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Reizfigur Klinsmann, Szene aus dem Länderspiel gegen Italien: Alles geht schief Der verfluchte Reformer Niederlagen in Italien, neue Korruptionsvorwürfe und Bundestrainer Jürgen Klinsmann im Zentrum eines Richtungskampfes: Kurz vor Beginn der Weltmeisterschaft herrscht Niedergeschlagenheit statt Aufbruchstimmung – deutscher Fußball spiegelt deutsches Leben. Von Dirk Kurbjuweit

eformer? Nein, sagt er, ein Refor- rade selbst ab. Oder er hat einfach keine wie jemand, der alles versteht, aber das mer sei er nicht. Möchte er Deutsch- Lust auf dieses Gespräch. meiste missbilligt. Rland verändern? Nein, mit ihm habe Er rührt in seinem Espresso. Er sitzt im Das soll ein Sonnyboy sein, ein Mann, das nichts zu tun. Aber Amerika hat ihn Palace-Hotel in München, er guckt auf sei- der in Amerika großes Denken und großen stark beeinflusst? Nein, eher Italien. ne Uhr. Das Gespräch misslingt, es miss- Optimismus gelernt hat? Was ist los mit Eigentlich bleibt jetzt nur noch eine Fra- lingt vollkommen. Jürgen Klinsmann? ge. Ist er Jürgen Klinsmann? Klinsmann gibt sich ganz schlicht, ein Ein wenig erinnert er an Angela Merkel Er sieht so aus, blond, schmal, Anfang Mann, der nur in Ruhe mit seiner Mann- wenn sie ihre schlechten Tage hat, wenn sie 40. Er trägt Jeans und einen Pulli mit schaft arbeiten will, sonst nichts. Alles ist dichtmacht, wenn sie randvoll ist mit Miss- Reißverschluss, an dem er manchmal übertrieben, alles aufgebauscht. Die Ant- trauen. Die beiden Deutschen, die als zupft. worten bleiben knapp. Man brauchte hun- große Reformer angetreten sind, haben im- Drei Fragen, drei knappe Antworten, dert Fragen, um eine Stunde füllen zu mer eine Muschel dabei, in die sie sich die allem Vorwissen widersprechen. Ent- können. zurückziehen können. weder haben sich alle in Klinsmanns Ab- Manchmal guckt er wie ein Junge, der Ihre Lage ist derzeit sehr verschieden. sichten getäuscht. Oder er schafft sich ge- die Welt nicht versteht. Manchmal guckt er Die eine hat bislang wenig getan und sonnt

76 der spiegel 11/2006 FRANCK FIFE / AFP (L.); LORENZ BAADER (R.) sich in ihrer Beliebtheit. Der andere hat stimmung sorgen. Klinsmann war das Ge- bräsiger Konservatismus spiegelte sich an- viel getan und ist gerade der meist- sicht für diese Hoffnung. geblich in der Arbeit von Bundestrainer beschimpfte Deutsche. Am vergangenen Aber seit zwei Wochen geht alles schief. wider. Mittwoch waren sie gemeinsam auf der Erst die Niederlage gegen Italien, dann Nun sind, in der Hysterie vor der WM, Titelseite der „Bild“-Zeitung. Klinsmann verlieren die deutschen Vereine in den Eu- beide Sphären tatsächlich verschmolzen. hatte einen verkniffenen Mund, Merkel ropapokalen, dann kommen neue Skan- Bundespräsident Horst Köhler in seiner strahlte. dale um Spieler und Manager auf (siehe Weihnachtsansprache und Bundeskanzle- „Bild“ ist wichtig in diesem Zusammen- Seiten 90, 92). Deutschland wirkt wieder rin Angela Merkel in ihrer Neujahrsrede hang. Die Zeitung gilt als Indikator für die vergnatzt und mutlos und ein bisschen haben haben betont, wie wichtig das Tur- allgemeine Stimmungslage. Seit dem 1:4 ge- hässlich. Die Weltmeisterschaft, ein Groß- nier für Deutschland ist. gen Italien druckt sie Tag für Tag Schlag- versuch der Deutschen in Fröhlichkeit, Doch es gibt noch einen tieferen Zu- zeilen, die Klinsmann schmähen und ver- droht in Selbstzerfleischung und Miesepe- sammenhang von Politik und Fußball. Es spotten. Er soll sich Rat bei den Frauen- trigkeit zu versinken. geht dabei um das Thema, von dem Klins- Fußballern holen, er soll aufhören, ein In Sorge um das große Ganze haben sich mann beim Gespräch in München nichts „Grinsi-Klinsi“ zu sein. Und es sei „ein Un- Hinterbänkler aus der Politik, etwa Nor- wissen will. Es geht um Reformen. ding und eine Unverschämtheit“, dass er es bert Barthle von der CDU, eingemischt Im Juni 2005 sagte er dem Magazin der sich „unter der Sonne Kaliforniens gut ge- und fordern Klinsmann auf, sich einer Be- „Süddeutschen Zeitung“: „Wir müssen alle hen lässt“. fragung durch Abgeordnete zu stellen. Das Rituale und Gewohnheiten hinterfragen. Ständig werden Leute in Stellung ge- ärgerte den Grünen-Abgeordneten Win- Und zwar andauernd – nicht nur im Fuß- bracht, die Klinsmann rüffeln. Franz fried Hermann: „Wir sind weder die As- ball. Das ist doch nichts Schlimmes. Re- Beckenbauer, der launische Herrscher sistenz der Geschäftsführung des Deut- form ist kein Prozess, der in Episoden statt- über den deutschen Fußball, führt die schen Fußball-Bundes, noch sind wir die findet. Das Reformieren muss zu einem Liste der Ungnädigen an. Damit ist die Ober-Nationaltrainer“, schalt er die Kolle- permanenten Zustand werden – nicht nur Euphorie, die im vergangenen Jahr beim gen. Sie sollten sich nicht zu Handlangern vor der Weltmeisterschaft, auch danach.“ Confederations Cup geherrscht hatte, end- einer „Kampagne“ von „Bild“ machen. Weiter sagte er: „Ein Sieg im nächsten gültig verschwunden. Schon lange wird ein Zusammenhang Jahr böte die Chance, der Welt zu zeigen, Fußball war mal eine Hoffnung für die- von Politik und Fußball behauptet. Der Of- wer wir sind. Wir haben die Möglichkeit, ses Land. Die WM sollte das Bruttosozial- fensivdrang der Nationalmannschaft von Deutschland neu zu definieren: eine Mar- produkt steigern, ein gutes Abschneiden 1972 galt als Ausdruck von Willy Brandts ke, einen ,Brand‘ zu schaffen.“ Das war der Nationalmannschaft für Aufbruch- „mehr Demokratie wagen“. Helmut Kohls sein Anspruch. Er hat ihn beim Gespräch

