SWR2 Musikstunde Henryk Szeryng – Weltbürger und Weltklasse-Geiger (1)

Von Jörg Lengersdorf

Sendung vom: 16. August 2021 (Erstsendung 17. September 2018) Redaktion: Dr. Ulla Zierau Produktion: SWR 2018

SWR2 können Sie auch im SWR2 Webradio unter www.SWR2.de und auf Mobilgeräten in der SWR2 App hören – oder als Podcast nachhören:

Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Die SWR2 App für Android und iOS

Hören Sie das SWR2 Programm, wann und wo Sie wollen. Jederzeit live oder zeitversetzt, online oder offline. Alle Sendung stehen mindestens sieben Tage lang zum Nachhören bereit. Nutzen Sie die neuen Funktionen der SWR2 App: abonnieren, offline hören, stöbern, meistgehört, Themenbereiche, Empfehlungen, Entdeckungen … Kostenlos herunterladen: www.swr2.de/app

Dazu begrüßt herzlich Jörg Lengersdorf. Jeden Morgen bis Freitag widmen wir hier an dieser Stelle dem Virtuosen die Zeit zwischen 9 und 10 Uhr.

Den Geiger Henryk Szeryng könnte man inzwischen, [30 Jahre nach seinem Tod], wohl durchaus einen Geheimtipp nennen, wenn auch einen nicht ganz furchtbar geheimen. Dass Szeryng nur eingefleischten -Connoisseuren mit obskurem Spezialwissen ein Begriff sei, das wäre vielleicht ein bißchen überspitzt formuliert. Aber tatsächlich ist es so, dass Henryk Szeryng unter vielen Geigerkollegen zwar einen legendären, heutzutage aber nur noch mäßig stark widerhallenden Ruf genießt, obwohl er auf den späten, aber zahlreichen Höhepunkten seiner Karriere Maßstäbe setzen konnte, die jahrzehntelang als Referenzgrößen galten oder wenigstens hätten gelten müssen. Bach, Beethoven, Brahms, Schublade „Groß B“, hier könnte man Szeryng meistens bedenkenlos ganz nach oben einsortieren. Aber der polnisch jüdische Weltbürger Szeryng hatte als Wahlmexikaner mit Wohnsitzen in Monte Carlo und nicht zuletzt auch die südliche Sonne in den Fingern wie kaum ein anderer Geiger. Sein Spiel wirkte nie gehetzt, hektisch, dafür aber strotzend vor vibrierend leuchtender Energie bis in die letzte Faser jedes Bogenhaars.

Musik 1 Manuel de Falla: Danza aus La vida breve (03.15) Henryk Szeryng (Violine) (Klavier)

Henryk Szeryng in einer Aufnahme von 19. mit Manuel de Fallas „Tanz“ aus „La vida breve“.

Szeryngs Können, sein Ton, seine bestechende Intonation, das projizierte Leuchten, all das ist über jeden Zweifel erhaben. Aber Itzhak Perlman, der amerikanische Weltgeiger, hat es mal so auf den Punkt gebracht: wenn ich im Radio eine Aufnahme höre und denke: „Mensch, da spielt jemand großartig Geige, ich erkenne aber nicht, wer da spielt, dann ist es meistens Szeryng.“ Ist man ehrlich, so ist dieses Kollegenlob, gewollt oder nicht, doch ziemlich vergiftet, denn es impliziert ja, dass Szeryng zwar fantastisch gegeigt habe, aber ohne Markenkern. „Chamäleon Geiger“ – im selben Interview fällt auch dieses vermeintlich böse Wort über Szeryng, aber so uncharmant auch dieses Etikett auf den ersten Blick wirkt: es fängt vieles ein, was gerade Szeryng unverwechselbar zu seiner Zeit machte: er konnte, anders als fast alle zeitgenössischen Konkurrenten, alles, und alles gleich gut spielen, nein, fantastisch, wenn man ehrlich ist.

2

Hätte man, wie viele Kritiker, angenommen, dass , Jascha Heifetz und David Oistrach die stilprägendsten Geiger der damaligen Gegenwart waren, denn wäre man bei direkten Vergleichen mit Szeryng oft zum paradoxen Schluss gekommen: Die drei lieferten oft Referenzgrößen: Heifetz, Oistrach, Kreisler. Aber egal, welche Reihenfolge man nun präferierte, irgendwie war Szeryng nie weniger überzeugend, als der jeweils Allerbeste. Keinen Deut. Sein Beethoven war zweifelsohne sauberer und reiner als der von Fritz Kreisler, sein Bach klangschöner und durchdachter als der von Heifetz, und was die sowjetische Konkurrenz anging: Komponist Aram Khatchaturjan selbst sagte, Szeryng spiele sein Konzert besser als alle anderen. Gewidmet hatte Khatchaturjan das Stück David Oistrach…

