ist in Rückbindung an das Ursprungsereignis dessen bleibend gültige, geschichtliche Realisation.“318 Das Ursprungsereignis ist das Christusgeschehen, welches sich den Zeugen ansichtig macht und als solches wort-haft wird: Zuerst in der Verkündigung, dem Kerygma der Apostel und darin (beziehungsweise auch daraus) eben in Sätzen, welche die Einheit des Glaubens der Gemeinde bewahren sollen: In Homologien. Noch einmal: Das Evangelium, die ‚gute Botschaft‘ von Tod und Auferstehung Christi,

311 Schlier, Kerygma und Dogma, 216. 312 Ebd., 217. 313 Vgl. Ervens, Keine Theologie, 181. 314 Schlier, Schifflein der Kirche, 217. 315 Ebd. 316 Ervens, Keine Theologie, 181. 317 ‚Indirekt‘ ist hier in diesem Sinn gemeint, dass Homologie und Dogma, wie auch Kerygma und Dogma zumindest von der Form her, in der sie erscheinen, nicht einfach deckungsgleich sind, da das Dogma nach Schlier die in der je aktuellen Zeit das Kerygma neu erläuternde Form ist: „Im Kerygma und seiner legitimen jeweiligen präzisen Entfaltung, dem Dogma, überliefert sich die Wahrheit wieder dem Erkennen.“ Vgl. dazu Schlier, Kerygma und Sophia, 231. 318 Ebd., 182. 64 entsteht aus dem Kerygma, ja, das Evangelium entlässt sich aus ihm, und nicht umgekehrt.319 Zum zweiten legt uns Schlier den Begriff ‚Praesymbol‘ vor, unter dem man eine neutestamentliche Glaubensformel verstehen kann. Als ‚symbolon‘ hat die frühe Kirche das bezeichnet, was wir ‚Glaubensbekenntnis‘ nennen, und die Vorsilbe ‚prae‘ weist auf eine Vor-Form eben dieser ausführlicheren, in verbindlichen Worten zum Ausdruck gekommenen Bekundungen gemeinsamen Glaubens hin, die sich, wie uns Schlier darlegt, bereits im Neuen Testament finden und „die im Prinzip das darstellen, was die Theologie später Dogma nannte.“320 In diesen Praesymbola, deren situationsbedingte Ausformungen die unterschiedlichen Textgruppen des Neuen Testaments sind und welche daher am dogmatischen Charakter eben dieser Glaubensformeln oder Praesymbola teilnehmen, liegt das Kerygma in sprachlich festgelegter Form vor. Somit lassen sich Homologie und Praesymbol mit dem Kerygma identifizieren, sofern sie dieses als aus dem Ursprungsereignis, dem Christusgeschehen, kommend und zu Wort Gewordene entfalten und in je aktuelle Zeithorizonte über-setzen (im doppelten Sinn) und hörbar machen. Sie können daher nach Schlier als Vorformen dessen, was wir heute unter ‚Dogma‘ verstehen, bezeichnet werden.

2. Das vorläufig Endgültige: Was ‚Dogma‘ bedeutet

Nachdem nun holzschnittartig angedeutet wurde, in welchen Formen Schlier das von uns heute als ‚Dogma‘ Bezeichnete in den neutestamentlichen Schriften zu ergründen sucht, soll endlich darauf eingegangen werden, was ‚unser‘ Exeget im Zuge seiner Untersuchungen und als eines seiner daraus gewonnenen Ergebnisse eigentlich unter diesem Begriff versteht. Es liegt nahe, dass Schlier hier, wie es des Öfteren bei ihm der Fall ist, über das Zeugnis der biblischen Texte hinausgeht321, um in einer theologischen Auslegung ‚die Sache‘, von der die Schriften des Alten und des Neuen Bundes sprechen, also das Eigentliche, zur Sprache zu bringen.322 Der Vorgang der Auslegung der biblischen, hier: der neutestamentlichen Texte, ist nach Schlier mit der Erhebung ihres inhaltlichen Bestandes durch historisch-philologische Methoden keineswegs zu Ende. Das, was die biblische Theologie aus der Schrift erhebt, bietet sie der Kirche an, die es in ihre Glaubensbesinnung hinein aufnimmt und in dieser durchdenkt – dies geschieht in der dogmatischen Theologie323, welche „die theologischen Sachverhalte

319 Vgl. Schlier, Kerygma und Sophia, 216. 320 Löser, Das „bleibend Denkwürdige“, 345. 321 Vgl. Löser, Werner: Das Werk Heinrich Schliers: eine Theologie des Neuen Testaments, in: ThPh 87 (2012), 86: Zu Beginn dieses Beitrags schreibt Löser, dass Schlier die üblichen philologischen und historischen Methoden der Exegese nicht missachtet hat, sich „aber gedrängt und in der Lage [sah], einen wesentlichen Schritt darüber hinauszugehen.“ 322 Vgl. unter anderem Schlier, Was heißt Auslegung?, 58. 323 Vgl. Schlier, Biblische und dogmatische Theologie, 31. 65 nicht mehr als solche bedenken [möchte], wie sie sich dem Glaubensdenken der Schrift darstellen, sondern sie will in dem von diesem eröffneten und grundsätzlich umgrenzten Raum unter ständiger Aussprache mit der daraus gewonnenen und in der Überlieferung verwahrten Erkenntnis, Erfahrung und Entscheidung der Kirche auf die Sache selbst hinausdenken.“324 Nach Schlier bleibt die dogmatische Theologie nicht beim Glaubenshorizont der Schrift stehen, also bei dem, was der Verfasser einer biblischen Schrift seinem damaligen Umfeld sagen wollte, sondern sie fragt nach der bleibenden Gültigkeit der auf eine bestimmte Weise in Worten niedergelegten Offenbarung Gottes und nach ihrer Wahrheit für den Menschen der je aktuellen Zeit. Sie öffnet somit den Blick nicht zuletzt auf ein weiteres (hier räumlich zu verstehen) Verständnis der Offenbarung Gottes, welche sich nicht allein in Texten ‚inkarniert‘, sondern auch in Kult, Recht, Charisma, et cetera, wie Schlier mehrfach betont hat.325 Über die ‚Sache‘ hinauszudenken, wie es die dogmatische Theologie tut, heißt für Schlier nicht, sich als im (und den) Glauben denkende Kirche von den Sachverhalten, die durch die Offenbarung geschenkt werden, zu entfernen326. Das, was „in dem Glaubensdenken der Bibel gedacht und von der Biblischen Theologie nachgedacht war, das hat diese der dogmatischen Theologie vorgedacht, damit sie es nun durchdenke und unter Umständen zu Ende denke“327, formuliert Schlier in der ihm eigenen Art und Weise. Weiters kann dieses „Zu-Ende-Denken, welches im Glaubenskonsensus der Kirche stattfindet, … sofern es das Ganze und auch die Stunde der geistigen Situation fordern und erlauben, zur Fixierung im Dogma führen“328, fährt Schlier fort, der allerdings auch zu bedenken gibt, dass eine solche Situation für Menschen, die außerhalb jener Zeiten leben, in welchen ein Sachverhalt zum Dogma erhoben wird, meistens schwer einsehbar und unzugänglich ist.329 Aber nicht nur geschichtlichen Gegebenheiten entsteht nach Schlier Dogma, sondern vielmehr in Freiheit.330 Um noch einmal auf das Wesentliche des Schlierschen Dogmenverständnisses zurückzukommen, sei mit dem Bonner Exegeten erwähnt, dass das Dogma „nicht das Ende des Bedenkens“331 bedeute, „sondern die Erhebung des Bedachten in das unbestreitbar und unverlierbar Denkwürdige“332, ist Dogma nicht zuletzt ein „eschatologisches Phänomen“333 da eine „in einem spezifischen

324 Schlier, Biblische und dogmatische Theologie, 31. 325 Vgl. Schlier, Was heißt Auslegung?, 58-59. 326 Vgl. Schlier, Biblische und dogmatische Theologie, 31. 327 Ebd. 328 Ebd., außerdem: Schlier, Was heißt Auslegung?, 60. 329 Vgl. Schlier, Biblische und dogmatische Theologie, 32, Fußnote 7. 330 Vgl. ebd., 32. 331 Ebd. 332 Ebd. 333 Ebd., Fußnote 7. 66 Sinn auf das Ende ausgerichtete, weil das Endgültige vorläufig aufweisende Größe.“334 Bei alledem geht Schlier aber auch davon aus, dass sich Dogmen verändern können, da sie „als Sätze nicht unveränderlich“ seien, was sie von den Sätzen der Heiligen Schrift unterscheide. Sie „verändern sich nur im Sinne steter Übersetzung und Auslegung als Stimme der gemeinsamen Glaubensbesinnung und –entscheidung der Kirche, die auch darin die bleibende Wahrheit verkündet.“335

