SIEGESSAUL
BERLINS MEISTGELESENES STADTMAGAZIN EXPANDED CONTENT INENGLISH MAI 2020 • SIEGESSAEULE.DE SIEGESSÄULE? Die letzte WE ARE QUEERBERLIN
SIEGESSÄULE YOUR NEEDS YOU!
E
INHALT 3 Es geht um viel ... Die Lage ist ernst – Chefredakteur Jan Noll zur Situation der SIEGESSÄULE in der Corona-Krise Ist dieses Heft die letzte SIEGESSÄULE? Vielleicht. Was auf dem Cover dieser Ausgabe angedroht ist, liegt durch die Corona-Krise im Bereich des Möglichen. Als What’s at stake ... ein journalistisch unabhängiges Heft, das sich durch Editor-in-Chief Jan Noll on the grave situation of the Anzeigen finanziert, leben wir von der Werbung, die SIEGESSÄULE due to the corona crisis Kulturevents, Clubs, Bars, Theater und andere bei uns schalten. Schließungen und Absagen stürzen nicht nur Is this the last issue of the SIEGESSÄULE? Possibly. die Betreiber*innen selbst, sondern auch uns in eine Due to the corona crisis, the threat portrayed on this tiefe finanzielle Krise. Ohne Anzeigengeschäft keine issue’s cover is real. As an independent news maga- Einnahmen. Deshalb brauchen wir jetzt eure Hilfe! zine financed by advertising, we rely on ads from cul- Die Lage der SIEGESSÄULE geht uns alle an. Es geht tural events, clubs, bars, theaters and others. Closures dabei nicht nur um die – durchaus berechtigten – wirt- and cancellations have plunged all of us into a deep schaftlichen Interessen eines Verlages und um etliche financial crisis. That’s why we need your help now! Arbeitsplätze. Es geht hier um nicht weniger als die Ret- The crisis of the SIEGESSÄULE extends beyond the tung des 1984 aus der Schwulenbewegung heraus ge- economic interests of one company and the many schaffenen journalistischen Erbes Lasst uns alles tun jobs that depend on it. It’s about der Berliner Community. Um saving the journalistic heritage of ... um dieses Erbe zu wahren die Bewahrung einer a queer Berlin institution, which Institution, eines mitt- Let’s do all we can was born in 1984 from the gay emancipa- lerweile fast 40 Jahre ... to safeguard the legacy of queer Berlin tion movement. For nearly 40 years, this FOTO: MARCUS WITTE währenden Stücks Ber- institution has chronicled Berlin’s LGBTI* „Those were the days liner LGBTI*-Geschichte. Lasst uns alles dafür tun, um history. Let’s do everything we can to preserve and my friend/We thought dieses Erbe zu wahren und zu schützen. Denn wie sagt protect this legacy. In the words of Wolfgang Tillmans they‘d never end“ Wolfgang Tillmans im Interview auf Seite 6 so treffend? from our interview on page 6: “What’s gone today isn’t (Gene Raskin) „Was einmal weg ist, ist eben nicht morgen wieder da.“ back by tomorrow.” Unter dem Claim „Your SIEGESSÄULE Needs You!“ haben Your donations help maintain the SIEGESSÄULE, and Viel Spaß mit der wir eine Spendenaktion gestartet und erhalten dan- our fundraising campaign “Your SIEGESSÄULE Needs Maiausgabe kenswerterweise bereits viel Unterstützung. Infos zur You!” is described more fully in these pages. Thank der SIEGESSÄULE Kampagne findet ihr auf den folgenden Seiten. Helft you for your continued support. wünscht uns, die SIEGESSÄULE am Leben zu erhalten. Please donate! Chefredakteur Bitte spendet! Translation: Joe von Hutch Jan Noll
Special Media SDL GmbH SIEGESSÄULE Ritterstr. 3 10969 Berlin Themen Kultur Service Redaktion, Tel.: 23 55 39-0 4 YOUR SIEGESSÄULE 28 MUSIK 42 PROGRAMMINFO [email protected] NEEDS YOU! Neues Album: Austra im Interview Wegen des Shutdowns erschei- SIEGESSÄULE.DE Die Spendenkampagne zur Rettung der nen wir in diesem Monat ohne Redaktionsschluss: 04.05. SIEGESSÄULE 30 BÜHNE Programmteil, Infos zu Livestre- Programmtermine: -33, -46 Das „BKA Theater Hauptstadtstudio“ ams auf SIEGESSÄULE.DE [email protected] 12 COMMUNITY Terminschluss: 06.05. Zur Situation von queeren Menschen mit 32 BUCH 43 KLEINANZEIGEN Fluchthintergrund in Zeiten von Corona Kultursenator Klaus Lederer über Anzeigen: -13 Jens Biskys „Berlin“ 50 DAS LETZTE [email protected] 14 STADT Kolumne von FaulenzA Anzeigenschluss: 13.05. Massenkündigung am Vivantes 36 FILM Kleinanzeigen Auguste-Viktoria-Klinikum Neu auf DVD: Die kontroverse Doku 50 IMPRESSUM [email protected] „Lord of the Toys” Kleinanzeigenschluss: 10.05. 20 BRANDENBURG Das Antidiskriminierungs-Seminarhaus Abonnement: -55 Quecke in Falkenberg [email protected] SIEGESSÄULE 06/2020 38 ENGLISH erscheint am 29.05. Interview with Perfume Genius 4 YOUR SIEGESSÄULE NEEDS YOU!
Bitte, bleibt da!!
I need Siegessäule, FCK CORONA with love und Solidarität
Haltet durch! Ihr seid ein Teil des queeren Berlins und leistet tolle journalistische Arbeit! Nutzt aber auch die staatlichen Hilfsprogramme. Love you, stay safe + positive
Rettet die Unsere SIEGESSÄULE ist ein in Europa einzigar- tiges Medium und Kulturgut, das für viele queere SIEGESSÄULE Berliner*innen auch ein ganz persönliches Stück ihrer eigenen Emanzipationsgeschichte Spenden via Pay- Auch uns haben die Auswirkungen der Coro- darstellt. Wir vertreten die queeren Belange na-Krise hart getroffen. Denn die SIEGESSÄULE Berlins, die sonst wenig sichtbar sind, und wol- Pal unter Betreff lebt zum größten Teil von den Werbeanzeigen len dies auch weiterhin tun. im Heft – und nur zu einem sehr viel geringeren Seit 1984 gehört das Magazin zur Berliner Com- „Support SIEGES- Teil von Online-Anzeigen. Diese Werbung für munity, seit Mitte der 90er Jahre ist es jeden SÄULE“, einfach Veranstaltungen, Kultur, Gastronomie und Han- Monat kostenlos überall in der Stadt erhältlich. del ist wegen der Absagen und Schließungen Die SIEGESSÄULE ist ein journalistisch unab- QR-Code scannen: verständlicherweise massiv geschrumpft. Zwar hängiges, aber allein durch Anzeigen finan- sind uns trotz Krise etliche treue Anzeigen- ziertes Heft mit einer monatlichen Druckauflage kund*innen erhalten geblieben, wie in diesem von regulär mindestens 50.000 Heften pro Monat Heft zu sehen ist, dennoch: weit über die Hälfte und einer Reichweite von geschätzt 100.000 unserer üblichen Einnahmen fehlt. Damit sind Leser*innen. die SIEGESSÄULE und der dahinter stehende Verlag in einer bedrohlichen finanziellen Lage. So könnt ihr uns unterstützen und die SIEGESSÄULE retten: Um die SIEGESSÄULE zu erhalten, seid ihr, die Leser*innen und Menschen der LGBTI*-Com- Direkt per Überweisung auf unser Konto: munity, gefragt! Special Media SDL GmbH, Betreff „Support SIEGESSÄULE”, Unser Gedankenspiel: Wenn alle schätzungs- IBAN Nummer: DE22 1005 0000 0190 0947 29 weise 100.000 SIEGESSÄULE-Leser*innen in Berlin ausnahmsweise dazu bereit wären, Über PayPal (siehe QR-Code) 1,50 Euro zu bezahlen, könnten wir die Um- satzeinbrüche vermutlich auffangen. Mit dem Auf der Spenden-Plattform Startnext: Spendenziel von 150.000 Euro sowie anderen https://www.startnext.com/your-siegessaeu- Maßnahmen (Kurzarbeit, Förderungen) hoffen le-needs-you (inklusive Kunst-Aktion von wir, Berlins queeres Magazin am Leben halten Wolfgang Tillmans u. a.) zu können. YOUR SIEGESSÄULE NEEDS YOU! 5
Seit dem 9. April läuft die Spendenkampagne. Viele Leser*innen haben per PayPal gespendet und Liebesbotschaften mitgeschickt. Die schönsten und motivierendsten haben wir hier ausgewählt. Danke – wir lieben euch auch!
Danke für eure Arbeit. Ich hoffe, es reicht und Ist nur eine kleine Hilfe, Durchhalten! viele machen mit ... aber kommt vom Herzen! Danke Euch und bleibt I need Siegessäule, gesund! Alles Gute FCK CORONA with Spende für die Siegessäule, Vielen Dank für eure love und Solidarität damit ihr auch weiterhin uns für euch! Arbeit und alles Gute erhalten bleibt. Vielen lieben Dank für die wert- Ihr lieben guten Wortakrobaten, ich hoffe, volle und qualitative Arbeit, die die Knete kommt zusammen und ich kann ihr leistet. Ihr seid wichtig für die noch viele, viele Heftchen aufsammeln und Community. Es ist schön, dass es Haltet durch, darin lesen, wenn ich allein in einer Kneipe euch gibt, und ich hoffe von gan- ihr seid toll! sitze – was soll ich sonst ohne euch tun? zem Herzen, dass ihr diese Krise Ich hoffe, meine Spende hilft euch . . . überleben werdet. Ich sende viel Love you, stay Danke für all die schönen Interviews und Liebe und Courage aus Luxemburg. safe + positive die Inspiration im Magazin und vor allem den Zwang, auch über meinen Tellerrand Bleibt zu schauen, wenn ich in der Siegessäule stöber! Merci Fight, tapfer! Liebes Siegessäule-Team. Bitte durchhalten, wir Queenz! Liebe! schaffen es gemeinsam durch die Krise. Ihr leistet Auf die Vielfalt großartige und wichtige Alles Liebe und eine Arbeit! Schön, Ihr müsst bleiben kl. Unterstützung dass es EUCH gibt! Wir schaffen Never gonna stop, give Damit es euch das gemeinsam! it up, such a dirty mind I Bleibt always get it up, for the noch lange gibt touch of the younger kind stark! My, my, my, aye-aye, whoa! Danke für alles – die Infos, M-m-m-my Corona! Toi, toi, toi, dass Ihr gut Beiträge und euer durch die Krise kommt. Engagement über all Die Siegessäule muss Ihr habt mich jahrelang die Jahre! Ich bin Fan. bleiben. Sie ist eine Institution in Berlin. kostenfrei begleitet und Danke, dass eine kleine Spende ist Stay es euch gibt!!! das Mindeste ... :-) strong! 6 YOUR SIEGESSÄULE NEEDS YOU!
Foto: deiner Kunst und der Kunst von ande- Wolfgang Tillmans in ren, die du quasi zusammengetragen seinem Berliner Atelier hast, zu unterstützen. Wie kam es zu dieser Entscheidung? Als die Coro- na-Krise begann, war mir schnell klar, dass ich mich da selber auch engagieren möch- te. Einerseits mit meiner Stiftung Between Bridges und auch privat. So wie ich mich auch in den letzten Jahren engagiert habe und gespendet habe. Ich empfinde das als meine Pflicht. Viele können jetzt kein Geld ausgeben. Aber die, die können, sollten das unbedingt tun. Das hilft, viele Sachen am Laufen zu halten. Dann kam ich auf die Idee, die im Kunstbetrieb oft praktizierte Fundraising-Idee einer limitierten Edition zu erweitern auf eine größere Posteraktion mit ganz vielen verschiedenen Künst- ler*innen. So entstand „2020Solidarity“. Das Projekt stellt diese Kunstposter Organisa- tionen, die in Not sind, für ihre Crowdfun- dings zur Verfügung. Das hatte sich alles innerhalb von einer Woche entwickelt. Und jetzt haben wir beides bei euch auf der Seite: Ein paar limitierte teurere Arbei- ten und die ersten Poster von der Aktion „2020Solidarity“, die dann hoffentlich von
FOTO: MARCUS WITTE ganz vielen für ihre Fundings genutzt wer- den können. Wie hast du denn von der misslichen Freiräume bewahren Lage der SIEGESSÄULE erfahren? SIE- GESSÄULE und ich werden beide von der- Mit der Aktion „2020Solidarity“ unterstützen der Künstler Wolfgang selben IT-Firma beraten. Im Gespräch mit Tillmans und seine Stiftung Between Bridges die Spendenkampagne meinem Techniker kam das so rüber. Aber zur Rettung der SIEGESSÄULE. Jan Noll traf Wolfgang zum Gespräch man braucht ja nicht lange drüber nach- zudenken, dass ihr doppelt betroffen seid. Ausführliches Inter- Wolfgang, weißt du noch, wann und wo du deine erste SIE- Die Verteilungswege sind gleichzeitig auch view mit Wolfgang GESSÄULE in der Hand hattest? Ich denke, das war 1984. Wir die Anzeigenkund*innen und beide haben Tillmans auf waren aus dem Rheinland auf Klassenfahrt in Berlin und in einer geschlossen. Ich finde, ihr dürft nicht ein- SIEGESSÄULE.DE Jugendherberge untergebracht, die direkt neben dem damaligen fach verschwinden. Was einmal weg ist, ist schwulen Zentrum lag. Da bin ich reingestolpert, und ich schätze, eben nicht morgen wieder da. Ich möchte dass ich dort alle Infomaterialien mitgenommen habe, die ein helfen, die queere Szene zu bewahren. Sie For the English version Sechzehnjähriger so mitnimmt. (lacht) Ab1990 war ich dann ja in ist wertvoll und eben nicht nur Spaß und of this interview, visit England und habe Berlin seitdem regelmäßig besucht. Dabei habe ein bisschen was trinken. Das sind essen- SIEGESSAEULE.DE ich immer die SIEGESSÄULE mitgenommen. Ich schätze an ihr zielle Freiräume, die durch Medien wie die journalistische Qualität. In London hast du halt Boyz und QX, SIEGESSÄULE vernetzt werden. Ich finde, Zur Kampagne: die null Journalismus haben, sondern eigentlich nur Partyfotos, das ist etwas sehr Identitätsstiftendes und siegessaeule.de/ und wo der gesamte Inhalt abgeglichen ist mit zahlenden Anzei- für ganz viele Leute das Erleben einer Frei- magazin/your-sieges- genkund*innen. In New York ist das ähnlich. Das ist ein extremer heit, die sie dort, wo sie herkommen, nicht saeule-needs-you/ Unterschied. Allein deshalb habe ich die SIEGESSÄULE oder ähn- haben. liche Magazine immer schon sehr geschätzt. Warum ist es dir als Künstler startnext.com/ Warum ist die SIEGESSÄULE generell ein wichtiges Me- wichtig, selbst und mit deiner Stif- your-siegessaeu- dium, eine wichtige Institution für diese Stadt? Ich finde, tung gemeinnützige Dinge für die le-needs-you bei allem In-der-Mitte-der-Gesellschaft-angekommen-Sein von LGBTI*-Community zu tun? Weil ich es Schwulen und Lesben ist es trotzdem wichtig, dass es ein Medium kann, würde ich es als Mangel oder Weg- gibt, das diese Szene und alle Aspekte des kulturellen und politi- ducken empfinden, wenn ich es nicht tun schen Lebens aus dieser Perspektive betrachtet. Manche mögen würde. Und auch aus Dankbarkeit gegen- vielleicht fragen: „Wozu braucht es das?“ Ich finde, Emanzipation über den Leuten, die Kämpfe gefochten ist nie abgeschlossen, und es gibt einfach auch gesellschaftliche haben, um die Gesellschaften in Deutsch- Themen, die da verhandelt werden. Alle Themen, die uns betref- land, UK und Amerika so zu öffnen, dass fen, werden in der SIEGESSÄULE auch diskutiert. ich mein Leben so frei und offen leben Du hast dich dafür entschieden, unsere Spendenaktion mit kann, wie ich das kann. YOUR SIEGESSÄULE NEEDS YOU! 7
Wolfgang Tillmans und andere renommierte Künstler*innen stiften 18 Werke, um damit die SIEGESSÄULE-Spendenkampagne auf Startnext
zu unterstützen Wolfgang Tillmans, „I feel safer in the city“, 2018, 24,1cm x 23,5 cm, limitierte Auflage
Spyros Rennt, „The arm over his shoulder“, 2020, Wolfgang Tillmans, „still life (Bühnenbild)“, 42cm x 59,4 cm 2020, 42cm x 59,4 cm
Piotr Nathan, Entwurf der Arbeit „Die Rituale des Verschwindens“, 2003. Realisiert im Club Berghain in Berlin 2004, 42 cm x 59,4 cm
Melanie Bonajo, „Night Soil – Economy of Love“, Klara Lidén, „Butter“, 2020, Stefan Fähler, „Kiss Me“, 2020, Claire Nicole Egan und Bobby Glew, 2015, 42cm x 59,4 cm 59,4 cm x 42 cm, limitierte Auflage 59,4 cm x 42cm, limitierte Auflage „Hard Fond“, 2020, 59,4 cm x 42 cm
Isa Genzken, Untitled, 2015, Ebecho Muslimova, „Fatebe Yoga“, Betty Tompkins, „Sex Painting #4“, Marlene Dumas, „James Baldwin Felipe Baeza, „Desapareces II“, 59,4 cm x 42 cm 2015, 59,4 cm x 42 cm 2013, 59,4 cm x 42 cm (from the series Great Men) “, 2014, 2012, 59,4 cm x 42 cm 59,4 cm x 42cm
David Lindert, „Soul scrub“, 2019, Heike-Karin Föll, „AbExGruau 7“, Karl Holmqvist, „Siegessäule Colla- Peter Berlin, „Damiani Book Cover“, Ralf Marsault und Heino Muller, 59,4 cm x 42 cm 2017, 59,4 x 42 cm ge“, 2020, 59,4 x 42 cm, limitierte 2019, 59,4 cm x 42 cm „Mr. Plus, J-P., Mickey, Paris 1987“, Auflage 1987, 59,4 cm x 42cm 8 YOUR SIEGESSÄULE NEEDS YOU!