Musik 2 Aram Chatschaturjan: 3. Satz: Allegro vivace aus: Konzert für Violine und Orchester d- Molk (09.17) Henryk Szeryng (Violine) London Symphony Orchestra Leitung: Antal Dorati

Keiner konnte es besser, sagte selbst Komponist Aram Khatchaturjan, und nach dem Hören der Aufnahme darf man getrost annehmen: das Urteil hat bis heute Bestand. Noch besser? Wie soll das gehen? Henryk Szeryng im Finale von Khatchaturjans Violinkonzert, begleitet vom London Symphony Orchestra unter Antal Dorati. In einer Nische dominierte Szeryng tatsächlich beinahe gänzlich unangefochten lange die Spitzengruppe aller Geiger. Sein Spiel der 6 Solosonaten und Partiten von Bach präsentierte sicher nicht die einzige Sichtweise auf diesen Gipfel der Geigenkunst. Und heute, in Zeiten einer ganz anders informierten historischen Aufführungspraxis, könnte Szeryngs Bach fast uninformiert wirken. Aber diese Annahme würde seiner gigantischen Leistung auf diesem Gebiet nicht gerecht werden. In Interviews berief sich Anne Sophie Mutter, viel jünger, beim Bachspiel auf Szeryng, noch Hilary Hahn, ebenfalls gefeierte Bachspielerin, tat viele Jahre später, in den 90ern, dasselbe, obwohl Szeryngs Bachsicht da schon langsam aber sicher aus der Mode geriet.

„Spielt man heutzutage nicht mehr so“, hieß es dann oft, dennoch bleibt festzuhalten:

3

Szeryngs Bach war einst die Referenz, sein wuchtiger Orgelsound, realisiert auf einer kleinen Geige, war buchstäblich unerhört, und noch sauberer hatte Bach sowieso nie jemand gespielt, es war blitzsauber.

Musik 3 : Tempo di Borea aus: Partita h-Moll BWV 1002 (02.25) Henryk Szeryng (Violine)

Oft in seiner Karriere stand Henryk Szeryng in Rundfunk oder Fernsehstudios, um Bachs Solowerke für Violine einzuspielen, zweimal hat er Bachs h-Moll Partita für Plattenproduktionen komplett eingespielt, 1955 und im Sommer 1967. Aus dieser ersten Gesamteinspielung war das gerade der vorletzte Satz: „Tempo di Borea“, ein kleiner Tanz, dessen Architektur man heute wohl nicht annähernd mehr so wuchtig nehmen würde, dennoch war Szeryngs Bachspiel über Jahrzehnte stilprägend für Generationen von nacheifernden Geigern weltweit. Szeryngs Bachspiel ist wohl auch dafür verantwortlich, dass man ihn getrost noch im 21. Jhd. als den am wenigsten geheimen Geheimtipp der Welt bezeichnen darf, denn diese Aufnahme haben tatsächlich viele Geigenfreunde im Schrank, auch wenn sie heute kaum noch im Radio gespielt wird, außer in Sendungen wie der SWR2 Musikstunde.

Hier soll es heute auch um das Leben von Henryk Szeryng gehen. Und da fangen wir einfach mal ganz vorne an. Am 22. September 1918, kurz vor dem endgültigen Ende des ersten Weltkriegs, wird der kleine Henryk Boleslaw in eine ziemlich privilegierte Situation hineingeboren. Dass später behauptet werden wird, Szeryng stamme aus demselben kleinen Ort wie Chopin, ist wohl eine Erfindung der irgendwann anlaufenden Wunderkind-Marketingmaschine. Die Familie Szeryng ist Teil der bildungsbürgerlich städtischen Kultur Warschaus. Vater Szymon Szeryng ist leidenschaftlicher Hobbysänger und Eigentümer zweier Kinos sowie einer gutgehenden Forstwirtschaft, er ist Präsident gleich mehrerer jüdischer Wohlfahrtsverbände und gut bekannt mit der intellektuellen Elite.