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ACTIONPICTURES / IMAGO Politikerin Merkel als Ehrengast beim Länderspiel*: Die Lager verschmelzen in München nicht mehr formuliert, er hat Im Fußball wird endgültig nach dem Klinsmann auch eine Geschichte über die ihn verleugnet. Warum? 9. Juli abgerechnet, dem Tag des Endspiels. Reformfähigkeit Deutschlands. Hat er gemerkt, wie schwer es ist, einen Deutschland kann immer noch Weltmeis- Am Tag nach dem 1:4 sitzt Klinsmann im solchen Anspruch in Deutschland in Wirk- ter werden. Aber so wie die letzten Wo- Flugzeug von Pisa nach Frankfurt in der lichkeit zu verwandeln? Denn er hat es ge- chen waren, ist klar, dass es Klinsmann mit ersten Reihe rechts. Er schaut aus dem wagt, so viel ist gewiss. Ähnlich wie Ger- seinen Reformen schwer hat. Er tut sich Fenster, er blickt nicht auf, als Spieler und hard Schröder hat er eine Großreform in schwer, es wird ihm schwer gemacht. Deut- Journalisten in die Maschine strömen. Er Deutschland versucht. Es geht ihm um sches Leben spiegelt sich im deutschen wirkt, als werde er vom Strudel der eige- Tempo und Vernetzung. Fußball. Die Bedeutung dieses Spiels für nen Gedanken in die Tiefe gerissen. Er Er wollte aus einer Nationalmannschaft, dieses Land darf man nicht unterschätzen. kennt schon die Schlagzeilen des Tages in die bei der Europameisterschaft 2004 mit Deshalb ist die Geschichte des Reformers Deutschland. Übel, sehr übel. lahmem Ballgeschiebe untergegangen war, Neben ihm sitzt Theo Zwanziger, der eine Offensivmaschine machen. geschäftsführende Präsident des Deutschen Er wollte eine Struktur aufbauen, in Fußball-Bundes (DFB), er schaut in die an- der die Trainer von Erwachsenen- und dere Richtung. Später erzählt Zwanziger, Jugendmannschaften des DFB eng koope- dass er auf dem Flug gemerkt habe, wie rieren und unabhängig von den lang- nahe Klinsmann die Niederlage gegangen samen Strukturen des Verbands arbeiten sei. Zwanziger gibt Interviews, in denen können. er zu Klinsmann steht. Das gilt, aber es Ein 1:4 klingt nicht nach Offensiv- gilt auch etwas anderes. Das Verhältnis maschine. Ist Klinsmann gescheitert, so zwischen Klinsmann und Zwanziger ist an- wie die Agenda 2010 gescheitert ist? Am gespannt, wenn nicht zerrüttet. Tag der Niederlage meldeten die Zeitun- Als Jürgen Klinsmann im Sommer 2004 gen die neuen Zahlen der Bundesagentur das Amt des Bundestrainers übernahm, für Arbeit: Wieder gibt es mehr als fünf wollte er nicht nur mit der deutschen Millionen Arbeitslose in Deutschland. Mannschaft Weltmeister werden. Er woll- Es stellt sich einmal mehr die Frage, war- te auch den DFB verändern. „Im Prinzip um dieses Land sich so schwer tut mit sei- muss man den ganzen Laden auseinan- nen Reformen. Woran liegt es? An den Ak- dernehmen“, sagte er. teuren? An den Systemen? An der deut- Er warf ein paar Leute raus und ersetz- schen Mentalität? te sie durch Vertraute, machte Oliver Bier- hoff zum Manager der Nationalmannschaft * Am 8. Juni 2005 in Mönchengladbach gegen Russland. JORGE UZON / DPA JORGE UZON sowie Joachim Löw zum Assistenztrainer. Neben Merkel sitzen DFB-Funktionär Horst R. Schmidt, Innenminister Otto Schily und DFB-Präsident Gerhard Fußballfreund Schröder Er wagte einen ersten Tabubruch, indem er Mayer-Vorfelder. Auch so ein Großreformer nicht einen Deutschen zum Chefscout

78 der spiegel 11/2006 ATTA KENARE / AFP Trainer Klinsmann beim Länderspiel gegen Iran (in Teheran 2004): Unter ständiger Beobachtung machte, sondern einen Schweizer. Er heu- kleinen Bällen spielt. Hockey heißt der verschränkten Armen da. Er erlebt eine erte einen amerikanischen Fitnesstrainer Sport. schwere Demütigung. Das Reformprojekt an, Mark Verstegen, der bald belächelt Es ging um einen zentralen Punkt ihrer war gestoppt, der DFB zeigte Klinsmann wurde, weil er die Spieler Gummitwist ma- Reform, um die Vernetzung. Der Sportdi- und seinen Leuten die Grenzen. chen ließ. Aber den Spielern hat das Spaß rektor koordiniert die Arbeit von Erwach- Theo Zwanziger ist ein quirliger, leutse- gemacht, und neue Ideen sind bitter nötig, senen- und Jugendtrainern des DFB. Peters liger Mann, der einen Raum sofort belebt, denn die Deutschen, einst unermüdliche sollte eine gemeinsame Philosophie für alle als sei eine ganze Gruppe von Leuten ein- Rackerer, waren in den vergangenen Jah- Mannschaften durchsetzen. Peters war der getroffen. Er redet schnell und viel. Das ren bei den Fitnesswerten zurückgefallen. Gipfel der Unabhängigkeit. Er war in kei- Gespräch mit ihm, in der Bibliothek des Der DFB trug all diese Änderungen mit. ne Tradition, keine Struktur des DFB ein- DFB, hat zwei Teile. Im ersten Teil rühmt Theo Zwanziger trug sogar mit, dass Jür- gebunden. Er hätte ganz neue Ideen vor- Zwanziger den Bundestrainer. Er möchte bringen können, revolu- ihn über die WM hinaus verpflichten. tionäre Ideen. Der zweite Teile beginnt mit der Frage, „WIR SIND EIN DEMOKRATISCHER VERBAND. Zwanziger rief das Präsi- warum er Klinsmann nicht einfach sein Re- WIR BRAUCHEN KEINE REVOLUTION.“ dium des DFB zu einer formprojekt durchziehen lässt. außerordentlichen Sitzung „Es gibt unseren Verband über 100 Jah- gen Klinsmann die gemeinsamen Abend- zusammen, 14 Männer, fast alle alt, die re“, sagt Zwanziger, „er muss nicht refor- essen von Mannschaft und Delegation ab- früher mal Fußball gespielt haben. Danach miert werden in einer Weise, die alles auf schaffte. Für die Herren vom Verband wa- gab es eine Pressekonferenz. den Kopf stellt. Wir sind ein demokrati- ren diese Essen immer das Schönste, für Die Zentrale des deutschen Fußballs liegt scher Verband, wir sind jederzeit offen für die Spieler das Schlimmste. Nach dem Des- in der Otto-Fleck-Schneise in Frankfurt. Innovationen, wir brauchen aber keine Re- sert ließen sie die Löffel fallen und ver- Auf dem Parkplatz davor stehen Schilder volution.“ schwanden auf ihren Zimmern. Jetzt es- mit den Namen der Wichtigen, damit ihnen Er sagt, ein Mann wie Sammer finde so- sen die Spieler allein und plaudern. niemand den Parkplatz wegnimmt. Sie wol- fort Akzeptanz bei den über 1200 Trainern Es gibt keine Reformen ohne Verlierer, len ihre Autos immer und ohne Verzug an des Verbandes. Peters müsse sich das erst ohne Leute, die Privilegien einbüßen. denselben Ort stellen können. Vor Kreis- erarbeiten. Zwanziger findet, die gesamte Klinsmann machte die Nationalmannschaft sparkassen sieht man ähnliche Schilder. bisherige Trainerarbeit des DFB würde in mehr und mehr zu einer eigenen Welt in- Klinsmann reiste vor der Pressekonfe- Zweifel gezogen, wenn ein Hockeytrainer nerhalb des DFB. Er schuf Unabhängig- renz ab. Bierhoff vertrat ihn. Sportdirektor würde. Er verteidigt das Alte keit, löste seine Welt von den langsamen Auf der Pressekonferenz verkündete gegen etwas allzu Neues. Strukturen des Verbandes. Theo Zwanziger, dass nicht Peters Sport- „Was haben wir in der Vergangenheit Anfang Februar schlugen Klinsmann direktor wird, sondern Matthias Sammer, gemacht?“, fragt er: „War das alles falsch?“ und Bierhoff vor, Bernhard Peters solle der mit Bierhoff und Klinsmann 1996 Eu- „Ein bisschen Selbstvertrauen haben wir Sportdirektor beim DFB werden. Peters ist ropameister wurde, aber nicht gerade als auch“, sagt Zwanziger. Das Präsidiums- Trainer einer Nationalmannschaft, die mit Freund der beiden gilt. Bierhoff saß mit mitglied Karl Schmidt, 74 Jahre alt, sei