SIEGESSÄULE fundraising campaign
Your SIEGESSÄULE Needs You! Uncomplicated via Paypal with the sub- In order for you to be able to enjoy the SIEGESSÄULE in the future, ject “Support Siegessäule” (see QR-code) we need your help right now! Or via our campaign at startnext.com: The corona crisis has hit us hard. Advertisers make up the major part startnext.com/en/your-siegessae- of the SIEGESSÄULE’s revenues and due to the mass cancellation of ule-needs-you (including art rewards by all events as well as the shuttering of most every venue in the city, Wolfgang Tillmans and others, see p. 7) this has led to a collapse in our cash flow. This means, of course, that the SIEGESSÄULE as well as the Special Media company which Berlin without the SIEGESSÄULE? Unthink- publishes us, are currently facing sheer unsurmountable financial able! The magazine has been part of the challenges. Help us to save a Berlin institution! Berlin community since 1984, and since For us to be able to guarantee that the SIEGESSÄULE remains a free the mid-1990s it has been available free of queer city magazine, we need you, the readers* of the LGBTI* com- charge every month throughout the city. munity! The SIEGESSÄULE is a journalistically in- A little thought experiment: If each of our estimated 100,000 readers dependent magazine but financed solely of the SIEGESSÄULE in Berlin were willing to pay 1.50 euros, we are through advertisements. It is widely avail- convinced we would be able to compensate for the current drop in able to all Berliners* and has a regular print sales. With our donation target of 150,000 euros as well as with other run of at least 50,000 per month and a reach measures (short-time work, subsidies), we are confident that we will of 100,000 readers*. be able to keep Berlin’s queer magazine up and running. Our SIEGESSÄULE is a unique media platform and cultural asset in Europe, which for many queer Berliners* also represents a very per- sonal piece of their own individual coming-out story – the magazine has established itself as a consistent and often hotly debated part of Berlin’s attitude to life. We represent the queer interests of Berlin, which are otherwise barely visible elsewhere, and we want to con- tinue to do so. Support us now. Donate here: Directly by bank transfer with the subject “Support Siegessäule” to our account: Special Media SDL GmbH, IBAN: DE22 1005 0000 0190 0947 29 STADTBILD 9
Der Alexanderplatz am 12. April
Festgehalten von Sally B. 10 MAGAZIN FOTO: DAVIDS/ SVEN DARMER
Nachruf Jörn Kubicki, der langjährige Partner von Berlins ehemaligem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD), ist tot. Der Neurologe starb am 28. März im Alter von 54 Jahren in der Berliner Charité an Herzversagen. Kubicki litt an der Lungenkrank- Vernetzt heit COPD und hatte sich zusätzlich Unter dem Hashtag #LeaveNoOneBe- eine Coronavirus-Infektion zugezo- hind sind derzeit Menschen in ganz gen. Nach Wowereits öffentlichem Europa und darüber hinaus aktiv. Das Coming-out 2001 mit dem histori- Ziel: gezielt jene zu unterstützen, die schen Satz „Ich bin schwul und das den Folgen der Pandemie jetzt am ist auch gut so“ waren er und Jörn stärksten ausgesetzt sind, darunter Kubicki regelmäßig als Paar in der z. B. Geflüchtete, obdach- oder mit- Öffentlichkeit aufgetreten und tru- tellose Personen. Auch das Netzwerk gen so maßgeblich zur Sichtbarkeit Verbunden Lesben gegen Rechts beteiligt sich und Akzeptanz von LGBTI* in Berlin an der Aktion. Im April wurden eine und darüber hinaus bei. Die Berli- Protest im Netz: In der Corona-Krise Woche lang Fotos mit selbst gemalten ner Community reagierte geschockt greifen viele auf „digitale“ Aktions- Schildern gesammelt und auf lgrleave- auf den Tod Kubickis. „Mein Herz formen zurück. So auch am diesjähri- noonebehind.wordpress.com hochge- weint“, schrieb beispielsweise Sän- gen 17. Mai, dem Internationalen Tag laden. Forderungen von Lesben gegen Versorgt gerin Romy Haag auf Facebook. gegen Homo-, Bi-, Inter- und Trans- Rechts u. a.: Evakuierung der überfüll- phobie (IDAHOT). Unter dem Hashtag ten Camps für Geflüchtete auf Lesbos, Anfang April eröffnete am Winter- #wirfürqueer wird ein Soli-Event als mehr Frauenhausplätze oder mehr feldtplatz in Schöneberg eine neue Stream gezeigt, organisiert von der Lohn und Schutz für Arbeiter*innen in HIV-Schwerpunktpraxis unter der Präventionskampagne IWWIT („Ich „systemrelevanten“ Berufen. Leitung von Dr. med. Gal Goldstein weiß was ich tu“) der Deutschen (Foto). In sieben Sprachen (Deutsch, Aids-Hilfe. Sprecher*innen und Künst- Englisch, Hebräisch, Ungarisch, Ara- ler*innen aus der Community seien dafür bereits angefragt worden, er- bisch, Türkisch und Russisch) werden zählt Tim Schomann, Kampagnenleiter bei IWWIT. Unter #wirfürqueer hier in Zukunft unter anderem HIV-In- werden auch Spendenaufrufe gelistet, um durch die Krise akut bedrohte fektionen behandelt sowie PEP/PrEP-Beratungen und STI-Behandlungen an- Community-Strukturen zu unterstützen. Die Botschaft: „Ihr seid nicht geboten. Zusätzlich gibt‘s hausärztliche Versorgung sowie reisemedizinische allein!“ Ebenfalls am 17. Mai rufen der Lesben- und Schwulenverband Beratung und Impfungen. „Unser Angebot richtet sich in erster Linie, jedoch und das Bündnis gegen Homophobie zu einer Online-Kundgebung auf. nicht ausschließlich, an schwule Männer“, erklärte Goldstein in einer Presse- Zu finden unter den Hashtags #stayathome #proudathome! mitteilung. Kontakt unter: doctor-goldstein.com MAGAZIN 11
Sexarbeiter*innen ein. Es gibt eine große Spendenbereit- schaft für die durch die Corona-Maßnahmen bedrohten Orte wie Clubs, Bars oder Kinos, und es wurden zahlreiche Nachbarschaftshilfen organisiert, die Menschen aus Risiko- gruppen ganz konkret in ihrem Alltag unterstützen. Die lesbische Initiative RuT hat die Aktion „Zusammen schaffen wir das!“ ins Leben gerufen – eine Nachbar- schaftshilfe für die L*-Community. Ob es darum geht, Einkäufe vorbeizubringen, mit dem Hund Gassi zu gehen oder einfach ein Gespräch am Telefon zu führen – hier www.taxi-berlin.de findet sich ein Team, das engagiert zur Sache geht. Dabei geht es vor allem um die Belange von älteren Lesben, die z. B. chronische Erkrankungen oder körperliche sowie psy- chische Einschränkungen haben. Die Erfahrung von Iso- lation und „die Angst vor einer unsichtbaren Bedrohung“ werden von vielen Hilfesuchenden als traumatisierend
Führerscheinfrei empfunden, erzählen Mitarbeiter*innen von RuT e. V. im bis 12 Personen, Gespräch mit SIEGESSÄULE. Daneben gilt es, auch sehr mit Grill, Catering & Getränken konkrete Fragen zu beantworten: wie man z. B. Skype ein- in Berlin-Rummels- TOP: richtet oder wo man Gesichtsmasken herbekommt. burg an der Spree RuT macht Mut Während das RuT in Krisenzeiten sein Hilfs- und Bera- tungsangebot erweitert, steht die Initiative vor etlichen, Buchung online: Schwierige Zeiten setzen auch enorme Kräfte frei: Blitz- auch logistischen Herausforderungen. Weil ein Teil des spreeboote.de schnell entstanden in Berlin während der Corona-Krise Teams selbst zur Risikogruppe gehört, wird größtenteils Supportnetzwerke und Hilfsangebote, die zeigen, dass vom Homeoffice aus gearbeitet, was die Kommunikation Engagement und gelebte Solidarität keine leeren Floskeln untereinander erschwert. Trotz der großen Sorge um die sind. So sammelt zum Beispiel die Aktion „United We Zukunft queerer Infrastruktur zeigt man sich dennoch Stream“ mithilfe von Livestreams Gelder für Clubs und Kul- optimistisch: „Wir wären nicht das RuT, wenn wir nicht turschaffende und der „Nightlife Emergency Fund“ setzt auch in Krisen beherzt die Ärmel aufrollen und auch un- sich für besonders vulnerable Gruppen im Nachtleben wie berechenbar scheinende Probleme anpacken würden.“
Ministerpräsidenten jetzt ein Regieren per Dekret – ohne jede zeitliche Begrenzung! Orbáns Griff nach der Macht hat dabei auch unmittelbare Auswirkungen auf die queere Community in Ungarn. Denn die in der Folge vorgelegten Dekrete und Gesetzesentwürfe betreffen nicht nur das Co- ronavirus. So soll ein Gesetz verabschiedet werden, dass es trans* und inter* Personen zukünftig unmöglich macht, ihren Geschlechtseintrag und ihren Vornamen zu ändern. „Eine solche Maßnahme würde trans* Personen dazu zwingen, mit Dokumenten zu leben, die nicht ihrer wahren Identität und ihrem Aussehen entsprechen“, sagte Tamás
FOTO: ABDULHAMID HOSBAS/ANADOLU AGENCY VIA GETTY IMAGES Dombos von der Hungarian LGBT Alliance gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Zynischerweise wurde dieser Ge- setzesentwurf am 31. März, also dem Internationalen Tag für Trans-Sichtbarkeit, vorgelegt. Für die Gesetzesänderung FLOP: ist zwar noch eine Zustimmung im Parlament notwendig, Griff nach der Macht diese dürfte aber aufgrund der Zweidrittelmehrheit kein Problem darstellen. Dies wäre nicht der erste Schlag der Die Corona-Pandemie bringt nicht nur solidarisches Handeln ungarischen Regierung gegen die LGBTI*-Community. Be- zum Vorschein, sondern sie wird auch gnadenlos für Macht- reits 2018 ließ sie das Studienfach Genderstudies verbieten. interessen missbraucht: Die rechtspopulistische Regierung Das Europaparlament kritisierte derweil den Angriff auf in Ungarn unter Victor Orbán nutzt den Ausnahmezustand, die Rechte von trans* und inter* Personen in Ungarn. um ihre autoritäre Führung weiter auszubauen. Im Parla- 63 Europaabgeordnete unterzeichneten Mitte April einen Schlüterstraße 53 ment besaß die Regierungspartei Fidesz in Koalition mit offenen Brief an den Kanzleramts- und den Justizminister FEINE und Chausseestraße 49 der christlich-konservativen KDNP bereits eine Zweidrittel- des Landes. Darin wird die Regierung aufgefordert, den Ge- AUGEN Herzlich Willkommen! mehrheit, die es ihr u. a. ermöglichte, die Pressefreiheit ein- setzesentwurf zu widerrufen, da er im Widerspruch zu den zuschränken und eine neue Verfassung durchzusetzen. Ein europäischen Menschenrechtsstandards und den Standards OPTIK Ende März verabschiedetes Notstandsgesetz erlaubt dem des europäischen Parlaments stehe. IN BERLIN … wie man sieht.
190507_brillant_SIS_Stopper_190615_print.indd 1 07.05.19 10:47 12 COMMUNITY
Foto: Problem sei auch die Langeweile. „Jemand Julie auf einem erzählte mir, er liege dauernd im Bett und Balkon der Unterkunft schaue an die Decke.” Auch Bewohnerin in Treptow Julie berichtet von ähnlichen Erfahrungen: „Der Alltag besteht nur noch aus Kochen, Essen, Filmeschauen und Schlafen. Vor Coro- na gingen wir regelmäßig in die Schule und lernten Deutsch, gingen feiern oder arbei- teten.” Die trans Frau Julie ist professionelle Tänzerin. Sie floh vor ihrer konservativen Familie aus Malaysia. Im Haus teilt sie sich eine Wohnung mit zwei anderen Personen. Sie versucht, sich jetzt die Zeit mit Bloggen und selbst gemachten Videos für YouTube zu vertreiben. „Trotzdem ist es schwer, ich fühle mich oft gestresst.” Vor dem Corona-Shut- down hat Julie Geld mit Performances in queeren Clubs verdient. Dieses Einkommen ist jetzt komplett weggebrochen. Auch die Schließung der Schulen, in denen Menschen mit Fluchterfahrungen Deutsch lernen können, erschwert die Situation. „Zeitweise hatte ich den Gedanken, ich hätte besser in ein englischsprachiges Land flüch- ten sollen. Mittlerweile geht es zwar besser, aber anfangs war es sehr schwer. Selbst wenn ich etwas auf Englisch gefragt habe, Stresstest wurde mir hier oft auf Deutsch geantwor- tet. Und ich habe mir Mühe gegeben, aber Die Corona-Maßnahmen stellen die Bewohner*innen der Unterkunft ich war ganz neu hier, und es war alles an- für LGBTI*-Geflüchtete in Treptow vor erhebliche Herausforderun- dere als einfach.” Zumal es für Geflüchtete gen. SIEGESSÄULE-Autor Jeff Mannes sprach mit der Leiterin der von ohne oder mit eingeschränkten Deutsch- der Schwulenberatung betriebenen Einrichtung und einer Bewohne- kenntnissen schwierig ist, die Nachrichten rin über die aktuelle Situation zu verfolgen. So können sie sich über die Corona-Maßnahmen in Deutschland oft schwulenberatung- ie Unterkunft bietet 27 Wohnungen mit 122 Wohnplätzen. nur über die Heimleitung informieren. „Ein berlin.de Laut Heimleiterin Antje Sanogo sind aktuell 85 davon be- Schild wurde aufgestellt, das die Maßnah- legt. Ausgelegt sind die Wohnungen für vier bis fünf Men- men erklärt”, berichtet Julie. „Zwei Meter Dschen. Bereits im Januar und im Februar waren einige der Abstand halten, keine Besuche. Außerdem Bewohner*innen mit Fragen zur Ausbreitung des Coronavirus an sie wurden kostenlose Masken verteilt.“ Sorgen herangetreten. „So richtig angekommen ist die Situation dann aber macht sich Heimleiterin Sanogo insbesonde- erst, als die Kontaktbeschränkungen kamen”, berichtet Sanogo. Da- re um das psychische Wohlbefinden vieler durch änderte sich zum Beispiel die Essensausgabe, denn in der Kan- Bewohner*innen. Durch ihre Fluchterfah- tine der Unterkunft darf nicht mehr gemeinsam gegessen werden. rungen kämpfen viele mit psychischen Be- Die Gesundheitsversorgung der Geflüchteten sei allerdings ge- lastungen. Der Zugang zum psychiatrischen sichert. „Die ersten 18 Monate ihres Aufenthalts hier bekommen Versorgungssystem sei im Moment noch sie laut Gesetz noch begrenzte medizinische Leistungen, die grob schwieriger als zuvor, denn es würden nur gesagt bei akuten Erkrankungen und zur Vermeidung der Ver- noch die „ganz harten Fälle” bearbeitet. „Un- schlechterung chronischer Erkrankungen greifen”, erklärt Sanogo. sere Sozialarbeiter*innen können aber nicht „Das heißt, würde jetzt jemand im Heim an COVID-19 erkranken, einschätzen, ab wann etwas ein Notfall ist.“ dann wären die Kosten der Behandlung gedeckt. Nach 18 Monaten Und umso länger die Situation andauert, um sind sie dann ganz normal gesetzlich krankenversichert.” so problematischer wird es. Gesundheit ist das eine, das Zusammenleben unter diesen Umstän- „Die Geflüchteten haben aber vielleicht auch den das andere. Oft teilen sich die Bewohner*innen zu zweit ein eine Kompetenz, die andere nicht haben” Schlafzimmer. Das ist in Zeiten, in denen man möglichst zu Hause ,meint Sanogo. „Momentan muss man war- bleiben soll und sich nicht so gut aus dem Weg gehen kann, eine ten, bis sich die Situation verbessert. Und an besondere Herausforderung. „Wenn die Leute die ganze Woche lang das Warten sind sie gewöhnt, zum Beispiel jeden Tag aufeinanderhocken müssen, dann wird es natürlich an- auf eine Entscheidung des Asylverfahrens strengend”, erzählt Sanogo. „Das führt zu Spannungen. Auf der ande- oder auf den Anerkennungsbescheid.” Julie ren Seite muss man aber auch sagen, dass die Bewohner*innen sich bestätigt dementsprechend auch nüchtern: sehr solidarisch verhalten. Sie sind sehr kooperativ und verständ- „Es ist sehr langweilig. Aber ich akzeptiere nisvoll und versuchen, das Beste aus der Situation zu machen.” Ein die Situation so, wie sie ist.”
