Gebäude und Ordinarien 1873 – 2004 11 ————————————————————————————————————————————————————— ehr als 100 Jahre lang – ja, von 1887 bis 2004 – war die Universitätsaugenklinik M Greifswald in jenem Gebäude am Stadtwall untergebracht, das eigens zu diesem Zweck errichtet worden ist. Den kurzen Weg vom Bahnhof zur Klinik sollte man zu Fuß zurücklegen, genauso, wie Georg Günther es 1953 bei seiner Antrittsvisite hier getan hat. Günther schreibt: »Wir gingen gemeinsam über den winterlichen Wall, eine ehemalige Festungsanlage der kleinen wehrhaften Stadt. Von schneebedeckten, uralten Linden und Kastanien umsäumt, bot sie den Anblick einer Allee. Schon nach wenigen Minuten fiel mein Blick auf ein imposantes rotes Backsteingebäude, dessen uns zugewandte Rück- seite die Aufschrift ›Augen-Heilanstalt 1887‹ trug. [...] Ein kleines Treppchen führte hin- unter aufs Straßenpf aster und hinein in den großräumigen quadratischen Hof, der von Augenklinik, Physikalischem Institut, Universitäts- und Hörsaalgebäude symmetrisch be- grenzt schien. a Das also war die Augenklinik!« 1

1.1.1 Greifswald, Rubenowstraße 2

Wer wie Georg Günther vom Bahnhof her kommt und den Wall an der Rubenowstraße verläßt, der ist also bereits an der Augenheilanstalt vorübergegangen und erreicht diese und mit ihr das von Günther beschriebene Universitätskarree von Südosten her. Von der diesseitigen (östlichen) Seitenwand des 3-geschossigen Haupthauses, der ursprünglichen Augenheilanstalt, hebt sich deutlich ein 2-geschossiger Anbau ab. Dieser in sich recht- winkelig gestaltete Anbau reicht zwar nicht ganz an die Straße heran, dennoch ist er so- zusagen mitschuldig an der Hausadresse: Greifswald, Rubenowstraße 2. Erst hinter dem Anbau faßt der Blick des Betrachters den inzwischen umgestalteten Hof des Universitäts- karrees, das heute, nach Sanierung und Neuzuteilung der Gebäude, Historischer Campus heißt. Diesen Campus schließt die Augenheilanstalt, die heute Alte Augenklinik genannt wird, nach Süden hin ab. Rudolf Schirmer, der erste Direktor der Klinik, hatte sich bei einer Besichtigung der Marburger Universitätsaugenklinik, seinerzeit die modernste im Reiche, wesentliche An- regungen verschafft und diese in die Planung des Greifswalder Neubaues eingebracht. Hierzu zählte die Lage der Krankenzimmer, die nach Schirmers Vorgabe nach Norden, also zum Hof hin, angeordnet wurden.b Vom Hof aus läßt sich die Symmetrie des Haupt- hauses besonders gut erfassen, denn ohne jede Schwierigkeit erkennt der Betrachter nun beide Anbauten: Links, nach Osten hin, schließt sich der schon erwähnte 2-geschossige Anbau an, rechts, nach Westen hin, der unter Günther entstandene 3-geschossige. Einige Schritte von diesem entfernt liegt das im Jahre 1900 erbaute Trachomhaus, ein kleiner, symmetrischer, bungalowähnlicher Klinkerbau, der mit senkrecht stehenden Blenden und Zinnen versehen ist. Zu Beginn der 30er Jahre, als die Zahl der Trachomkranken deutlich abgenommen hatte, fand dieses Gebäude als allgemeine Isolierstation für Augenkranke Verwendung. Dennoch sprach man weiterhin vom Trachomhaus oder von der Trachom- baracke, gelegentlich auch vom Gartenhaus. Diese Begriffe fielen erst, als Günther Mitte der 50er Jahre eine Pleoptik-Orthoptik-Abteilung im ehemaligen Trachomhaus einrichten ließ. Diese Abteilung war die erste Ausbildungsstätte speziell für Orthoptistinnen in der noch jungen DDR.