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„früher auch Nationalspieler“ gewesen den Ball 90 Minuten lang mal hierhin und mit E-Mails, mit Powerpoint. Fußball soll und komme „aus dem Umfeld von Fritz mal dorthin kullern ließen. sein wie Business, nicht wie Verband. Walter in Kaiserslautern“. Bierhoff glaubt nicht an diese Götter. Als Klinsmann und Bierhoff das Aufge- Dieser Name musste fallen. Im deutschen Zwar weiß er, dass er es im Fußball mit ei- bot für das Spiel gegen Italien verkünden, Fußball herrscht eine Fritz-Walter-Haftig- nem komplexen System zu tun hat, dass lädt der DFB die Presse in das Vereinsheim keit, gegen die Klinsmann seit zwei Jahren man Spiele nicht durchplanen kann. Aber der SG Bornheim/Grün-Weiß. Es ist dieser anrennt. Fritz Walter war ein Segen für den Klinsmann, Löw und er sind wie Inge- typische Flachbau voller Wimpel und Po- deutschen Fußball in den fünfziger Jahren, nieure, die versuchen, eine Mechanik so zu kale, mit Theke und mit Bildern vom Weih- aber er strahlt so sehr, dass sich, stehen Än- entwickeln, dass der Raum für Zufälle nachtsball an der Wand. Eine dicke Frau derungen an, immer noch mancher fragt, ob klein bleibt. hat sich „Super Mami“ auf ihre Trainings- Fritz Walter einverstanden wäre. Bierhoffs Büro ist in Starnberg. Er jacke gestickt. Es ist ein Milieu, das sich Ein Problem für alle Reformer hierzu- kommt in das Zimmer seiner Sekretärin, er seit 50 Jahren nicht verändert hat, es ist lande ist, dass die Bundesrepublik natur- hat ein Manuskript in der Hand und liebenswert und schrecklich zugleich. Es ist gemäß junge Gründungsmythen hat, jung spricht Änderungen mit ihr durch. Es ist die Basis des deutschen Fußballs. Die Basis

UMFRAGE: KLINSMANN

„Fußball-WM-Organisator Franz Beckenbauer und einige Politiker sind zu Bundestrainer Jürgen Klinsmann auf Distanz gegangen. Was meinen Sie: Ist Jürgen Klinsmann noch der richtige Trainer für die deutsche Nationalmannschaft bei der WM?“

JA 52 %

NEIN 22 %

TNS Infratest für den SPIEGEL vom 7. bis 9. März; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/ keine Angabe LORENZ BAADER LORENZ DFB-Spitzen Mayer-Vorfelder, Zwanziger: Erhebliche Störungen und deshalb sehr lebendig. Sie stammen seltsam, ihn so zu sehen. Man sieht immer ist immer gut im Bewahren, Schröder kennt aus den Nachkriegsjahren, als zwölf Jahre noch die kurzen Hosen und wie er eksta- das von den Ortsvereinen der SPD. Hitler überwunden werden mussten. Im tisch das Golden Goal gegen Tschechien Die Super Mami hat einen gewissen Ein- Fußball ist es das Wunder von Bern, ver- feiert. Jetzt ist er sehr modisch angezogen, fluss auf Klinsmanns Arbeit, durch die De- körpert durch Fritz Walter und Sepp Her- sehr elegant. Er ist wohlfrisiert und ge- mokratie und weil Theo Zwanziger, wie er berger. Nach dem Sieg bei der WM 1954 pflegt. Er sieht nicht nach Fußball aus. im Gespräch betont, immer mitdenkt, was trauten sich die Deutschen wieder, selbst- Der Sessel in seinem Büro hat die Form die Ehrenamtlichen wollen, was ihnen zu- bewusst zu sein. eines Baseball-Handschuhs. An der Wand zumuten ist. Ein Hockeytrainer als Sport- In der Politik ist einer der Gründungs- hängt ein Kalender mit vielen farbigen direktor gehört nicht dazu. mythen der Sozialstaat, der den wachsen- Feldern. Das letzte farbige Feld ist am Zwanziger hat auch nach dem Debakel den Wohlstand gleichmäßig verteilt hat 9. Juli, danach kommt nichts mehr, Ende gegen Italien keinen Zweifel gelassen, dass und eine Versicherung gegen einen neuen der Zeitrechnung. Alles weiß, große Leere. er zu seinem Bundestrainer Klinsmann Hitler war. Geschichte ist eine starke Er sagt, dass „die Italiener Fußball gera- steht. Öffentlich redet man freundlich Macht in Deutschland. dezu programmieren“. Fabio Capello, der übereinander. Doch wie in der Politik auch ehemalige Trainer des AC gab es in jedem Gespräch für diese Ge- Mailand habe eine Art Ma- schichte einen gesperrten Bereich, Sätze, BIERHOFFS SEKRETÄRIN KOMMT HEREIN UND nagementlehre in den Un- die man nicht zitieren darf. Wenn man den SAGT: „CONFERENCE CALL IN DREI MINUTEN.“ ternehmen von Berlusconi Eindruck aus all diesen Sperrzonen zu- absolviert. Brasiliens Trai- sammenfasst, dann muss man von einer spürt das, wenn er Funk- ner Carlos Alberto Parreira plane minu- erheblichen Störung im Verhältnis von tionären die neuen Konzepte erklärt. Es geht tiös. „Wenn wir die Methoden nicht än- Trainerstab und DFB sprechen. da viel um Planung, um Differenzierung, dern, werden wir überrannt“, sagt Bier- Manchmal wird sie sogar sichtbar. Der um bewusstes Handeln. Irgendwann winke hoff. „Im Training Hütchen aufstellen und DFB und Klinsmann treffen immer dann dann immer jemand ab und sage: „Ein Spiel sich fragen, was machen wir denn heute, öffentlich aufeinander, wenn es eine Pres- dauert 90 Minuten.“ Bierhoff macht das geht nicht mehr. Man kann 25 Spieler nicht sekonferenz gibt. Die wird jedes Mal von wahnsinnig. Es ist eine dieser zopfigen, gleich behandeln, denn sie sind nicht gleich. Harald Stenger geleitet, dem Pressechef unsterblichen Sepp-Herberger-Weisheiten. Jeder braucht eine individuelle Förderung.“ des DFB. Er ist ein hilfsbereiter, hessisch- „Der Ball ist rund“, ist eine weitere. Es sind Seine Sekretärin kommt herein und sagt: knorriger Mensch, schon phänotypisch Sätze aus der Zeit eines Fußball-Fatalismus. „Conference Call in drei Minuten.“ Das ist gehört er nicht zu Klinsmanns fixen Jungs. Man bereitete sich durchaus vor, „denn nach die Telefonschalte mit Klinsmann, Löw und Aus dessen Sicht zählt er zum DFB-Lager. dem Spiel ist vor dem Spiel“, aber eigentlich Andreas Köpke, dem Torwarttrainer. Sie Auf den Pressekonferenzen rund um das entschieden die Götter, indem sie den run- verwenden gern diese Sprache, sie arbeiten Spiel gegen Italien ließ Klinsmann keine Ge-