14 STADT
Arastéh, der in den Ruhestand gegangen ist. Dazu gehöre auch die Trennung der Be- Mehr Zeit für Pflege reiche Infektiologie, Gastroenterologie und Onkologie. Die Arbeitsbedingungen in der Seit den 80er-Jahren galt das Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum als Pflege seien „angesichts der angespannten vorbildlich für seine stationäre HIV-Versorgung. Nun hat dort eine Personalsituation in Krankenhäusern bun- gesamte Abteilung gekündigt und ist an ein anderes Krankenhaus desweit schwierig“. Dies gelte insofern auch gewechselt. Warum? Und was bedeutet das für die Versorgung von für das AVK. Die Personalbesetzung sei je- HIV-positiven und Aids-erkrankten Menschen in Berlin? doch im Bereich der Infektiologie höher als in anderen Bereichen, „weil auch der pfle- Foto: Die stationäre HIV-Versorgung am Vivantes Auguste-Viktoria-Kli- gerische Schweregrad der Patient*innen Das Pflegeteam des nikum (AVK) ist eine Struktur von historischer Bedeutung in Ber- höher ist“. Grundsätzlich wisse man, dass Auguste-Viktoria-Kli- lin. Hier entstand das viel gelobte „Schöneberger Modell“, als in der mehr Personal zu mehr Zufriedenheit bei nikums (links) sowie Aids-Krise Ärzt*innen, Pfleger*innen und Ehrenamtliche ihre Kräfte Mitarbeiter*innen und Patient*innen führe. das Ärzt*innenteam vereinten, um HIV-positiven und an Aids erkrankten Menschen den Vivantes setze „daher alles daran, zusätz- des Hauses wechselten Zugang zu stationären, ambulanten und psychosozialen Angeboten liche Fachkräfte in der Pflege einzustellen, kürzlich geschlossen zu ermöglichen. Nun hat im AVK eine gesamte Abteilung gekün- um das vorhandene Personal zu entlasten ans St. Joseph Kran- digt: Wie im Februar bekannt wurde, verließen 38 Fachkräfte der und die Arbeitsbedingungen zu verbessern“. kenhaus Infektiologie das Vivantes-Krankenhaus. Geschlossen wechselten Im Hinblick auf das Team, das jetzt gegan- sie an das St. Joseph Krankenhaus in Tempelhof. Hier, in der neu gen ist, habe es „viele, intensive Gespräche vivantes.de eingerichteten Station 21 der Klinik für Infektiologie, arbeitet das auf unterschiedlichen Ebenen gegeben. Lei- sjk.de Team seit Anfang April. Wie kam es zu diesem radikalen Schritt? der ist es nicht gelungen, mit den Beteiligten Und was bedeutet dieser Bruch für HIV-positive und an Aids er- eine einvernehmliche Lösung zu finden, die krankte Personen in Berlin? auch im Hinblick auf das Klinikum als Gan- Auf die Meldung im Februar reagierten viele mit Bedauern, darunter zes vertretbar gewesen wäre.“ auch Holger Wicht, Sprecher der Deutschen Aids-Hilfe. In einem of- Stattdessen hat das Team nun anscheinend fiziellen Statement erklärte er: „Wir hätten uns gewünscht, dass die im St. Joseph gefunden, wonach es gesucht überwiegend landeseigene Klinikgesellschaft Vivantes dieses histo- hat: „Was wir hier erleben, ist die Möglich- rische Erbe bewahrt hätte.“ Laut den Ärzt*innen und Pfleger*innen, keit, mit mehr Personal und weniger Pa- die das AVK verlassen haben, waren schlechte Arbeitsbedingungen tient*innen zu arbeiten. Das reduziert den ausschlaggebend für ihre Entscheidung. Insbesondere zu wenig Druck und ermöglicht eine bedarfsgerechte Zeitressourcen: „Uns ist wichtig, die Versorgung der Menschen si- Versorgung“, erklärt Stationsleiter Volker cherzustellen. Dazu gehören viel Aufmerksamkeit, Zeit für Pflege Wierz, der ebenfalls vom Vivantes ans St. und Zuwendung zu den Patient*innen“, erklärt Dr. Hartmut Stocker, Joseph gewechselt ist. Zeitmangel ist allge- ehemals Oberarzt im AVK und nun Chefarzt der neuen Klinik für mein ein großes Problem im Gesundheitswe- Infektiologie am St. Joseph, gegenüber SIEGESSÄULE. Im AVK seien sen, findet Wierz. „Die Arbeitsprozesse sind Umstrukturierungen geplant gewesen, die den Fachbereich der In- oft durchstrukturiert und durchorganisiert.“ fektiologie eingeschränkt und Stellen abgebaut hätten. Die Notwendigkeit, sich Zeit zu nehmen, sei Mischa Moriceau, Pressereferentin des Vivantes, äußert sich auf jedoch gerade beim Thema HIV und Aids Anfrage von SIEGESSÄULE zu den Vorwürfen. Hintergrund für die nicht zu unterschätzen, da die Erkrankung Umstrukturierung sei die Nachfolgeplanung für den Chefarzt Dr. immer noch mit einem Stigma behaftet ist. STADT 15
RuT-Lesbenwohnprojekt zieht nach Berlin-Mitte!
Trotz aller Hindernisse: Es geht weiter!
Unterstützt uns: Gerade die psychosoziale Unterstützung sei für viele sehr wichtig. Spendenkonto: „Es ist nicht mehr so wie in den 80ern, als hauptsächlich schwule Männer zu uns kamen, die die medizinische Versorgung gebraucht Bank für Sozialwirtschaft haben, aber ansonsten sozial oft gut eingebunden waren.“ Heutzuta- IBAN: DE 53 1002 0500 0001 3573 00 ge sind die Zahlen der HIV-Neuansteckungen und der Aids-Erkran- RuT-Rad und Tat Berlin gGmbH kungen zwar niedriger und es gibt erfolgreiche medikamentöse Therapien. Doch die Fälle, mit denen das Team zu tun hat, sind oft noch kompliziert. Manche Patient*innen haben seltene Begleit- erkrankungen, für die eine besondere Expertise nötig ist. Einige leben in prekären Verhältnissen, sind obdachlos oder suchtkrank. Die HIV-/Aids-Schwerpunkt-Station fungiert dann nicht selten auch als eine der wenigen Anlaufstellen, von der die Betroffenen wissen, dass sie dort Hilfe erhalten. Wierz bringt es auf den Punkt: „Da tun sich Baustellen auf, die man intensiv bearbeiten muss.“ Das gehe nur in einem großen und perfekt eingespielten Team, finden Wierz und Stocker. Durch den Wechsel an das St. Joseph Krankenhaus sei es gelungen, das alte Team zu erhalten. Wierz und Stocker sehen deshalb keinen Grund zur Sorge, im Gegenteil: Die neue Station am St. Joseph, so hoffen sie, werde ihnen ermöglichen, ihrer Arbeit in der gewünschten Qualität nachzugehen. Was die HIV-Versorgung am AVK so berühmt gemacht hat, ist jedoch nicht nur die medizinische Qualität, sondern auch die Zusammenarbeit mit Strukturen wie der Berliner Aids-Hilfe oder Projekten wie dem Café Viktoria, bei dem regelmäßig der Besuchsraum des Klinikums zu einem Ort der Begegnung wurde. Wie steht es damit jetzt? „Unse- re Kooperation mit der Aidshilfe bleibt bestehen, ebenso mit dem Hospizdienst Tauwerk oder das Caféangebot der ‚Freunde im Kran- kenhaus‘“, sagt Wierz. Auch neue Projekte, wie Weiterbildungen für Pfleger*innen, seien geplant. Gute Zukunftsaussichten für das St. Joseph also. Aber was ist mit dem AVK? Durch die Kündigungen ist hier tatsächlich eine Lücke entstanden. Laut Pressestelle des Vivantes soll die interdisziplinäre Versorgung von Menschen mit HIV jedoch auch weiterhin einen Schwerpunkt der Klinik bilden, die dabei sei, sich „neu und differen- ziert“ aufzustellen. Derzeit würden alle Anstrengungen der Nach- besetzung der offenen Stellen gelten, insbesondere in der Pflege. Eine Ausschreibung, um die Position des Chefarztes/der Chefärztin nachzubesetzen, sei bereits im Januar erfolgt. Weitere Positionen für Ärzt*innen sowie Pflegekräfte seien ausgeschrieben. Im besten Fall wird Berlin also eine HIV- und Aids-Schwerpunkt-Station ver- lieren – aber dafür zwei neue gewinnen. Paula Balov 7561_LINKE-BLN_Anz_Siegessaeule_93x127_4c Siegessäule, 93 x 127 mm, 4c AS 16 COMMUNITY
Foto: CSD 2019
mentan versuche man, wo dies möglich ist, Förderungen zu beantragen. Mit dem On- line-Pride könnten hoffentlich auch wieder Sponsoren gefunden werden. Ähnlich zu kämpfen hat das Team vom Lesbisch-Schwulen Stadtfest, das am 18./19. Juli hätte stattfinden sollen. Der „enorme wirtschaftliche Druck“ sei belastend, sagt Dieter Schneider vom Stadtfest. Es werde über einen Alternativtermin nachgedacht. Tim Schomann, Kampagnenleiter von „Ich weiß was ich tu“ (IWWIT) der Deutschen Aids-Hilfe, kann mitfühlen, wie es vielen aus FOTO: BRIGITTE DUMMER der Szene jetzt geht. „Die kleinen Commu- nity-Läden und Geschäfte sind bereits ge- beutelt. Mit dem CSD und dem Stadtfest fällt nun noch ein Hauptgeschäftspunkt weg, das ist schlimm. Ich denke auch an die vielen Stay Proud Ehrenamtlichen, die über einen langen Zeit- raum auf diese Veranstaltungen hingearbei- Einige Maßnahmen gegen das Coronavirus werden zwar gelockert, tet haben.“ Um Spendenaufrufe zu sammeln Großveranstaltungen bleiben aber noch bis Ende August verboten. und Community-Strukturen zu unterstüt- Berliner CSD-Parade und Stadtfest wurden abgesagt. Was bedeutet zen, hat IWWIT den Hashtag #wirfürqueer das für die Community? Und was für Alternativen gibt es, um unsere ins Leben gerufen. Unter anderem ist für Inhalte, trotz der Krise, auch in diesem Sommer sichtbar zu machen? den 17. Mai, dem Tag gegen Homo- und Transphobie, ein Online-Soli-Event geplant. Ein Großteil der diesjährigen Pride-Saison Berliner Online-CSD, as wird aus der Pride-Saison 2020? Diese Frage be- wird also virtuell stattfinden. So schmerz- 25.07. schäftigt uns, seit im Frühjahr die Maßnahmen zur haft dies ist – es könne auch neue Chancen csd-berlin.de Eindämmung des Coronavirus in Kraft getreten sind. eröffnen, findet etwa Ronald Zinke vom CSD W Einige Prides wurden recht schnell abgesagt oder ver- Deutschland e. V. Zum Beispiel auf Vernet- „Global Pride“- schoben. Andere, darunter auch der Berliner CSD, hofften und bang- zung über die Ländergrenzen hinaus: Be- Stream, 27.06. ten noch eine Zeit lang, ob sie doch wie geplant stattfinden können. reits für den 27. Juni haben internationale interpride.org Seit der Konferenz von Bund und Ländern Mitte April ist nun klar: Pride-Netzwerke einen „Global Pride“ als epoa.eu in Deutschland bleiben Großveranstaltungen noch bis mindestens 24-stündigen Stream angekündigt. Gesendet csd-deutschland.de 31. August untersagt. Die Nachricht habe man enttäuscht aufgenom- werden sollen Shows, Reden und Grußworte men, heißt es seitens des Berliner CSD e. V. in einer Pressemitteilung aus verschiedensten Ecken der Welt. Online-Aktion zum vom 17. April. Obwohl das Verbot „absolut verständlich“ sei: „Der Einige Berliner Initiativen haben schon In- IDAHOT, 17.05., Schutz von Menschenleben geht vor.“ Am geplanten Datum der Pa- teresse gezeigt, sowohl am Global Pride als IWWIT rade, dem 25. Juli, soll nun stattdessen ein Online-CSD steigen. Wie auch am Online-CSD mitzuwirken. Darunter iwwit.de das im Detail aussehen wird, solle in den nächsten Wochen bekannt die Aktionsgruppe Travestie für Deutsch- #wirfürqueer gegeben werden. Auch eine zusätzliche Straßendemo zu einem spä- land (TfD). Ihren Plan, eine Soli-Fahrt zum teren Zeitpunkt schließt der Verein nicht aus. Da zu befürchten ist, Warschauer Pride auf die Beine zu stellen, Online-Kundgebung dass das Verbot von Großveranstaltungen über den August hinaus musste sie leider aufgeben. „Wir werden uns zum IDAHOT, 17.05., verlängert wird, gibt es dafür aber noch keinen Termin. erst mal von öffentlichen Großveranstaltun- LSVD und Bündnis Wichtig sei ihnen, die politischen Botschaften so sichtbar wie mög- gen fernhalten“, sagt Baffi von der TfD. Die gegen Homophobie lich zu machen – auch in diesem Sommer, trotz Corona, sagt Jasmin LGBTI*-Community Polens wollen sie aber, berlin.lsvd.de Senken vom Vorstand des Berliner CSD e. V. Es gibt viele Ideen: so gut es eben derzeit geht, weiter unter- von Regenbogenflaggen am Balkon bis hin zu kleineren Aktionen. stützen. Möglich ist, dass das Demoverbot in travestie-fuer-deutsch- Wie die Jahre zuvor sollen auch für den CSD 2020, gemeinsam mit Berlin bis zum Sommer gelockert wird und land.org der Community, ein Motto und Forderungen formuliert werden. z. B. kleinere Demos wieder stattfinden kön- So konstruktiv das Team versucht mit der Situation umzugehen nen. „Vielleicht“, sagt Jasmin Senken, „gehen stadtfest.berlin – die Absage der Parade bringt den Berliner CSD-Verein natürlich wir dann, ganz klassisch, einfach wieder zu- in Bedrängnis. Finanziell werde es nicht leicht, sagt Jasmin. Mo- sammen auf die Straße.“ fs COMMUNITY 17
dass es sich bei dem Kerl auf dem Cover um eine Zeichnung von Tom of Finland handel- te, noch hatte ich die Chuzpe und das Geld, mir das Magazin zu kaufen. Das änderte sich FOTO: 1977-2020 TOM OF FINLAND FOUNDATION im Laufe der Jahre. Als Grafiker bei verschiedenen LGBTI*-Ver- lagen fügte es sich so, dass ich immer wie- der mit Tom in Berührung kommen sollte. Frauen und Füße Rückblickend möchte ich sagen, dass sein Werk für mich aber auch für die Emanzi- SIEGESSÄULE-Grafiker a. D. Volker Demand mit einem persönlichen pation eines nicht unerheblichen Teils der Beitrag zum 100. Geburtstag von Tom of Finland am 8. Mai Schwulenbewegung entscheidend war. Er selbst sagte einmal: „Ich achte sorgfältig Foto: Letzte Woche, inmitten der Beschränkungen, erreichte mich die darauf, dass ich nur Männer zeichne, die Tom of Finland Anfrage, ob ich nicht einen Kommentar zu 100 Jahre Tom of Finland ihren Sex mit Stolz und Freude ausleben!“ Untitled, 1977, schreiben könnte. Ruhig was Persönliches. Kurz ging ich in mich, Ich hätte mir trotzdem gewünscht, dass er Graphite on paper erschrak etwas ob des Jahrestags. Vor mir lag das lange, sonderbar früher als 1987 zu Aids und Safer Sex zeich- häusliche Osterwochenende. Durch mehrere chronische Erkran- nerisch Stellung bezogen hätte. Auch tre- 1983 auf dem Cover kungen risikobehaftet war ich schon einige Zeit vor dieser üblen ten Schwarze Männer recht spät in seinem von Torso Geschichte aus dem Verkehr gezogen. Lange aufgeschobene, lästige Werk auf, dafür dann allerdings zusammen Arbeiten hatte ich bereits erledigt. Ich sagte also freudig zu. Gleich- mit den ersten Punks, die ich in solch eroti- zeitig merkte ich, wie sich ein Kreis zu schließen begann, der sich schen Zusammenhängen noch nie gesehen an einem Märzmorgen im Jahr 1983 zu öffnen anschickte. hatte. Seinerzeit lebte ich in Hannover und befand mich auf dem Weg in Und um den Kreis sich schließen zu lassen die FH, mit Rucksack und der Zeichenmappe nahezu völlig beklei- ... Frauen und Füße konnte er nicht zeich- det, vorbei am bestsortierten Zeitschriftenladen der Stadt. My perso- nen. Darum verschwanden Erstere bald aus nal favourite. Es war die aufregende Zeit der Postmoderne, die sich seinem Œuvre und Letztere schlussendlich in Printerzeugnissen wie Tempo und dem überformatigen Manipu- in glänzenden schwarzen Stiefeln jeglicher lator besonders durch eine neue Art der Typografie ihren optischen Art. Es war mir eine Ehre und oftmals ein und grafischen Ausdruck suchte. Unser Held war Neville Brody. An ziemlich geiles Vergnügen, Herr Touko diesem Morgen war es aber etwas anderes, das mich in der Auslage Laaksonen. unwiderstehlich anzog. Was mich dort andräute, verschmitzt über PS: Der 8. Mai, eines dieser Daten, die es in die Schulter anblickte, Motorradjacke, die Ledermütze tief ins Ge- sich haben, ist auch der 112. Geburtstag mei- sicht gezogen, die Stupsnase fast berührend, der feine Schnäuzer die ner Großmutter Maria und der 75. Jahres- Oberlippe verdeckend, der Mund leicht geöffnet ... war das Cover des tag der Befreiung vom Faschismus. Immer Schwulenmagazins Torso. Ich kannte weder Torso noch wusste ich, diese sich schließenden Kreise ... 18 COMMUNITY Zündstoffe Queere Positionen und Kritik