a Gemeint sind das Universitätshauptgebäude und das Hörsaalgebäude. b Rißzeichnungen in → Münchow, 666 zeigen die Raumaufteilung im Erdgeschoß und im 1. Obergeschoß. 12 Abriß zur Geschichte der Klinik und zum Assistentenbetrieb ————————————————————————————————————————————————————— Im März 2004 zog die Augenklinik in ihr nunmehr drittes Domizil um, in den neuen Klinikkomplex, der in der Ferdinand-Sauerbuch-Straße liegt. Seither gehören die beiden Gebäude in der Rubenowstraße nicht mehr zur Medizinischen Fakultät. In den westlichen Anbau des Haupthauses ist das Caspar-David-Friedrich-Institut für Bildende Kunst ein- gezogen. Im Haupthaus selbst und im östlichen Anbau findet man das Referat für Studien- angelegenheiten, im Trachomhaus das Prüfungsamt. Kleine Nebengebäude – Verschläge und Ställe, in denen Versuchstiere gehalten wurden, vorzugsweise Kaninchen – hatten sich in unmittelbarer Nähe des Hauptgebäudes befunden. Sie wurden in den 50er Jahren, als man Platz für den Westanbau brauchte, beseitigt. Bis man diesen in Betrieb nehmen konnte, lagen der Hörsaal und die Poliklinik im Haupthaus, das Histologielabor und der Operationssaal im östlichen, damals einzigen Anbau.

1.1.2 Lehrstuhlinhaber und Klinikdirektoren

Die Geschichte der Klinik reicht ein ganzes Stück weiter zurück als die der bereits vor- gestellten Gebäude. Sie beginnt mit dem aus Greifswald stammenden Chirurgen Rudolf Schirmer. Der nämlich hatte um 1850 mehrere Studienreisen unternommen, meist solche durch die Nachbarländer. Er war in , in Prag und in Wien gewesen. Aber er hatte sich auch hier in Deutschland umgetan. In war er mit dem genialen zusammengetroffen, und dessen ganzes Wesen hatte ihn gefesselt und zur Augen- heilkunde gebracht. Nach einer Assistentenzeit bei von Graefe war Schirmer nach Greifs- wald zurückgekommen. Hier arbeitete er unter Heinrich Adolf von Bardeleben, einem Chirurgen, bei dem er sich 1860 für Augenheilkunde, seinerzeit ein Chirurgie-Teilgebiet, habilitierte. Verglichen mit vielen anderen augenärztlich ausgerichteten Chirurgen hatte er Glück, denn sein Chef wußte längst, daß die Abspaltung der Augenheilkunde nur noch eine Zeitfrage war. Der Chirurg überließ dem Augenarzt den gesamten augenärztlichen Unterricht, ferner gestattete er ihm die Durchführung einer augenärztlichen Poliklinik. Ja, Schirmer konnte selbstständig arbeiten. Doch innerhalb der Klinikhierarchie hatte er eine nachgeordnete Stellung inne. Ihm fehlten eigene Assistenten, eigene Räume, sogar eigene Instrumente. Noch 1869 bat Schirmer, inzwischen außerordentlicher Professor geworden, um eigene Räume, umsonst. Er hatte zwei 4-Bett- und ein privates 1-Bett-Krankenzimmer einrichten wollen. Erst 1871 erhielt er Räume im Klinischen Lazarett, Kuhstraße 30, das Chirurgen und Internisten gemeinsam nutzten. 2 Julius Jacobson, außerordentlicher Pro- fessor für Augenheilkunde in Königsberg, schrieb: »Schirmer [...] darf in der chirurgisch- augenärztlichen Klinik, die unter der alleinigen Leitung des Chirurgen steht, Kranke be- handeln und [diese] zu Demonstrationen benutzen, [er] hat jedoch weder eine [...] Station, noch Etat, noch Assistenten. «.3 Dann endlich, 1873, ging Schirmers Ein-Mann-Betrieb zu Ende. Wieder, zum nunmehr drittenmal, hatte Jacobson den Finger in die Wunde gelegt. Mit nie dagewesener Deutlichkeit hatte er die Mängel der Augenheilkunde in Preußen be- nannt. Die Regierung mußte handeln. An allen Universitäten Preußens wurden Lehrstühle für Augenheilkunde geschaffen und Kliniken für Augenkranke eingerichtet. In Greifs- wald wurde Schirmer zum Ordinarius und zum Klinikdirektor ernannt. Allerdings mußte er zunächst mit einer Behelfslösung auskommen: Seine Klinik zog in ein Wohnhaus.a Zu- erst hatte sie 14 Betten, später 20.

a Das Haus steht noch. Es befindet sich in der Caspar-David-Friedrich-Straße, die damals Nikolaistraße hieß. Gebäude und Ordinarien 1873 – 2004 13 —————————————————————————————————————————————————————