Die Mutter Salome Alina Szeryngist ausgebildete Pianistin, verzichtet aber auf eine Karriere. Während die Mama im heimischen Salon musiziert, besteht schon Krabbelkind Henryk gestikulierend darauf, dass sie ihn im Kinderstuhl ganz nah ans Klavier setzt…

Musik 4

4

Frédéric Chopin: Walzer für Klavier Nr. 13 Des-Dur op. posth. 70 Nr. 3 (02.48) (Klavier)

Der legendäre Chopin-Interpret Arthur Rubinstein soll von Henryk Szeryng einst gesagt bekommen haben, sein Klavierspiel erinnere sehr an das von Szeryngs Mutter. Rubinsteins Chopinwalzer in Des-Dur mag also ein Fingerzeig auf die akustischen Eindrücke sein, die Henryk Szeryng schon als Baby, stundenlang am Klavier seiner Mutter sitzend, mitgenommen hat. „Turbulent“ und „lebhaft“, sei Henryk gewesen, liest man in einem biografischen Abriss, den Szeryngs spätere Ehefrau im Internet veröffentlicht hat. Die Mutter habe „mit unendlicher Geduld“, „sanft und doch fest, klar und deutlich in ihren Erklärungen“ dem Jungen Musikunterricht gegeben am Klavier, im fünften Lebensjahr. Die Formulierungen lassen darauf schließen, dass es nicht ganz reibungsfrei verläuft, wenn die würdevolle Mutter einem kleinen, aufgekratzten Genie hochkomplexe Zusammenhänge erläutert.

Aber Henryk Szeryng, soviel ist sicher, ist lebenslang ein hervorragender Pianist und erzählt gern vom Unterricht bei „Mutti“. Wirklich faszinieren tut ihn allerdings das Geigenspiel seines älteren Bruders, das sagt Szeryng später in einem Radiointerview. Wie findet der Bruder die Töne auf einem Griffbrett, auf dem doch gar nichts geschrieben oder markiert ist?

Musik 5 Fritz Kreisler: Chanson Louis XIII und Pavane im Stile von Couperin (03.42) Henryk Szeryng (Violine) Charles Reiner (Klavier)

Henryk Szeryng mit Chanson und Pavane, einer der charmanten Barockfälschungen von Geigenkollege Fritz Kreisler, von dem Szeryng später schrieb, er habe das schönste Vibrato gehabt, dass er je gehört habe. Dieses Kompliment hätte Kreisler vermutlich sogar zurückgeben können.

Wegen der Liebe zum Instrument des großen Bruders, zur Violine, entscheidet der 7jährige Henryk sich schließlich auch für die Geige. Und weil die Eltern vermutlich exzellente Kontakte pflegen, wird der erste Geigenlehrer auch nicht irgendwer, sondern Maurice Frenkel, ein ehemaliger Assistent von Leopold Auer. Aus der Auer Schule kommen viele Virtuosen des jungen Jahrhunderts, Elman, Heifetz, Milstein. Frenkel dürfte also eine ausgesprochen elaborierte Vorstellung von Niveau haben, und sicher

5

vermittelt er die seinem Schüler wirkungsvoll. „Ich kann mir vorstellen, dass es nicht ganz leicht ist, mit einem Buben von sieben Jahren zu arbeiten“, resümiert Szeryng viel später diese ersten Lehrstunden bei Frenkel süffisant.

„Dein linker Ellbogen muss genau auf der Höhe des Herzens sein“, diesen Frenkel Rat beherzigt Szeryng, nachvollziehbar auf Fotos, lebenslang. Und er hat macht rasende Fortschritte. Nach sage und schreibe anderthalb Jahren ist Klein Henryk bereit, Geigenlegende Bronislaw Huberman das Mendelssohn Violinkonzert vorzuspielen. Huberman wohnt gerade im Hotel Europa in Warschau, als der kleine Wundermensch anklopft…

Musik 6 Felix Mendelssohn Bartholdy: Allegretto non troppo - Allegro molto vivace aus: Konzert für Violine und Orchester e-Moll op. (05.37) Henryk Szeryng (Violine) London Symphony Orchestra Leitung: Antal Dorati

Henryk Szeryng im Finale aus Mendelssohns e-Moll Konzert, jenem Stück, dass den großen Geiger Bronislaw Huberman im Hotel derart beeindruckt, dass er seinem nicht einmal zehnjährigen Gast bescheinigt, er habe Hände wie Jascha Heifetz. Es ist angesichts von Heifetz absoluter Ausnahmestellung vermutlich das größte Kompliment, das man einem Nachwuchstalent machen kann. Heifetz Hände, das sind metaphorisch Gottes Hände plus Violine.

Da Henryk darüber hinaus überhaupt begnadet scheint, er liest bereits Schriftsteller verschiedener Nationalitäten in Originalsprache, scheint es an der Zeit, den Jungen in die weite Welt zu schicken. Hat er von Lehrer Moritz Frenkel die russische Art des Geigespiels gelernt, so rät Huberman nun zum Studium der französischen und deutschen Tradition. Paris oder wären die richtigen Orte für so ein Talent. Und weil die Familie über die notwendigen Ressourcen verfügt, zieht Mama Alina Szeryng mit ihren Söhnen allein nach Berlin. Henryk soll ans Konservatorium. „Die erste Zeit war sehr schwer“, wird Henryk Szeryng sich später erinnern. „Ich war erst 10 Jahre alt und konnte kaum Deutsch“ Dafür kann er geigen. Und wie.