80 der spiegel 11/2006 Klinsmann hat das Ziel, den DFB um- zukrempeln, fürs Erste aufgegeben. Er konzentriert sich auf die Mannschaft und das Ziel, die Weltmeisterschaft zu gewin- nen. Er hat dem deutschen Fußball Offen- sive verordnet. Dafür gibt es ein System und eine Taktik. Das System heißt 4-4-2. Es gibt eine Vie- rerkette in der Abwehr und eine Vierer- kette oder Raute im Mittelfeld sowie zwei Stürmer. Die Taktik ist schnelle Offensive. Die Verteidigung rückt weit vor, der Geg- ner wird früh unter Druck gesetzt. Ge- winnt man den Ball, wird sofort auf Angriff umgeschaltet. Gegen Italien führte diese Taktik in die Katastrophe. Nach Ballverlusten im Mit- telfeld wurde die aufgerückte Verteidigung überlaufen. Gibt es nun Zweifel an System und Tak- tik? „Nee, Zweifel habe ich in keinster Weise“, sagt Joachim Löw, der Assistent von Klinsmann, der für die sportlichen De- tails zuständig ist. Er sitzt in der Lobby des Hilton in Düsseldorf, es ist der Mon- tag der vergangenen Woche. Sven-Göran Eriksson schlendert vorbei, der Trainer der Engländer, und da hinten steht Parreira, der Trainer der Brasilianer. Dies ist ein Workshop des Fußball-Weltverbandes Fifa mit den Trainern der WM-Teilnehmer. Draußen stand eben Oliver Bierhoff und sagte in einen Strauß Mikrofone, warum es nicht nötig sei, dass Klinsmann teilnehme. Es wurde ziemlich aggressiv gefragt. Klins- mann ist längst wieder in Kalifornien. Ein paar Tage später wird Bierhoff sagen, dass es ein Fehler war. Es war immer Teil des Vertrages zwischen Klinsmann und dem DFB, dass er in Kalifornien leben darf. Das funktioniert, wenn das Team siegt. Seit dem Spiel gegen Italien funktioniert es nicht mehr. Klinsmann müsste nun an- wesend sein, für die Öffentlichkeit, für die Spieler. Doch er weigert sich. Das ist der trotzige Klinsmann, der nicht auf seine Fluchtburg verzichten will. Zwanziger will in dieser Woche mit ihm darüber reden, Klinsmann kommt zwei Tage früher zu- rück als geplant. Im Hilton in Düsseldorf ging es auch ums richtige Spiel. Löw sagte, dass Deutschland als Gastgeber nur Heimspiele habe. Die Mannschaft könne nicht auf Konter lauern,

PETER KNEFFEL / PICTURE ALLIANCE/ DPA ALLIANCE/ PETER KNEFFEL / PICTURE das täten schon die anderen. Erneuerer Klinsmann bei der Trainingsarbeit: Yoga für Anfänger Aber hat er die Leute, mit denen er 90 Minuten lang Druck machen kann? Als er legenheit aus, Stenger einen Seitenhieb zu Es ist der gestutzte Reformer, der da kürzlich Klinsmann im Münchner Palace- verpassen. Als er italienischen Journalisten mäkelt. Das Schicksal des Reformers ist Hotel abholte, nach dem missglückten In- in fließendem Italienisch antwortete, ver- die Beschädigung. Irgendwann wird er terview, sahen sie sich das Spiel Bayern langten die deutschen Kollegen eine Über- zurückgepfiffen, weil er gegen deutsche gegen Mailand an. Zwei Deutsche standen setzung. „Das machst du jetzt, Harald“, sag- Geschichtlichkeit verstößt, traditionelle auf dem Platz, und Philipp te Klinsmann, der weiß, dass Stenger nicht Milieus verstört, weil er Privilegien be- Lahm. war verletzt, die Na- Italienisch spricht. Als Stenger Turin und schneidet, Verlierer erzeugt. tionalspieler Bastian Schweinsteiger und Florenz verwechselt, korrigiert Klinsmann Es gibt aus all diesen Gründen keinen saßen auf der Bank. So das süffisant. Er wirkt in diesen Momenten Mut zur Radikalität bei jenen, die eine Re- geht es dem Bundestrainer und seinem As- sehr kleinlich, sehr bissig, wie einer, dessen form billigen müssen. So wird die Ver- sistenten oft. Wut durch kleinste Kanäle gepresst wird, stümmelung zum Schicksal jedes Pro- Das Problem des Fußballs ist das Pro- damit wenigstens ein bisschen heraus kann. jekts. blem der Politik: die Globalisierung. Die

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Auch als Fachmann war der bekannte Deutsche schnell respektiert, weil er dem Team einfühlsam die Defizite aufzei- „Sprungbrett zurück“ gen kann: „Unser Spiel ist zu langsam. Warum? Weil wir uns zu wenig be- Lothar Matthäus, derzeit Coach in Brasilien, wird schon als wegen.“ Doch in der Heimat blieb ihm die Schattenbundestrainer gehandelt. große Anerkennung in seiner Trainer- laufbahn bisher versagt. Beim Deutschen or dem Training hat der deutsche zu wissen. „Guter Fußballer. Aber ein Fußball-Bund (DFB) hatte Matthäus Für- Coach zur Mannschaftssitzung ge- Weichei.“ sprecher, als nach der Europameister- Vbeten. In den Vitrinen blitzen die Er kann sehr gebieterisch sein als Trai- schaft 2004 der Nationaltrainerposten neu Pokale, der Trainer spricht schnell, der ner, prinzipiell hält er seine neuen Schüler besetzt werden musste. Aber die konnten Dolmetscher schwitzt. Die brasilianischen für schwer von Begriff. „Wenn man ih- sich nicht durchsetzen. Jetzt, da Jürgen Profis auf ihren Klappsitzen haben die nen eine Aufgabe gibt, die sie nicht ken- Klinsmann unter Beschuss geraten ist, Fußballschuhe schon geschnürt. Einer nen, dauert es ein wenig länger“, meint wird „der Lothar“ schon wieder als Schattenbundestrainer gehandelt für die Zeit nach der WM. Er hätte Chancen, wenn der DFB den emeritierten Meistercoach Ottmar Hitz- feld nicht ein zweites Mal nach 2004 fra- gen will. Und wenn die Verbandsführung dem mächtigen Teil des Boulevards wi- derstehen kann, der sicher Christoph Daum in Stellung bringen wird. Daum konnte 2001 das Amt wegen sei- ner Kokain-Affäre nicht antreten, dürfte aber jetzt auf den Beistand des neuen Sportdirektors Matthias Sammer bauen, seines Schülers und Bewunderers. Matthäus, einst Liebling der „Bild“- Zeitung, könnte der Hilfe seines Men- tors Franz Beckenbauer sicher sein. Der gewann 1990 als Teamchef mit Mann- schaftskapitän Matthäus die Weltmeis- terschaft. „Irgendwann“ will der Herzo- genauracher das Erbe des „Kaisers“,

RALF HIRSCHBERGER / PICTURE ALLIANCE/ DPA ALLIANCE/ / PICTURE HIRSCHBERGER RALF seines Vorbilds, antreten. „Ich war ja Trainer Matthäus in Curitiba: „Germanische Strenge“ schon 20 Jahre als Spieler mit der Natio- nalmannschaft verheiratet.“ Doch ist er döst eher abwesend. „Wenn ich spreche, der fränkische Hausmeistersohn, der aus- sich nicht sicher, ob „die Verantwort- schaust du mich an!“, schnaubt Lothar zog, ein Weltstar zu werden. Das moder- lichen mit meiner Person klarkommen“. Matthäus, der Mann am Pult. ne Verschieben der Mannschaftsteile, das Vielen ist er nicht ganz geheuer. Sein Dann erkundigt er sich nach dem Be- Decken in Zonen – Matthäus hat dafür ei- früherer Fußballlehrer Jupp Heynckes finden seines Klassenbesten, des Stür- nen analytischen Scharfsinn entwickelt nannte ihn „zu sprunghaft“ und „voller merstars Dagoberto. Nur eine leichte und tippt sich an die Stirn. „Hier oben Ungeduld“. Und als Matthäus im Herbst Verletzung, sagt der Mannschaftsarzt. musst du sie schulen.“ beim 1. FC Nürnberg im Gespräch war, „Und wo ist Dagoberto jetzt?“, fragt Trai- Curitiba, die Hauptstadt des Bundes- warnten protestierende Fans vor einer ner Matthäus streng. Bei der Behandlung. staates Paraná, ist seine vierte Trainer- „Katastrophe für den Club“. „Wenn Besprechung ist, hat jeder hier zu station. Der vierte Ver- sein.“ such, dorthin zurück- Die Botschaft ist deutlich. Matthäus, zukehren, wo er als „ICH WAR JA SCHON ALS SPIELER 20 JAHRE MIT 44, ist zu Atlético Paranaense gekommen, Spieler war: an die DER NATIONALMANNSCHAFT VERHEIRATET.“ um die leichtlebigen Ballkünstler des bra- Weltspitze, auf die gro- silianischen Erstligisten Disziplin zu leh- ße Bühne. Nach Fußballdeutschland am Oft hat der Hitzkopf die Konfrontation ren. Er soll „germanische Strenge in den liebsten. Curitiba, die fremde Stadt mit gesucht, wo es nichts zu gewinnen gab, Verein bringen“, sagt der geschäftsfüh- der fremden Sprache, bilanziert er nach selbst gegen den großen FC Bayern Mün- rende Präsident João Augusto Fleury, im sechs Wochen, könne „ein Sprungbrett chen im Streit um die Einnahmen seines Hauptberuf Staatsanwalt. zurück sein“. Abschiedsspiels. Dabei wollte er bei je- Von einem Wall, der das Spielfeld be- Sicher, der Weltmeister, deutsche Re- dem Konflikt nichts sehnlicher, als sich grenzt, hat der Übungsleiter den besten kordnationalspieler, einstige Weltfuß- schnell wieder zu vertragen. „Die Leute Blick auf das Trainingsmatch. Der Stür- baller ist bei Atlético die Attraktion der sagen: Matthäus sucht Probleme. Aber ich mer Fabrício wälzt sich nach einer Kolli- Mannschaft. „Wir müssen in unsere Mar- bin ein Mensch, der nach Harmonie ruft.“ sion im Gras, das Gesicht schmerzver- ke investieren“, hatte der schwerreiche Es klingt wie eine Bewerbung, wenn er zerrt. „Der hat nichts“, meint Matthäus Clubchef Mário Celso Petraglia befohlen. zu verstehen gibt, dass er „die Spielsys-