3. Evangelische Kritik an Schliers Dogmenverständnis

Das Dogmenverständnis Heinrich Schliers ist von katholischer Seite frappierend dürftig gewürdigt worden; im Jahre 1985 erwähnt Löser allein Walter Kasper und Karl Lehmann, die auf Schliers Überlegungen, wenn sie diese auch nicht eingehend in eigene Konzeptionen eingearbeitet haben, doch zumindest darauf hingewiesen hätten.336 Evangelischerseits wurden Schliers Ausführungen zum Dogma mehr beachtet, „freilich fast durchgehend im Sinne einer Ablehnung“337, was unter anderem im umfangreichen Werk von Bendemanns über die Schliersche Interpretation der paulinischen Theologie sichtbar wird: Von Bendemann stößt sich zunächst an den Begriffen ‚Praesymbola‘ beziehungsweise ‚Dogma‘, die für ihn „äußerst klärungsbedürftige Kategorien“338 bieten und „in ihrer interpretativen Anwendung anachronistisch“339 seien, wobei er in einer Fußnote zum Gesagten allerdings auch zugesteht, dass es „sicher eine zu große, unbegründete protestantische Angst“340 vor dem Terminus ‚Dogma‘ gäbe. Löser zufolge habe Ulrich Wilckens, der vor seiner Emeritierung als Professor für Neues Testament in Marburg, Berlin und Hamburg tätig war, die ausführlichste Stellungnahme zu Schliers Aufsatz „Kerygma und Sophia“ verfasst, in welcher der Bibliker unter anderem kritisch anmerkt, dass es erst in den Pastoralbriefen Glaubensformeln gäbe, die auf Christus zurückgeführt würden und somit heilige, integre Sätze seien; Paulus aber kenne laut Wilckens solche Sätze nicht.341 Schlier hatte das, wie wir sahen, schon im Korintherbrief für möglich gehalten. Werner Löser versuchte, die Position Schliers darstellend, dies nachdrücklich zu unterstreichen: „Satzhafte Fixierungen des Evangeliums tauchen auch nicht erst in den Pastoralbriefen oder in anderen Spätschriften (z.B. 1 Tim 3,16) auf, sondern – historisch und

334 Schlier, Biblische und dogmatische Theologie, 32, Fußnote 7. 335 Schlier, Heinrich: Das bleibend Katholische. Ein Versuch über ein Prinzip des Katholischen, in: Schlier, Ende, 310. 336 Vgl. Löser, Das „bleibend Denkwürdige“, 348. 337 Ebd. 338 Von Bendemann, Schlier, 258. 339 Ebd. 340 Ebd., Fußnote 197. 341 Vgl. Löser, Das „bleibend Denkwürdige“, 348-349. 67 sachlich gesehen – gehen sie sogar allen Schriften des Neuen Testamentes voraus“342, wobei Löser anschließend auf die sogenannten Bekenntnisformeln, etwa 1 Kor 15,3-5, verweist.343 Auf die Diskussion, die sicher zunächst mit Worterklärungen und Definitionen einsetzen müsste, kann hier freilich nicht eingegangen werden. Dass der Wissenschaftler Heinrich Schlier als solcher, wie auch als Privatmensch, durchaus gesprächsbereit und – wie es auch seiner Theologie entspricht – offen für das Wort von außen war, zeigt die Reaktion auf eine weitere Anfrage Wilckens zur Schrift „Kerygma und Sophia“: Schlier habe nach Wilckens die Aussagen des Paulus zu wenig differenziert im Horizont der Philosophie des Seins dargestellt, und sich so in jenem Bereich unsachgemäß der Kategorien Martin Heideggers bedient344, indem Schlier etwa Gott und das Sein gleichgesetzt hätte345 – eine Kritik, mit der Wilckens nach Löser durchaus „Richtiges … trifft“346. In seinen später verfassten Arbeiten habe Schlier, so weiß Werner Löser darauf zu berichten, diese stark an das Denken Heideggers angelehnten Identifizierungen nicht mehr vorgenommen und lasse somit erkennen, dass er damit auf die gegen sein Werk gerichteten kritischen Anfragen eingegangen sei.347 Schlier war, das zeigt nicht zuletzt das oben genannte Beispiel, empfänglich für Kritik und sich nicht zu schade, seine Ergebnisse, wenn es ihm nötig schien, zu korrigieren und auch auf diese Weise die Suche nach der Wahrheit, um die es ihm Zeit seines Lebens in der (nicht allein) wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Schrift ging, voranzubringen. So lässt sich mit Werner Löser die Theologie Schliers treffend zusammenfassen: „Theologie als Schriftauslegung im Dialog mit der kirchlichen Auslegungsgeschichte wie sie sich nicht nur, aber doch auch in den Dogmen der Kirche darstellt – das ist das Programm, das sich schließlich aus Schliers Reflexionen über das Wesen und den Sinn eines Dogmas und der auf es bezogenen Theologie ergeben hat.“348 In diesem Sinn sei im letzten Kapitel der vorliegenden Arbeit noch ein Blick auf die Theologie Heinrich Schliers geworfen.

342 Löser, Dimensionen, 494. 343 Vgl. ebd. 344 Vgl. Löser, Das „bleibend Denkwürdige“, 349. 345 Vgl. ebd., 350, Fußnote 77. 346 Ebd. 347 Ebd.. 348 Ebd., 348. Vgl. dazu auch Löser, Dimensionen, 481-497. 68 Viertes Kapitel

Biblisch – dogmatisch – katholisch: Schliers Theologie

Heinrich Schliers „exegetisch-theologisches Werk ist hauptsächlich Frucht seiner Verwurzelung in der theologischen Problematik des evangelischen Erbes und seiner kritischen Auseinandersetzung mit Prinzipien des modernen Denkens, die seiner Meinung nach in die evangelische Theologie der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts und in die römisch-katholische Theologie der nachkonziliaren Zeit eingedrungen sind.“349 Mit diesen Worten versucht Grzegorz Bubel, die theologische Positionierung und Situierung Schliers zu fassen, welche sich, wie Schliers theologisches Denken überhaupt, eben „im lebenslangen theologischen Gespräch mit dem evangelischen Erbe profiliert“350 hat. Die Theologie Schliers, um die es im Folgenden gehen und die mit Beschränkung auf einige wesentliche Akzente berührt werden soll, ist eine Rede von Gott, die sich intensiv mit dessen Wort auseinandersetzt und um die Größe der in ihm zur Sprache gekommenen beziehungsweise je neu kommenden Sache weiß. Wer mit Worten, ja mit dem Wort Gottes schlechthin zu tun hat und die Beschäftigung mit ihm, wie Schlier, in Bescheidenheit und Ehrfurcht ausübt, der ist sich auch der Kehrseite aller Worte und allen Redens und damit zugleich ihres notwendigen Gegenübers, bewusst: Dem Schweigen, was nach Joseph Ratzinger „der Grund dafür ist, daß sein Werk [das Werk Schliers, Anmerkung J.P.] nicht zur Theologia publica – zur Öffentlichkeitstheologie wurde“351 und „darum zugleich auch der Grund für den Tiefgang und für die Beständigkeit seines Werkes“352 darstellt. Nach Werner Löser hätten Kirche und Theologie von Schlier zu lernen, „welche wesentlichen Züge einer Theologie des Wortes Gottes aufweisen müßte“353, wobei Löser aber auch zu bedenken gibt, dass eine derart ausgerichtete Theologie bisher (also bis zum Erscheinungsjahr des Aufsatz im Jahre 1985) nicht wirklich gut im Kurs gestanden habe. Obwohl ihre Notwendigkeit nicht unterschätzt werden sollte, ließe sich nach Löser doch „die Bedeutung des Dogmas, die bekanntlich in der katholischen Kirche hoch angesetzt wird, wohl kaum befriedigend darlegen, es sei denn auf der Grundlage einer Theologie des Wortes Gottes.“354 In der jüngsten, sehr kurzen, Studie Lösers, die im Jahr der Abfassung der vorliegenden

349 Bubel, Sache zur Sprache bringen, 4-5. 350 Ebd., 265. 351 Ratzinger, Geleitwort, VII. 352 Ebd. 353 Löser, Das „bleibend Denkwürdige“, 351. 354 Ebd. 69 Arbeit erschienen ist, wird die Wichtigkeit einer solchen Theologie allerdings an keiner Stelle explizit betont, obwohl der Aufsatz von der Theologie Schliers handelt.355 Dieses weitgehende Fehlen einer Theologie des Wortes Gottes ist auch Schlier selbst bewusst gewesen356, und er hat Selbiges nicht nur einmal in seinen Werken thematisiert, zum Beispiel im Zusammenhang mit der von ihm konstatierten Krise der Predigt, deren Problem unter anderem sei, dass man nicht mehr wisse, worum es dabei überhaupt gehe: „Das hängt natürlich auch mit dem Mangel einer Theologie des Heilswortes und schließlich des Wortes überhaupt zusammen, der mehr und mehr empfunden wird“357, schreibt Schlier 1958, drei Jahre nach seiner Konversion, unter Verweis auf eine diesbezügliche Aussage Karl Rahners.358 Nach Schlier besteht die Aufgabe der Theologie darin, ebenjene „Wahrheit und Eigenheit [des Wortes Gottes, Anmerkung J.P.], die unverlierbar und unaustilgbar sind, zu hüten und ans Licht zu stellen“359, was er selbst in seinem eigenen Theologietreiben ein Leben lang versucht hat. Werfen wir nun in kurz einige Streiflichter auf die Theologie Schliers, um nicht nur über ihre Eigenart ‚von außen’ sprechen, sondern ihr Gesamt aufgrund einiger Kernpunkte sozusagen auch ‚von innen‘ beleuchten zu können.

I. Keine Theologie ohne Kirche

Diese Überschrift kann mit Thomas Ervens, der dieses Wort auch treffend als Titel seines Buches über die kritische Auseinandersetzung mit den theologischen Positionen Erik Petersons und Heinrich Schliers verwendet hat, als die These Schliers schlechthin in Bezug auf dessen wissenschaftliches Arbeiten gelten.360 Über die Schliersche Konzeption einer Theologie des Neuen Testaments sowie seine Sicht biblischer und dogmatischer Theologie wollen wir uns nun zum Theologiebegriff Heinrich Schliers vortasten, um ‚seine‘ These ein wenig besser verstehen und für das je eigene Theologietreiben fruchtbar machen zu können.