Francis Seeck ist hungen ausgegangen. Es gibt kaum Forschungen zur Ungleichver- Autor*in, Antidiskrimi- teilung von Care-Arbeit über das binäre Geschlechtersystem hinaus nierungstrainer*in und – und das, obwohl selbst das Bundesverfassungsgericht mit seinem Doktorand*in. Seeck Entschluss zur „Dritten Option“ bestätigt hat, dass es mehr als zwei arbeitet zu den Themen Geschlechter gibt. Ein sehr guter Zeitpunkt also, um auf die Situa- Queer Care, Umgang tion von FLINT*-Personen in Care-Berufen aufmerksam zu machen. mit dem Tod und Zum Beispiel beschäftigt sich die Krankenschwester, trans Beraterin Klassismus und Lehrende Ilka Christin Weiß in ihren Publikationen mit der Situ- ation von trans* Personen in der Pflege. Im Rahmen meiner eigenen Doktor*innenarbeit forsche ich zu Formen von trans* und queerer Sorgearbeit: ob in Selbsthilfegruppen, bei der Transitionsbegleitung oder in queeren Friseursalons. Wer für wen Sorgearbeit leistet, ist auch eine Berufe, die in der Corona-Krise als „systemrelevant“ gelten, haben zwei Dinge gemeinsam: Sie sind oft schlecht bezahlt und werden meist nicht von Frage von Klasse. Dass Versorgungslücken von cis Männern ausgeübt. Francis Seeck wirft einen queer-feministischen Blick weißen Mittelklassefamilien durch ärmere, oft auf aktuelle Debatten zu Sorgearbeit von Rassismus betroffene Frauen ausgefüllt werden, haben Arlie Hochschild und Salazar Parreñas bereits in den 1990er-Jahren mit dem enn wir streiken, steht die Welt still“ – unter diesem Konzept der „globalen Sorgeketten“ aufgezeigt. So sind es meist Motto protestiert das Bündnis „Feministischer Streik“ nicht die akademischen FLINT*-Personen, die wie ich im Homeof- jedes Jahr am 8. März, dem feministischen Kampf- fice arbeiten können, die jetzt in systemrelevanten Berufen Sorge- tag. In der Corona-Krise ist der Aufruf aktueller denn arbeit leisten und sich dabei auch dem Risiko aussetzen, sich mit W dem Virus anzustecken. Die Corona-Krise trifft Menschen beson- je. Wieso? Ein Gedankenexperiment: Würden Frauen, Lesben, inter*, nicht binäre und trans* Personen (kurz: FLINT*) ihre Arbeit nie- ders, die von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind. Sei es, weil derlegen, würde die gegenwärtige Gesellschaft zusammenbrechen. es Engpässe an Schutzausrüstung gibt oder aufgrund der höheren Sogenannte Sorgearbeit oder Care-Arbeit wird größtenteils von ökonomischen Unsicherheit, die es nicht erlaubt, jetzt „einfach mal FLINT*-Personen geleistet: im Krankenhaus, im Alters- und Pflege- zu Hause zu bleiben“. heim, als Reinigungskraft, in der Kita oder im Kindergarten. Diese „Euer Klatschen reicht nicht!“ Dies wird aktuell von Care-Arbei- Arbeit ist gleichzeitig systematisch unterbezahlt und, zumindest in ter*innen formuliert, die gegen die Verschärfungen ihrer Arbeits- Nichtkrisenzeiten, oft unsichtbar. bedingungen kämpfen. Denn: Die Bundesregierung erlaubt bis Ende Viel ist dieser Tage von „systemrelevanten“ Jobs die Rede. Mit diesem Juni die Ausweitung der täglichen Arbeitszeit auf zwölf Stunden und Etikett werden in der Corona-Krise z. B. Pfleger*innen, persönliche die Verkürzung der Ruhezeiten auf neun Stunden für systemrele- Assistent*innen, Kassierer*innen im Supermarkt und Erzieher*in- vante Berufe. Die „Abweichungen vom Arbeitszeitgesetz infolge der nen quasi symbolisch ausgezeichnet. Dies sind alles Berufe, in COVID-19-Epidemie“ gelten u. a. für Pfleger*innen und für medizi- denen wenig cis Männer arbeiten. In Deutschland liegt der Anteil nisches Personal. an Frauen in Pflegeberufen bei fast 76 Prozent. Auch gänzlich un- In der Corona-Krise lernen wir, dass wir voneinander abhängig sind. bezahlte Sorgearbeit – besser bekannt unter dem Label Hausarbeit Sie verdeutlicht den gesellschaftlichen Wert von Care. Nun geht es – wie Putzen, Kochen, Kinder- oder Altenbetreuung zu Hause wird, darum, für eine faire Bezahlung und gerechtere Verteilung dieser trotz großer gesellschaftlicher Veränderungen seit Beginn der ers- Arbeit zu kämpfen. Und innerhalb der queeren Community müssen ten Frauenbewegung, nach wie vor größtenteils von FLINT*-Per- wir Formen solidarischer Fürsorge entwickeln, zu der auch Men- sonen erledigt. Ebenso die emotionale Unterstützung in Familien, schen Zugang haben, die durch staatliche Versorgungssysteme Partner*innenschaften oder in Wohngemeinschaften, wie sie der- fallen. In der Krise wird vieles deutlicher als sonst. Das gibt uns Ge- zeit, krisenbedingt, an vielen Stellen benötigt wird. Weltweit leisten legenheit, den Blick auch auf unsere eigenen Strukturen zu richten: FLINT* drei Viertel der Sorgearbeiten. Die Corona-Pandemie wird Wer leistet eigentlich für wen Sorgearbeit? dieses Ungleichgewicht noch verstärken. Die öffentliche und nicht selten auch die akademische Debatte zur Feminisierung von Care-Arbeit ist dabei von Heteronormativi- tät durchzogen. So wird in Publikationen meist ausschließlich von Männern und Frauen gesprochen und von heterosexuellen Bezie- Doris Belmont geistert durch die Berli- ner Szene, mesmeriert ihr Publikum mit dem Charme einer Gründer- zeit-Bibliothekarin und engagiert sich für diver- se politische Events
facebook.com/ belmontdoris instagram.com/ doris_belmont FOTO: MATTHES VON BIBERSTEIN Abgeschminkt von Doris Belmont Auch in Zeiten von Corona schlägt das Tunten- lich mit nicht wenigen Uniformierten vor der Tür. herz, meine Lieben, und Ideen für etwaige neue Es folgte wohl eine unmittelbare Forderung, das Auftritte werden nicht zuletzt durch das anhal- Unternehmen zu beenden. Nach hitzigen Diskus- tend milde Wetter befeuert. Ja, der Frühling lässt sionen mit einer zu Recht sehr wütenden Shady sein Blaulicht wieder flackern durch die Lüfte … Darling und nachdem von allen Anwesenden die Ähm, ja. Mörike möge mir den schlechten Umbau Personalien aufgenommen worden waren, wurde seines Gedichts verzeihen, doch kürzlich endete den Beamten mutmaßlich auch klar, dass es sich eine solidarische Online-Tuntenshow eben mit bei der Veranstaltung nicht, wie wohl zuerst an- Polizeibesuch. genommen, um eine Coronaparty handelte. Als Aber von Anfang an. In Zeiten der coronabe- Ordnungswidrigkeit wurde der Abend trotzdem dingten Isolation hat es sich ja unter vielen der festgehalten. Da alle Anwesenden in der AHA die Berliner Clubs, DJs und extrem gut geschminkten getroffenen Regelungen gegen Corona eingehal- Damendarsteller*innen inzwischen etabliert, Ver- ten hatten und sich damit auch nichts zu Schulden anstaltungen unter Einhaltung der empfohlenen kommen ließen, wandten diese sich nun direkt an Schutzmaßnahmen via Stream der Öffentlichkeit den Kultursenator. Immerhin hatte der erst kürz- zur Verfügung zu stellen. Da dies derzeit dankend lich im Interview solche Livestreaming-Aktionen angenommen wird, wundert es nicht, dass auch befürwortet. Von der Polizei kann man nun hal- Finden Sie ein Urgestein der queeren Szene, die AHA, ihre ten, was man will, doch die Idee, dass an diesem Räume für diverse Shows zur Verfügung stellt. Abend eine Coronaparty steigen würde, ist sicher Ihren passenden So begab es sich, dass eines Freitags Ende April nicht auf deren Mist gewachsen. Die Anzeige kam Shady Darlings und Ceven Knowles Format „Drag aus der direkten Nachbarschaft. Anstatt sich erst Partner über Capsule“ von dort in die sozialen Medien ge- mal selbst ein Bild von der Lage zu machen und streamed wurde. Es ergoss sich ein buntes vor Ort zu fragen, wurde sofort vom Schlimmsten Potpourri begnadeter Performer*innen über ausgegangen und in urdeutscher Gartenzwerg- den Abend, inklusive einer gnadenlos guten mentalität die Exekutive eingeschaltet. Video-Einspielung meiner Wenigkeit im Nonnen- Abgeschminkt betrachtet dürfen wir uns von fummel. Die Show war eigentlich bereits am diesem primitiven Drang frustrierter Kleingeister, Ende, anwesende Performer*innen moderierten andere blind zu denunzieren, nicht davon ab- sich in Anbetracht des Social Distancings gegen- halten lassen, in Zeiten von Corona künstlerisch seitig noch mal einzeln auf die Bühne, als die aktiv zu sein. Diese Streams können echte Partys reizende Bang Bang Ladesh aus dem Off flötete: und Shows natürlich nie ersetzen, werden jedoch „Police is heeere, can‘t come!“ Leider handelte gerne gesehen und offenbaren weiterhin, dass es es sich dabei nicht um ein Intro für eine spontane in der Stadt auch in dieser Zeit eine lebendige und letzte Nummer, denn die Kavallerie stand tatsäch- bunte Szene gibt. Herzlich, eure virtuelle Doris Jetzt parshippen 20 BRANDENBURG
Foto: Das Quecke-Kollektiv (v. l. n. r.): Kate, Maria, Karla, Lui, Puma, Julia und Míro
und Workshops anbieten. Das wäre ein wichtiges Einkommen für uns gewesen. Jetzt, wo es fehlt, brauchen wir dringend Geld, damit wir weitermachen können. K: Wegen der aktuellen Lage ist alles auf Stillstand. Wir können weder die Eröffnung feiern noch Leute einladen. Trotzdem freuen wir uns, dass eine große Hürde mit der Bauabnahme jetzt vorbei ist, und wir hoffen, alle bald im Seminar- haus willkommen heißen zu können! Was gibt es noch zu tun? K: Wir wollen unsere Website erneuern, die Räumlich-
FOTO: GELYA BOGATISHCHEVA keiten möblieren und alles so barrierefrei wie möglich gestalten. Wir legen viel Wert darauf, dass alle Gäste unabhängig von Be- hinderung, wie z. B. Rollstuhlfahrer*innen Neue Welten schaffen oder seh- bzw. hörbehinderte Menschen, hier ihren Platz finden werden. Das ist ein Am 1. April hätte das Antidiskriminierungs-Seminarhaus Quecke in laufender Prozess. Cöthen endlich aufmachen können, doch aufgrund der Corona-Krise Mit welchen Vereinen seid ihr schon wurde die Eröffnung auf unbestimmte Zeit verschoben. Wir sprachen in Kontakt und welche Art von Work- mit Organisator*innen Karla Pinto und Puma Höflich über die Lage shops hofft ihr in der Zukunft an- bieten zu können? K: Wir sind mit Die Quecke, as Gelände der Quecke befindet sich neben verschiedenen Gruppen in Berlin wie Cöthen 8, einem Wald, war früher Gutshaus und Internat Gladt, LesMigraS, Welcome United und 16259 Falkenberg und soll jetzt als Seminarhaus mit Schwerpunkt Women in Exile befreundet, aber auch DAntidiskriminierung dienen. Das Kollektiv, das mit lokal tätigen Aktivist*innen vom af- Infos zum das Projekt aufbaut, besteht aus mehrheitlich queerfe- rikanischen Kulturverein Palanca e. V. in Quecke-Newsletter ministischen Aktivist*innen. Steht Intersektionalität für Eberswalde. Darüber hinaus hoffen wir und möglichen euch im Mittelpunkt? Karla: Selbstverständlich. Die Quecke auch, dass das nächste „In*Vision“-Festival Spenden unter: ist vieles, weil wir vielfältige Menschen sind. Es ist nicht nur ein hier stattfinden wird. Unsere nächsten quecke.net queerer oder feministischer Raum, sondern ein Seminar- und geplanten Workshops sollen die Schwer- Gästehaus, das sich auf Dekolonialisierung und Antidiskriminie- punkte „Critical Whiteness“ und „Decoloni- rung konzentriert. Wir kämpfen gegen jede Form von Rassismus al Self-Defense“ haben. oder Antisemitismus und wollen eine Alternative zur patriarcha- Wie kann die Community euer Pro- lischen, kapitalistischen, behindertenfeindlichen und rassisti- jekt unterstützen, bis alle Kontakt- schen Gesellschaft schaffen. sperren endlich aufgehoben sind? K: Wo liegt die Quecke genau? K: Eine Stunde von Berlin ent- Helft uns wachsen! Es gibt einige Men- fernt, umgeben von Wäldern und Seen in der Nähe von Falken- schen, die hier in der Quecke leben, und berg (Mark). Es ist der perfekte Ort für Menschen, die nahe an andere, die von Berlin aus mitmachen. Berlin sein wollen, aber nicht im Chaos der Stadt! Wir wollen ein Wer zu uns Kontakt aufnehmen will, ist Zeichen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im länd- herzlich willkommen. Wir erstellen einen lichen Raum setzen, und zwar für alle Menschen, die entweder kostenlosen Newsletter mit allen Infos zu von Diskriminierung betroffen sind oder sich dagegen einsetzen. unseren geplanten Veranstaltungen und Ein wichtiger Bestandteil eurer politischen Arbeit soll- wir haben einen großen Garten mit Cam- te das Workshop-Angebot sein, das während der Coro- pingplatz. Nach den vielen Wochen zu na-Krise frühestens ab Herbst wird stattfinden dürfen. Hause wird es das beste Heilmittel gegen Wie geht ihr damit um? Puma: Wir hätten am 1. April öff- Lagerkoller sein, also kommt uns unbe- nen können, aber dann kam Corona. Acht Jahre haben wir auf dingt besuchen! die Bauabnahme gewartet, doch dieses Virus hat uns die Show Interview: Joe von Hutch gestohlen. Mit dem Seminarhaus wollten wir Leute einladen BRANDENBURG 21
Lichtblick Bisher dominierten Bilder der plötzlich leeren Großstädte die Bericht- queeren Freund*innen aus dem Falkenseer erstattung über die Coronapandemie. Doch wie nehmen LGBTI*-Men- Regenbogencafé, die einen virtuellen Treff schen in den Kleinstädten und Dörfern, die ohnehin schon vereinzelt veranstalten wollen, damit wir zumindest lebten, die flächendeckenden Kontaktsperren wahr? Ein Kommentar besser in Kontakt bleiben können. Gerade von Ilona Bubeck, Mitbegründerin des Querverlages für dieses Jahr hatten wir mehr kulturelle Veranstaltungen und politische Diskussio- Auf dem Land ist alles wie immer. Die Pferde stehen auf der Koppel, nen denn je geplant. Nun müssen alle – wie die Trecker fahren aufs Feld, und in den Gärten laufen schon wieder überall – verschoben werden, notfalls auf die Rasenmäher – ansonsten ist Ruhe. Ich lebe in Brandenburg in nächstes Jahr. einem Dorf mit 13 Häusern, wovon vier in lesbisch-schwuler Hand Ansonsten fühlt es sich hier auf dem Land sind. Das ist purer Zufall, denn davon habe ich erst von dem Bio- sicherer und einfacher an, die Einschrän- bauern aus dem Nachbardorf erfahren, der wissen wollte, warum kungen im öffentlichen Leben zu ertragen. so viele gleichgeschlechtlich Liebende hier leben. Wie so oft halten Wer hier lebt, liebt die Natur und Abge- sich aber die Gemeinsamkeiten in Grenzen. Der ältere, nicht offen schiedenheit und bekommt dadurch eine FOTO: HASSAN lebende Schwule am Ende der Dorfstraße wohnt mit seinen vielen gewisse Gelassenheit. Trotzdem teilen wir Foto: Ilona Bubeck Tieren schon immer hier, und das schwule Paar daneben ist völlig natürlich die Sorgen der Großstädter*in- zurückgezogen. Das andere Lesbenpaar wundert sich, was ich als nen, infiziert zu werden. Einige von uns Quasi-Rentnerin alles an Aktivitäten in Berlin so treibe. Austausch sind wie ich weit über 60, manche mit Vor- oder Kontakt gibt es da kaum. erkrankungen. Da ist es gut zu wissen, dass Und nun Corona. In selbstschützender „Dorfquarantäne“ bleiben wir bei Rat und Tat bzw. Katte e. V. in Pots- Berlinbesuche vorerst gestrichen. Zum Glück lockt der große Gar- dam und deren queer health support eine ten mit der Pracht des Frühlings, der freiwilligen Gartenarbeit und kompetente Beratung bekommen. Dank dem einladenden Liegestuhl. Darüber hinaus sind die langen Spa- der jahrelangen Erfahrung mit dem Thema ziergänge mit den Hunden absolut ohne Gefahr, denn ich treffe HIV und den entsprechenden Strukturen sowieso niemanden. Die nächste Kleinstadt zum Einkaufen ist 15 für die Unterstützung queerer Menschen Kilometer entfernt, und weil auch da wenig los ist, braucht man die müssen LGBTI* in den ländlichen Regionen Gesichtsmaske nur bedingt. So weit das Positive. Brandenburgs nicht unnötig leiden. Gera- Auf der anderen Seite war schon vor COVID-19 die medizinische de die älteren Schwulen fühlen sich an die Versorgung schlecht. Es gibt eine völlig überlastete Allgemeinärz- Aids-Krise der 80er-Jahre erinnert und ei- tin – zuständig für viele Dörfer –, und das Krankenhaus in Neurup- nige sind sogar retraumatisiert worden. Ein pin verfügt nur über sehr wenige Intensivbetten. Auch deshalb hat Grund mehr, die richtigen Ansprechpart- der Landkreis Ostprignitz-Ruppin, in dem ich wohne, beschlossen, ner*innen zu haben. Im Gespräch ist sogar, dass Berliner*innen zurzeit nicht zu Besuch kommen dürfen. Ich dass der queer health support demnächst würde liebend gern meinen Freund*innen aus der Großstadt an- einen Corona-Schnelltest für LGBTI* anbie- bieten, Zeit in meinem weitläufigen Garten zu verbringen, aber zu ten könnte. Das wäre natürlich ein Licht- meinem eigenen Schutz ist das nicht angesagt. Genauso mit meinen blick für uns alle. 22 FRIENDS & FAMILY
Wir sind für euch da – auch in Krisenzeiten halten wir den Spirit der Community hoch ...... und unterstützen außerdem die SIEGESSÄULE!
