Download Pdf Bitte Hier Klicken!
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
1 Madurai Strangers IV „Sterne fallen nicht vom Himmel, sie werden geboren.“ (Unbekannt) „Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“ (Heinrich Heine/ Dichter der deutschen Romantik/ 13.12.1797 - 17.02.1856) 2 Kapitel 1 Kapitel 2 Kapitel 3 Kapitel 4 Kapitel 5 Kapitel 6 Kapitel 7 Kapitel 8 Kapitel 9 Kapitel 10 Kapitel 11 Kapitel 12 Kapitel 13 Kapitel 14 Kapitel 15 Kapitel 16 Kapitel 17 Kapitel 18 Kapitel 19 Kapitel 20 3 Kapitel 1 Im Raketenpuff 44 herrschte helle Aufregung. An die dreißig in grau-schwarz gekleidete, höchst ominöse Mechaniker und Hanssel-Gretel schoben große Kisten auf schweren Holzpaletten mit elektrischen Gabelstaplern surrend im Untergrund umher, unter einem Berg mit einer äußerlich ganz unscheinbaren Seilbahn, von der auch noch einige historische, gemalte Schilder aus den 1950ern existierten. Der Name dieses Berges durfte unter Strafe nie genannt werden. Die Leute laberten so viel Zeugs, so viel akustischen Tinnef, so dass Hanssel-Gretel die Ohren dröhnten. „Das muss schneller gehen, verdammt! Kruzifix nochamoi!“ brüllte Hanssel-Gretel, der eingewanderte Preuße mit 30-Jahre- Bayern-Ehrenbürgerurkunde. „Wenn der Fall der Fälle kommt, muss das alles ganz schnell zusammen gebaut werden! So lahmarschig, wie ihr hier alles macht, da wird das nie was! Lahmärsche!“ Die sogenannte Übung BL-44-19 nahm ihren Lauf. In Blitzgeschwindigkeit öffneten die Mechaniker, allesamt Männer, sämtliche Metall- und Holzkisten und holten mit einem Greifarm eines gelben Spezialkrans schwere, riesige Stahlteile mit einer ganz bestimmten Form aus den quadratischen Holzkisten, die bestimmt an die zwei Meter Kantenlänge hatten. Innen waren die Kisten mit einer Art festem, dunkelgrauen Schaumstoff ausgekleidet, wo die entsprechenden Metallteile genau hinein passten. „Jå, jå! Is scho recht!“ antwortete ein Bayer. „Nü möch ma nüsch sön Aufstand, Hönssel-Grätel!“ plärrte ein Sachse in die Menge. „Wenn es soweit ist, dann geben wir schon richtig Gas, keine 4 Angst!“ beschwichtigte ein Mann aus Hessen, auf Hochdeutsch. „Fortyfour, what a beautiful number!“ rief ein Engländer, der gar nicht wie ein „richtiger“ Angelsachse wirkte. Er schien irgendwie gehirngewaschen, verändert, auf 'anti'. „Annapurna und ihre komischen Außerirdischen von der Venus können uns mal kreuzweise, ähh! Mamma mia!“ lästerte ein anderer Typ aus Südtirol. Er hatte einen schwach italienischen Akzent. „So ein Schwachsinn, ähh, mit diesen blonden ETs aus dem Weltall, ähh!“ „Ethnöplüralismus anstött Mültikülti!“ posaunte der Sachse hinaus. „Na, na, na!“ ermahnte ihn Franzi. Es war aber nicht Höllen- Hermi, sondern ein Namensdoppelgänger. „Wenn mia des Göid hättn, wos des Bavaria One vom Söder kosten dad, dann wärma gonz åndas aufgsteyd, des soggi eich! 700 Millionen – da konnt ma scho wås mit åfånga!“ meinte Obermaier. „Diese blöde Zusammenbauerei nervt, echt! Warum können wir den Krempel nicht gleich drin lassen?“ kritisierte der Hesse. „Immer dieses Rein, Raus, Rein, Raus...“ „Das sind meine Sicherheitsvorkehrungen! Ich habe dieses Konzept so genial ausgearbeitet, dass sie uns erst dahinterkommen, wenn es eh schon zu spät ist.