355 Vgl. Löser, Werk, 86-96. 356 Vgl. Löser, Dimensionen, 496. 357 Schlier, Wort Gottes, 7. 358 Im Anhang seines Büchleins „Wort Gottes“ gibt Schlier das bezeichnende, biblisch inspirierte Zitat Rahners wieder, welches sich in der Festschrift für Ludwig Ficker zu dessen 75. Geburtstag mit dem Titel „Zeit und Stunde“ (1956), 55, findet: „Ach daß es keine Theologie des Wortes gibt! Warum hat sich noch niemand daran gemacht, wie ein Ezechiel die zerstreuten Glieder auf den Feldern der Philosophie und Theologie zu sammeln und – das Wort des Geistes darüber zu sprechen, auf daß ein lebendiger Leib auferstehe?“ 359 Schlier, Gotteswort und Menschenwort, 36. 360 Vgl. Ervens, Keine Theologie, hier besonders interessant 184-214. 70 1. Schliers Versuch einer Theologie des Neuen Testaments

Heinrich Schlier hat, wie mittlerweile schon mehrfach angeklungen ist, „seine Einsichten im Sinne einer Theologie des Neuen Testaments“361 entfaltet, was, in anderen Worten, nichts anderes bedeutet als dass der Exeget „die Auslegung des Neuen Testaments in der Weise eines vom Glauben getragenen Nach- und Durchdenkens seiner Botschaft“362 vollzogen hat, wie besonders in den Ausführungen zum Schlierschen Dogmenbegriff ansichtig geworden ist. Auf Sinn und Art einer neutestamentlichen Theologie befragt, muss man mit Schlier zur Antwort geben, dass sie „die Offenbarungsinhalte, soweit sie in den vorder- und hintergründigen Glaubensreflexionen des NT erfasst sind, in ihrem Zusammenhang aufhellen“363 möchte und „das NT auf seine theologischen Gegenstände und Aussagen hin“364 befragt. Die Phrase ‚das NT‘ weist schon darauf hin, dass Schlier das Neue Testament als ein Buch versteht, und das entgegen den modern gewordenen Teilungs- und Differenzierungsvorgängen der historisch-kritischen Exegese. Freilich sind diese notwendig, um Umfeld und Entstehung der jeweiligen Einzelschriften des Neuen Testamentes zu erhellen, dürfen aber nicht in ihrem gedanklichen und theologischen Gesamtduktus dergestalt – böse gesagt – zerstückelt zurück bleiben, da ansonsten die Einheit, auf die Schlier großen Wert legte365, nicht mehr gewährleistet ist: Weder die Einheit des Neuen Testaments, noch – darauf aufbauend, die Einheit der Theologie und die Einheit der Kirche. Diese Einheit des Neuen Testaments ist für Schlier schon allein von dem einen Thema her gegeben, welches die Einzelschriften auf je eigene Art und Weise und zu je anderen Zeiten und in unterschiedlichen geschichtlichen Kontexten behandelt und in eigenen ‚Theologien‘366 ausgedrückt haben: das Thema „der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus.“367 Dieses inhaltliche Leitelement wird im Neuen Testament bereits in einem aus dem Glauben kommenden und von ihm angetriebenen Reflexionsprozess von verschiedenen Perspektiven und unter, von Buch zu Buch anderen, zeitgegebenen Fragestellungen sowie geisteshorizontalen Durchdringungsleistungen anvisiert und zum Weiterdenken angeboten. Die ‚reine‘ Offenbarung ist nach Schlier aus den Worten der Schrift also niemals zu erhalten, da sich

361 Löser, Das Werk Heinrich Schliers, 86. 362 Ebd. 363 Schlier, Biblische und dogmatische Theologie, 28. 364 Ebd. 365 Vgl. schon allein die Titel mancher Schlier-Aufsätze, etwa „Die Einheit der Kirche im Denken des Apostels Paulus“, in: Schlier, Zeit der Kirche, 287-299. 366 „Die Aufgabe dieser Theologie [des NT, Anmerkung J.P.] ist erst geleistet, wenn es nun auch gelingt, die Einheit der verschiedenen ‚Theologien‘ sichtbar zu machen. Erst dann ist der Name und der in ihm waltende Begriff überhaupt sinnvoll.“ Vgl. Schlier, Heinrich: Über Sinn und Aufgabe einer Theologie des NT, in: Schlier, Besinnung, 19f. 367 Schlier, Biblische und dogmatische Theologie, 25. 71 diese, als Selbstmitteilung Gottes, immer auf das Wort des Menschen einlässt und in ihm, mit allem dem jeweiligen Träger des Gotteswortes eigenen Gepräge, zu anderen Menschen kommt und sich auf diese Weise ausbreitet. Kurz: Das Neue Testament, so formuliert Schlier, weise aus, „daß das Offenbarungsgeschehen nie anders vor-, und das heißt zu Wort und Sprache kam, als so, daß es mit dem Glauben das Glaubensdenken entzündete und die Glaubensreflexion provozierte“368, also folglich stets „in, mit und unter der Glaubensinterpretation derer, die es weitersagten, zutage“369 trat. Zwei Bemerkungen aus der inhaltlichen Fülle des Schlier’schen Werkes über eine Theologie des Neuen Testaments seien an dieser Stelle noch gegeben, um unsere ob des Rahmens der vorliegenden Arbeit vagen Ausführungen diesbezüglich abzurunden: Zunächst ist die Warnung Schliers zu nennen, einer allzu großen Verallgemeinerung der neutestamentlichen Theologie Vorschub zu leisten, die nach ‚unserem‘ Exegeten „wie jede echte Theologie eine konkrete“370 sei. Was diese Schlier’sche Aussage über die Konkretion wirklich konkret bedeutet, muss unbeantwortet bleiben; auch Schlier führt dies nicht weiter aus. Seine Bemerkung zielt endlich auf den Kanon der Heiligen Schrift ab, wenn der Exeget anführt, dass zur „Vollständigkeit einer Theologie des NT … freilich noch eines [gehört]: der Erweis ihrer sachlichen Einheit mit der des AT bzw. ihres Verhältnisses zur atl Theologie.“371 Damit ist wiederum eines der Hauptanliegen Schliers im Spiel – die Einheit: „Erst mit dem AT zusammen ist ja das NT Heilige Schrift und Kanon.“372 Schlier begründet diese Einheit von Altem und Neuem Testament in der Heiligen Schrift mit deren Komplementarität: beide sind aufeinander angewiesen, ergänzen und befruchten einander, was in weiterer Folge auch für beide Theologien, also für jene des Alten sowie der des Neuen Testaments gilt. Mit Schlier müsse man immer neu in Erinnerung rufen, „daß die Theologie des AT im einzelnen und im ganzen in der Theologie des NT aufgehoben ist, aber so, daß jene diese von innen her bestimmt und erhellt und umgekehrt und daß deshalb auch erst eine biblische Theologie die Fülle einer ntl Theologie zur Erscheinung bringen kann.“373

1.1 Einander das Angesicht zukehren – Biblische und dogmatische Theologie

Über biblische und dogmatische Theologie aus der Sicht Heinrich Schliers ist in dieser Arbeit bereits relativ viel gesagt worden, weshalb sich die folgenden Ausführungen eher kurz

368 Schlier, Biblische und dogmatische Theologie, 26. 369 Ebd., 26. 370 Schlier, Sinn und Aufgabe, 20. 371 Ebd. 372 Ebd. 373 Ebd.. 72 gestalten werden. Erhellendes zum Thema findet sich besonders in jenem Aufsatz Schliers aus dem Jahre 1963, der in die Überschrift dieses Unterkapitels eingebaut wurde und sich schlicht „Biblische und dogmatische Theologie“374 nennt. Schlier geht darin von einer Offenheit des Wortes der Schriftoffenbarung aus, die er in einem sogenannten „Urwort“375 begründet sieht. Dieses Urwort sei nichts anderes als das „Wort, in das sich das Offenbarungsgeschehen eingelassen hat und in dem es in der Kraft des Geistes verwahrt wird.“376 Die oben genannte Offenheit des Schriftwortes sei es nach Schlier auch, „die neben und nach der Biblischen Theologie die dogmatische erlaubt und fordert.“377 Mit einem schönen Schlierschen Bild gesprochen, welches zugleich auch den Sinn des Zusammenspiels beider Theologien andeutet, heißt dies: „Biblische und dogmatische Theologie bewegen sich beide im Zuge des großen Aufdeckungsprozesses der Offenbarung, und zwar so, daß sie ihr Angesicht einander zukehren.“378

2. Zum Theologiebegriff Heinrich Schliers

Die Theologie Schliers lässt sich, wie jede andere Theologie auch, nicht ohne Biographie des Theologietreibenden verstehen, was „in besonderem Maße für die Theologie H. Schliers, die aufs engste mit seiner Lebensgeschichte verbunden ist“379, gilt. Das zeigt sich nicht zuletzt in Schliers Konversionsschrift „Kurze Rechenschaft“380, in welcher der Exeget als entscheidenden Anstoß zum Übertritt in die katholische Kirche seine Beschäftigung mit den Schriften des Neuen Testaments nennt.381 Zuvor spricht Schlier auch von seinen Erfahrungen in der ‚Bekennenden Kirche‘, mit der er sich nach eigenen Worten „eins wußte und auch bis zuletzt eins blieb“382 und welche sein „Verlangen nach dem ‚Katholischen‘“383, wie er schreibt, bestärkten und ihn denkerisch (und in der Konsequenz dann auch existentiell) „an den Rand der evangelischen Theologie und Kirche brachten“384 und somit als Schlüsselerfahrungen385 des Exegeten gewertet werden können. Geistige Auseinandersetzungen mit dem Phänomen ‚Dogma‘ oder die Frage des Amtes in der Kirche

