Untervazer Burgenverein Untervaz

Texte zur Dorfgeschichte

von Untervaz

2016

Wilhelm Tell im Ausland

Email: [email protected] . Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini . - 2 -

2016 Wilhelm Tell im Ausland Michael Blatter in: Blatter Michael: Wilhelm Tell: Import - Export : ein Held unterwegs Baden: Hier + jetzt, 2016, Seite 88-97.

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1 Das früheste Bild von Wilhelm Tell, erschienen in der ersten gedruckten gesamtschweizerischen Chronik, in Petermann Etterlins «Kronica» aus dem Jahr 1507.

2 Aegidius Tschudis Wilhelm Tell, am unteren Rand der Seite über «den tällen». Ein paar Striche, eine Kritzelei, eine Karikatur? Urschrift des «Chronicon Helveticum» von Aegidius Tschudi, um 1560.

S. 88:

Tell lässt sich nicht aus der Welt schaffen, in dem man in der Pfarrkirche Sarnen bei Jahrzeiten seine Taten nicht mehr von der Kanzel herab verkündet oder indem man in Luzern seine Asche in die Reuss streut. Der fliegende Teppich überquert mit Leichtigkeit auch den Atlantik. In den 1760er-Jahren erscheint Tell in den unruhigen britischen Kolonien an Nordamerikas Ostküste. Es ist Vorabend der nordamerikanischen Revolution. Als britische Truppen in Boston einmarschieren, berichtet die Gazette» nicht über brisante politische Forderungen der Kolonien oder über die militärische Stärke der britischen Truppen. Die Bostoner Zeitung veröffentlicht auf ihrer Frontseite schlicht einen Artikel über «The - 4 -

S. 89: Heroic Deed of » und erzählt darin ausführlich, wie «William Tell» einst «in Switzerland» den grausamen «Governor» umgebracht und den «fight for freedom» gewonnen habe. Ein Wink mit der Armbrust an die britischen Kolonialherren.100

In den Unabhängigkeitskriegen und noch viel mehr in den darauf gegründeten jungen Vereinigten Staaten von Amerika feiert man «William Tell» in unzähligen Liedern, Gemälden, Theaterstücken und Opern als Held der Freiheit. Zahlreiche Strassen und Dörfer in den USA werden nach Tell benannt. 101 In den jungen, von Spanien unabhängigen südamerikanischen Staaten vergleicht man die Freiheitskämpfer Simon Bolivar und Benito Juarez mit «Guillermo Tell». 102 Seit Ende des 18. Jahrhunderts erscheinen Texte zu «William», «Guglielmo» oder «Guillaume» Tell in Boston, Indianapolis, London, Budapest, Moskau - und vor allem in Paris. 103

In Paris führen die «Comédiens Français ordinaires du Roi» am Théatre Français 1766 die Tragödie «» auf, geschrieben von Antoine- Marin Lemierre. Zensurbedingt tritt «Citoyen» Tell darin zwar

S. 90: vergleichsweise zurückhaltend auf. 104 Und es sind zunächst vor allem die Mitglieder der Schweizer Kolonie in Paris, die sich das Stück ansehen. 105 Doch in den folgenden Jahren kommt das Stück immer wieder auf den Spielplan von Bühnen in Paris und in französischen Provinzstädten. Und Tell kommt an. 106 1786, als eine Neuinszenierung Tells Apfelschuss direkt auf der Bühne zeigt, erfährt Lemierres Stück breite Popularität. «Guillaume» wird in ganz Paris bekannt, beliebt - und spätestens seit dem Ausbruch der Französischen Revolution 1789 in der Hauptstadt heimisch.

1793 beschliesst der französische Konvent, Lemierres «Guillaume Tell» sowie je ein Drama über «Brutus» und über «Gracchus» dreimal wöchentlich aufführen zu lassen, eine von drei Aufführungen finanziert der französische Staat. 107 1794 erhält Lemierres Stück den neuen Titel «Guillaume Tell ou les Sans-Culottes Suisses». Die Aufführungen werden jeweils begleitet von Melodien aus der Marseillaise. Noch beliebter und häufiger aufgeführt wird im revolutionären Paris der 1790er-Jahre die Operette «Guillaume Tell» von Sedaine und Grétry. Die Oper schliesst mit der Marseillaise. Nach einer Aufführung - 5 -