“ höhnte Hanssel- Gretel, weiterhin auf Hochdeutsch. Anscheinend war das angelernte Bairisch-Sprechen für ihn doch anstrengend... Eine Art metallischer, rechteckiger Kasten mit etwa einem knappen Meter Durchmesser wurde nun mit dem Spezial- Greifarm in ein anderes metallisches Etwas hineingeschoben, bis es ganz darin verschwunden war. Danach wurde das Äußeres des Hauptbehältnisses mit einem dicken Stahlblechteil zugeschraubt. 5 Alles war streng geheim, und wer etwas verriet, wurde wegen internen Verrats umgebracht, ganz fies und hinterrücks. „Es ist jammerschade, dass der Abgewrackte Knochen nicht mehr da ist. Der hätte uns alles mit Links gehackt. Wasserwerke, Elektrizitätswerke, Rechenzentren, militärische Computer, Darknet-Angriffe...“ klagte der Hesse. „Er hatte es von der Pike auf gelernt, sogar bis runter zur Maschinensprache, und er hätte es für uns gemacht, alles zur richtigen Zeit, diesen Mega-Hack.“ „Nun haben sie seine Frau Maus in der Zange. Der BND und der Verfassungsschutz. Ob sie sie foltern werden? Der Alte ist weg, der Kater für immer im Jenseits. Krebs im Endstadium – unheilbar.“ sagte Herr K. Aber er hieß nicht Keuner, wie im „Prozess“ von Kafka. „Frau Maus, Frau Maus, bald ist's aus die Maus!“ lachte Hanssel-Gretel, um in ein proletarisches Grölen überzugehen. „Es wird gar nicht so einfach werden, für ihn einen gleichwertigen Ersatz zu finden. Immerhin hat er auch eine bayerische Ehrenbürger-Urkunde gehabt, wie ich.“ sonnte sich der 'Zugroaste' in Selbstbeweihräucherung. „Zugroasta Preiß!“ lästerte der eine Bayer von vorhin. „Ey, Lederhosen-Sandler, hoid dei Boppn! Sonst schebbats!“ wies ihn Hanssel-Gretel zurück. „I bin hier da Chef, is des klaar?!“ Der Hesse trötete frech in die unterirdische Halle, die die Ausstrahlung eines Hangars hatte: „Bald kommt unser ganz großer Tag. Kein Stein wird mehr auf dem anderen bleiben, keiner. Dann wird Europa endlich revolutioniert!“ 6 *** *** *** Amisha lag immer noch auf der Intensivstation des Vadamalayan Hospital in Madurai, im künstlichen Koma, an allerlei Schläuchen und Kabeln. Es war ein knapper Monat vergangen, und es war jetzt bereits Ende März. Tagsüber war es fast um die 30 Grad heiß, und die Trockenzeit neigte sich dem Ende zu. Nun würde sich der Regen von Monat zu Monat langsam steigern, um im Oktober sein Maximum zu erreichen. Der klassische Heiratsmonat Februar war vorüber. Aber natürlich konnte man – und frau – auch in jedem anderen Monat den Bund fürs Leben schließen. Nur gab es dann vielleicht den einen oder anderen Regenschauer, eine kalte Dusche, eine klassische, schicksalhafte Bollywood-Regenszene. Davinder und Leela, Amishas Eltern, schauten jeden Tag nach ihrer Tochter. Es war grauenhaft für sie, Amisha so elend zwischen Leben und Sterben hängen zu sehen, mit der Ungewissheit, ob sie jemals wieder normal denken und empfinden würde, nachdem sie hoffentlich wieder aufwachen würde. Der Scooter-Fahrer war nicht schuld gewesen. Aber was kümmerte in Indien schon jemand die typisch deutsche Schuldfrage... Tuntuka hatte es doch tatsächlich geschafft, Annapurna wieder in einen Deli einzuladen, eine Art indisches Bistro. Diesmal war es ein anderer Schnellimbiss in Madurai, mit superscharfen