374 Vgl. Schlier, Biblische und dogmatische Theologie, in: Schlier, Besinnung, 25-34. 375 Ebd, 27. 376 Ebd. 377 Ebd. 378 Schlier, Biblische und dogmatische Theologie, 32. 379 Löser, Werner: (Rez.) Bendemann, Reinhard von, Heinrich Schlier. Eine kritische Analyse seiner Interpretation paulinischer Theologie, in: ThPh 74 (1999), 283. 380 Vgl. Schlier, Rechenschaft, in: Schlier, Geist und die Kirche, 270-289; vgl. auch das erste Kapitel, Absatz II., der vorliegenden Arbeit. 381 Vgl. Schlier, Rechenschaft, 274. 382 Ebd., 273. 383 Ebd. 384 Ervens, Keine Theologie, 210. 385 Vgl. ebd., 209. 73 wurden für Schlier in dieser Zeit aufs Neue virulent386 und blieben es bis zuletzt. In dieser spannungsreichen und im wahrsten Sinne des Wortes lebensgefährlichen Zeit, konkret im Jahre 1936, hat Schlier in einem Referat, welches er vor rheinischen Theologiestudierenden der Bekennenden Kirche hielt387, festgehalten, dass Theologie treiben nicht bedeute, „christliche Geisteswissenschaft“388 zu studieren, sondern dass man sich neu der ‚Sache‘ bewusst werden müsse, um die es in der Theologie gehe. Diese ‚Sache‘ nennt Schlier Gott, „so wie er sich in das irdisch-menschliche Wort der Geschichte Jesu Christi hineingeoffenbart hat.“389 Diese Sachlichkeit der Theologie erweist sich nach Schlier auch darin, dass Gott Mensch geworden ist390 – diese Einsicht wird Schlier, wie wir bereits sahen, in seiner ‚Rechenschaft‘, 19 Jahre später, dergestalt auf den Punkt bringen: „daß Gott sich ein für allemal und in realer Weise für die Welt entschieden hat … Und alles ist nun durch seine Entschiedenheit und sein Entschiedenhaben und Entschiedensein bestimmt.“391 Joseph Ratzinger hat auf das Referat Schliers über die „Verantwortung des Theologiestudenten“392 im Jahre 2003 im Rahmen eines Vortrages zum 100-jährigen Bestehen der Päpstlichen Bibelkommission Bezug genommen – worin er Schlier als ‚großen Schüler‘ Bultmanns bezeichnet393 - und das im Folgenden wiedergegebene, auch von Ratzinger durch seine Rede „der Vergessenheit entrissene“394 Zitat Schliers ausdrücklich in den Kontext zurückbettet, in dem der Schlier-Text gehalten wurde: „Man darf ja doch nicht meinen, daß das Verurteilen aufhöre, wenn man jeden nach Gutdünken urteilen läßt. Hier ist konsequent nur die liberale Ansicht, daß es so etwas wie eine Entscheidung über die Wahrheit einer Lehre überhaupt nicht gibt und deshalb jede Lehre ein bißchen wahr und alle Lehre in der Kirche zu dulden sei. Aber diese Ansicht teilen wir nicht. Denn sie leugnet, daß Gott wirklich unter uns entschieden hat.“395 Dazu Ratzinger zeitgeschichtlich kommentierend: „Wer sich daran erinnert, daß damals ein großer Teil der Evangelisch-Theologischen Fakultäten nahezu

386 Vgl. Schlier, Rechenschaft, 273- 274. 387 Vgl. Schlier, Heinrich: Die kirchliche Verantwortung des Theologiestudenten, in: Schlier, Geist und die Kirche, 225-240. 388 Ebd., 228. 389 Schlier, Kirchliche Verantwortung, 229. 390 Vgl. unter anderem ebd., 229. 391 Schlier, Rechenschaft, 278. 392 Vgl. Schlier, Die kirchliche Verantwortung des Theologiestudenten. Schlier hat den Titel dieses Aufsatzes, wie damals üblich, nicht in gegendert. 393 Vgl. Ratzinger, Joseph: Kirchliches Lehramt und Exegese. Reflexionen aus Anlaß des 100-jährigen Bestehens der Päpstlichen Bibelkommission, in: IKZ 32 (2003), 525. Ratzinger hat schon im Jahre 1980, im Geleitwort zur posthum erschienenen vierten Aufsatzsammlung Schliers „Der Geist und die Kirche“, auf diese Rede des Exegeten hingewiesen und sie als „tapferen Vortrag“ bezeichnet, „der zugleich ein wichtiges Dokument des kirchlichen Widerstands“ darstelle. Vgl. zum Letztgenannten Ratzinger, Geleitwort, IX, in: Schlier, Geist und die Kirche. 394 Ratzinger, Geleitwort, IX, in: Schlier: Geist und die Kirche. 395 Schlier, Kirchliche Verantwortung, 232. 74 vollständig in den Händen der deutschen Christen war und daß Schlier aufgrund solcher Aussagen, wie ich sie eben zitierte, aus dem akademischen Lehramt ausscheiden mußte, kann auch die andere Seite der Problematik sehen.“396 In der Tat ist es die Einsicht der Entschiedenheit Gottes für die Welt, die die Schliersche Theologie (welche die Schriftauslegung Schliers bedingt und umgekehrt) und damit letztlich auch sein Verständnis dessen, was ‚katholisch‘ bedeutet, prägen, formen und bestimmen wird. Immer geht es Schlier dabei um die Wahrheit, wobei er darauf hinweist, dass die „Wahrheit der Schrift …, pointiert gesprochen, nicht die Richtigkeit ihrer Angaben über historische Daten und Fakten“397, sondern „der unabweisbare Anspruch der in der Geschichte und geschichtlich geschehenen Zusage und Zukunft der Treue Gottes in der Recht- und Gnadentat Jesus Christus“398 ist. Diesen Anspruch Gottes „aus der Schrift dem Verstehen entfalten heißt die Wahrheit sich ereignen lassen.“399 Zusammenfassend lässt sich mit Thomas Ervens sagen: „Die Wahrheit, um die der Mensch und auch der Theologe in seinem Denken ringt, ist von Gottes Entscheidung in der Inkarnation her in die Geschichte eingeschrieben und setzt sich fort bzw. realisiert sich konkret geschichtlich in der Kirche.“400 Die Kirche, in der sich diese Realisierung ereignet, ist nach Schlier die Römisch-Katholische, da der Exeget in ihr die Grund-Entscheidung Gottes – die endgültige Entscheidung Gottes für die Welt – verwirklicht sieht, ja, weil Schlier in dieser Entscheidung Gottes ein Prinzip des Katholischen ausmacht. Davon soll nun im folgenden Abschnitt die Rede sein.

II. Wenn Gott auf dem Spiel steht: Über das ‚bleibend Katholische‘

1. ‚Dammbruch‘ in der katholischen Theologie

Im Jahre 1970, in der Aufbruchstimmung nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, kam in der Zeitschrift ‚Catholica‘ ein Aufsatz von Heinrich Schlier zum Abdruck, in dem der Exeget einen „Versuch über ein Prinzip des Katholischen“, so der Untertitel des Textes, wagt. Schlier tut dies jedoch nicht, ohne gleich zu Beginn den großen Anspruch, den er mit diesen Worten stellt, zu relativieren: als „ob ich imstande wäre, dazulegen, was das unaufgebbare

396 Ratzinger, Kirchliches Lehramt, 525. Die ‚eine‘ Seite der Problematik, die Ratzinger hier anspricht und der er als ‚andere‘ Seite eben das oben erwähnte Beispiel Schliers gegenüberstellt, handelt von der breit ausgefalteten und zum Einsatz gekommenen Methodik historisch-kritisch arbeitender ExegetInnen der evangelischen Seite, auf deren Ergebnisse die katholischen ExegetInnen ob ihrer vom Lehramt beschränkten Möglichkeiten nur neidisch sein konnten. Vgl. Ratzinger, Kirchliches Lehramt, 525. 397 Schlier, Was heißt Auslegung?, 488. 398 Ebd., 488. 399 Ebd., 488. 400 Ervens, Keine Theologie, 212. 75 Katholische ist, und als ob man überhaupt so leichter Hand sagen könnte … was das ist.“401 Schlier hat diesen Aufsatz, so kann man sagen, als eine Art Reflexion einer neu angebrochenen Situation (nicht nur, aber in diesem Fall speziell) innerhalb der katholischen Theologie verfasst und somit eine Antwort auf einige ihrer Strömungen gegeben. Die 60er Jahre schienen ihm nach eigenen Worten „durch einen Dammbruch gekennzeichnet, von dem man noch nicht weiß, ob er eine heilsame Wiederbelebung ausgetrockneter Fluren oder ob er eine heillose Überflutung durch den Geist der Zeit zur Folge hat.“402 Der Exeget erlebte in „der postkonziliaren römisch-katholischen Kirche und Theologie … leidvoll die Wiederholung von bereits überwunden geglaubten Einseitigkeiten der Entwicklung auf evangelischer Seite“403, wobei besonders die „communio-Ekklesiologie des II. Vatikanischen Konzils“404 für Schlier „eine Erschütterung der am Epheserbrief gewonnenen Ontologie der als Leib Christi konzipierten Kirche“405 bedeutete. Jahre später wird sich Schlier vor einem größeren Publikum nicht mehr zu kirchlichen Entwicklungen äußern oder höchstens vage Andeutungen machen406. Kritische Töne bezüglich der katholischen Theologie lassen sich jedoch ‚intern‘ schon früh vernehmen. So erhebt der Exeget in einem Brief an Erik Peterson aus dem Jahre 1950, also drei Jahre vor der Konversion Schliers, wie folgt das Wort: „Mir scheint … sie [die katholische Theologie, Anmerkung J.P.] ist (wie die ev. Theologie, nur aus anderen Gründen) all dem, was sich heute im Menschen u. in der Welt ereignet, nicht mehr gewachsen. So laufen ihr, u. damit weithin der Kirche, die Menschen einfach davon…“407 Ein Jahr nach dem Aufsatz über das ‚bleibend Katholische‘ - dessen Grundlinien in den weiteren Ausführungen noch bedacht werden sollen – konstatiert Schlier, dass die Kirche in die Krise gekommen sei: „Sie [die Kirche] ist Krisen gewohnt. Das ist kein Trost. … Jedenfalls ist der Geisteszustand der Welt auch in sie schon eingedrungen und viele merken es nicht einmal.“408 Werfen wir nun einen Blick auf Schliers Gedanken über ein Prinzip des Katholischen, welches für den Exegeten „von der Bibel her das Prinzip der Entscheidung“409 sein soll.