82 der spiegel 11/2006 Vereine verpflichten gern ausländische Spieler, die weniger kosten oder mehr brin- teme aller Bundesligaclubs“ kennt. Die Ein Trainer, der im Auftrag seines gen. Zudem fehlt den Deutschen im Spit- Frage ist, wie gut er als Trainer ist. Bei Ra- Clubs sein Team durch Spielerverkäufe zenbereich fast vollständig die Generation pid Wien rief ihm der Präsident hinterher, schwächen muss, lebt nicht seinen Traum. der Leistungsträger, der 25- bis 32-Jähri- eine „klare Fehlinvestition“ gewesen zu So sieht Matthäus die Etappe „Furacão“ gen. Hier wurde jahrelang Jugendarbeit sein. In Serbien führte Matthäus Partizan (Wirbelsturm), wie Atlético genannt wird, versäumt. Belgrad in die Champions League, aber als „Zwischenstation und Lernphase“. Auf die Frage, welche Mannschaft so dann gab es Meinungsverschiedenheiten Der Vertrag läuft bis Jahresende, Mat- spielt, wie auch die Deutschen spielen sol- über die Verwendung der Einnahmen. Als thäus wirkt einsam. Seine serbische Frau, len, nennt Löw erst Chelsea, dann Barcelo- Nationaltrainer Ungarns wurde er vom mit der er englisch spricht, lebt weiter in na, die besten Mannschaften der Welt. Verbandspräsidenten protegiert, aber vom Budapest, wo sie ein Modegeschäft führt. „Barcelona hat eine schnelle Ballzirkula- Ligachef bekämpft. Dann wurde der Ver- Ohne Portugiesisch zu verstehen, frem- tion, dann spielen sie blitzartig in die Tiefe.“ bandspräsident gekippt. Jetzt spricht Mat- delt er in der aufgeräumten 1,6-Millio- Die das machen, heißen Ronaldinho, Deco, thäus, wenn er seine Erfolge dort rekapi- nen-Einwohner-Stadt, die er eine Spur Messi, schnelle, technisch geniale Spieler. tuliert, oft von dem Mannschaftsbus, den zu weltmännisch mit „Soho“ oder „dem Es gibt keinen Deco, keinen Ronaldinho er anschaffen ließ. Meatpacking District“ in Manhattan ver- in Deutschland. Aber Klinsmann glaubt an In Curitiba weiß er wenigstens, was gleicht. In Curitiba, klagt der frühere Pro- Arbeit, an Willen. Als Spieler galt er als un- man von ihm erwartet. Brasilien ist Ex- portweltmeister im Fußball, Matthäus kennt die Zahlen: 5000 Brasilianer spie- len schon in fremden Ligen, allein im ver- gangenen Jahr wurden 804 ins Ausland verkauft. Atlético stieg 1997 mit dem Transfer des Stürmers Paulo Rink zu Bayer Leverkusen in den lukrativen Spie- lerhandel ein, der Erlös wurde ins Club- gelände investiert. Jetzt hat der Landes- meister von 2001 das modernste Stadion Brasiliens. Auf dem Trainingsgelände in Sítio Cercado stehen acht Rasenplätze zur Verfügung, der Club betreibt 31 Fuß- ballschulen, eine davon in China. Die Neuverpflichtung aus Deutschland, der erste Europäer im Traineramt eines brasilianischen Erstligaclubs, muss für fri- sche Einnahmen sorgen. Matthäus soll das Geschäft ankurbeln, indem er die Ware für den europäischen Markt trimmt. „Da-

mit die Spieler keine Anpassungsschwie- BAADER LORENZ rigkeiten im Ausland haben“, ahnt er. Teamchef Beckenbauer, Kapitän Matthäus (1988): Das Erbe des Kaisers Nur hält er die zu Bekehrenden für schwer erziehbar: „Wenn ich die Spieler fi der New York MetroStars verzweifelt, tertalentiert, lief über den Platz wie ein rufe, bindet der Erste noch mal seine „wollen die Leute im Restaurant mit mir Storch auf der Flucht und wurde bei Bay- Schuhe, der Nächste trinkt noch einen sprechen, aber es geht nicht“. ern München „Flipper“ genannt, weil ihm Schluck Wasser.“ Selbst seinem brasilia- Er mag es, dass auf Auswärtsfahrten im die Bälle nur so von den Füßen hüpften. nischen Dolmetscher mit deutsch-öster- Hotel immer schon die Zimmerschlüssel Aber er war Weltmeister 1990, Europa- reichischen Vorfahren musste er erst klar an der Rezeption bereitliegen („Man muss meister 1996, war Fußballer des Jahres in machen, dass während der Übungsein- nichts unterschreiben“). Aber er wartet Deutschland und in England. Er hat ständig heiten nicht geraucht wird. auf bessere Launen des Schicksals. Ganz an sich gearbeitet und fanatisch gewollt. In seinem Trainerzimmer, in dem bestimmt muss er seinen Hang zu chole- Es ist ein Grundgesetz für Reformen, neben dem Nassrasierer sein Sonnen- rischen Eruptionen zügeln, der ihn am dass man Systeme nur erfolgreich ändern schutzmittel mit Faktor 30 steht, hat Mat- Spielfeldrand schon an die Grenze zur kann, wenn man Menschen verändert. thäus eine Liste mit 27 Spielernamen. Die Handgreiflichkeit führte. Jetzt droht ihm Klinsmann hat das verstanden. Er will bei rot markierten sind jugendliche Ergän- eine 30-tägige Sperre wegen Schiedsrich- seinen untertalentierten Spielern die Köp- zungsspieler, die Farbe Blau bedeutet: terbeleidigung. Dass er einen Unpartei- fe öffnen, will ihnen Glauben an sich und Verkaufen! ischen „arrogant“ nannte, „dazu stehe den Erfolg geben. Er und Bierhoff emp- Der Primat der Transferpolitik sorgt ich“, sagt er, argwöhnt jedoch: „Man will fehlen ihnen Bücher, in denen Leute be- für sonderbare Geldflüsse. Die interna- mir nichts Gutes.“ schreiben, was stark macht. Er lädt sie ein, tionale Spieleragentur Stellar, deren Vielleicht muss er auch härter werden per E-Mail über diese Bücher zu diskutie- Deutschland-Vertreter den berühmten – wie der Ex-Teamgefährte Klinsmann, ren. Es kommt nicht viel zurück, seine Coach nach Brasilien vermittelte, zahlt dessen Unerbittlichkeit er bewundert und Jungs sitzen lieber an der Playstation. Der einen Teil des Trainergehalts. Diese In- der einst in München seine Absetzung Mensch ändert sich nur langsam, wenn vestition verbessere den Zugang zum bra- als Mannschaftskapitän betrieb. „Dieses überhaupt. Auch das ist ein Grundgesetz silianischen Spielermarkt, erläutert ein Killen“, sagt Matthäus, „das kann ich für Reformen. Agent. Drei Profis aus Matthäus’ Team nicht. Da steckt zu viel Menschlichkeit Und noch eines, im Fußball gültig wie in hat die Agentur schon unter Vertrag. in mir.“ Jens Glüsing, Jörg Kramer der Politik: Die Verlierer bestimmen die Stimmung. Als Klinsmann den Innenver- teidiger Christian Wörns von Borussia