Bild .1 Blick von Südosten her (von der Wallbrücke über die Rubenowstraße) zur Augenklinik. 30er Jahre: Vorn er- kennt man deutlich den älteren, 1898 entstandenen Anbau, der sich an die Ostwand des Haupthauses anschließt und mit seiner eigenen Ostwand bis fast an die hier S-förmig verlaufende Rubenowstraße (vorn) heranreicht. Ganz rechts erkennt man den von Günther erwähnten Eingang zum Innenhof des Universitätskarrees. Foto: Mielke

Bild .2 Das Universitätskarree in den 30er Jahren, aufgenommen aus Richtung NNW. Vorn erkennt man das Haupt- gebäude der Universität (vor diesem der Rubenowplatz), dazu sind rechtwinklig angeordnet das Physikalische Institut (rechts, mit Observatoriumskuppel, westlicher Karree-Abschluß) und das Hörsaalgebäude (links, östlicher Abschluß). Dem Hauptgebäude gegenüber liegt die Augenklinik (hinten, südlicher Abschluß). Links, dem Hörsaalgebäude gegen- über, liegt die (alte) Bibliothek, deren Längsachse (nach hinten hin) auf jene Brücke trifft, deren Treppe Günther er- wähnt hat. Rechts (→ Kreis) erkennt man die östliche Hälfte des Trachomhauses. Foto: Junkers Luftbildzentrale 14 Abriß zur Geschichte der Klinik und zum Assistentenbetrieb ————————————————————————————————————————————————————— Schirmer machte die Klinik zu einer angesehenen Einrichtung ihres Faches. Dennoch, die behelfsmäßige Unterbringung brachte Schwierigkeiten mit sich, hauptsächlich Platz- mangel. Den mußten die Klinikangehörigen und die Kranken erdulden, solange ein wirk- liches Klinikgebäude fehlte. Erst 14 Jahre später, zum 1. Mai 1887, bezog die Klinik den eingangs beschriebenen, am Wall errichteten Neubau, der für damalige Verhältnisse sehr großzügig gehalten war. Schirmer leitete die Klinik bis 1893, als ihn ausgerechnet ein Augenleiden, eine mit Myopie einhergehende Netzhautkrankheit, zum Rückzug aus dem Klinikalltag zwang. Er blieb jedoch Ordinarius bis zum Tod. Schirmer starb 1896 hier in Greifswald. Daß von Schirmers Hand überwiegend Falldarstellungen stammen, ist ganz natürlich, denn die Pioniere des Faches sahen nahezu täglich Neues, und selbstverständlich hatten sie das Bedürfnis, ihre Beobachtungen der Fachwelt mitzuteilen. Zudem gab es anfangs nur wenige Lehrbücher, die eigens Fragen der Augenheilkunde behandelten. Gerade des- halb ist es wichtig zu erwähnen , daß Schirmer, der sich ausgiebig mit allen Fragen des Tränenapparates befaßt hatte, 1877 für den Graefe-Saemisch den Abschnitt Die Erkran- kungen der Thränen-Werkzeuge verfaßt hat. a Ein recht umfangreiches Lehrbuch über Re- fraktions- und Akkommodationsstörungen hatte er bereits vorgelegt.b Außerdem war eine Arbeit über Farbenfehlsichtigkeiten erschienen.c Ja, selbst geschichtliche Fragestellungen hat er bearbeitet. d Auf Anraten des Kultusministeriums wurde Schirmers Sohn Otto, seinerzeit Privat- dozent in Halle, mit dem Klinikdirektorat beauftragt und zunächst zum Extraordinarius, später zum Ordinarius ernannt. Natürlich kannte Otto Schirmer die hiesigen Verhältnisse. Er wußte um den Platzmangel, der sich bereits in den 1880er Jahren bemerkbar gemacht hatte. Schirmer schlug vor, einen Anbau zu errichten und in diesem ein Labor und einen Operationssaal unterzubringen, letzteres, damit man nicht länger im Hörsaal (!) zu Werke gehen mußte. 1898 ging der schon beschriebene, östlich an das Haupthaus anschließende Anbau in Betrieb. Im Hochparterre richtete man das von Schirmer gewünschte Labor ein, im Obergeschoß den Operationssaal. e Endlich konnten Schirmer und die ihm unterstellten Ärzte die Histologie großzügig einsetzen. Schirmer selbst nutzte die neuen Möglichkeiten vorrangig für seine Keratitisforschung. Kurz darauf, im Jahre 1900, wurde die Kapazität der Klinik noch einmal erhöht: Das Trachomhaus entstand. Ein besonderes Haus zwecks Unterbringung von Trachomkranken war erforderlich, weil die unzähligen Erntearbeiter, die Jahr für Jahr ins Reich kamen – die überwiegende Mehrzahl von ihnen Polen – auch Krankheiten mitbrachten. Das wichtigste bei den Saisonarbeitern vorkommende Augen- leiden war das Trachom, das man auch als Ägyptische Körnerkrankheit kannte. Zu recht galt es als Schnitterkrankheit. Im Trachomhaus, das nichts anderes war als eine gut ein- gerichtete Isolationsstation, konnten 18 Kranke gleichzeitig stationär behandelt werden, denn zwei 8-Bett- und zwei 1-Bett-Krankenzimmer standen zur Verfügung. Erst mit dem Niedergang des Saisonarbeiterdaseins Ende der 1920er Jahre verlor das Trachomhaus als solches an Bedeutung.