Musik 7

6

Bela Bartok: / Bearbeitung: Zoltan Szekely: Rumänische Volkstänze (05.50) Henryk Szeryng (Violine) Charles Reiner (Klavier)

Henryk Szeryng in den rumänischen Volkstänzen von Bela Bartok. Neben der phänomenalen virtuosen Technik von Szeryng zeigt dieses geigerisch verhältnismäßig bequem zu spielende Stück noch eine weitere Eigenschaft, die sein Spiel besonders macht, vor allem in den langsamen Kantilenen: Seine Intonation ist nicht nur sauber, sondern ausdrucksstark. Wie er Intervallen von Tönen durch winzige Modulationen von Tonhöhen Richtungen gibt, das ist eben mehr als rein. Die Ausdruckspalette scheint unendliche Möglichkeiten zu bieten durch fast unmerkliche Einfärbungen von Einzeltönen.

Szeryngs unfehlbare Technik basiert nicht zuletzt auf dem Unterricht von Lehrer in Berlin. 1930 wird Szeryng in dessen Hochschulklasse aufgenommen, obwohl er mit 12 Jahren noch nicht das gesetzlich vorgeschriebene Mindestalter erreicht hat. Bei Carl Flesch studieren, pendelnd zwischen dessen Sommersitz in Baden-Baden und der Hauptstadt, spätere Geigenlegenden wie Ida Haendel, Ginette Neveu oder Ricardo Odnoposoff. Flesch ist neben Leopold Auer aus der Retrospektive der wichtigste Geigenlehrer des 20. Jhds, und das zeichnet sich hier bereits ab. „Flesch hatte einen unfehlbaren Sinn für Humor – besonders auf Kosten der Studenten“, das wird Szeryng später in einem Interview äußern, und damit wie stets weltmännisch diplomatisch umschreiben, was andere wohl als zynisch harten Technikdrill in Fleschs Klasse unter enormem Druck empfinden würden. Stücke müssen sofort in der ersten Stunde vor Publikum gespielt werden, Unsicherheiten werden kommentiert. Stets sitzen zwei Dutzend junge Genies im Klassenraum, während Flesch vermutlich darauf wartet, einen guten Witz zu machen, auf Kosten des jeweils nervösen Kandidaten. „Ich glaube dennoch, dass er es gut meinte“… auch dieses Zitat stammt vom Schüler Henryk Szeryng.

Musik 8 Pietro Locatelli: / Bearbeitung: Fritz Kreisler: Caprice op. 233 Il, Labirinto Armonico (02.55) Henryk Szeryng (Violine) Charles Reiner (Klavier)

Henryk Szeryng im “Labirinto Musicale” des Teufelsgeigers Pietro Locatelli, der in vielerlei Hinsicht, technisch und im glamourösen Auftritt, als Vorläufer Paganinis angesehen wird.

7

Die gebrochenen Dreiklänge über und unter einer Melodie sind dabei wahrscheinlich eine vergleichsweise einfache Übung für Szeryng. Lehrer Flesch gilt bis heute als Spezialist für Tonleiterstudien, hunderte Seiten hat Flesch drucken lassen, Tonleitern auf einer Geigensaite, Tonleitern auf zwei Geigensaiten gleichzeitig, in Terzen, Sexten, Oktaven, Dezimen, Akkordtonleitern, Arpeggien, nicht einfach links, rechts, hin und her, sondern in allen denkbaren Strichvarianten… das volle Programm. Wer Fleschs Tonleiterschule durchgenommen hat, der fürchtet sich geigerisch jedenfalls vor nichts mehr, Frustrationstoleranz wird hier verabreicht wie Lebertran auf trocken Brot.

Aber es lohnt sich, denn zwei der schönsten Violinkonzerte basieren, aufs raffinierteste veredelt natürlich, vor allem auf Tonleitern und Dreiklängen. Die Violinkonzerte von Beethoven und Brahms. Beide werden Szeryngs Spezialität. Anfang 1933, mit 14 Jahren, gibt Szeryng sein symphonisches Debut in Warschau im kraftstrotzendsten, aber auch kraftraubendsten Konzert von allen: Brahms. Noch geht der Teenager als Wunderkind durch. Zitat Szeryng: ich fühle mich Brahms eng verbunden, hoffentlich fühlt auch Brahms sich mir verbunden.

Musik 9: : Allegro giocoso, ma non troppo aus dem Violinkonzert D-Dur op. 77 (07.58) Henryk Szeryng (Violine)

8