Sachen und Snacks. Seine betörend-erotische Ausstrahlung drückte in Bhavanis Bauch – und in ihrem Kopf! – wieder sieben 7 Schmetterlingsknöpfe auf einmal, wobei diese aber diesmal einen leichten Grauschleier hatten, symbolisch. Annapurna sah darüber hinweg und war wieder hin und weg. Als gerade alle wegschauten, setzte Tuntuka zu einem Hollywood-reifen Kuss an, der sie wie aus zwanzig Eros-Himmeln elektrisierte. Öffentliches Küssen war im konservativen Madurai nicht gerne gesehen, es war allzu frevlerisch, und doch wagte der „Schneidervogel“ diese wunderschöne, zärtliche Annäherung. Für ein paar Sekunden, die ihr wie zehn Minuten vorkamen, verlor sie völlig den Kopf. Keine mathematische Kontrolle mehr, sondern totales Loslassen, das wirklich wunderbar, obercool und mega relaxend war. Ein kosmischer Chill-Out im simplen Schnellrestaurant, der Tuntukas und ihr Herz schnell schlagen ließ wie der elegante Lauf einer afrikanischen Gazelle im Wind des Abendrots. „Amisha wird womöglich nie wieder aufwachen, und ihr blödes Facebook-Video mit meinem Heiratsversprechen ergibt somit gar keinen Sinn mehr!“ führte lästernd Tuntuka aus, während er gierig ein Samosa mit ultrascharfer Chilisauce, etwas Reis und den Teil eines Naans verspeiste. „Sie liegt schon seit 49 Tagen im Koma, das wird doch nichts mehr!“ „Bist du dir da so sicher? Sollten wir nicht lieber noch abwarten, bis Amisha wieder aufwacht? Dann wird sich herausstellen, ob sie wirklich ernsthafte Schäden davongetragen hat, oder nicht. Außerdem werde ich im August achtzehn, und dann kann ich machen, was ich will. Es sind ja nur noch ein paar Monate. Und die Sache mit dem verfrühten Studium muss ich auch noch klären.“ Er strich sanft und erregend über ihre Unterarme, die Hände und die perfekt weiß lackierten Fingernägel. Annapurna dachte kurz an den etwa 300 Kilometer entfernten Surya und die 8 gemeinsamen Weltraumausflüge mit Askon. Das würde ihr auf jeden Fall fehlen, ohne Frage. Schon wieder ergriff sie diese undefinierbare Ungewissheit, die sie mega abtörnend und scheiße fand. „Ach, bis die wieder aufwacht! Außerdem will ich doch kein Krüppel-Mädchen heiraten, keine Behinderte! Wer weiß, ob sie überhaupt noch Kinder kriegen kann, in ihrem Zustand. Mein Vater und meine Mutter wollen auch keine geistig behinderte Schwiegertochter.“ „Du bist ganz schön kaltblütig! Du schiebst also Frauen aufs Abstellgleis, sobald sie einen Makel haben, wenn der Putz abbröckelt, wenn sie nicht mehr perfekt funktionieren?!“ war Annapurna erbost. In diesem Moment wurde ihr etwas sonnenklar. Wenn es in einer künftigen Ehe mit Tuntuka hart auf hart käme, würde er sie eiskalt fallen lassen, emotional und geistig. „Nein, nein! So habe ich es nicht gemeint, Allerliebste. Aber ich will halt eine Frau, die schön ist, Kinder kriegen kann, und einen klaren Kopf hat... und keinen Krüppel.“ Annapurna erkannte plötzlich, dass Tuntuka oberflächlicher und platter war, als sie es vorher überhaupt ahnen wollte. Der Inklusions-Gedanke Deutschlands war in Indien nahezu unbekannt. Sie war neulich beim Surfen einmal auf das Wort „Inklusion“ gestoßen. Aber in Bharata konnten Menschen mit Behinderung oder einem geistigen Schaden froh sein, wenn sie nicht klammheimlich