a Handbuch der gesamten Augenheilkunde. Hrsg: A. Graefe, T. Saemisch — Die 1. Auflage, erschienen 1874 – 1877 bei Engel- mann, Leipzig, besteht aus 7 Bänden und einem Indexband. Schirmers Kapitel befindet sich im 7. Band. b Schirmer R: Die Lehre von den Refractions- und Accomodationsstörungen des Auges. Hirschwald, Berlin, 1866 c Schirmer R: Über erworbene und angeborene Störungen des Farbensinnes. GAO 19 (1873) 194 d Schirmer R: Bemerkungen zur Geschichte der Hypermetropie. GAO 30 (1884) 185 e Von der Rubenowstraße aus erkennt man den Operationssaal noch immer an der großen Milchglasscheibe. Gebäude und Ordinarien 1873 – 2004 15 —————————————————————————————————————————————————————

Bilder .3 und 4 ―Das Trachomhaus heute (links, sichtbar ist die östliche Hälfte) und in den 30er Jahren (rechts, Ein- gänge). Damals berankte Efeu die Wallseite des Hauses, und über eine kleine Treppe konnte man in den Klinikgarten hinunter gehen, von diesem weiter zum Tennisplatz der Universität. Heute ist nur noch der Wallgraben zu erahnen. Im nun ehemaligen Trachomhaus befindet sich das Prüfungsamt. Foto links: Verfasser, März 2007 · Foto rechts: Mielke mmmm Otto Schirmer war ein vielseitiger Forscher. Er verfaßte mehrere Arbeiten über den Tränenapparat, mit denen er das Werk seines Vaters ergänzte. Der von ihm erdachte und nach ihm benannte Tränensekretionstest ist noch heute in Gebrauch. Erwähnt sei ferner, daß sich Schirmer mit der Pathogenese der Katarakt, mit der Acne-rosacea-Keratitis und mit der sympathischen Ophthalmie befaßt hat. Für den Graefe-Saemisch hat er den Ab- schnitt Sympathische Augenerkrankung verfaßt. a Glaubt man zeitgenössischen Quellen, so war Schirmer – ein Schüler von Theodor von Leber in Göttingen und von Arthur von Hippel in Königsberg und Halle – ein Multitalent. Theodor Malade schreibt, Schirmer sei »in jeder Hinsicht ein wahrhaft von den Göttern Gesegneter « gewesen. Er habe ein un- gewöhnliches musikalisches Talent besessen. Durch ihn sei Greifswald eine Musikstadt geworden. Malade: Schirmer »war ausübender Klavierkünstler, er zog im Konzertverein die namhaftesten Künstler Deutschlands heran. Er faßte alle Laienmusiker in Chor und Orchester zusammen und veranstaltete als Dirigent von Gottes Gnaden Konzerte, zu de- nen die Hörer in Sonderzügen eilten. «.4 Zum Sommersemester 1907 wechselte Schirmer nach Kiel, um Karl Voelckers abzulösen. Schirmers Greifswalder Schüler waren Rein- hold Halben und Sophus Ruge. Beide widmeten sich den zwei wichtigsten von Schirmer bearbeiteten Fragestellungen: Tränenapparat und sympathische Ophthalmie. Allerdings verließen beide die Universität, um sich als praktische Augenärzte niederzulassen. Halben ging nach Berlin, Ruge nach Dortmund.b