401 Schlier, Heinrich: Das bleibend Katholische. Ein Versuch über ein Prinzip des Katholischen, in: Schlier, Ende, 297. 402 Schlier, Heinrich: Einleitung, in: Ders., Ende, 9. 403 Bendemann, Schlier, 412. Der Begriff ‚postkonziliar‘ soll an dieser Stelle unkommentiert übernommen werden, da er heute – um es wertungsfrei zu sagen – unhinterfragt in die Theologensprache eingegangen zu sein scheint. Eine Auseinandersetzung mit diesem Terminus im Sinne der Debatte, ob das Zweite Vatikanum einen Bruch mit der vorhergegangenen Lehre vollzogen hat oder nicht, ist nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit und kann an hier folglich nicht geleistet werden. 404 Ebd. 405 Ebd. 406 Vgl. ebd., 414. 407 Brief Heinrich Schliers an Erik Peterson vom 5. 7. 1950, zitiert nach: Bendemann, Schlier, 414, Fußnote 56. 408 Schlier, Einleitung, 14-15. 409 Schlier, Das bleibend Katholische, 299. 76 2. Die entschiedene Entscheidung Gottes

In fünf Punkten entfaltet Schlier in seinem Aufsatz, den man mit Reinhard von Bendemann als „fundamentaltheologische Besinnung“410 einstufen kann, die Einsicht der entschiedenen Entscheidung Gottes.411 Dabei schreitet er, nach allgemeinen Vorbemerkungen zum Wesen des (Vor-)Prinzips412 der Entscheidung, ab dem zweiten Abschnitt seines Textes wesentliche Felder dessen, was er als ‚katholisch‘ versteht, ab und berührt auf diese Weise einige für ihn wichtige Grundthemen: So versteht Schlier die Kirche als Entscheidung Gottes, in der Welt bleiben zu wollen413, kommt in diesem Zusammenhang auf das Dogma zu sprechen, auf die Sakramente und das Amt (wobei er auch den Zölibat erwähnt und ihn als Zeichen der Entschiedenheit Gottes wertet414). Im dritten Abschnitt geht Schlier der Frage nach, was die Entscheidung Gottes bewirkt.415 Thematisch handelt er folglich über die Taufe, die Dogmengeschichte sowie die christlichen Grundtugenden Glaube, Hoffnung und Liebe. Abschnitt vier spricht abschließend über den Staat416, bevor Schlier in Abschnitt fünf seinen Gedankengang mit Bemerkungen über den Atheismus beendet.417 Ein paar Linien Schliers sollen nun ansatzweise nachgezeichnet werden, kommen hier aber nur zur Sprache, insofern sie für den Duktus der vorliegenden Arbeit von Interesse sind. So kann beispielsweise nicht näher auf das Verhältnis der Entscheidung Gottes und des Staates eingegangen werden. Ein paar Andeutungen aber seien nun gemacht; sie betreffen Gestalt und Gehalt der Entscheidung Gottes selbst, weiters die Frage, wie sich diese Entschiedenheit in der Welt zeigt und, in einem letzten Unterpunkt, welche (Aus-)Wirkungen ihr eigen sind.

2.1 Das Ja Gottes

Die Entscheidung Gottes meint nach Schlier, um es noch einmal zu sagen, dass Gott sich ein für alle Mal für diese unsere, konkrete Welt entschieden hat. Genauer: Gott hat sich in Jesus Christus für die Welt entschieden, ja, er ist damit bis ins Äußerste gegangen, in die „radikale Selbstentäußerung“418, wie Schlier schreibt, die sich in der Menschwerdung Christi ausdrückt und somit „Seinsentäußerung“419 ist. Diese Entäußerung Gottes, welche die Folge eben seiner endgültig entschiedenen Entscheidung für die Welt, für uns, ist, geschieht zum Wohl der

410 Bendemann, Schlier, 414. 411 Vgl. Schlier, Das bleibend Katholische, 299- 300. 412 Vgl. ebd., 298. 413 Vgl. ebd., 302. 414 Vgl. ebd., 307. 415 Vgl. ebd., 307f. 416 Vgl. ebd., 314f. 417 Vgl. ebd., 317f. 418 Ebd., 300. 419 Ebd. 77 Welt, zum Wohl aller Menschen, sie durchdringt „als Entscheidung seiner Liebe alle Tiefen und Höhen … in ihrem entschiedenen ‚Für uns‘.“420 Darum hat „die Christenheit … allen Grund, für die Menschheit diese Entscheidung festzuhalten“421, was bedeutet, dass es den Christinnen und Christen aufgetragen ist, diese Entscheidung Gottes immer neu zu bedenken und auf verständliche Art und Weise zur Sprache zu bringen.422 Tun sie es nicht, steht nicht weniger als Gott selbst am Spiel: „Denn Gott bleibt nur Gott, wenn er der allem zuvor entscheidende und entschiedene Gott ist, dessen geschehene Entscheidung die Menschen vor sich haben, gleichgültig wie sie dann das Rätsel ihrer Geschichte zu verstehen und das Rätsel ihres Kosmos zu beherrschen versuchen“423, so Schlier. Und er fügt lapidar, quasi als Versicherung, hinzu: „Das Ja Gottes ist gesprochen und kein Nein kann es aufheben.“424

2.2 In der Welt, auf verschiedene Weise

„Daß Gott sich in Jesus Christus entschieden hat für die Welt, schließt aber ein, daß diese Entscheidung in der Welt bleiben wird“425, was nach Schlier der Heilige Geist leistet, „der die Entscheidung Gottes als geschehene gegenwärtig erschließt, und … den Leib Christi am Kreuz erschlossen [hat] in den Leib Christi auf Erden, in die Kirche.“426 Die Entscheidung Gottes, die sich im Logos, im Wort, das Christus selbst ist, wie wir oben sahen, vollzieht, geschieht bis hinein in den Satz, bis ins Dogma, also in Versprachlichungen hinein, die Bestand haben427, wobei Schlier auch mit der Möglichkeit der Dogmenentwicklung rechnet, da Dogmen „als Sätze nicht unveränderlich [sind], was sie u.a. von der Schrift unterscheidet.“428 Auch die Sakramente sowie das Amt stellen nach Schlier bleibende Vergegenwärtigungen und Konkretisierungen der Entscheidung Gottes dar: Die Sakramente in der Weise, als die „Entscheidungskraft bis in das Leibliche hineinreicht und sich dazu des Dinglichen bemächtigt“429, um den Menschen zu berühren; das Amt in der Kirche aber, insofern „Gott in der Kraft des Geistes bestimmte Träger dieser Entscheidung auswählt, bevollmächtigt,

420 Schlier, Das bleibend Katholische, 301. 421 Ebd. 422 Vgl. ebd., 301. 423 Ebd., 302. 424 Ebd. 425 Ebd. 426 Ebd. 427 Vgl. Löser, Werk, 88. 428 Schlier, Das bleibend Katholische, 310; vgl. dazu Kapitel drei der vorliegenden Arbeit, II. 2. 429 Schlier, Das bleibend Katholische, 304. 78 beauftragt und sendet, und zwar“430, wie Schlier betont, „zu einem überpersönlichen amtlichen Dienst.“431

2.3 Entscheidung, die Entscheidung bewirkt

Im dritten Abschnitt seines Aufsatzes - und allein einen Aspekt aus diesem wollen wir noch herausgreifen - fragt Schlier nach der Art und Weise, wie die Entscheidung Gottes in der Welt zur Wirkung kommt. Dabei nennt der Exeget die drei sogenannten ‚christlichen Tugenden‘ Glaube, Hoffnung und Liebe, welche als Ausweis des christlichen Lebens von der Entscheidung Gottes Zeugnis geben (sollen). Das Werk der Liebe, so Schlier, stelle das „Am- Werk-sein des Glaubens“432 dar, welches „natürlich nicht eine Leistung, sondern eine Gabe“433 sei, aber auch eine Entscheidung – denn anders könne diese Gabe nicht auf die Entschiedenheit Gottes antworten, bzw. Antwort sein.434 Schlier weiß aber auch um die vielfach – wenn auch vielleicht nicht mutwillige – unsachgemäße Verwendung des Begriffs ‚Liebe‘ und warnt vor Einseitigkeiten in beiden Richtungen: Die Gottesliebe sei nach Schlier zu wenig, wenn sie den Menschen außer Acht lässt und sich nicht an ihm realisiert; ebenso könne die vielzitierte Nächstenliebe keine wirkliche Liebe zum Menschen sein, wenn sie ohne Gott das Auslangen finden will, von dem sie doch „ihre Quelle und ihre Qualität“435 empfängt. Und wieder betont Schlier, wie wir oben bereits sahen, dass mit einem verengten beziehungsweise verkürzten Verständnis von Gottes- und Nächstenliebe (die einer verkürzten Sicht der Botschaft des Evangeliums entspringt) nichts weniger als Gott selbst auf dem Spiel steht: „Denn hinter der Bemühung, die Liebe zu Gott zu entrechten und das Evangelium zum Anruf auf Mitmenschlichkeit zu reduzieren, steht bewußt oder unbewußt … eine … Tendenz, nämlich die, Gott zu verstecken oder gar zu eliminieren … Den Schaden hat gerade die Liebe zu den Menschen.“436 In Kürze geht Schlier auch auf die Hoffnung ein, welche ebenso Antwort auf die Entscheidung Gottes in Jesus Christus ist, der allein wirkliche Hoffnung zu schenken vermag und die Glaubenden bestärkt, diese Hoffnung zu leben, denn wir „leben ja immer die Hoffnung, die wir haben“437, gibt der Exeget als Denkanstoß und Herausforderung mit auf den Weg. Die christlichen Grundtugenden, sollen also nach Schlier (Aus-)Wirkungen der und Antworten auf die