S. 91: 1791 stürmt das Publikum vor Begeisterung durch das Orchester auf die Bühne und zerreisst dabei den Vorhang. «Guillaume» ist in Paris ein Protagonist der Ideale der Französischen Revolution und nicht mehr bloss ein Freiheitsheld aus der mittelalterlichen Geschichte der benachbarten Eidgenossenschaft. Bei der Kriegserklärung Frankreichs gegen Österreich 1794 wird eine Tellstatue in Paris aufgestellt, und man schwört in Frankreich bei Tell, die Revolution gegen Österreich verteidigen zu wollen. «Guillaume Tell» marschiert zusammen mit Brutus in revolutionären, jakobinischen Festumzügen mit. Revolutionäre berufen sich auf Tell und rechtfertigen mit Tells Tat ihre Anliegen und Vorhaben; sei es die in Europa mit Entsetzen zur Kenntnis genommene Hinrichtung des französischen Königs Ludwig XVI. durch die Jakobiner, sei es ein Aufruf an die Bürger zur Rettung des Vaterlandes - sie sollen mehr Kartoffeln und weniger Brot essen, «mit ruhiger Kraft», wie Tells Sohn. 108 Wie in den USA werden in Frankreich Strassen, Quartiere, Dörfer nach «Guillaume Tell» benannt. Und Tell ist auch ein Kriegsschiff. «Guillaume Tell», 1796 vom Stapel gelassen, kämpft für die Französische Revolution im Mittelmeer. In Ägypten entkommt

S. 92: «Guillaume Tell» 1799 in der Schlacht von Abukir Nelsons Flotte nur knapp durch Flucht nach Korfu. Ein Jahr später wird «Guillaume Tell» in Malta doch noch von britischen Schiffen gestellt, gekapert - und sogleich als HMS Malta in die britische Flotte aufgenommen.

Nicht nur Texte über Tell vervielfältigen sich am Ende des 18. Jahrhunderts, sondern auch Zweifel an der Geschichte. Bereits 1756 bemerkt Voltaire in seinem berühmten «Essai sur les Moers»: «l'histoire de la pomme est bien suspecte. Il semble qu'on ait cru devoir orner d'une fable le berceau de la liberté helvétique».109 Die Reaktionen auf diesen kurzen Satz des vielgelesenen Autors sind durchzogen, inspirieren aber im Kanton Bern eine kleine Schrift, die 1760 auf Deutsch und auf Französisch erscheint: «Guillaume Tell, fable danoise» beziehungsweise «Willhelm Tell, ein dänisches Mährgen». Zum Entsetzen vaterländisch gesinnter Eidgenossen behaupten die beiden - zu ihrem Schutz anonymen - Berner Autoren, die Geschichte des Wilhelm Tell stamme von einer nordischen Sage ab. Die Urner Regierung lässt öffentlich ein Exemplar des «Mährgen» vom Scharfrichter verbrennen. - 6 -

S. 93: Dafür erhält ein junger Publizist, der versucht, Tells Existenz argumentativ zu retten, zum Dank von der Urner Regierung eine Goldmedaille. 110

«Guillaume Tell» bleibt nicht in Abukir, Malta oder Frankreich, wo sich die Mitglieder des Schweizerclubs «descendants» und «compatriotes» von «Guillaume Tell» nennen. 111 1794 stellen die Jakobiner in ihrem eigenen Klub in Paris eine Tellbüste auf. Bei der feierlichen Einweihung äussert einer der Festredner den Wunsch, nun sollten «massenhaft kleine Tellen» endlich die Freiheit auch und gerade in die Eidgenossenschaft bringen. 112

Und «Guillaume Tell» kommt tatsächlich zurück in seine alte Heimat. Als sich in den 1790er-Jahren bewaffnete Bauern zum Schrecken der Stadtbürger vor der Stadt Winterthur versammeln, ist ein als Tell verkleideter Mann, begleitet von einem Knaben, mit dabei. An einem Fest in der Waadt zur Erinnerung an den Sturm auf die Pariser Bastille tritt ein Tell mit französischer Kokarde auf. Die Berner Obrigkeit reagiert darauf mit aller Härte. Sie hat Erfahrung darin, musste sie doch bereits 1749 bei der sogenannten «Henzi-Verschwörung»

S. 94: gegen Tell vorgehen. Samuel Henzi, Berner Schriftsteller, Politiker und Revolutionär, verfasst 1744 ein Memorial, das mehr und breitere Mitsprache der Berner Bevölkerung fordert und die Wattenwyl und die Steiger, Angehörige der alten Patrizierfamilien, unverhohlen «Grisler» (sprich Gessler) nennt. 113 Henzi wird geköpft. Vor seiner Hinrichtung, im Gefängnis, verfasst er einen weiteren Text gegen die Tyrannei. Es ist ein Text über Wilhelm Tell. Es überrascht nicht, dass das Fest in der Waadt zu Ehren des Sturms auf die Bastille, inklusive Tell mit französischer Kokarde, von Bern sogleich und rigoros mit Truppen zerschlagen wird.