a Schirmer O: Histologische und histochemische Untersuchungen über Kapselnarbe und Kapselkatarakt nebst Bemerkungen über das physiologische Wachsthum und die Struktur der vorderen Linsenkapsel. GAO 35 (1889) 220 · Über Keratitis ex acne rosacea. ZA 15 (1906) 501 · Zum klinischen Bilde der Diphtheriebacillen-Conjunctivitis. GAO 40 (1894) 160 · Zur Pathogenese des Schichtstars. GAO 42 (1896) 202 · Untersuchungen zur Physiologie der Pupillenweite. GAO 40 (1894) 8 · Untersuchungen zur Pathologie der Pupillenweite und der centripetalen Pupillarfasern. GAO 44 (1897) 358 · Studien zur Physiologie und Patho- logie der Tränenabsonderung und [der] Tränenabfuhr. GAO 56 (1903) 197 · Über Lidschlaglähmung und Lidschlußlähmung, zugleich ein Beitrag zur Lehre von der Tränenabfuhr. ZA 11 (1904) 97 · Nachtrag zu meiner Theorie der Tränenabfuhr. GAO 63 (1906) 200 · Klinische und pathologisch-anatomische Studien zur Pathogenese der sympathischen Augenentzündung. GAO 38 (1892) 95 · Sympathische Augenerkrankung. In: Handbuch der gesamten Augenheilkunde. Hrsg. A. Graefe, T. Saemisch, 6. Band, Engelmann, Leipzig, 2. Auflage, 1905 b Halben R: Beiträge zur Anatomie der Tränenwege. Habilitationsschrift, Greifswald, 1903. Auszug: GAO 57 (1903) 61 — Ruge S: Pathologisch-anatomische Untersuchungen über [die] sympathische Ophthalmie und deren Beziehungen zu den übrigen traumatischen und nichttraumatischen Uveitiden. Habilitationsschrift, Greifswald, 1904. Auszug: GAO 57 (1904) 401 — Halben gilt als Vater des Schriftstellers Wolfgang Koeppen, der 1906 in Greifswald geboren wurde. 16 Abriß zur Geschichte der Klinik und zum Assistentenbetrieb ————————————————————————————————————————————————————— Schirmers Nachfolger war Leopold Heine, der sich bei Wilhelm Uhthoff in Breslau umfassend mit der Glaukomchirurgie befaßt hatte. Von ihm stammt die Idee der Zyklo- dialyse. a Heine verbrachte aber nur ein Semester, das Sommersemester 1907, in Greifs- wald, weil er bereits zum Wintersemester 1907/08 nach Kiel berufen wurde, wiederum als Nachfolger Schirmers, der einem Ruf nach Straßburg folgte, um Ludwig Laqueur ab- zulösen. b Natürlich konnte Heine in den wenigen Greifswalder Monaten wissenschaftlich kaum tätig werden. Nach Heines Weggang wurde Paul Römer Ordinarius. Römer war bei Adolf Vossius, Ordinarius für Augenheilkunde in Gießen, in sein eigentliches Fach eingestiegen. Bei Georg Gaff ĸy, Ordinarius für Hygiene in Gießen, hatte er sich ein zweites Fachgebiet er- schlossen und damit begonnen, beide fruchtbar miteinander zu verquicken. Bei Carl von Hess, Ordinarius für Augenheilkunde in Würzburg, war er zum Dozenten aufgestiegen und schließlich, 1905, zum außerordentlichen Professor. An dieser Stelle muß ich einen Fehler ansprechen, der Karl vom Hofe – von dem noch die Rede sein wird – 1938 unter- laufen ist, und den Günther später weitergetragen hat. c Römer sei, so schreibt vom Hofe, auch als Schüler Paul Ehrlichs anzusehen. Ehrlich habe frühzeitig die Begabung Römers erkannt und diesen beauftragt, eine anschauliche Darstellung seiner Seitenkettentheorie zu verfassen.5 Dies trifft nicht zu, nicht auf »unseren « Römer, sondern auf den anderen, auf den Hygieniker Paul Heinrich Römer. Dieser Römer war Ehrlichs Schüler. Er hat die Seitenkettentheorie beschrieben.d Der Fehler beruht auf der Namensgleichheit, auf dem Umstand, daß beide Römer gleichzeitig Lehrstuhlinhaber in Greifswald waren, Hygiene- Römer als Nachfolger Friedrich Loeffıers, und bestimmt auch darauf, daß »unser « Römer sein in Greifswald entstandenes Lehrbuch der Augenheilkunde nicht einem seiner Lehrer gewidmet hat, sondern Ehrlich. e Derjenige, der den Forscherdrang »unseres « Römer auf die im Entstehen begriffene Immunologie lenkte, war Gaff ĸy, kein anderer. Unter Gaff ĸy hatte Römer gezeigt, daß Infektionen vom unverletzten Bindehautsack ausgehen können, wobei es ihm vorrangig um die Beziehung zwischen dem Vorhandensein von Pneumo- kokken und der Entstehung des Ulcus serpens corneae gegangen war.e Römers Versuche mit dem Merck-Präparat Jequiritol , hergestellt aus dem Gift Abrin , das in den Samen des Krabbenaugenweins vorkommt, stellen den Anfang der augenärztlichen Serumforschung dar.e Römer untersuchte die Immunitätsverhältnisse von Bindehaut, Hornhaut und Linse, und er wies nach, daß die Bindehaut einen großen Anteil am immunologischen Gesamt- geschehen haben kann. e Römers Interesse an Fragen der Immunologie hielt lange an, bis in die Greifswalder Jahre hinein. Zu recht sagt vom Hofe: »Römer hat das Verdienst, die Erkenntnisse der [...] Immunitätswissenschaft für die Erforschung der Augenkrankheiten nutzbar gemacht zu haben. «.6 Walther Löhlein, der »größte « Schüler Römers, hat diesen als Romantiker der Wissenschaft im Sinne Wilhelm Ostwalds bezeichnet.7 Im Frühjahr 1921 wechselte Römer nach Bonn.