430 Schlier, Das bleibend Katholische, 305. 431 Ebd. 432 Ebd., 310. 433 Ebd. 434 Vgl. ebd.. 435 Schlier, Das bleibend Katholische, 311. 436 Ebd. 437 Ebd., 313. 79 entschiedene Entscheidung Gottes für uns sein. Mit Schlier gesprochen: „Was wir Menschen als Glaubende, Liebende und Hoffende allein tun können - aber das füllt unser ganzes Leben aus und nimmt uns Stunde um Stunde in Anspruch -, das ist, daß wir von der uns von Gott bereiteten Hoffnung Zeichen geben in der Weise, wie wir denken, wollen und handeln Gott und der Welt gegenüber.“438

3. Alles gut, so wie es ist? Kritische Anfragen

Dass ein Aufsatz eines zum Katholizismus konvertierten und vormals evangelischen Exegeten, der in einer „fundamentaltheologischen Besinnung“439 Grundsätzliches zum ‚Katholischen‘ sagen möchte, Widerspruch hervorrufen muss, versteht sich von selbst. Dabei sollen hier als ein Beispiel einige kritische Anmerkungen des evangelischen Theologen Reinhard von Bendemann repetiert werden. Sie finden sich in dessen Dissertation, die im Jahre 1995 erschien440 und „ohne Zweifel als die bislang ausführlichste und eingehendste Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk von H. Schlier zu gelten“441 habe, wenngleich Bendemanns Rezensent Werner Löser in der Arbeit „trotz der immer wieder eingeflochtenen Respektbekundungen eine vorbehaltlose Ablehnung der Schlierschen Paulusdeutung und von daher Gesamttheologie“442 sieht. Bendemann bezeichnet Schliers ‚Katholisch‘-Aufsatz als Beitrag fundamentaltheologischer Art, der auf Schriftexegese verzichte und „in der Adaption theologischer Gedanken Erik Petersons thetisch-deduktiv“443 argumentiere. Das in diesem Text Schliers durchgeführte Be- beziehungsweise Erweisverfahren ziele nach Bendemann auf „die Bewahrung des ekklesialen status quo.“444 Diese Bemerkung macht er an einer (Vor-)Bemerkung Schliers zu Beginn dessen Aufsatzes fest, in welcher der Exeget seine Ausführungen vom Bereich der theologischen auf die Ebene der vor-theologischen Prinzipien verlagert. Schlier begründet dies mit der ihn bewegenden Einsicht, dass alle faktischen Unterschiede zwischen der katholischen und der evangelischen Glaubenslehre keine wirklichen sichtbaren Auswirkungen beziehungsweise Konsequenzen zu tragen scheinen und sich die eigentliche Differenz damit nicht an der ‚Oberfläche‘, sondern noch davor, eben im Bereich der Prinzipien abspielen

438 Schlier, Das bleibend Katholische, 313. 439 So charakterisiert Reinhard von Bendemann den Text Schliers über das ‚Katholische‘, vgl. Bendemann, Schlier, 414, bzw. auch Punkt II.2. im vorliegenden Kapitel dieser Arbeit. 440 Bendemann, Reinhard von: Heinrich Schlier. Eine kritische Analyse seiner Interpretation paulinischer Theologie, Gütersloh: Kaiser 1995. 441 Löser, Rez. Bendemann, 283. 442 Ebd., 284. 443 Bendemann, Schlier, 416. 444 Ebd. 80 müsse.445 Hier wäre freilich interessant zu wissen, an welche konkreten Konsequenzen Schlier denkt – er führt dies jedenfalls nicht weiter aus. Bendemann fragt hier zu Recht, ob Schliers Postulat einer sozusagen im Unter- beziehungsweise Hintergrund wirkenden Grunddifferenz theologischer Art überhaupt zulässig sei und ob diese nicht erst bewiesen werden müsse, ehe man sich an einen Gedankengang, wie Schlier ihn vornimmt, heranwagen kann, da mit diesem Schritt eine Weichenstellung eingeleitet sei, welche „einer Beendigung des Gesprächs zwischen den Konfessionen Vorschub“446 leiste. Eine Annäherung der Kirchen447 bezüglich ihrer Lehre(n) sei gemäß der hier vorgestellten Schlierschen Argumentationsrichtung nicht möglich, da sie den eigentlichen ‚Krisenherd‘, den Ort der (vor-)theologischen Prinzipien, letztlich nicht erreichen, geschweige denn destruieren könnten, meint Bendemann.448 Im Resümee seines Buches wird er von Schlier lapidar sagen, dass dieser kein ökumenscher Theologe gewesen sei449, wenngleich er zugesteht, dass „die ökumenische Rückfrage an Schliers Werk und insbesondere seine Interpretation paulinischer Theologie legitim und nicht ohne Aussicht auf Gewinn“450 bleiben wird. Werner Löser unterstreicht in seiner Rezension des Bendemann-Buches, dass die Theologie Schliers für die evangelische Theologie herausfordernd sein kann, was aber nicht bedeute, „daß sie nicht trotzdem eine ökumenisch fruchtbare Theologie sein“451 könne. Zuletzt sieht Bendemann mit dem Inhalt des Schlierschen ‚Katholisch‘-Aufsatzes noch die „ernste Gefahr“452 gegeben, „unkritisch abzusegnen, was immer schon war.“453 Bendemann versteht Schliers Vorstellung des Prinzips der Entscheidung so, dass „bis in die christliche Politik hinein alle Lebensäußerungen ‚der Kirche‘ kontinuierlich an der gefallenen Entscheidung partizipieren“454 und schließt daraus, dass „Störung und Bewegung per definitionem nicht vorgesehen“455 seien. Der Sachverhalt, dass Gott sich in Jesus Christus ein für alle Mal für die Welt entschieden habe, heißt nach Bendemann (sehr) schlicht zusammengefasst, dass alles gut sei, so, wie es nun einmal sei – und damit könne es, wie Bendemann folgert, keine Veränderungen jeglicher Art geben, da das Bleibende dasjenige sei,

445 Zu Schliers Begründung vgl. Schlier, Das bleibend Katholische, 298. 446 Bendemann, Schlier, 416. 447 Hier sei der Einfachheit des wiederzugebenen Gedankenganges halber die Bezeichnung ‚Kirchen‘ übernommen. 448 Vgl. Bendemann, Schlier, 416. 449 Vgl. ebd., 427. 450 Ebd. 451 Löser, Rez. Bendemann, 285. 452 Bendemann, Schlier, 417. 453 Ebd. 454 Ebd. 455 Ebd. 81 welches ‚das Katholische‘ auszeichne.456 Dieses Verständnis des Schlierschen Prinzips durch Bendemann greift nach Meinung des Verfassers der vorliegenden Arbeit zu kurz und mag nicht recht ins Bild des sonst recht differenziert argumentierenden evangelischen Theologen passen. Dass er Heinrich Schlier nämlich auf diese Weise Naivität unterstellt, zumindest was die Realität der katholischen Kirche selbst und deren Dialog mit anderen Konfessionen betrifft. Abgesehen davon, dass Schlier mit der Vorstellung und Erläuterung des Prinzips nach eigenen Worten gar nicht das ‚Ganze‘ des katholischen Glaubens erfassen geschweige denn ausschöpfen könne und dies im Übrigen auch in seinem Aufsatz nicht vorhabe457, lässt sich mehrfach belegen, dass auch ihm die Schwächen der römisch-katholischen Kirche durchaus bewusst waren, wie etwa dessen Tochter Veronika Kubina-Schlier in einem Interview anklingen ließ: „Trotz seiner Zustimmung zur Amts-Hierarchie hielt er [Schlier, Anmerkung J.P.] zu ‚Rom‘ gerne Distanz. Gelegentlich zitierte er einen Satz Erik Petersons: ‚Wer ‚Rom‘ kennenlernt und trotzdem konvertiert, muss eine tiefe Liebe zur Kirche haben.‘“458 Weil Gott sich in Jesus Christus für die Welt entschieden hat, ist gewiss nicht „alles gut so wie es ist“459 und gerade darum auch nicht jede Möglichkeit zum Neubeginn, zur (immer nötigen) Wandlung verbaut, im Gegenteil: Gerade weil Gott sich für die Menschen einmalig-endgültig entschieden hat, wird er sie in all den von ihnen herbeigerufenen Umbrüchen und gesellschaftlichen Entwicklungen nicht allein lassen: „Seid gewiß: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20) – ein Satz aus dem Matthäusevangelium, der wohl als prägnante Zusammenfassung des ‚Katholisch‘-Aufsatzes Schliers fungieren könnte.

456 Vgl. Bendemann, Schlier, 417. 457 Schlier gibt eine Wegweisung zum Verstehen seines Aufsatzes selbst in die Hand, indem er etwa formuliert: „Es gibt mehrere Prinzipen, die den katholischen Glauben bestimmen. Hier geht es aber nur eines … Es macht sich nicht isoliert geltend, sondern im Zusammenhang mit anderen nahestehenden Prinzipien.“ Und schließlich nennt der Exeget die Zielsetzung seines Vorhabens: „Mein Versuch geht nun dahin, seine Anwesenheit an ein paar Orten aufzuzeigen, und zwar um in ihm ein gewisses Kriterium für die theologische Kontroverse zu gewinnen“, bevor er zugesteht: „Naturgemäß wird ein solcher Versuch sehr einseitig aussehen. Aber es wird ja erst eine These aufgestellt.“ Vgl. Schlier, Das bleibend Katholische, 297. 458 Cappelletti, Unbehaust-Sein. 459 Bendemann, Schlier, 417. 82 Schluss

Über unverlierbar Denkwürdiges und bleibend Katholisches.