«Guillaume Tell» aber lässt sich nicht so einfach vertreiben. Dazu ist er viel zu radikal, und zu beliebt. Der französische Philosoph, Priester und Schriftsteller Abbé Raynal, ein scharfer Kritiker des Kolonialismus und der Sklaverei, möchte zu Ehren und Gedenken an die Gründung der Eidgenossenschaft ein Denkmal der Freiheit errichten, und zwar auf dem Rütli. Die Urner Regierung will nichts davon wissen. Nach langem Hin und Her kommt das Denkmal 1783 schliesslich auf der kleinen Insel Altstad beim Meggenhorn in der - 7 -

S. 95: Nähe von Luzern zu stehen. Oben, auf der Spitze des Obelisken, der Apfel und vor allem der Pfeil des Tell. Das Denkmal steht nur 13 Jahre. 1796 schlägt ein Blitz genau in die Pfeilspitze und zerstört es. 114

1798 kommt die Französische Revolution auch in die Schweiz. Zwei Jahre nach - und trotz - des Blitzschlags in Abbé Raynals Tell-Denkmal der Freiheit bricht die alte Eidgenossenschaft zusammen. Revolutionen, Freiheitsbäume und französische Truppen bringen «Guillaume Tell» unaufhaltsam ins Land. Die Idee, dieses in kleinere Republiken aufzuteilen - eine davon hätte dann «Tellgau» geheissen -‚ wird verworfen. 115 Die schweizerische Eidgenossenschaft erhält dafür eine neue, revolutionäre Verfassung. Und Tell prangt auf jedem Siegel und auf jedem offiziellen Dokument der Helvetischen Republik. Die helvetische Elite versucht Tell als eidgenössische Integrationsfigur einzusetzen und begründet zahlreiche Vorhaben, zum Beispiel die Truppenaushebungen gegen Österreich, mit Wilhelm Tell.116

Doch wird Tell in der Eidgenossenschaft beim Einmarsch der Franzosen vielfach für

S. 96: eine französische Figur gehalten. Und das ist genau genommen gar nicht so falsch. Der «Guillaume Tell», der mit der Französischen Revolution in der Eidgenossenschaft einzieht, ist schliesslich alles andere als der «Wilhelm Tell», den sich die alten Obrigkeiten in seiner alten Heimat vorgestellt hatten. Und so organisiert sich der Widerstand gegen die helvetische Verfassung und gegen französische Truppen, nicht zuletzt in der Innerschweiz, ebenfalls im Zeichen von Wilhelm Tell. Jakobinermützen auf den überall errichteten Freiheitsbäumen gelten als die neuen Gesslerhüte.

Die Innerschweizer Geschichtenerzähler haben die Deutungshoheit über Wilhelm Tell zu diesem Zeitpunkt jedoch schon verloren, spätestens mit der Rückkehr von «Guillaume Tell». Ohne ihr Zutun und ohne ihn steuern zu können, ist Tell unterwegs in Boston oder Ägypten - und zurück kehrt er als Auslandschweizer, der für alte Obrigkeiten Unangenehmes nach Hause bringt; zum Beispiel gleiche Rechte für alle, auch für ehemalige Untertanen, ob «pöwel» oder «erberkeit».

Am 5. April 1799 brennt Altdorf. Innert fünf Monate hat der Hauptort des Landes Uri - 8 -

S. 97: die Besetzung zunächst durch französische, dann durch österreichische, dann wieder durch französische, dann durch russische und schliesslich wieder durch französische Truppen erlebt. Dem Grossbrand fallen 225 Wohnhäuser und das Kapuzinerkloster zum Opfer. Auch das Landesarchiv des Kantons Uri geht in Flammen auf, und darin verbrennt ein Grossteil möglicher Quellen aus der Zeit des Wilhelm Tell.117

Anmerkungen: 100 Jensen, The Founding, S. 345. 101 Berchtold, Guillaume Tell, S. 26-28, Bergier, Wilhelm Tell, S. 451. 102 Lerner, William Tell's Atlantic Travels, S. 105. 103 Berchtold, Guillaume Tell, S. 25, 40f. 104 Ebd. S. 31, Bergier, Wilhelm Tell, S. 451. 105 Jurt, Sprache, S. 147. 106 Berchtold, Guillaume Tell, S. 31, Bergier, Wilhelm Tell, S. 451. 107 Utz, Die ausgehöhlte Gasse, S. 30-32. Zum Folgenden vgl. ebd. S. 32f. 39, 41f. , Lerner, William Tell's Atlantic Travels, S. 94, Bergier, Wilhelm Tell, S. 451f. 108 Utz, Die ausgehöhlte Gasse, S. 33, 39. Zum Kriegsschiff «Guillaume Tell» vgl. auch: Mostert, The Line Upon a Wind, S. 260, 365. 109 Berchtold, Wilhelm Tell, S. 19. 110 Bergier, Wilhelm Tell, S. 440, Berchtold, Wilhelm Tell, S. 19. 111 Utz, Die ausgehöhlte Gasse, S. 32. 112 Ebd. S. 28. Zum Folgenden vgl. ebd. S. 29f. 113 Dubler, Henzi-Verschwörung. 114 Capitani, Raynal, Friedrich, Reise eines Lehrers, S. IX-X. 115 Fankhauser, Tellgau. 116 Utz, Die ausgehöhlte Gasse, S. 33. Zum Folgenden vgl. ebd. S. 33-35. 117 Stadler, Helvetik.

Wir danken dem Verfasser und dem Verlag bestens für die freundliche Wiedergabebewilligung.

Internet-Bearbeitung: K. J. Version 06/2016 ------