a Heine L: Die Cyclodialyse, eine neue Glaukomoperation. DMW 1905, 31, 824 b Laut Hirschberg ist Schirmer in Straßburg »wohl nicht ohne eigenes Verschulden « tragisch gestürzt. Küchle spricht von einem schweren Zerwürfnis mit Karl Stargardt, Schirmers Oberarzt, das Schirmer aus dem Amt trieb, ja, sogar aus Deutschland. Er wanderte nach den USA aus. Schirmer starb am 6. Mai 1917 in New York. Quellen: Hirschberg, 139 · Küchle, 226 c Der Text vom Hofes findet sich nahezu deckungsgleich bei → Günther, Geschichte, 440. d Römer PH: Die Ehrlichsche Seitenkettentheorie und ihre Bedeutung für die medizinischen Wissenschaften. Hölder, Wien, 1904 e Römer P: Lehrbuch der Augenheilkunde. Urban & Schwarzenberg, Berlin, Wien, 1910 · Experimentelle Untersuchungen über Infectionen vom Conjunctivalsack aus. ZH 32 (1899) 295 · Experimentelle Untersuchungen über Abrin-(Jequiritol)-Immunität als Grundlagen einer rationellen Jequirity-Therapie. GAO 52 (1901) 72 · Experimentelle Grundlagen für klinische Versuche einer Serumtherapie des Ulcus corneae serpens nach Untersuchungen über Pneumocokkenimmunität. GAO 54 (1902) 99 Gebäude und Ordinarien 1873 – 2004 17 —————————————————————————————————————————————————————

Direktor Geburt, wann und wo Tod, wann und wo Amtszeit Abschied durch

Schirmer sen. 1831 Greifswald 1896 Greifswald 1873 – 1893 Krankheit, Rücktritt Schirmer jun. 1864 Greifswald 1917 New York 1893 – 1907 Ruf nach Kiel Heine 1870 Köthen 1940 Kiel 1907 Ruf nach Kiel Römer 1873 Neuendorf, Anhalt 1937 Bonn 1907 – 1921 Ruf nach Bonn Löhlein 1882 Berlin 1954 Essen 1921 – 1924 Ruf nach Jena Meisner 1881 Wanne, Westfalen 1 1956 München 1924 – 1935 Ruf nach Köln vom Hofe 1898 Lüdenscheid 1969 Lüdenscheid 1935 – 1938 Ruf nach Köln Velhagen 1897 Chemnitz 1990 Berlin 1938 – 1946 Entlassung Jahnke 1899 Brünken 2 1984 Bremen 1946 – 1949 Flucht aus dem Amt Schulte 1913 Essen — 1949 – 1952 Flucht aus der DDR Günther 1907 Gut Kogutowka 3 1994 Loddin, Usedom 1953 – 1972 Emeritierung Gliem 1934 Waltershausen, Thür. — 1972 – 1977 Ruf an die Charité Franke 1937 Magdeburg 2012 Greifswald 1977 – 1992 Entlassung

Tabelle .1—Bei den Amtszeiten der 13 früheren Klinikdirektoren finden sich auffällige Abweichungen. Heine hat die Klinik nur im Sommersemester 1907 geleitet, Günther stand ihr fast 20 Jahre lang vor. Zwei Herren mußten aus politischen Gründen gehen: Velhagen, weil er NSDAP-Mitglied gewesen war, Franke im Nach- gang der Wiedervereinigung. — 1: → Seite 45, Anmerkung (a). 2: bei Greifenhagen, Pommern. 3: Gemeinde Kropielniki, westlich von Rudki gelegen, damals Kronland Galizien, Österreich-Ungarn.