Versuch eines resümierenden Ausblicks

Als Schlusspunkt einer wissenschaftlichen Arbeit wird gewöhnlich versucht, eigene Gedanken des Verfassers derselben zum von ihm Besprochenen und Untersuchten zu geben, um die Relevanz des in der Studie zur Sprache Gekommenen geltend zu machen und damit letztlich die Sinnhaftigkeit des erarbeiteten Inhalts zu erweisen. Diese Sinnhaftigkeit zeigt sich meist darin, dass es möglich ist, bis dato Altbewährtes mit neuen Erkenntnissen derart zu untermauern, dass es als tragfähiges Fundament für Zukünftiges gelten kann beziehungsweise wenn es gelingt, aufgrund des gedanklich Erhobenen Perspektiven in die Zukunft entwerfen zu können. Letztgenanntes wollen auch diese abschließenden Zeilen leisten, wenn auch in bescheidener Form und unter der Prämisse, dass es darüber hinaus noch viel zu sagen gäbe und die Theologie, wie im Zusammenhang mit dem Werk Heinrich Schliers immer wieder bemängelt worden ist, gut daran täte, sich von diesem zumindest einige kritische Anfragen gefallen zu lassen, um im Letzten auskunftsfähig zu bleiben für die Anfragen einer Zeit, in der die Theologie als solche wie ein nirgendwo wirklich verorteter Fremdkörper erscheinen muss. Dabei muss man zunächst mit Grzegorz Bubel sagen, dass Heinrich Schlier nicht zu Jenen zählt, die neue Wege in der Theologie beschritten haben. Sein „exegetisch-theologisches Werk soll mehr als ein bedeutsamer Aufruf zur kirchlichen und theologischen Besinnung auf einige Gefahren der zunehmenden Verflechtung der wissenschaftlichen modernen Exegese und Theologie mit den Denkprinzipien der Moderne gesehen werden.“460 Bubel nennt in diesem Zusammenhang als Ansätze des Werkes Schliers „die Methode seiner Hermeneutik der Heiligen Schrift, sein Verständnis der Theologie als Schriftauslegung, sein Entwurf einer biblischen Theologie des Wortes Gottes und seine Auffassungen zu Kirche, Amt, Dogma und Verkündigung“461, welche auch heute „zu einer kritischen, ökumenischen Auseinandersetzung mit einigen theologischen und kirchlichen Tendenzen in jeder von den genannten Theologien beitragen“462 können. Diese – zweifellos notwendige – Auseinandersetzung kann und soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden. Der Verfasser dieser Zeilen möchte aber, geleitet von der hier zum Tragen gekommenen Fragestellung, dem Verhältnis von Schriftauslegung und Dogmatik, einige Linien aus dem

460 Bubel, Sache zur Sprache bringen, 300. 461 Ebd., 302-303. 462 Ebd., 303; vgl. auch Löser, Das ‚bleibend Denkwürdige‘, 351. 83 bisher Bedachten ziehen. Bei diesen Skizzen kann es sich nur um grundlegende Gesprächsanstöße handeln, da dies dem Theologen (nicht ‚allein‘ Exegeten) Heinrich Schlier, der Zeit Lebens versucht hat, das ‚Ganze‘ im Blick zu behalten, am Ehesten gerecht zu werden scheint, aber auch zum Ausdruck bringen soll, wie lebensnotwendig der Dialog und die Zusammenarbeit von Exegese und Dogmatik nicht nur für das Klima beider Fachbereiche, sondern für die Theologie insgesamt – und letztlich für das gesamte Volk Gottes – ist: Die Kirche braucht die Theologie und umgekehrt. Beide müssen sich immer wieder mit der – nur durch Exegese und Dogmatik (was die theologischen Disziplinen betrifft) ‚wirklich‘463 behandelbaren Frage, wer denn dieser Jesus sei und warum Er für die gesamte Menschheit unüberschätzbare Bedeutung hat, befassen, ja, um sie ringen. Kirche und Theologie bedingen sich gegenseitig. Jeder steht für sich immer unter der Spannung zwischen Glaube und Vernunft, und beide gemeinsam umso mehr. Dort, wo Kirche und Theologie, wenn auch eher unbewusst, einander als Feinde betrachten, noch bevor der Krieg überhaupt begonnen hat, ist selbiger schon verloren, weil damit Jede der Beiden am Ast sägt, auf dem sie sitzt. Heinrich Schlier hat dies wohl gesehen, wenn er – eher beiläufig und in einer Fußnote - zum Ausdruck bringt: „Daß im übrigen zwischen der dogmatischen Theologie und der Biblischen Theologie harte Konflikte entstehen können, wen sollte das bei der Schwierigkeit der Sache, bei der Verschiedenheit der Methoden, bei der großen Entfremdung der beiden Disziplinen, bei ihrer unterschiedlichen Reife und nicht zuletzt bei unserer menschlichen Beschränktheit und Bosheit wundern?“464 – ein wahres Wort, welches uns schon zu Beginn der vorliegenden Arbeit begegnet ist. Was Schlier hier für die dogmatische und die biblische Theologie spezifiziert, gilt noch viel basaler für das Zu- und Miteinander von Schriftauslegung und Dogmatik: Viele Faktoren bestimmen das eine Regelwerk der Auslegung der Heiligen Schrift, welches Werner Löser zufolge mit jenem eines Spiels vergleichbar ist: Die Regeln, so formuliert er erläuternd, „stehen in Funktion zu dem Spiel, das mit seinen Überraschungen und in seiner konkreten Ereignishaftigkeit dann immer noch einmal etwas Anderes und Reicheres ist als das, was aus der Kenntnisnahme der Regeln erwartet werden konnte.“465 Dabei spielt der bereits zur Sprache gekommene ‚M-Faktor‘, der Faktor Mensch mit all seinen Fähigkeiten (sowohl positiv als auch negativ verstanden), keine unwesentliche

463 Hier sei nicht außer Acht gelassen, dass sich freilich auch andere Disziplinen des theologischen Wissenschaftsbetriebes ‚wirklich‘ mit der Frage nach Jesus beschäftigen, dass sich also beispielsweise eine Spirituelle Theologie ebenso ernsthaft vor dieses Problem beziehungsweise in dieses Spannungsverhältnis gestellt sieht, so wie letztlich jede/r Christ/in. 464 Schlier, Heinrich: Biblische und dogmatische Theologie, in: Schlier, Heinrich: Besinnung auf das Neue Testament. Exegetische Aufsätze und Vorträge II, Freiburg im Breisgau: Herder 1964, 34, Fußnote 12, vgl. auch das sogenannte ‚Vor-Kapitel‘ der vorliegenden Arbeit. 465 Löser, Dimensionen, 496. 84 Rolle.466 Was kann uns Heinrich Schlier also mit auf den Weg geben? Der Verfasser dieser Arbeit möchte aus der Fülle der Anstöße, die Schliers Lebenswerk anbietet, drei mögliche Konsequenzen zum Weiterdenken an die Hand geben, die freilich nicht in die Konkretheit hineingehen können, die hier wünschenswert wäre, die aber ohne eine gewisse Gegenstandslosigkeit in der Erklärung ihre Umsetzung in die Praxis ebenso wenig gewährleisten könnten.

1. Gott in einer gott-losen Welt zur Sprache bringen: Das Wort Gottes

„Die entscheidenden Begriffe der Bibel, diejenigen, in welchen sich die Sprache des Wortes versammelt und das Wort sich für immer sozusagen niedergelassen hat und verwahrt, haben schon längere Zeit und zunehmend ihre Nenn- und Bedeutungskraft verloren“467, konstatiert Schlier in einem Aufsatz über die in der Verkündigung zu Wort kommende Sprache. Damit weist der Exeget auf ein Problem (nicht nur) aktueller Theologie hin, welches sich notwendigerweise ergibt, wenn Wissenschaft mit ihren eigenen Fachtermini und geprägten Denkwelten versucht, sich im Sinne eines ‚science goes public‘ der Welt außerhalb ihres Gefüges verstehbar zu machen. Um wie viel mehr muss dies die Theologie betreffen, welche gerade in unseren Tagen in jedem Bereich kirchlicher Lehre angefragt wird und dieses Gebäude zweitausendjährigen Denkens um des Heils des Menschen willen stützen soll, aber freilich aufgrund des selben Interesses bemüht sein muss, Fehleinschätzungen und Wucherungen in jede Richtung zu korrigieren beziehungsweise mit besonderer Umsicht auf ebenso gefährliche Verletzungen zurückzuschneiden. Die Ängstlichkeit vor neuen Begriffen, die das Wort Gottes zeitgemäß zur Sprache bringen, muss dahingehend ebenso überwunden werden wie die Traditions- und Geschichtsvergessenheit, welche es sich mit Vereinfachungen und inhaltlich eindeutigen Falschinterpretationen unter dem Deckmantel der ‚besseren Verständlichkeit‘ zu leicht macht und damit Wesentliches preisgibt. Das Wort Gottes, welches sich in menschlichen Worten niedergelassen hat, weiterzugeben, war niemals ein einfaches Unterfangen. Apostel, Kirchen- und Konzilsväter sowie theologische LehrerInnen heutiger Tage setzten und setzen sich mit ihrem Leben für dieses Wort ein, das nichts weniger ist als Jesus Christus selbst. Diese (freilich nicht vollständige) Aufzählung von GotteswortträgerInnen, beziehungsweise – übermittlerInnen kann es aber, wie wir bei Schlier sahen, nur in einem bestimmten, vor allem geistlich eingegrenzten Raum geben: der Kirche,

466 Vgl. im Vor-Kapitel Abschnitt II. 3 der vorliegenden Arbeit. 467 Schlier, Heinrich: Verkündigung und Sprache, in: Ders.: Geist und die Kirche, 11. 85 wobei ‚eingrenzen‘ hier nicht im Sinne von Freiheitsberaubung und Einengung verstanden wird, sondern im Sinne von Schutz und Sicherheit.