der spiegel 11/2006 83 trainierbar. Ein Präsident von Tottenham hat gesagt, mit dem Trikot von Klinsmann würde er nicht einmal sein Auto waschen. Seine Karriere durchzogen seltsame Wi- dersprüche. Nicht nur, dass er wenig Talent hatte und viel Erfolg. Er galt als Freak, so frei im Kopf, dass er einen Käfer fahren konnte, obwohl die Kollegen in Porsches vorfuhren. Andererseits galt er als Ab- zocker, weil er sich für sehr viel Geld an- heuern ließ und schnell wieder weg war. Er galt als distanziert, kühl, unnahbar. Aber auf dem Platz war er leidenschaftlich wie kaum ein anderer. Er hat unbändig ge- jubelt, geweint, und als er einmal zornig war, trat er ein Loch in eine Werbetonne am Spielfeldrand. Weil er heftig schwäbelte und dauernd „die wo“ sagte, war man leicht geneigt,

EWA MARTENS EWA ihn für schlicht zu halten. Dann lieferte er Ex-Profi Klinsmann in Kalifornien: Käfer statt Porsche 1996 bei der Europameisterschaft in Eng- land Pressekonferenzen auf Englisch ab, Dortmund nicht für das Spiel gegen Italien fried, der die Bäckerei gegründet hat, ist und ohne Schwäbeln und „die wo“ wurde aufstellte, nannte der ihn „link und un- vor einem Jahr gestorben. Jürgen Klins- plötzlich Klugheit erkennbar. ehrlich“. Sofort fand Wörns breites Echo in mann hat in diesem Haus gelebt, hier hat Bei der WM 1998 in Frankreich hatten den Medien. Er war die Story. Er be- er eine Bäckerlehre gemacht. ein paar Journalisten ein Haus in Saint- stimmte die Grundstimmung, und die war Niemand hat ihn so beeinflusst wie sein Paul de Vence gemietet, über den Ber- nun schlecht. Ein Motzkopf macht schon Vater. Siegfried Klinsmann, erzählt Roland gen von Nizza. Im selben Ort wohnte eine Krise. Eitel, ein Freund und Berater des Bundes- die deutsche Nationalmannschaft, und Die nächste wartet schon. Eines Tages trainers, hat streng unterschieden zwischen manchmal kamen Spieler auf ein Ge- wird sich Klinsmann für einen Torwart ent- innen und außen. Innen, das war die Fa- spräch vorbei. Einer von ihnen war Jür- scheiden müssen, Oliver Kahn oder Jens milie. Außen, das war der Rest. Nach innen gen Klinsmann. Lehmann. Es wird einen Verlierer geben, herrschte Innigkeit und Vertrauen, nach Er spielte damals sein letztes Turnier, und der, nicht der Gewinner, wird wieder außen Zurückhaltung, auch Misstrauen. stand am Ende seiner Karriere. Er war ein die Stimmung bestimmen. Schon jetzt Jürgen Klinsmann hat das übernommen. vollkommen anderer Typ als die anderen, droht Beckenbauer. Sein Innen, das sind vor allem Frau und als Christian Wörns etwa, mit dem er heu- So steht der, der anderen etwas zumutet, Kinder in Kalifornien. Dorthin muss er im- te Probleme hat. Wörns sprach über Fuß- immer als umstritten da, als eine Figur, die mer wieder zurück, weil er zu viel Außen ball, sonst nichts. Klinsmann tat etwas, was Hass auf sich zieht. Das macht es auch den nicht aushält. Fußballstars eigentlich nicht tun. Er stellte anderen schwer, sich ganz auf seine Seite Wenn man ihn länger beobachtet, sieht Fragen. Es war, als wollte er sich nach Le- zu schlagen. Man zweifelt an ihm, weil die man immer wieder Phasen, in denen er bensformen erkundigen, als sei er auf der Stimmung ja schlecht ist. Je mehr einer verschwindet, nicht gleich über den At- Suche nach einem Leben, das nicht auto- lantik, sondern in die inne- matisch auf der Trainerbank endet. Nach re Bäckerei. Im Vereins- 16 erfolgreichen Jahren als Fußballprofi ALS SPIELER HATTE ER WENIG TALENT UND heim in Bornheim ist er wirkte er unabhängig vom Fußballbetrieb. VIEL ERFOLG. ER WAR EIN FREAK. von einem Riesentrubel Das gibt es nicht oft. umgeben, Kinder, die ihn Nach der WM ging er mit seiner ameri- verändert, desto mehr wird er zum Außen- nach Autogrammen bestürmen, Journa- kanischen Frau nach Huntington Beach in seiter. listen, Vereinsmenschen. Er macht das Kalifornien. Er lernte Spanisch, machte Allerdings kennt Klinsmann diese Rolle eine Weile mit, dann lehnt er sich an eine EDV-Kurse und schloss sich der Firma schon lange. Er ist nur deshalb in der Lage, Fensterbank und beendet seine Anwesen- Soccersolutions von Mick Hoban und das deutsche Fußballmilieu aufzumischen, heit. Sein Gesicht verschließt sich, der Warren Mersereau an. Gemeinsam ent- weil er sich früh davon gelöst hat. Blick geht nach innen. Niemand spricht wickelten sie Konzepte für Fußballvereine Der Ursprung von dem, was Deutsch- ihn an. oder Ausrüster. Es war Klinsmann dann land gerade mit seinem Bundestrainer er- Klinsmann hat sich als Profi nie der Fuß- doch nichts anderes eingefallen als ein lebt, liegt in Stuttgart-Botnang in der El- ballwelt angeschlossen. Als er bei den weiteres Fußballleben. 2004 wurde er Bun- tinger Straße. Hier ist eine Bäckerei und Stuttgarter Kickers spielte, schwor er, nie- destrainer. Konditorei, die den Namen Klinsmann mals zum Lokalrivalen VfB Stuttgart zu Es ist eine Eigenart Klinsmanns und ein trägt. Über der Tür hängt eine goldene gehen. Er ging bald. Er schwor auch, nie zu weiterer Widerspruch, dass er, der sich Brezel. Bayern München zu gehen. Von 1995 bis gern entfernt, doch immer nur zu Hause Der Laden ist mit Holz verkleidet und 1997 war er dort. Die Schwüre entsprangen ankommt. In Kalifornien hört er SWR 3 karg eingerichtet. Es herrscht reine Zweck- den Vorstellungen seiner Umgebung. Er und weiß deshalb jederzeit, wo es einen mäßigkeit, man spürt Strenge. Weil Fa- selbst konnte problemlos ein Außen durch Stau in Stuttgart gibt. sching ist, hängen ein paar Luftschlangen ein anderes Außen ersetzen. Wenn es um Geld geht, dann ist er so an den Lampen, aber so richtig lustig sieht Er hat bei Inter Mailand gespielt, bei schwäbisch geizig, dass es kracht. Er, der das nicht aus. Die Brezel kostet 52 Cent. Sampdoria Genua, beim AS Monaco und Millionär, ist schon zum Supermarkt ge- An der Wand hängt ein Meisterbrief von zweimal bei Tottenham Hotspur. Er war laufen, weil ihm die Brötchen beim Bäcker Horst Klinsmann, der ist einer der drei nie mit Haut und Haar dabei, in seiner zu teuer waren. Bei Vertragsverhandlun- Brüder des Bundestrainers. Vater Sieg- späten Zeit als Spieler galt er fast als un- gen pokerte er bis zum Äußersten, nicht,