Unter den vielen Assistenten, die Römer in Greifswald hatte, stechen Heinrich Gebb, Wilhelm Grüter und der oben erwähnte Löhlein hervor. Römer hatte Gebb in Gießen und Würzburg kennengelernt. Im Oktober 1907 brachte er Gebb mit nach Greifswald. Wenig später stieß, von Gießen her kommend, Löhlein hinzu, vermutlich von Vossius oder von Hermann Kossel, Gaff ĸys Nachfolger, vermittelt. Unter beiden hatte er gearbeitet. Der starke Einfıuß, den Römer auf alle drei hatte, zeigt sich in deren zahlreichen Arbeiten immunbiologischen Inhalts. Gebb wirkte an der Entwicklung neuer Sehproben mit, sowie an der Untersuchung verschiedener Anilinfarben hinsichtlich ihrer Wirkung auf augen- pathogene Keime, insbesondere Diplokokken. Das Ergebnis dieser Bemühungen war die Herstellung einer Anilinfarbstoffmischung namens Greifswalder Blau , die man vorrangig zur Bindehautdesinfektion einsetzte.a 1909 wurde Gebb Dozent, 1913 außerordentlicher Professor. 1915 wechselte er nach Frankfurt am Main. Auch Grüter befaßte sich mit der Bakteriologie des Auges. Zum Dozenten stieg er aber erst 1911 in Marburg unter Ludwig Bach auf, dies allerdings mit einer Habilitationsschrift, deren Vorarbeiten er bereits in Greifswald erledigt hatte.b Später gelang ihm die Übertragung des Herpes corneae vom Menschen auf gesunde Kaninchenhornhäute.c Grüters Marburger Lehrer waren – neben Bach – Alfred Bielschowsky und Karl Stargardt. In Bonn arbeitete Grüter noch einmal unter Römer, nun als dessen Oberarzt. 1927 stieg er in Marburg zum Nachfolger des ver- storbenen Stargardt auf.