2. Der Offenbarung Christi Raum geben: Die Kirche

Der Ort des Wortes Gottes ist nicht allein die Heilige Schrift, sondern vielmehr die Kirche. Das meint Schlier, wenn er, wie wir sahen, davon ausgeht, dass die Kirche der Schrift sachlich vorausgehe.468 Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus geht besonders ins Wort ein - in spezieller Form in die Dogmen - aber auch in die Sakramente, durch die es sich – das Wort, Christus selbst – weiterschenkt, oder, steil formuliert, weiter‚offenbart‘. Die hier angedeutete Weiteroffenbarung geschieht nicht in der Form, dass dem Einzelnen neue Erkenntnisse über Gott zuteilwürden, sondern meint, dass der Kirche als Ganze eine immer tiefere Einsicht in die ein für alle Mal in Christus ergangene Offenbarung geschenkt wird, was aber nicht die Abwertung kirchlicher Erkenntnisse vorangegangener Zeiten bedeutet, sondern sogar umgekehrt deren Aufwertung. Man könnte dies mit dem Bild des Treppenbaus umschreiben: Immer höher klettert das Volk Gottes im Verstehen Gottes voran, nicht hochmütig, sondern mit Respekt vor dem ihm vom Höchsten Ge- und Eröffneten. Das Zweite Vatikanische Konzil hat klar erkannt, dass nicht die Schrift allein, sondern die ganze Offenbarung Gottes in den Blick genommen werden muss, um dem Geheimnis Gottes - bei allem menschlichen Ungenügen und aller Neigung zum Fragment – gerecht zu werden. Dieser Raum der Kirche darf, trotz (auch rechtmäßiger) Kritik und Unverständnis an ihrer institutionellen Ausprägung, welche notwendig ist, um sie - und damit Gott selbst - in der Welt wirksam werden zu lassen, nicht zum Ort werden, von dem man sich als TheologIn möglichst zu distanzieren sucht, weil man die Unabhängigkeit der eigenen Forschung gefährdet sieht. Heinrich Schlier, und mit ihm schon sein theologischer Begleiter Erik Peterson haben daran festgehalten, dass es keine Theologie ohne Kirche gibt, weil nur in ihr das Wort Gottes wirklich zur Entfaltung, zu Verwirklichung kommen kann, weil es sich selbst diesen Raum schafft. Gerade in Zeiten großer Vereinsamung und Entzweiungen kann die Frage nach der Einheit, die Schlier immer wieder in verschiedenen Aufsätzen gestellt hat, nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dass diese aber kaum zu erreichen ist, muss schmerzlich, aber doch realistisch festgestellt werden – zu sehr ist der ‚M-Faktor‘ im Spiel und mit ihm die verborgene Angst des Einzelnen, zu kurz zu kommen, besonders, wenn es um Anerkennung geht.

468 Vgl. Schlier, Rechenschaft, 283. 86 3. Den Brückenschlag wagen: Der Glaube

Der Glaube kann die Brücke zwischen Offenbarung und einem modernen Wissenschaftsverständnis bilden, obwohl beziehungsweise gerade weil seine Bedeutung für den Menschen im Sinne der Naturwissenschaften nicht objektiv einsehbar ist – was sich von der Unbeweisbarkeit Gottes in demselben Sinne herleitet. Gott aber wäre, ließe er sich in ein Reagenzglas stopfen und ausstellen, nach einer Aussage Augustins nicht Gott, da er zu groß sei, als dass ihm der Mensch habhaft werden könnte. Andererseits stellt der Glaube an Gott auch eine ernstzunehmende Anfrage an die ‚modernen‘ Wissenschaften (als ob Theologie keine moderne Wissenschaft sein könne!) und ihren Wissenschaftsbegriff dar: Diese Anfrage bringt die Skepsis mit sich, ob allein das Wirklichkeit sein könne, was meinen Sinnen unmittelbar zugänglich sei, oder ob es, wie es mit Erfahrungen wie dem Gefühl der Liebe gegeben sein kann, nicht doch Bereiche gibt, die eine Öffnung auf einen weiteren Horizont hin nicht nur ermöglichen, sondern von sich aus daraufhin drängen. Mit Heinrich Schlier darf, gerade angesichts heutiger Herausforderungen in Kirche und Welt, mutig der Glaube an Christus die Norm allen Handelns – und auch allen Wissenschaftstreibens sein. So soll abschließend nochmals auf Heinrich Schlier gehört werden, der das eben Bedachte rund um Sprache, Wort und Glaube in jenem Begriff des Hörens in eins zu bringen vermag, wenn er schreibt: Wenn „man Jesu Wort hört, versteht man seine Sprache und wird sie zu sprechen verstehen. Also öffnet sich die Sprache seines Wortes unserem Verstehen und unserer Sprache, wenn wir hören. Hören ist aber nach dem Johannes- Evangelium hinhören, zuhören, anhören, annehmen, empfangen, verwahren im Hören, beim Gehörten bleiben, im Gehörten weilen, das Gehörte bewegen, gehören wollen, gehorsam werden, gehorsam sein. Hören ist in alledem glauben. Jesu Sprache versteht man, wenn man seinem Wort glaubt.“469 Prägnanter und treffender könnte der Anspruch, den Heinrich Schlier damit an die Bibelwissenschaften und die Dogmatik stellt sowie der Auftrag, der damit verbunden ist, nicht formuliert werden. Er ergeht letztlich an alle, die den Namen des Wortes als Charakterbezeichnung tragen: An alle Christinnen und Christen.

469 Schlier, Verkündigung, 19. 87 Literaturverzeichnis

Verwendete Primärliteratur zum Thema Die vorliegende Arbeit orientiert sich, was die Texte Heinrich Schliers betrifft, vorwiegend an:

Schlier, Heinrich: Die Zeit der Kirche. Exegetische Aufsätze und Vorträge, Freiburg im Breisgau: Herder 51972.

Schlier, Heinrich: Besinnung auf das Neue Testament. Exegetische Aufsätze und Vorträge II, Freiburg im Breisgau: Herder 1964.

Schlier, Heinrich: Das Ende der Zeit. Exegetische Aufsätze und Vorträge III, Freiburg im Breisgau: Herder 21971.

Schlier, Heinrich: Der Geist und die Kirche. Exegetische Aufsätze und Vorträge IV. Herausgegeben von Veronika Kubina und Karl Lehmann, Freiburg im Breisgau: Herder 1980.

Die hier aufgelisteten Aufsätze Schliers finden sich alle in den vier oben genannten Sammelbänden, die an dieser Stelle nur noch mit Abkürzung angegeben werden:

Schlier, Heinrich: Biblische und dogmatische Theologie, in: Ders., Besinnung, 25-34.

Schlier, Heinrich: Das bleibend Katholische. Ein Versuch über ein Prinzip des Katholischen, in: Ders., Ende, 297-320.

Schlier, Heinrich: Das Neue Testament und der Mythus, in: Ders., Besinnung, 83-98.

Schlier, Heinrich: Das Schifflein der Kirche, in: Ders., Geist und die Kirche, 207-224.

Schlier, Heinrich: Die Einheit der Kirche im Denken des Apostels Paulus, in: Ders., Zeit der Kirche, 287-298.

Schlier, Heinrich: Die Kirche als das Geheimnis Christi. – Nach dem Epheserbrief, in: Ders., Zeit der Kirche, 299-307. 88

Schlier, Heinrich: Die Kirche nach dem Briefe an die Epheser, in: Ders., Zeit der Kirche, 159-186.

Schlier, Heinrich: Die kirchliche Verantwortung des Theologiestudenten, in: Ders., Geist und die Kirche, 225-240.

Schlier, Heinrich: Doxa bei Paulus als heilsgeschichtlicher Begriff, in: Ders., Besinnung, 307-318.

Schlier, Heinrich: Gotteswort und Menschenwort, in: Ders., Ende, 25-36.

Schlier, Heinrich: Grundzüge einer neutestamentlichen Theologie des Wortes Gottes, in: Ders., Ende, 16-24.

Schlier, Heinrich: Kerygma und Sophia – Zur neutestamentlichen Grundlegung des Dogmas, in: Ders., Zeit der Kirche, 206-231.

Schlier, Heinrich: Kurze Rechenschaft, in: Ders., Geist und die Kirche, 270-289.

Schlier, Heinrich: Reich Gottes und Kirche nach dem Neuen Testament, in: Ders., Ende, 37-51.

Schlier, Heinrich: Über Sinn und Aufgabe einer Theologie des NT, in: Ders., Besinnung, 7-24.

Schlier, Heinrich: Verkündigung und Sprache, in: Ders., Geist und die Kirche, 3-19.

Schlier, Heinrich: Was heißt Auslegung der Heiligen Schrift?, in: Ders., Besinnung, 35-62.

Schlier, Heinrich: Zu den Namen der Kirche in den Paulinischen Briefen, in: Ders., Besinnung, 294-306.

Schlier, Heinrich: Zur Frage: Wer ist Jesus?, in: Ders., Geist und die Kirche, 20-32.

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Weitere in dieser Arbeit zur Verwendung gekommene Werke Schliers:

Schlier, Heinrich: Ekklesiologie des Neuen Testaments, in: Feiner, Johannes/ Löhrer, Magnus (Hg.): Mysterium Salutis. Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik. Band 4/1: Das Heilsgeschehen in der Gemeinde, Einsiedeln/Zürich/Köln 1972, 101-221.

Schlier, Heinrich: Grundzüge einer paulinischen Theologie, Freiburg im Breisgau: Herder 21978.

Schlier, Heinrich: Über die Auferstehung Jesu Christi (Kriterien 10), Einsiedeln: Johannesverlag 51983.

Schlier, Heinrich: Wort Gottes. Eine neutestamentliche Besinnung, Würzburg: Werkbund- Verlag 21962.

Verwendete Sekundärliteratur

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Evang, Martin: Entmythologisierung, in: LThK3 3, 1995, 682-683.

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