84 der spiegel 11/2006 Titel weil er Geld brauchte, sondern, „Angela“ zu beginnen, hat sich damit es niemand sonst bekam. noch keiner getraut. In Berlin Klinsmann ist eine Spezies sind immer Frauen dabei, in für sich: der kleinkarierte Welt- Frankfurt fragen nur Männer. bürger. Damit ist er überall Für beide Sphären gilt, dass Außenseiter. Geschichte vom Ende her er- Als er Bundestrainer wurde, zählt wird. Nur hat Politik selten war die deutsche Mannschaft bei ein klares Ende. Für die Sport- der Europameisterschaft in Por- journalisten dagegen ist jeder tugal in der Vorrunde ausge- Spieltag ein kleines Ende und schieden. Rudi Völler trat zurück, ein Finale ein großes. Ein 1:4 ist Ottmar Hitzfeld, der mit Dort- ein solches Desaster, dass nie- mund und München die Cham- mand sich damit trösten kann, pions League gewonnen hatte, dass Klinsmanns Reformen dem wollte nicht. Der DFB war in der deutschen Fußball langfristig Krise. Die Krise ist immer eine helfen könnten. Ein 1:4 diktiert Chance für einen Außenseiter. die vernichtenden Artikel quasi Nur der Außenseiter kann ein selbst. Das Fußballgeschäft mit System grundlegend verändern, seinen vielen Enden ist damit weil ihm die Bindungen fehlen. noch kurzfristiger und hysteri- Er muss nicht so viel Rücksicht scher angelegt als die Politik, nehmen. Als Außenseiterin also ist es noch schwerer, etwas pfropfte Angela Merkel der zu ändern, denn Reformen CDU ein Reformprogramm auf. brauchen langen Atem. Auch Schröder hatte keine en- Ein 1:4 diktiert auch die Fra- gen Bindungen in seine Partei. gen. Nach dem Spiel gegen Ita- Dieser Vorteil wird zum lien dampft es im Presseraum Nachteil, wenn Erfolge ausblei- des Florentiner Stadions. Es

ben. Die Kritik an Klinsmann ist / GETTY IMAGES HASSENSTEIN ALEXANDER dampft, weil sich viel zu viele jetzt auch deshalb so vehement, Europameister Klinsmann, Kanzler Kohl (1996): „Tschö Klinsi“ Leiber hier hineingezwängt ha- weil sich ihm kaum einer ver- ben. Es dampft auch, weil sich pflichtet fühlt. Alle waren immer außen sein Buch alle Punkte, die nicht günstig jetzt Lust anstaut, die Lust auf böse Sätze und sind es noch. Wenn Klinsmann die sind für Klinsmann, aber insgesamt ist es für ein schlechtes Spiel. Auf der Presse- Heimspiele des VfB Stuttgart besucht, geht wohlwollend. In der Stimmung dieser Tage tribüne wurde schon die erste Wette auf er nie in die Lounge der Ehemaligen, wo er reicht das schon, um zum Lager Klinsmann Klinsmanns Kopf abgeschlossen. Den März die alten Gefährten Karlheinz Förster oder gerechnet zu werden. werde er „nicht überleben“, Rotwein, ein Hansi Müller treffen könnte. Er kann nicht Harald Schmidt gehört zum anderen La- gutes Essen. allen auf die Schulter klopfen wie sein Vor- ger. Er hat Klinsmann einst als „Schwa- Als Erster kommt Marcello Lippi, Ita- gänger Rudi Völler, den alle mochten, auch benschwuchtel“ geschmäht und wurde ge- liens Trainer. Ein deutscher Journalist weil er niemandem weh tat. richtlich zur Unterlassung aufgefordert. In fragt: „Können Sie sich an einen leichteren „Einem Jürgen Klinsmann wird nichts seiner „Harald Schmidt Show“ lässt er der- Sieg erinnern?“ Es ist klar, was er hören verziehen“, sagt Michael Horeni, Sport- zeit jedes Mal „Tschö Klinsi“ einblenden. möchte: Nein, das war ein Spaziergang. Dahinter steht die Zahl der Wie herrlich ließe sich das aufschreiben: Tage bis zur WM. Lippi verspottet Klinsmann. DAS FUSSBALLGESCHÄFT IST NOCH KURZ- Die Medien haben im Die Dolmetscherin versteht die Frage FRISTIGER UND HYSTERISCHER ALS DIE POLITIK. System Fußball mindestens nicht. Ein Kollege stellt sie auf Englisch, die eine so große Bedeutung gewünschte Antwort ist zu schön, um sie redakteur der „FAZ“, der im vergangenen wie im System Politik. Wenn der DFB zu durch Sprachprobleme zu verlieren. Was it Herbst eine Biografie des Bundestrainers einer wichtigen Pressekonferenz in seine ever easier? Lippi ist ein Gentleman, er veröffentlicht hat. Er sagt das in einem Re- Frankfurter Zentrale lädt, kommen nicht lobt Klinsmanns Arbeit. staurant in Florenz vor dem Spiel gegen weniger Journalisten als zur Bundespres- Dann kommt der Bundestrainer. Er hat Italien. Das Familienprinzip der Abschot- sekonferenz mit Angela Merkel oder Franz die Hände in den Taschen, er wirkt ange- tung übertrage Klinsmann auch auf die Na- Müntefering. fasst. Und dann macht er eine sehr gute tionalmannschaft. „Er hat eine Insel ge- In Frankfurt ist die Rückwand dunkel- Figur: Er antwortet ruhig, benennt die schaffen, auf der sich alle sicher fühlen rot, in Berlin ist sie blau. Anders als die Fehler seiner Mannschaft und spricht können. Es gilt das Prinzip: Hier sind wir, politischen Journalisten schreiben viele ihr gleichzeitig das Vertrauen aus. Man da sind die anderen.“ Sportkollegen sofort in ihre Laptops, als hat den Eindruck, dass er ein Mann Während des Gesprächs bekommt Ho- seien die Nachrichten dringender, müssten ist, dem man eine junge Mannschaft an- reni einen Anruf. Ein Kollege erzählt ihm, schneller unters Volk gebracht werden. vertrauen kann. dass Horeni in der neuen „Sport-Bild“ Auch der Gestus der Fragesteller ist ver- Davon findet sich in den nächsten Tagen vom Fernseh-Entertainer Harald Schmidt schieden. In der Bundespressekonferenz nichts in den Berichten wieder. Das geht angegriffen werde. Schmidt hat offenbar sind viele Journalisten auf Originalität und wohl auch nicht, direkt nach einem 1:4 den Eindruck, der Sportredakteur schreibe Witz bedacht, was manchmal ziemlich al- würde das seltsam wirken. Es zeigt nur, so viel in der „FAZ“ über Klinsmann, da- bern wirkt. In Frankfurt herrscht meistens dass die Realität, wie sie sich in den Me- mit sich die Biografie besser verkaufe. großer Ernst, man zeigt gern sein Fach- dien widerspiegelt, sehr stark von Ergeb- Horeni macht seinen Job, der Vorwurf wissen, gibt sich als Experte zu erkennen. nissen abhängt. Es sind nur passende Aus- ist absurd, aber so wie die Lage derzeit ist, Der Bundestrainer ist für viele der „Jür- schnitte. So wie nach der Bundestagswahl, kann man als Biograf von Klinsmann kaum gen“, und so beginnen die Fragen dann die sie fast verloren hätte, kaum jemand ungeschoren davonkommen. Zwar nennt auch: „Jürgen, hast du …“ Eine Frage mit Angela Merkels Stärken hervorheben woll-