www.rut-wohnen.de
SEI AUCH MIT DEINEM LOGO DABEI! Kontakt:
[email protected], 030 - 23 55 39-12, 13, 14, 16, 17, 24 FRIENDS & FAMILY 23
Wir sind für euch da – auch in Krisenzeiten halten wir den Spirit der Community hoch ...
... und unterstützen außerdem die SIEGESSÄULE! www.cmv-Laservision.de www.cmv-Laservision.shop
Berlins schwuler Checkpoint
宥宨 家宨宦宸宵宨宧
Glaserei + Service GmbH
Nollendorfblog Helmut Hahnle Cornelia Jönsson
Christof Weber
SEI AUCH MIT DEINEM LOGO DABEI! Kontakt: [email protected], 030 - 23 55 39-12, 13, 14, 16, 17, 24 24 TITEL Krisenfest
„Menschen in systemrelevanten Jobs“, „Held*innen der Corona-Krise“, „Arbeiter*innen an vorderster Front“ – viele sperrige Wortkreationen wurden in den letzten Wochen geschaf- fen, um die Menschen zu beschreiben, die auch oder gerade während des Shutdowns ihrer Arbeit nachgehen. Gemeint sind Jobs, die ganz konkret dazu beitragen, die Infrastruktur aufrechtzuerhalten und Menschen mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen. Vom psy- chologischen Support bis hin zu Lebensmitteln oder notwendigen Medikamenten. Wir stellen sechs von ihnen vor – vier im Heft und zwei weitere auf SIEGESSÄULE.DE
Kollektive Erfahrung Die Therapeutin Rike Schulz begleitet ihre Klient*innen durch die Krise, mit dem nötigen Abstand in ihrer Praxis oder per Videoanruf
hr Name ist durchaus bekannt in der queer-feministischen Community Berlins: Die systemische Therapeutin Rike Schulz, 55 Jahre alt, die sich selbst als „queer“ und „lesbisch“ bezeich- I net, begleitet seit 15 Jahren vor allem queere Personen. Seit Beginn der Corona-Krise hat ihre kleine queer-feministische Praxis in Kreuzberg strikte Hygienemaßnahmen ergriffen, um den Schutz der Klient*innen zu gewährleisten: Desinfektionsseife und Papier- handtücher stehen in der Toilette zur Verfügung, auf den verord- neten Abstand von 1,5 Metern wird bei den Sitzungen geachtet, die Räumlichkeiten werden regelmäßig desinfiziert. Und für diejenigen, die sich nicht mehr in die Praxis trauen, bietet Rike Therapiesitzun- gen am Telefon oder per Videocall an. Ihr digitales Angebot stößt auf Nachfrage: Die Hälfte ihrer Klient*in- nen sind nun in Ferntherapie. Einsamkeit und Existenzangst sind derzeit wichtige Themen bei vielen. Der Lockdown, diese „kollektive Erfahrung der Isolation“, strapaziert selbstverständlich die Nerven vieler Menschen. „Depressionen können verstärkt werden, sie haben ja viel mit sozialem Rückzug zu tun. Angsterkrankungen und Ge- fühle von Getrenntheit können natürlich auch vermehrt getriggert sein“, erklärt Rike. Sie bewundert aber, wie kreativ ihre Klient*innen mit der Kontaktsperre umgehen: „Die Kontaktwege sind sehr er- finderisch: Karaokepartys werden über Zoom gemacht, alle hocken zusammen über Skype, um den Geburtstag zu feiern, die Geschenke werden vor die Tür gelegt ...“ Viele von Rikes Klient*innen sind oh- nehin krisenerprobt: „Ich habe viele prekär beschäftigte Menschen unter meiner Klientel. Für diese Lebenskünstler*innen ist es ein Dauerthema, mit großen Ungewissheiten umzugehen“, erzählt sie. So lange die Kontaktsperre andauert, empfiehlt die Therapeutin ge- nerell, den Alltag gut zu strukturieren und den Kontakt zu anderen zu halten. Selbstfürsorge sei auch wichtig: „Die Notwendigkeit, diese ambivalente Situation auszuhalten, bietet für manche auch die Mög- lichkeit einer radikalen Hinwendung zur Selbstfürsorge.“ age TITEL 25
Kranken und Schwachen da zu sein. Das gilt im Übrigen auch für die Ärzte! Ich hoffe, das wird nach Corona nicht vergessen werden.“ Generell vermittelt Eric, wenn er von den letzten Wochen spricht, einen Eindruck, der weit von der teils extrem angespannten Stim- mung entfernt ist, die besonders in der Anfangszeit spürbar war. Anpacken, statt durchzudrehen, so scheint er an die Sache ranzu- gehen. Natürlich empfand auch er die Situation als „absurd“. Corona, das erst „ganz weit weg in China“ zu sein schien, „klopfte plötzlich an der eigenen Tür, und keiner wusste, wie schlimm es wird“. Und auch er findet es „beängstigend, wie die ganze Welt lahmgelegt wurde“, als hätte man eine „Pausetaste“ gedrückt. In seinem Krankenhaus wurden dann auch schnell entsprechen- de Notfallmaßnahmen ergriffen. So wurde die Anzahl der Betten erhöht und zügig damit begonnen, das Personal zu schulen. Denn während es für Eric auf der Intensivstation – ein sehr spezieller Be- reich, wie er meint – zum Alltag gehört, außerordentlich auf Hygiene Anpacken zu achten, mussten die anderen erst mit diesem Standard vertraut gemacht werden. Da der „exakte Übertragungsweg des Virus zum Eric Will ist Krankenpfleger. Er und seine gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht ganz klar ist und wir uns auch Kolleg*innen arbeiten Tag und Nacht darauf vorbereiten wollten, dass uns eventuell Mitarbeiter*innen von anderen Stationen zur Hilfe kommen können, war das notwen- Eric arbeitet, wenn man so will, mitten im dig“, sagt er. „Diese Schulung ist sehr aufwendig, und die Maßnah- Auge des Sturms: Er ist Krankenpfleger men müssen vielfach geübt werden, aber die Kolleg*innen von der auf der Intensivstation des Krankenhau- an das Krankenhaus angegliederten Schule für Pflegeberufe kamen ses Waldfriede in Steglitz-Zehlendorf. Doch uns zur Hilfe. Das war sehr gut. Denn selbst ich“, fügt er hinzu, „muss er sieht die aktuelle Situation an seinem mir sogar manchmal an die eigene Nase packen, mich bei der An- Arbeitsplatz ziemlich pragmatisch. „Ja, wir wendung dieser besonderen Hygienemaßnahmen stets richtig zu arbeiten alle viel in diesem Beruf“, erklärt konzentrieren.“ der 35-Jährige, der in Schöneberg lebt, „aber Trotz allem macht er sich nur bedingt Sorgen um seine eigene Per- das haben wir vorher auch schon getan. Egal son. Was ihn umtreibt, ist abermals ganz pragmatisch. Er fürchtet, ob im Krankenhaus, im Pflegeheim oder in dass „Schutzkittel, Atemmasken und Desinfektionsmittel knapp den ambulanten Diensten, überall benötigen werden könnten“. Alles Materialien, die für seine Arbeit unerlässlich Menschen Pflegekräfte, die genau dazu auch sind. Deswegen steht für ihn die Frage im Vordergrund, wie er und Alle Fotos: bereit sind. Diese Pandemie hat daran nichts seine Kolleg*innen sich in Zukunft ausreichend schützen können. Victor Hensel-Coe verändert. Vielmehr haben wir uns an die „Denn wenn ich krank werde“, sagt er, „kann ich meine Arbeit nicht victorhenselcoe.com moralische Pflicht erinnert, für die Alten, mehr machen und fehle.“ rob
Fotos: Text
> Seite 24 26 TITEL
tragbare Krankheiten), Hepatitis und HIV. „Ich bin in einer Zeit groß geworden, als HIV noch schwer behandelbar war“, erzählt Tes- fay. „Auch wenn die Corona-Pandemie mit der Situation damals nicht im Entferntesten zu vergleichen ist: ich fühle mich doch an diese Ohnmacht erinnert, wenn man als Fachperson etwas vor sich hat, gegen das noch keine wirksamen Medikamente zur Verfügung stehen, dem man schwer be- gegnen kann.“ Auch die Arbeitsbelastung sei seit Beginn der Corona-Krise gestiegen. Kund*innen sind verunsichert, es gibt viele Fragen. „Durch die ganzen Medienberichte und zum Teil Falschmeldungen in sozialen Medien sind die Sorgen groß. Wir klären da möglichst auf.“ Hartnäckig halte sich etwa das Gerücht, dass es zu einer Knappheit bei Arzneimitteln kommen könnte, sagt Tesfay. Er habe mit einigen HIV-positiven Kund*in- nen gesprochen, die befürchten, nicht mehr Die Angst nehmen an ihre Therapiemedikamente zu kommen. Tesfay Andemeskel und sein Team betreiben zwei Apotheken mit „Da versuchen wir, die Angst zu nehmen. HIV-Schwerpunkt. In der Krise werden sie zu wichtigen Anlaufstellen Engpässe gibt es vielleicht, weil die Distri- bution nicht so läuft wie vorher. Aber eine wirkliche Knappheit besteht nicht. Gerade inter Plexiglasscheiben, mit Masken und Schutzbeklei- wir als HIV-Schwerpunktapotheken haben dung: so die Kundschaft zu bedienen, sei schon unge- immer einen ausreichenden Vorrat an die- wohnt, findet Tesfay. „Wir sind Szeneanlaufstellen, in sen Arzneien.“ H denen wir eigentlich sehr menschennah sein wollen. Zu merken, wie sehr sie mit ihrer Tätigkeit Aber aufgrund der Pandemie mussten wir die Hygienestandards jetzt Menschen helfen können, halte Tesfay natürlich erhöhen.“ Bereits im Januar begannen Tesfays zwei Apo- und sein Team bei Laune. „Wir motivieren theken – die am Viktoria-Luise-Platz und die Magnus-Apotheke in uns gegenseitig, verdeutlichen uns, wie der Motzstraße – sich an die neue Situation anzupassen: von Ab- wichtig unsere Arbeit ist. Im Alltagstrott standslinien auf dem Boden bis hin zu Desinfektionsmitteln, die das vergisst man das manchmal. Und viele, die Team jetzt auch regelmäßig selbst herstellt. Das sei an sich kein zu uns kommen, sagen auch: ,Danke, dass Problem, sagt Tesfay. Jedoch: die Verpackung, die sie bisher für die ihr immer noch von morgens bis abends für Mittel verwendeten, war plötzlich nicht mehr zu haben. „Das hat uns uns da seid.‘ Das motiviert uns zusätzlich.“ Sorge bereitet. Wir konnten es lösen, indem wir andere Firmen nach Für die Zukunft nach Corona hofft Tesfay, Plastik- oder Glasflaschen gefragt haben.“ dass „dieses solidarische Handeln und Mit- Tesfay, der dieses Jahr 50 wird, studierte Pharmazie in Berlin. 2003 einander einen ganz anderen Stellenwert eröffnete er hier seine erste eigene Apotheke. Im Umgang mit In- bekommen. Dass die Menschheit aus der fektionskrankheiten ist sein Team geschult: Die beiden Apotheken Krise lernt und merkt: Solidarität ist über- in Schöneberg haben einen Schwerpunkt auf STIs (sexuell über- lebenswichtig.“ fs TITEL 27
doch der Stress wird dadurch nicht unbedingt weniger. Zweimal am Tag spricht er als Filialleiter mit seinen Vorgesetzten in einer Tele- fonkonferenz über Maßnahmen, die umgesetzt werden müssen. Die zuständigen Gesundheitsämter geben klare Regeln vor, an die sich jede Filiale halten muss. Angefangen beim Sicherheitsabstand bis hin zu Hygienemaßnahmen. Ordnungsbeamte machen Stichproben, um zu überprüfen, ob die Auflagen eingehalten werden. Das wirkt sich auch auf das Team aus, erzählt Dirk: „Das ist natürlich anstrengend. Es ist nicht immer einfach, seine Mitarbeiter*innen abzuholen, wenn es immer wieder neue Maßnahmen gibt.“ Aber zumindest habe in seinem Team niemand Angst, arbeiten zu gehen. Privat hat er aber auch schon andere Situationen erlebt: „Einige mei- ner Freunde möchten momentan keinen Kontakt haben, weil ich ein höheres Risiko darstelle, da ich jeden Tag so vielen Menschen auf meiner Arbeit begegne.“ Auch der Umgang mit den Kund*in- nen ist oft nicht leicht. Dirk wurde schon beschimpft, weil er an der Kasse keine Schutzkleidung trägt. Einige Menschen ignorieren Im Sturm den Sicherheitsabstand gegenüber den Angestellten und kommen ihnen unangebracht nahe, wenn sie Fragen stellen wollen. Doch am Dirk Hoffmann ist Filialleiter bei Lidl. Die Krise meisten ärgert sich Dirk über den Egoismus. Im Verkauf gehört es erhöht in seinem Job deutlich das Stresslevel dazu, dass der Kunde König ist. Doch in der Krise steigert sich dieser Anspruch noch. Anstatt einer Packung Milch wird jetzt ein ganzer Weitere Porträts aus Dirk leitet eine Filiale in Brandenburg und Karton gekauft und für andere nichts übrig gelassen. Obwohl tat- dieser Strecke auf verbringt dabei die meiste Zeit direkt im sächlich nirgends wirklicher Notstand herrscht. SIEGESSÄULE.DE Laden. Genau wie seine Mitarbeiter*innen Es gebe aber auch positive Aspekte, findet Dirk: „Ich finde es gut, dass sitzt er an der Kasse, reinigt Regale und wir in der Krise eine gewisse Wertschätzung bekommen. Sonst ist kümmert sich um die frischen Backwaren. man ja eigentlich immer nur der blöde Kassierer. Ein Dienstleister, Die Corona-Krise wirkt sich deutlich auf der gefälligst dem König Kunde sämtliche Wünsche zu erfüllen hat. seine Arbeit aus, denn auch während des Das wird jetzt anders dargestellt. Es wird klar, dass wir einen sys- Shutdowns haben Supermärkte nicht ge- temrelevanten Beruf ausüben.“ Als „Held in der Krise“ fühlt er sich schlossen. Hamsterkäufe sind hier mittler- aber nicht. Er geht einfach seiner Arbeit gewissenhaft nach und fin- weile nicht mehr das Problem. „Den größten det, dieser Titel gehöre eher denen, die im Gesundheitssystem tätig Ansturm haben wir am Wochenende vom sind. Ebenfalls ein positiver Aspekt im Einzelhandel: bisher ist ein 14. März erlebt. Kurz nachdem verkündet Umsatzzuwachs von 100 Prozent zu verzeichnen. Während viele wurde, dass in Berlin-Brandenburg Kitas Firmen ihre Mitarbeiter*innen in die Kurzarbeit schicken müssen, und Schulen schließen“, berichtet Dirk. stellt der Einzelhandel aufgrund von Personalmangel von heute auf Mittlerweile wird wieder normal eingekauft, morgen Menschen ein. kaey
Tagesklinik Tel. 130 20 2609 Station 12C Tel. 130 20 2341 Wir sind für euch da bei HIV und anderen Infektionen.
Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum | Rubensstraße 125 | 12157 Berlin | www.vivantes.de/avk-infektiologie Foto: © Antonio Piacab-Dias 28 MUSIK
Foto: Katie Stelmanis hast diese Zyklen in deinem Leben, aber du erreichst nie einen Punkt, an dem du denkst: „Okay, jetzt ist alles perfekt.“ Du musst immer wieder rausfinden, was nicht funktioniert, zu was du Nein sagen, was du hinter dir lassen musst. Austra ist eng verwoben mit Politik und Feminismus. Aber dein neues Album ist sehr introspektiv. Hast du die politischen und idealistischen Vi- sionen von „Future Politics“, deinem letzten Album, aufgegeben? Um ehr- lich zu sein, ja. „Future Politics“ war eine schwierige Platte, weil nach den Aufnah- men und vor der Veröffentlichung Trump und der Brexit passierten. Ich hatte diese Vision von einer wunderbaren Zukunft und dann ging plötzlich alles hart den Bach runter. Ich glaube zwar immer noch an die Theorien hinter dem Album, aber musste auch schnell verstehen, dass ich nicht die beste Person war, um diese Ideen zu FOTO: VIRGINIE KHATEEB kommunizieren. Und dann hab ich mich gefragt, wie kann ich helfen und was ist der Sinn von Musik? Und im Endeffekt ist Musik dann sinnvoll, wenn sie Leuten er- Über Blutegel laubt, verletzlich zu sein und mit anderen in Kontakt zu treten. Musik erinnert uns Mit „HiRUDiN“ erscheint Anfang Mai das vierte, sehr intro- an unsere Menschlichkeit und daran, dass spektiv geratene Album der queeren Artpopper Austra. Florian verletzlich sein sehr wichtig ist. Auf mei- Bade traf Austra-Mastermind Katie Stelmanis zum Gespräch nem neuen Album geht es um Trennung und das scheint so banal. Aber gleichzeitig Austra: HiRUDiN Katie, in den letzten zwei Jahren hast du dich zurückgezo- werden Leute eher damit connecten, weil (Domino Rec./Good- gen, auch weil du meintest, dass du den Glauben in deine es eine Erfahrung ist, die wir alle teilen. togo), ab dem 01.05. Ideen verloren hättest. Hast du ihn inzwischen wieder- Auf Twitter hast du letztens geschrie- erhältlich gefunden? Na ja, ich hinterfrage mich natürlich ständig, aber ich ben: „Ich habe mich vor dem Kellner hatte mich zu sehr daran gewöhnt, Musik auf eine bestimmte Art in einem Suppenrestaurant geoutet und Weise zu machen. Ich hatte das Gefühl, in einer Sackgasse zu und habe mich noch genauso ange- stecken, und wusste nicht, wie weiter. Es war deshalb total wichtig, spannt gefühlt wie vor 15 Jahren ...“ dass ich neue Menschen in mein Leben holte. Neue Menschen, mit Hast du oft Queer Shaming erfahren? denen ich zusammenarbeiten konnte, die mich inspirierten. Aber Definitiv, und ich wundere mich jedes Mal das bedeutete natürlich auch, dass ich alte Beziehungen kappen wieder, weil ich aus so einer bilderbuch- und diese Phase der Ungewissheit aushalten musste, um dann an liberalen Familie und Umgebung komme. diesem Prozess zu wachsen. Meine Eltern haben mich unterstützt, Dein neues Album „HiRUDiN“ handelt von toxischen Be- bevor ich wusste, dass ich lesbisch bin. ziehungen. Was hast du in den letzten Jahren über Bezie- Aber dann gibt es halt immer noch die Be- hungen gelernt? Wenn ich ehrlich bin: Was ich darüber lerne, gegnungen mit Menschen, die dich nicht ändert sich ständig. Als ich mich mit toxischen Beziehungen aus- kennen. Und du weißt nicht, ob sie so ti- einandersetzen musste, fing ich an, über Blutegel zu lesen. Ich hab cken wie du. Jedes Mal in einer Kleinstadt gelernt, dass sie, während sie dein Blut saugen, Hirudin freisetzen, frage ich mich, sage ich es ihnen? den stärksten Blutgerinnungshemmer der Welt. Egel sind also Und in der Musikbranche? Die Musik- einerseits Parasiten und andererseits können sie auch heilen. Ich branche ist so abgefuckt (lacht). Auf dem will toxische Beziehungen nicht verherrlichen, aber ich glaube, sie Papier ist sie queer-freundlich, aber sie können einem helfen, Dinge über sich selbst zu lernen. Schließlich ist auch in der Hand von reichen, weißen bist du in einer toxischen Beziehung, weil du mit dir im Ungleich- Heteros. Sie entscheiden, wer das Geld gewicht bist und es nicht geschafft hast, deinen Verletzlichkeiten bekommt. Sie scheint ein Safe Space für ins Gesicht zu schauen. Das Wichtigste ist, sich in seiner eigenen Queers, ist aber ein Geschäft, und als sol- Haut wohlzufühlen und die Kraft zu haben, die Beziehungen im ches wird sie Queerness so lange bedienen, Leben zu bewältigen. Aber ich habe erst diese Woche verstanden, wie es ihr nutzt. Aber eigentlich sind das dass Beziehungen und mein neues Album sehr zyklisch sind. Du keine Verbündeten unserer Community. Yony Leyser ist Filmregisseur („Wil- liam S. Burroughs: A Man Within“ u. a.). Für das Drehmoment schreibt er über den Soundtrack zu seinem 2015er-Spielfilmdebüt „Desire will set you free“ FOTO: MARCUS WITTE Drehmoment mit Yony Leyser
Techno hat meine Beziehung ruiniert. Ich zog 2010 gemeinsam mit meinen Freunden Samantha Urbani und Hamilton Morris nach Berlin. Samantha sollte im Laufe der folgenden Jahre mit ihren Bands Friends, Blood Orange etc. eine erfolgreiche Karriere im Musikbusiness haben und Hamilton mach- te später die Show „Pharmacopeia“ auf Vice. Wir lebten zusammen in einer winzig kleinen Wohnung, die wir von einer Promi-Masseuse gemietet hatten, die sich dann allerdings als rechte Trump-Supporterin herausstellen sollte. Aber das erfuhren wir erst später. Die Wohnung war vollgestopft mit Fotos von ihr und irgendwelchen Musiker*innen. Die Spanne reichte dabei von Roger Waters bis zu Missy Elliott. Mein damaliger Boyfriend war Underground-Musiker und Musikjournalist. Er liebte die sexuelle Freiheit in Berlin, vermisste aber die DIY-Musikszene von Chicago. Ich erinnere mich noch gut an unseren ersten Streit. „Ich liebe Berlin wirklich, aber hören die hier wirklich nur Techno? Ich werde mich nie damit anfreunden können.“ Samantha, Hamilton und er verließen die Stadt wieder im Laufe des Som- mers. Ich blieb und bleibe nun schon seit über einem Jahrzehnt. Ich lernte, Techno zu lieben. Aber Techno ist bei Weitem nicht der einzige Sound Berlins. 2017 kuratierte und veröffentlichte ich gemeinsam mit anderen eine Berlin-Compilation zu meinem Film „Desire will set you free“. Der Soundtrack beinhaltete Bands wie Blood Orange, die die legendäre Post-Punk-Band Malaria! co- verten, und Peaches mit ihrer Version von Claire Waldoffs 20er-Jahre-Schla- ger „Hannelore“. Außerdem dabei waren Charmeur Alexander Geist, der sozialistische Muskelprotz Rummelsnuff, Michelle Gurevich (noch unter ihrem damaligen Künstlerinnennamen Chinawoman) oder Ziùrs damalige Band Crime. Ich finde, dieses Album kann getrost als eine Art musikalische Quintessenz Berlins betrachtet werden. Es ist düster und elektronisch, ver- eint Comedy und Cabaret und ist so queer wie das Blut in unseren Adern. Wir leben in einer diversen und künstlerischen Stadt, und ich kann ange- sichts von Corona, Clubsterben und Gentrifizierung nur hoffen, dass wir all diese Orte nicht gänzlich verlieren werden, an denen wir Livemusik erleben können. Es muss darum gehen, Berlins Status als Zentrum für internationa- le Musiker*innen, die hier experimentieren und zusammenarbeiten können, zu bewahren. 30 BÜHNE
Foto: Sigrid Grajek live aus dem „BKA Theater Hauptstadtstudio“
Wenn nach der Show niemand mehr an der Theaterbar anstoßen kann, muss auch die di- gitale Nachsorge umso liebevoller ausfallen. Kommentare lesen, E-Mails beantworten, Spendenaufrufe starten, sich um die Selbst- darstellung im Netz kümmern — Kommuni- kation ist nun wichtiger denn je.
FOTO: SVEN IHLENFELD Sigrid Grajek und auch Jurassica Parka sind vor allem über die sozialen Medien eng mit ihren Fans verbunden. Parka, die ohnehin viel bei YouTube aktiv ist, ist die Arbeit vor der Ka- „Wie auf der Titanic“ mera gewohnt und weiß, wie sie damit spielen Die Corona-Krise trifft Spielstätten und Künstler*innen besonders kann. Überhaupt ist die Berliner Dragqueen hart. Das BKA war eines der allerersten Berliner Theater, die sich ge- guter Dinge: „Weniger in Clubs und Kneipen wagt haben, auf Streaming zu setzen. Mit Erfolg unterwegs sein ist eine gute Möglichkeit, um etwas zur Ruhe zu kommen und sich selbst wieder mehr genießen zu können.“ Auch Livestreams aus heater sind die Ersten, die schließen mussten, und die Letz- Grajek ist positiv gestimmt und macht sich dem BKA Theater ten, die wieder öffnen werden“, konstatiert Uwe Berger, In- bereits Gedanken über neue Formate. Sie ist Hauptstadtstudio: tendant und Geschäftsführer des BKA Theaters, angesichts sich sicher, dass Künstler*innen gerade jetzt bka-theater.de T des derzeitigen Corona-Shutdowns. Doch was kann die Lö- einen wichtigen Beitrag leisten können. Gern sung in der Zwischenzeit sein? Eine Show ohne Publikum? Geht das würde sie zum Beispiel mit ihrem Programm überhaupt? Durchaus. Bereits am 18. März hat das BKA begonnen, bei gutem Wetter vor einem Senior*innen- die geplanten Vorstellungen zu spielen und per Videostream über die heim spielen. Website zu übertragen. Live aus dem „BKA Theater Hauptstadtstudio“ Das Stammpublikum des BKA zeigt sich be- präsentieren queere Künstler*innen wie Jurassica Parka, Ades Zabel reits jetzt dankbar für den unermüdlichen oder Sigrid Grajek weiterhin ihre Programme. Einsatz der Künstler*innen. Großzügige Spen- Gerade in Krisenzeiten, da ist sich das BKA-Team einig, sei es wich- den erreichen Theater und Ensemble. Sogar tig, den Kopf oben und das Publikum weiterhin bei Laune zu halten. neue Stuhlpatenschaften wurden geschlos- Die Zuschauer*innen vor den Bildschirmen scheinen von der Idee sen. Solidarität ist die Zärtlichkeit in einer begeistert zu sein: Innerhalb einer Woche kann das BKA um die Krise, in der Berührung die größte Gefahr dar- 20.000 Klicks pro Vorstellung verzeichnen, einmal lag die Zahl sogar stellt. Obwohl die Streams einen völlig neuen bei 70.000. So viele Menschen würden nicht in den Saal passen. Bei Zugang zu kultureller Teilhabe ermöglichen, einer Liveshow sind es zwischen 100 und 1.600 Zuschauer*innen pro wünschen sich die Künstler*innen ihr treu- Abend. Zuschauen im Netz ist gratis. Wer aber das Theater unterstüt- es Publikum schnellstmöglich zurück. „Im zen möchte, kann ein „Antivirus-Livestreamticket“ freiwillig kaufen. Moment halten wir noch durch“, sagt Uwe Und die Videos bleiben auch nach der Show online. Berger, „doch wir würden gern wissen, wann Kabarettprogramme wie Sigrid Grajeks „Berliner Luft – Claire Waldoff wir die Türen für unser Publikum wieder öff- singt Berliner Lieder der 1920er Jahre“, Ades Zabels Figuren wie Edith nen können.“ Solange die Krise dauert, muss Schröder oder Jurassica Parkas Late-Night-Show „Paillette geht immer“ das Team kreativ und eben auch erfinderisch sind auf die Präsenz des Publikums angewiesen. Applaus, Reaktionen, sein. „Zusammenhalten und optimistisch blei- Feedback. All das nährt den Abend. Der Dialog mit dem Publikum, der ben“, betont Zabel. „Wir sind ungefähr so wie den Künstler*innen die nötige Energie zum Spielen verschafft, wird das Orchester auf der Titanic“, ergänzt Grajek. plötzlich zum Monolog. „Die Kraft musst du aus dir selbst schöpfen“, „Wir werden spielen bis zum Schluss.“ stellen Grajek und Zabel beim Interview auf Zoom einstimmig fest. Paula Perschke BÜHNE 31
SIEGESSÄULE-Autor Staub zu wischen. Doch tatsächlich haben mich Eckhard Weber findet die Streamings jedes Mal derart gefesselt, dass es natürlich ätzend, ich diesen Sog überhaupt nicht verlassen wollte. nicht mehr in die Oper Was ich allerdings wirklich praktisch finde: Ich gehen zu können. Aber kann nun während der Oper essen. Ausgewei- etwas Gutes kann tete Sinnenfreude simultan. Hat ja Tradition: Als er dem Dasein als Musiktheater noch eine adelige Angelegenheit Opern-Couch-Potato war, im 18. Jahrhundert, dienten die Logen auch doch abgewinnen als Restaurant-Separees. Daran denke ich oft, wenn ich mit knurrendem Magen im Opernsaal komische-oper- sitze. Heute hieße das aber wohl, dass jede*r berlin.de Pommes-Döner-Currywurst-Kimchi mit ins Par- deutscheoperberlin.de kett bringen würde. Den Müffel-Tsunami möchte staatsoper-berlin.de ich mir gar nicht vorstellen. Außerdem hatte Beethoven, dessen Jubeljahr aktuell von Corona ziemlich ausgebremst wurde, schon recht, als er am Klavier geschrien haben soll: „Für solche Schweine spiele ich nicht!“ Nämlich fürs adelige Publikum, das schnöselig Karten spielte und plauderte. Es stimmt schon: Der Sog, die Magie, Bretterwald der kommunikative Funke zwischen Bühne und Publikum, das alles stellt sich erst ein, wenn eine Aha! So muss sich Marlene Dietrich in ihrer „Matratzengruft“ in Paris ge- Fokussierung es zulässt. Nahrungsaufnahme nur fühlt haben. Oder Greta Garbo in New York City. So ist es also bei der in den Aktpausen ist eine gute Idee. Operntunte in der Provinz. Für die Metropolen-Schwulette, die mehr in Das mit Abstand Allerbeste bei den Streamings Theatern und Konzertsälen rumlungert als vor dem heimischen TV, war der ist aber: Ich kann bei meinen Lieblingsstellen Corona-Lockdown anfangs eine völlig neue Selbsterfahrung. Was allerdings lauthals mitsingen. Die Texte werden ja als weder die Dietrich noch die Garbo hatten, das sind die Theater-Streamings. Untertitel eingeblendet. Mein Wohnzimmer wird Was für ein Glück, dass ich mir – noch ohne an Pandemie zu denken – vor zur Opernkaraoke-Bar! Geht überhaupt nicht Wochen so kleine wie effiziente Boxen fürs Laptop gekauft habe. Jetzt im Opernhaus! Fände ich selbst, gebe ich zu, mache ich im Wohnzimmer große Oper. Auch die Berliner Häuser bieten da auch extrem störend. Dennoch: So etwas sollten so einiges online: Ich kann Inszenierungen sehen, die ich in den letzten Mo- sich die Leute wirklich mal überlegen. Kurz vor naten verpasst habe. Und sogar alte Produktionen, darunter legendäre, die dem Lockdown war ich noch auf Kampnagel in nicht mehr im Repertoire sind. Hamburg. Dort gibt es Orchesterkaraoke, Pop- Von Freunden in Zürich weiß ich, dass sie die Opernstreamings richtig zeleb- songs mit breitem Live-Sound. Das Format ist rieren, mit Aufbrezeln, Prosecco und so. Ich bin da eher prosaisch: Mit T-Shirt ein Riesenerfolg. Auch in der Elbphilharmonie und Jeans (also wie in Berlin in jedem Theater, wir sind hier ja angenehmer- machen sie das. Ich frage: Wann bieten die drei weise nicht mehr so etepetete) auf dem Sessel vor dem Laptop, nah genug Berliner Häuser Opernkaraoke an? Ich bin sofort am Bildschirm, fern genug von den Boxen. Mein ursprünglicher Plan war es, dabei. Wenn es dann endlich, endlich, endlich schnöde, ich muss es zugeben, nebenbei und nur bei den faden Passagen wieder losgeht.