86 der spiegel 11/2006 te. Das hätte ebenfalls seltsam gewirkt, nen schönen Satz: „Ich habe aber sie waren noch da. Die Realität ist den Fußball sehr lieb.“ Er freue immer komplexer als ein Artikel. sich „unglaublich“ auf die Welt- Auch nach dem 1:4 kann Klinsmann ein meisterschaft. Aber es sei nicht Segen für den deutschen Fußball werden. seine Aufgabe, Euphorie für die Das Ende dieser Geschichte ist noch nicht Nationalmannschaft zu schüren. erreicht. Da hat er recht. Wenn es nach Alfred Draxler ginge, soll- Das ist ein Widerspruch, den te das Kapitel Klinsmann allerdings jetzt auch politische Journalisten abgeschlossen werden. Zwei Tage nach kennen. Sie haben die Politik dem Spiel schrieb er in „Bild“: „Wenn sehr lieb, jedenfalls manche, Klinsmann jetzt wirklich in dieses Flug- aber es ist nicht ihre Aufgabe, zeug steigt, dann sollte er am besten gleich zur gewünschten Aufbruchstim- ganz in Amerika bleiben.“ Draxler ist stell- mung beizutragen. Aufbruch- vertretender Chefredakteur von „Bild“ stimmung ist das Äquivalent der und zuständig für Sport. Politik zur Euphorie im Fußball, „Fußball – das ist Boulevard und Stamm- und sie wird in Deutschland tisch“, hat Klinsmanns Freund Roland Eitel gleichermaßen vermisst. Doch gesagt. Für Schröder zählten „,Bild‘, ,Bams‘ die Aufgabe von Journalisten ist und Glotze“. So weit sind die beiden kritische Begleitung, nicht Stim- Sphären in diesem Punkt also nicht aus- mungsmache. einander. Allerdings dürfte der Einfluss von Das ist ein Problem für alle „Bild“ auf den Fußball noch größer sein Reformprojekte. Wie sollen sich als auf die Politik. Als die deutschen Jour- Aufbruchstimmung oder Eu- nalisten in Frankfurt auf den Abflug ihrer phorie vermitteln, wenn die Chartermaschine nach Florenz warteten, Journalisten, die sie verbreiten las mindestens die Hälfte „Bild“. könnten, habituell skeptisch

Draxlers Büro liegt im zehnten Stock / VISUM JÖRG MÜLLER sind? des Axel-Springer-Hauses in Hamburg. Er Fußballer in der Werbung*: Und das Bruttosozialprodukt? Klinsmann hat nach dem hat einen wunderbaren Blick über die Spiel gegen Italien einen Ver- Stadt, in seinem Regal stehen ein kleiner Dazu hat er wieder einen sauberen Satz such gemacht, die Medien mit ins Boot zu Humidor und ein Großer Brockhaus, von parat: „Wir wollen Stimmungen darstellen, holen. Er hat zu einer Pressekonferenz ge- dem die Bände 13 bis 22 fehlen. Er trägt ein nicht Stimmungen beeinflussen.“ Es wird rufen und gesagt: „Wir wollen uns mit euch weißes Hemd, eine schwarze Hose und aber nicht ganz klar, wie die Sportredaktion austauschen. Wir wollen euch einfach mit hellbraune Schuhe. Sein Haar ist nach hin- Stimmungen erfasst, zumal es, wenn so ge- einbeziehen in diese Gedanken. Wir sind ten gekämmt. Er ist der mächtigste Mann trommelt wird wie derzeit, keine „Bild“-un- daran interessiert, eure Meinung zu hören.“ des deutschen Sports. abhängige Stimmung mehr geben dürfte. Du Er saß etwas vom Tisch weggerückt, hatte Gleichzeitig ist er die ganz große Un- bist Deutschland, ist ein Satz, der bei Draxler ein Bein über das andere geschlagen, was schuld des deutschen Sports. Seine beiden nicht ganz so absurd ist wie bei anderen. Distanz schuf zu den Leuten, die er mit zentralen Sätze lauten: „Der Vorwurf einer Es gibt verschiedene Gerüchte. „Bild“ einbeziehen wollte. Niemand reagierte. Kampagne gegen Klinsmann ist völlig ab- führe eine Kampagne gegen Klinsmann, Obwohl Bierhoff, Löw und Torwarttrai- surd.“ Und: „Wir berichten sachlich.“ weil man für dessen alten Widerpart Mat- ner Köpke bei ihm saßen, wirkte er allein thäus ist, weil es vor zehn in diesem Moment, verlassen. Jahren mal einen Rechts- Und da, ehrlich gesagt, kam der Wunsch DANN SAGT DER „BILD“-MANN EINEN SCHÖNEN streit wegen eines Fotos auf, die Welt möge, jedenfalls bis zum 9. SATZ: „ICH HABE DEN FUSSBALL SEHR LIEB.“ gab. In Wahrheit geht es Juli, einmal anders sein, als sie ist. Klins- wohl wieder um Unabhän- mann hat Fehler gemacht, aber er hat auch Ist „Grinsi-Klinsi“ sachlich? gigkeit. Draxler ist es gewöhnt, dass die die richtigen Dinge angepackt. „Grinsi-Klinsi ist eine Boulevard-Zeile.“ Größen des Fußballs eng mit „Bild“ zu- Es müsste einen Deal geben, zwischen Da ist er natürlich fein raus, wenn alles, sammenarbeiten, Kolumnen schreiben Klinsmann und der Öffentlichkeit: Er was eine Boulevard-Zeile ist, nicht im oder jederzeit Informationen ausplaudern. kommt für die nächsten Wochen nach Widerspruch zur Sachlichkeit steht. Da „Bild“ ist Teil des Fußballbetriebs, Klins- Deutschland zurück, um aus seiner jungen kann er fleißig holzen, und das macht er mann nicht. Wenn etwas ausgeplaudert Mannschaft herauszuholen, was heraus- auch. wird, nennt er das „Informationskorrup- zuholen ist. In der Öffentlichkeit wird es Aber Klinsmann macht es ihm auch tion“. Er steht „Bild“ nicht jederzeit zur weiterhin Kritik geben, aber keinen De- leicht. Es mag ja sein, dass es an den Er- Verfügung, schon gar nicht mit privaten Ge- fätismus, keine Lust am Zerschlagen. folgsaussichten für die deutsche Mann- schichten. Er will in seinem Umfeld keine Deutschland stellt sich hinter seinen Bun- schaft nichts ändert, wenn er nach dem Leute, die mit „Bild“ eng verbunden sind. destrainer und seine Mannschaft. Es geht ja Spiel gegen Italien sofort nach Kalifornien Er will die traditionelle Macht von „Bild“ nicht um eine neue Agenda 2010, um die fliegt. Aber er bewegt sich mit seinem über die Nationalmannschaft brechen. Änderung von Lebensverhältnissen. Es geht WM-Projekt in einer Mediengesellschaft, Draxler bleibt auch in diesem Punkt ge- um ein Fest, eine WM im eigenen Land. und da zählt symbolisches Handeln, wie er schmeidig: „Wir arbeiten sehr gut zusam- Und Klinsmann und seine Mannschaft von Schröder hätte lernen können. men, sehr professionell, wir haben jeder- versuchen ein Wunder, so wie die Grie- Hier sein, im Stadion sein, Commitment zeit Zugang.“ chen bei der Europameisterschaft 2004 ein zeigen – die Stimmung wäre nicht ganz so Zum Schluss des Gesprächs sagt der Wunder versucht und geschafft haben. Das schlecht. Wobei immer noch die Frage ist, mächtigste Mann des deutschen Sports ei- ist einer der großen Unterschiede von wo die Stimmung eigentlich herkommt. Politik und Fußball. Es gibt Wunder, nicht Aus dem Volk? Oder aus der Feder von * Nationalspieler Lukas Podolski und Bastian Schwein- oft zwar, aber mindestens müsste man an Alfred Draxler und seinen Leuten? steiger, Plakate an einem Hotel in Hamburg. sie glauben.

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