WOHNWERK BERLIN - EURE ANSPRECHPARTNER FÜR STILVOLLE EINRICHTUNGEN IN BERLIN CHARLOTTENBURG FUTONS MASSIVHOLZBETTEN
SCHLAFSOFAS ® MATRATZEN BERLIN UND VIELES MEHR
Wohnwerk-Berlin • Spandauer Damm 115 • 14050 Berlin (Charlottenburg)• Tel. 030 25 20 86 00 • www.wohnwerk-berlin.com W&S Handelsgesellschaft mbH Holzhauser Str. 153 . 13509 Berlin www.wohnwerk-berlin.com 32 BUCH
Foto: Jens Bisky, Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung
souverän durch die Zeiten. Mit vielen unter- haltsamen Schilderungen des Alltagslebens, ohne Anspruch auf enzyklopädische Voll- ständigkeit, aber mit einem scharfen Sinn für das Wesentliche der Epochen.
FOTO: BERNHARD LINK, FARBTONWERK Wir erfahren, wie die Wohnungsfrage und das Zusammenleben von Menschen unter- schiedlicher Herkunft Berlin über die Jahr- hunderte immer schon herausforderten. Ich hab‘ noch einen Wie das Nebeneinander von Herrschenden und Aufbegehren, repräsentativer Kultur Koffer in Berlin und alternativen Milieus Berlin immer neu prägte. Und wie alt die Vorbehalte und Res- Jens Bisky hat mit „Berlin“ einen monumentalen Band über die sentiments im Rest von Deutschland gegen- Geschichte der Hauptstadt vorgelegt. Um die SIEGESSÄULE zu über der eigenen Hauptstadt sind. Wir lesen unterstützen, hat der Kultursenator Klaus Lederer einen hono- von Berlins „Weltaugenblick als Stadt der rarfreien Gastbeitrag verfasst Künstler und Zentrum der ästhetischen Mo- eht euch auch so langsam etwas ab? Lange Kreuzberger derne” in den 1920er-Jahren, aber auch von Kneipennächte, Theater, Kino, Clubs, Konzerte? Ja, Spazier- der Vernichtung gelebter Vielfalt im Natio- gänge sind wunderschön, aber Hand aufs Herz: Dafür sind nalsozialismus. Foto: G die meisten von uns nicht in Berlin. Wen die Sehnsucht Nach Weltkriegen und Teilung lag die Indus- Berlins Kultursenator nach kulturellem und sozialem Leben während Corona plagt, wird trie darnieder, aber aus dem „wunderbaren Dr. Klaus Lederer an Jens Biskys Berlin-Biografie großes Lesevergnügen finden. Und Chaos” nach 1989 ging Berlin wieder als feststellen, dass es schon sehr lange zu Berlin gehört, dass hier rund „Hauptstadt der Nacht” hervor, als Ort einer um die Uhr was los ist: ganz besonderen Freiheit. Und als Sehn- „Und zum Spazierengehn genügt das Sonnenlicht / Doch um die suchtsort für jene, „die ihr Leben gern selbst Stadt Berlin zu sehn genügt die Sonne nicht. / Det ist keen lauschi- definieren”. Dieses Besondere für Berlin zu ges Plätzchen / Det is ne ziemliche Stadt / Damit man da alles gut erhalten ist die Herausforderung der Gegen- sehen kann / Da braucht man schon einige Watt. / Na wat denn, na wart, einmal mehr angesichts von Corona. wat denn, was ist das für ne Stadt denn?” In der Hardcover-Version scheidet dieses So heißt es in dem Song „Berlin im Licht“, den Kurt Weill 1928 für das nicht nur literarische Schwergewicht als gleichnamige Festival komponierte, das die Elektropolis Berlin im Reiselektüre aus. Aber in Zeiten des erzwun- künstlichen Licht nachts glamourös erstrahlen ließ. Bertolt Brecht genen Unter-sich-Seins weckt es Fernweh schrieb den Text. Solch wunderbare Fundstücke bietet der ziegel- nach der eigenen Stadt, Vorfreude auf ein steingroße und ebenso schwere Band „Berlin. Biographie einer Wiedererwachen der verrückten Metropo- Jens Bisky: großen Stadt“ zuhauf. Bisky, Feuilletonredakteur der Süddeutschen le nach der Pandemie. Wer den Band nach „Berlin. Biographie Zeitung, ist schon länger einer der klügsten Beobachter des Haupt- der Lektüre beiseitelegt, wird vor allem einer großen Stadt“, stadtgeschehens. eines sein: beglückt darüber, in dieser un- Rowohlt, 976 Seiten, Was ihm aber mit diesem Buch gelingt, ist eine Meisterleistung. möglichsten aller Städte zu leben, brennend 38 Euro Acht Jahrhunderte Stadtleben Berlins zwischen zwei Buchdeckeln, vor Neugierde auf die nächsten, noch un- politische, wirtschaftliche, Kultur- und Sozialgeschichte zugleich, geschriebenen Kapitel in der Biografie der müssten erschlagen und überfordern. Aber Bisky navigiert uns großen Stadt. BUCH 33
Barbaros Altug: „Sticht in meine Seele“, Orlanda Verlag, 147 Seiten, 16 Euro
historische Ereignisse herum: Die erste Begebenheit, die seine Protagonistin aus ihrem Pariser Bohème-Leben herausreißt, ist die Ermordung des armenischstämmigen Journalisten Hrant Dink. Im weiteren Verlauf der Geschichte erfahren wir in Rückblenden, dass auch der Anschlag der „Geheimen Armee zur Befreiung Armeniens“ auf den Pariser Flughafen im Sommer 1983 Derins Leben entschei-
FOTO: TAMER YILMAZ dend prägte. Schließlich führt sie ihre Recherche über Istanbul nach Eriwan, wo sie sich plötzlich inmitten ihrer eigenen Familienge- schichte wiederfindet, deren traumatische Leerstellen bis zum Völ- kermord an den Armeniern 1915/16 zurückreichen. „Mit der Vergangenheit abzuschließen“ wird Derin immer wieder Vergessene Geschichte geraten – doch die junge Frau stellt sich diesem Mantra mutig entge- gen. In der Tat erfordert es Courage, das Thema in der Öffentlichkeit Seit einigen Jahren lebt der schwule türkische Journalist Barbaros anzuschneiden oder gar literarisch zu verarbeiten: Noch heute ist Altug in Berlin. Sein neuer Roman „Sticht in meine Seele“ behan- es in der Türkei verboten, das Massaker als Genozid zu bezeichnen. delt ein Thema, das bis heute ein Tabu in seiner alten Heimat ist: Altuý hat sich an einen gewichtigen Stoff herangewagt; dennoch der Völkermord an den Armeniern liest sich sein zweiter Roman erstaunlich leicht, was insbesondere dem angenehm nüchternen, bisweilen leicht ironischen Erzähl- Als Derin von der Pariser Zeitschrift, für die ton seiner Hauptfigur zu verdanken ist. Derins lesbische Liebesge- sie als Korrespondentin arbeitet, nach Istan- schichten – eine Ex-Beziehung, die inzwischen zur guten Freundin bul geschickt wird, ist sie zunächst verärgert und Arbeitskollegin geworden ist, ein zarter Flirt mit einer Archi- und frustriert. Sie kann als Einzige in der varin in Eriwan – bleiben eher im Hintergrund, tragen aber dazu bei, Redaktion Türkisch, na gut – dennoch fühlt Derin als facettenreiche, lebendige Figur zu zeichnen und nicht bloß sie keinerlei Verbindung zu ihrer angeb- als Chronistin der Vergangenheit. Wie unausgesprochene Ängste, lichen „Heimat“, in der sie zuletzt vor etwa die kleinen und großen Katastrophen der Kindheit bis in die Gegen- 20 Jahren war. Der einzige Reiz dieser Reise wart und deren Beziehungsgeflechte hineinwirken, dieser dunkle besteht für sie darin, das Grab ihres Vaters Unterstrom durchzieht den Roman auf eher subtile Weise. zu besuchen. Ihr eigentlicher Auftrag aller- Nur selten liest sich „Sticht in meine Seele“ etwas zu sehr wie eine dings lautet, über einen ermordeten Journa- Reportage und scheint allzu deutlich der journalistische Hinter- listen zu schreiben, von dem sie nie zuvor grund des Autors auf. An solchen Stellen stört eine Überlast an In- gehört hat. formationen, in unnatürlich klingende Dialoge verpackt, und man Geschickt konstruiert der offen schwule tür- hätte Altuýs Sprache leichtere Schwingen gewünscht, damit sie ab- kische Autor und Journalist Barbaros Altuý, heben möge vom Boden der Fakten. Dennoch bleibt „Sticht in meine der seit einigen Jahren in Berlin lebt, sei- Seele“ ein gut recherchierter und spannend konstruierter Roman, nen Roman „Sticht in meine Seele“ um drei der dazu einlädt, sich mit einem immer noch wenig beleuchteten wahre weitläufig miteinander verknüpfte Stück Geschichte zu befassen. Anja Kümmel 34 Rubrik 34 BUCH
Als schaue man in eine Glaskugel: SIEGESSÄU- LE-Redakteur Roberto Manteufel über ein Büchlein aus dem Jahr So schreiben sie von einer „Panik, die heute in 1944, das die Bewegung jedem Augenblick bereit ist auszubrechen: die von Massen analysiert Menschen erwarten, dass die Welt, die ohne Ausgang ist, von einer Allheit in Brand gesetzt wird, die sie selber sind und über die sie nichts vermögen“. Letztlich behaupten sie, dass wir Gefangene unserer gesellschaftlichen Dynamik sind. So regele das große Credo der Aufklärung – die Vernunft – nicht nur unsere Arbeitsweise und die Wissenschaft, sondern ebenso unser individuelles Denken und Handeln. Diesem bürgerlichen Denkapparat, in dem es nur ein ILLUSTRATION: ROBERTO MANTEUFEL Falsch oder Richtig gibt, entkommen wir nicht. Der Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo fand dafür Seitenblick im März den Ausspruch „Vernunftpanik“, als er beschrieb, wie gerade jeder zu einem Virologen Im Verlauf der letzten Wochen erinnerte ich mich an ein Buch, das bei Sozio- wird und ganz genau weiß, wie mit dieser Situ- log*innen bereits vor Corona hoch im Kurs stand – weil in ihm Antworten auf ation richtig umzugehen ist. Kritik an ihm und den reaktionären Kurs schlummern, den derzeit zig Länder ungebremst neh- überhaupt an einer Gesellschaft, die ad hoc ihre men (siehe Ungarn). Bei diesem Buch handelt es sich um die Schrift von Max Grundrechte veräußert, ist unangebracht, denn Horkheimer und Theodor W. Adorno „Dialektik der Aufklärung“. es ist ja die herrschende Vernunft, die gebietet. Sie verfassten diese Schrift 1944. Im Angesicht des Nationalsozialismus, der Sie muss richtig sein, selbst wenn so ein obsku- die Welt mit einem Krieg von ungeahntem Ausmaß überzogen hatte, rechnen res Verbot dabei herauskommt, wie auf einer sie darin mit der fortschrittsgläubigen Menschheit ab. Einer Menschheit, die Parkbank zu sitzen. Und anders – folgt man meinte, die Natur zu beherrschen und in neue schwindelnde Höhen aufzu- Horkheimer und Adorno – konnte es auch nicht steigen, während sie doch nur tiefer in den Sumpf des Stumpfsinns hinabstieg laufen. Der Shutdown, einmal ins Spiel gebracht, und dabei ihre Freiheit zusehends veräußerte. Ihre Kritik der Massenkultur ist war in seiner ganzen Wucht unabwendbar. so radikal, wie sie zugleich aktuell anmutet. Hoffentlich werden eines Tages trotzdem solche Nun hat unsere gegenwärtige Lage denkbar wenig mit Krieg zu tun. Daran Fragen erlaubt sein: Haben wir es vielleicht ändert nichts, dass sich einige Spitzenpolitiker nicht entblödeten, diesen Be- übertrieben? Hätten wir nicht sofort mehr So- griff zur Rechtfertigung der Kontaktbeschränkungen anzuwenden. Genauso lidarität mit all den gestrandeten Geflüchteten wie hier und da hieß, Bäcker ständen an „vorderster Front“ – solch eine zeigen müssen? Und hätten wir, eines der Rhetorik ist nichts anderes als Hohn in den Ohren jener, deren Verwandte reichsten Länder der Welt, nicht konsequenter tatsächlich von Granaten zerfetzt wurden. Zugleich ist diese Rhetorik aber unser Potenzial nutzen können? Nicht nur, um auch ein Beweis dafür, in was für einer dramatischen Situation wir uns be- ein paar Kranke aufzunehmen, sondern um Ma- finden. Einer Situation, deren Funktionsweise Horkheimer und Adorno 1944 terial und Ärzte auszusenden – so wie es zum skizzierten. Beispiel das kleine Cuba von Anfang an tat. Wir sind für Euch da. Im Laden und Online! Kostenlose Lieferung! Motzstraße 23 | Berlin www.prinz-eisenherz.com | 030 313 99 36 | eisenherz.berlin MOBILE TERTIANUM CARE PFLEGE
Buntes Team sucht Ein Büro mitten im SchönebergerDich! Kiez, wöchentliche Fresh Fridays & Dein persönlicher Concierge dank der #careback-Initiative. • PFK (m/w/d) • PH (m/w/d) • Hauswirtschaft (m/w/d)
Neugierig? Hier erfährst Du mehr:
www.tertianum-care.de/jobs [email protected] 0171 6280425 tertianumcare tertianumcare
TC Mobile Pflege GmbH, Nürnberger Straße 49, 10789 Berlin
RSB Philharmonie-Abo Silber Abo-Vorteil 30 %
So 4. Oktober 2020 / 16 Uhr / Philharmonie Berlin Jukka-Pekka Saraste Beethoven, Nielsen
So 13. Dezember 2020 / 16 Uhr / Philharmonie Berlin Sylvain Cambreling Wagner, Schubert, Bruckner
Mo 22. Februar 2021 / 20 Uhr / Philharmonie Berlin Ivan Repušić Schostakowitsch, Dvořák
So 18. April 2021 / 16 Uhr / Philharmonie Berlin Vladimir Jurowski The Swingles Strawinsky, Berio
So 6. Juni 2021 / 20 Uhr / Philharmonie Berlin Dieses und Vladimir Jurowski alle weiteren Wir sind für Euch da. Abos ab sofort RIAS Kammerchor Berlin Strawinsky erhältlich!
So 20. Juni 2021 / 20 Uhr / Philharmonie Berlin Im Laden und Online! Vladimir Jurowski Rimski-Korsakow, Britten, Strawinsky Kostenlose 2020/2021 Lieferung! Motzstraße 23 | Berlin Alle Abonnements und Informationen unter rsb-online.de www.prinz-eisenherz.com | 030 313 99 36 | eisenherz.berlin 36 FILM
Foto: Max „Adlersson“ Herzberg
Kritiker*innen warfen dem Film vor, dass er rechtem Ge- dankengut eine unkommentierte Plattform biete. Warum habt ihr eine Form der Darstellung ohne zusätzlichen Off-Kommentar gewählt? P: Ein Film, der alles erklärt, benötigt keine Diskussion mehr. Es ist ja entscheidend, dass es sich bei den Protagonist*innen nicht um „stramme” Nazis handelt. Genau des- halb braucht es eine Debatte, und zwar eine, die vielleicht nicht in zwei Minuten zu klären ist. Wie seid ihr während des Drehs mit queerfeindlichen und rassistischen Äußerungen umgegangen? P: Es gab eine Situ- ation Off camera, als André sich vor der Clique als schwul geoutet hat. Anstatt mit Feindseligkeit zu reagieren, stellten sie einen Hau- fen Fragen. Das hat uns verdeutlicht, dass es bei all ihren Äußerun- gen allein um Schockmomente ging. Doch zeigt der Film darüber hinaus auch, dass es bei all dem „Spaß” trotzdem zu handfesten, rassistischen Auseinandersetzungen kommen kann. Hattet ihr nie das Bedürfnis einzugreifen? A: Es gibt eine Szene auf dem Oktoberfest, wo es zu einer handfesten Schlägerei kommt. Obwohl wir die Situation antizipiert hatten und sie unbe- dingt filmen wollten, um die realen Auswirkungen dieser derben Scherze zu zeigen, haben Pablo und ich instinktiv aufgehört zu drehen. Das waren grenzwertige Situationen. Den Nerv Inwiefern haben euch die Reaktionen auf den Film über- rascht? P: Der Shitstorm, der um unsere Premiere herum statt- getroffen fand, hat uns zwar kalt erwischt, doch bestätigt er auch, dass wir den richtigen Film zur richtigen Zeit gemacht haben. Im Grunde Die Doku „Lord of the Toys” über einen handelte es sich dabei um genau die gleiche Mechanik, die wir im rechtstendenziösen YouTuber und seine Film porträtierten – nur in einer anderen Filterblase: Einige Leute Clique sorgte 2019 beim Filmfestival DOK haben keine Ahnung, haben etwas nicht gesehen, aber gehört und Leipzig für Kontroversen. Zur DVD-Veröffent- fangen dann auf eine ziemlich derbe Art und Weise an, heftige lichung sprachen wir mit Regisseur Pablo Meinungen zu verbreiten. Im Endeffekt haben wir also von genau Ben-Yakov und Kameramann André Krummel der Aufmerksamkeitsökonomie profitiert, die wir mit unserem Film kritisieren. Lord of the Toys, erbe Sprüche, Machotum und Was begeistert die Zuschauer*innen dieser Videos an Fi- D 2018, Regie: Pablo physische wie psychische Un- guren wie Max? A: Früher hat man Stars nachgeeifert, die – ver- Ben-Yakov, mit Max Dterdrückung gehören nicht nur glichen mit der eigenen Wirklichkeit – ein komplett gegenteiliges „Adlersson“ Herzberg zum Alltag eurer Protagonisten, sie Leben führten. Doch Max und viele andere junge YouTuber feiern stellen ihre Handlungen auch Tausen- ihre Banalität und vermitteln damit, dass das vermeintlich banale den Followern auf sozialen Medien Leben der Zuschauer*innen gar nicht so sinnlos ist. zur Schau. Woher kam euer Interesse Der Film entwickelt am Ende eine überraschend queere am Thema? Pablo: Wir hatten uns vor- Wirkung, doch wird diese Sequenz nicht weiter aufgelöst. her nicht genau überlegt, dass wir einen Was vermittelt uns diese Szene über die Darsteller? A: Für Film über die Verirrungen der Jugend in uns fungiert diese Szene – ohne zu viel zu verraten – als Gegenpol digitalen Netzwerken machen wollten. zur Situation auf dem Oktoberfest. Das, was wir daran zu erkennen Das fiel uns quasi auf die Füße.André: glauben, ist ein Verlangen nach Körperlichkeit. Was in der einen YouTube schlägt einem immer extremere Situation in einer Schlägerei endet, wird gegen Ende zu Zärtlich- Inhalte vor, damit man auf der Plattform keit. Doch diese Körperlichkeit ist in der Welt, die sie sich erschaf- bleibt. Ich hatte aus Recherchezwecken fen haben, nicht erlaubt. Freddie, einer der vier Jungs, hat es ganz Videos von neurechten YouTubern ange- treffend formuliert: „Wenn wir jetzt anfangen, lieb zueinander schaut und dann wurde mir ein Video von zu sein, würden wir keinen Follower mehr haben.” Leute folgen Max vorgeschlagen. Das habe ich dann an ihnen, gerade weil sie so brutal sind. Das, was sie aber eigentlich Pablo weitergeleitet, der noch an der Film- wollen, scheint etwas anderes zu sein ... akademie Baden-Württemberg studierte. Interview: Andy Dohmen FILM 37
ternational und das Delphi Lux gehören. Da viele Mitarbeiter*innen in der Kinobranche, z. B. Aushilfen und Freelancer, nicht einmal Ersatzleistungen wie Kurzarbeiter*innengeld in Anspruch nehmen können, ist ihre finanzielle Lage besonders kritisch. Laut Christian müsse die Politik deswegen langfristig für Lösungen sorgen: „Wer Banken retten kann, kann auch Kultur retten.“ In einer ähnlich schwierigen Situation befinden sich auch Ge- schäftsführerin Iris Praefke und Geschäftsführer Wulf Sörgel vom Kino Moviemento – dem ältesten Kino Deutschlands. Daneben be- treiben sie zusammen auch das Kino Toni und das Kino Central. Seit Monaten bangen ohnehin viele aus der Szene um das Überle- ben des Moviementos, denn seine Räume sollen verkauft werden. Alle in Deswegen entschieden sich die Betreiber*innen im Herbst für ein Crowdfunding, um die Kinoräume selbst zu erwerben. Nun haben einem Boot sie zusammen mit anderen Programmkinos zusätzlich die Start- next-Kampagne „Fortsetzung: Folgt.” ins Leben gerufen. Die Aktion Startnext-Kampagne: Die enormen Folgen der Corona-Krise für läuft bis Ende Juni und hat als Ziel, alle 73 Leinwände der Programm- startnext.com/ die Berliner Kinolandschaft lassen sich im kinos Berlins jeweils mit 10.000 Euro zu unterstützen. „Durch Start- fortsetzungfolgt Moment noch nicht abschätzen. Auf der next haben wir es geschafft, uns alle gemeinsam zu koordinieren“, Plattform Startnext.com wurde eine Spenden- erzählt Iris vom Moviemento. Darüber hinaus sei laut Yorck-Chef kampagne ins Leben gerufen, um die Pro- Christian die Kampagne ein „Solidaritätssymbol“: „Wir haben hier grammkinos der Stadt zu erhalten in Berlin wahrscheinlich die vielfältigste Kinolandschaft der Welt. Und Vielfalt entsteht durch viele. Deshalb freuen wir uns, wenn viele Die Ausgangsbeschränkungen aufgrund der Leute sich an der Kampagne beteiligen, auch wenn es nur mit einem Corona-Pandemie stellen im Moment viele Euro ist, und ihre Solidarität und ihr Interesse bekunden.“ Bis Druck- Branchen vor eine Zerreißprobe. Ebenso abgabe spendeten fast 2.000 Kinobegeisterte mehr als 90.000 Euro stark betroffen wie Clubs, Theater, Kon- für die Kampagne. zertvenues u. v. m. sind die Berliner Pro- Obwohl Lockerungen in einzelnen Bereichen des öffentlichen Le- grammkinos. Ohne Besucher*innen haben bens angekündigt wurden, bleibt es weiterhin unklar, wann die sie schlichtweg keine Einnahmen, dennoch Kinos ihren Betrieb wieder aufnehmen können. Das Moviemen- fallen Fixkosten an wie Mieten, Kredite und to-Team hofft, dass zumindest im Herbst das jährliche Pornfilmfes- Gehälter für Beschäftigte – die man nicht tival veranstaltet werden kann. Geeint sind alle Teilnehmer*innen entlassen möchte. „Das ist eine Herausfor- der Kampagne in der Überzeugung, dass die Programmkinos bald derung, zumal wir in den Arthouse-Kinos wieder öffnen müssen – auch wenn dann besondere Maßnahmen keine Rücklagen haben“, erklärt Christian wie Maskenpflicht oder Abstandsregelungen vonnöten sind. Betrei- Bräuer, Geschäftsführer der Yorck Kino- ber Christian bringt es auf den Punkt: „Besser jeder zweite Platz ist gruppe, zu der unter anderen das Kino In- besetzt als gar kein Kino.“ Anette Stührmann 38 ENGLISH
Perfume Genius: Set My Heart on Fire Immediately (Matador), out May 15 PHOTO : CAMILLE VIVIER
Boy Wonder
With a voice that remains as intimate as ever, Perfume Genius alias Mike Hadreas will release his fifth albumSet My Heart on Fire Immediately on May 15th. SIEGESSÄULE spoke with the L.A.-based musician about his creative influ- ences and adjusting to a new life on hold
The cover art of Set My Heart on Fire Im- since your first albumLearning. How do mediately brings to mind Patti Smith’s you deal with a creative career intertwin- album Horses and the David Lynch film ing with your love life? We’ve been figuring Eraserhead. Are either of those reference it out as we go along – how to be with someone, points? Yes, both! I’ve been sending that Horses in love, in a sustainable way. Just as I was learn- cover to stylists and photographers for years. It’s ing how to sing and perform in front of people, I never been a direct influence until this album, was dedicating myself to fostering this relation- but I was also thinking of Ripley from Aliens. ship. I’m doing all of this in front of everybody, What I like is that it’s just me because I’m vul- and we’re doing it in front of each other. Alan nerable and confident at the same time. and I have been together for ten years, but for Across the LP, you channel the poise of essentially 24 hours a day, so I feel like it’s been singers like Elvis Presley and Roy Orbison. 20 years. I’m proud of that, but part of it is a real What do these figures mean to you? In all hardship. those classic songs that I had been listening to What was it like to write the music for for a long time, I never felt like I was included in the dance production The Sun Still Burns them. So I included myself. I tried to adopt this Here? From the very beginning, it was created swaggering confidence that still feels foreign to in a room full of people. It gave me the confi- me. I thought, ‘what if I inhabit that, but while dence to write in a 360-degree way, to shake singing about the things that are important to up my routine, and not rely on what I always me and that I want to talk about?’ thought was the magic formula: being alone in The poet Ocean Vuong made a gushing my room. Once touring is okay again, I’ll do a early endorsement of the record. How did tour for the record and then hopefully bring the he hear it? We’d been following each other dance piece to Europe. for a while and connected online. I was hoping Has the coronavirus pandemic affected he could say some things about the record that any other plans? It’s constantly shifting. If we I was unable to because in his writing, he puts have to push the tours, then we push the tours. names on things that I can’t articulate. There’s It’s more important that everybody is taken care such a beautiful cathartic resonance. of in a fundamental way. We’re all in the same www.taxi-berlin.de Your music often explores your relation- boat. I’ll be able to get the music to people. If I ship with your partner Alan Wyffels, who can’t be there in person, I’ll find another way. has also been your musical collaborator Interview: Joey Hansom ENGLISH 39
US-born Michaela Dudley is a trans woman, Juris Doctor, author, translator and performer living and loving in Berlin PHOTO: SARA WILDE Change of heart
Critics of Germany are suddenly singing its praises. All it took was a global pandemic, according to Walter Crasshole PHOTO: ALEXA VACHON
“Now I march to the beat of Daddy Deutschland,” my British friend Megan told me last month. By that point, the effects of the corona- Hour Zero virus pandemic had almost become a normal way of life. Almost. German directness had always annoyed her, but thanks to a quick- The 8th of May, 1945. Celebrated widely as Victory in Europe Day or to-react city government, a competent national leader, and a robust the Day of Liberation, in Germany it was described as the Stunde Null healthcare system, she’s newly converted. Her sudden appreciation or “Hour Zero”. Unfortunately, as with resetting a clock, some used matches that of many other friends, mainly artists and freelancers, Hour Zero to forget critical facts and figures of the preceding years: who received financial support from the 1.6 billion euro emergency somewhere between 70 and 85 million deaths, the extermination of six fund distributed by the Investitionsbank Berlin. As of Easter nearly million Jews, one million Romani, and countless others including homo- 200,000 Berliners, who would otherwise be in dire straits, had re- sexuals, disabled people, political dissenters and slave laborers. ceived up to 9,000 euros in Sofort-Hilfe. It isn’t just keeping them Immediately after the war, Berlin was covered in 75 million cubic afloat, it’s saving their ass. meters of rubble. Thousands of Trümmerfrauen performed the tedious All of this has led to an about-face in how some expats view this task of tidying things up. No less sweeping were the social and political country or at least its current government. One of Berlin’s most vocal reforms implemented by the Allies. Although several top Nazis were American drag queens was “moved” by Merkel’s televised address, hanged in Nuremberg or sent away to Spandau Prison, other ex-party while others proudly posted Guardian pieces about Germany’s low officials and former SS members fell through the cracks. Functioning death rate. An Italian promoter of the queer party at Berlin’s noto- in postwar Germany – East and West – as judges, journalists, teachers riously Antideutsch club about blank gave Germany “points” for its and technicians, they perpetuated the principles of National Socialism. handling of the crisis. All of a sudden, many of my previously critical And many did so while receiving CARE packages from my black aunts friends are absolutely glowing for Germany. They may be a small and grandmothers in the USA, whose black husbands and sons were sample, but like them I also feel safer here. And now is a good time proudly serving as GIs during the Berlin Airlift! Yes, the racism and re- to give credit where it is due. visionism of unchecked Nazis flew under the radar, while Raisin Bomb- Compare that to New York City, which has been devastated by the ers kept them from starving ... virus after becoming the epicenter of the US outbreak. Fearing for In 1961, the year the Berlin Wall was erected, I was born. During my their lives, two lesbian friends high-tailed it out all the way to Georgia youth, the Federal Republic of Germany was praised for its peaceful (the state, not the republic). For Brooklyn-based musician M. Lamar, prosperity. The Beetle from the VW factory was nearly as popular as the this fear was not unwarranted, many of his friends have died. Beatles from Liverpool, and the Bully microbus became the preferred Back here in Berlin, the closest corona has come to me has been vehicle of hippies and flower children around the world. German relief hearing the story of a friend whose terminally ill mother asked her to organizations such as the Welthungerhilfe initiated their own Marshall cancel her flight home, for fear that she might bring the virus with Plans for the needy on a global scale. Progressive environmental move- her. “We’ve got it pretty good here, Crasshole,” my buddy Randy told ments and political parties began flourishing. Nevertheless, despite me on one of our Zoom video calls. My own woes aside, she’s right. these developments and the bloodless reunification of East and West For me and all my friends living here but with roots elsewhere, the Germany, a brown-colored undercurrent has slowly, but steadily grown. chaos in our home countries reminds us to appreciate the unexpect- For nearly a decade, the neo-Nazi terror group NSU murdered immi- ed orderliness of Berlin’s streets. I won’t run around praising Daddy grants with impunity. The far-right AfD is the third largest party in the Deutschland, but I will raise my glass to everyone here making the Bundestag, has 11 seats in the European Parliament and continues to best of a terrible situation. Cheers! Walter Crasshole make inroads at regional and local levels. 75 years after Hour Zero, fas- cism is breathing again and masquerading as a democratic movement of concerned citizens. As I warn in my cabaret program: when dema- gogues embrace democracy, it’s always a strangle hold. English elsewhere SIEGESSÄULE in crisis: p. 3 Your SIEGESSÄULE needs you: p. 8 ***052_053_Klatsch_Programmstart_Programm 22.05.19 18:42 Seite 52
52 KLATSCH 40 KLATSCH
BarryWanda Manilow Sykes
CasterDemi Lovato Semenya LupitaLil Nas Nyong o X