a Römer P, Gebb H, Löhlein W: Experimentelle und klinische Untersuchungen über die hemmende und abtötende Wirkung von Anilinfarbstoffen auf augenpathogene Keime. GAO 87 (1914) 1 — zu Löhlein → auch Anmerkung (a) auf Seite 18 b Grüter W: Kritische und experimentelle Studien über die Vaccine-Immunität des Auges und deren Beziehungen zum Gesamt- organismus. Habilitationsschrift, Marburg, 1911. Bergmann, Wiesbaden, 1911. Auszug: AA 70 (1911) 241 · Experimentelle und klinische Untersuchungen über den sogenannten Herpes corneae. KMB 65 (1920) 398 18 Abriß zur Geschichte der Klinik und zum Assistentenbetrieb ————————————————————————————————————————————————————— Römers Nachfolge hier wurde im Zuge einer Hausberufung erledigt: Sie fiel Löhlein zu, Römers Oberarzt. Der so Auserkorene hatte eine vielseitige Ausbildung genossen. In Gießen hatte er internistisch, augenärztlich und bakteriologisch, in Leipzig pathologisch gearbeitet. Hier, in Greifswald, verfolgte er die augenärztliche Strecke weiter, zunächst, Römers wegen, mit bakteriologisch-serologischer Forschungsrichtung. Aber schon seine 1910 entstandene Habilitationsschrift trägt andere Züge, und das bereits erwähnte Greifs- walder Blau ist hauptsächlich sein Werk. a Kurz darauf wandte sich Löhlein der Kerato- plastik zu, wobei er zuerst übernähend (epikeratoplastisch , lamelläre Technik) arbeitete, dann aber zum Ersatz , zum paßgenauen Tausch gesunder Leichenhornhaut gegen kranke Empfängerhornhaut – heute Standardtherapie – überging. Jahrzehnte später hat er seine Erfahrungen in Sachen Hornhauttransplantation zusammengefaßt. a Im Ersten Weltkrieg diente Löhlein freiwillig als Sanitätsoffizier an der Front, sodaß Römer die Klinikarbeit und alle Arbeit in der im Hause untergebrachten Reservelazarettabteilung ohne ihn, den Oberarzt, leisten mußte. 1918 folgte Löhlein einem Ruf nach Dorpat, Estland, doch die Niederlage des Reiches und die politischen Wirren im Baltikum ließen ihn nach wenigen Monaten in seine hiesige Stellung zurückkehren. b So kam es, daß 1921, als Römer nach Bonn wechselte, Löhlein die Nachfolge hier antrat. Löhlein wirkte lange in Greifswald, aber seine Zeit als Greifswalder Ordinarius und Klinikchef war recht kurz. Sie wäre noch kürzer gewesen, wäre Löhlein sogleich, nicht erst 1924, dem an ihn ergangenen Ruf, in Jena die Nachfolge Wolfgang Stocks anzutreten, gefolgt.c 1930 ging er als Nachfolger Theodor Axenfelds nach Freiburg und 1934 schließlich als Nachfolger Emil Krückmanns nach Berlin. Sein Verdienst besteht auch darin, mit großem Geschick auf dem Gebiete der Verwaltung die Klinik durch die entbehrungsreichen Nachkriegsjahre und das Chaos der Infıationszeit gebracht zu haben. Von den folgenden Herren wird ausführlich die Rede sein, denn sie standen der Klinik in den Jahren des Nationalsozialismus vor. Der erste, Wilhelm Meisner, Löhleins Nach- folger, war am 30. Januar 1933, als Paul von Hindenburg den Führer der NSDAP, Adolf Hitler, zum Reichskanzler ernannte, schon 102 Monate lang im Amt. Am 1. August 1924 hatte er die Klinik übernommen. 26 Monate unter Hitler kamen hinzu. So ragt das Ende von Meisners Greifswalder Zeit klar in die Phase der Machtfestigung der NSDAP hinein. Den Großteil seines hier in Greifswald entstandenen Werkes hatte Meisner Anfang 1933 schon geleistet. Darunter sind zahlreiche Konjunktivitis-Arbeiten, insbesondere über das Trachom. d Der gemeinsam mit Arthur Brückner, Basel, verfaßte Grundriß der Augen- heilkunde lag in der 2. Aufıage vor.e Ende März 1935 folgte Meisner einem Ruf nach Köln, um die Nachfolge Ernst Engelkings anzutreten, der nach Heidelberg ging. Wilhelm Rohrschneider, der zweite (und letzte) Oberarzt Meisners in Greifswald, ging mit seinem Chef an den Rhein.

a Löhlein W: Pharmakodynamische Gesetze im Stoffwechsel des Auges und seine Beziehungen zum Gesamtstoffwechsel. Habilitationsschrift, Greifswald, 1909. Auszug: AA 65 (1910) 318 und 417 · Über die bakterizide Wirkung verschiedener Anilin- farbstoffe gegenüber augenpathogenen Keimen und ihre praktische Verwertbarkeit bei äußeren Augenerkrankungen. Konegen, Leipzig, 1913 · Erfahrungen auf dem Gebiete der Hornhautüberpflanzung. GAO 151 (1950) 436 b Löhlein W: Das letzte Semester der deutschen Universität Dorpat. Greifswald, Adler, 1919 c Wegner schreibt, der streng national denkende Löhlein habe den Ruf nach Jena erst angenommen, nachdem die rote Landes- regierung Thüringens durch eine nationale ersetzt war. Den ersten Ruf habe er »unter ausdrücklichem Hinweis auf die würde- losen Zustände in Jena« abgelehnt. Quelle: Wegner, 3 d → Seite 247: Endnote 353 e Brückner A, Meisner W: Grundriß der Augenheilkunde für Studierende und praktische Ärzte. Thieme, Leipzig, 2. Auflage, 1929 · Kurzes Handbuch der Ophthalmologie. 7 Bände. Hrsg: F. Schieck, A. Brückner. Springer, Berlin, 1930 – 1932. Meisners Bei- trag über den Tränenapparat befindet sich im 3. Band. Gebäude und Ordinarien 1873 – 2004 19 —————————————————————————————————————————————————————

Wilhelm Meisner Karl vom Hofe Karl Velhagen

26 39

26,5 53,1 102 78

17,6 12

Graphik 1—Natürlich unterscheiden sich die Amtsperioden der Herren, die die Klinik in der NS-Zeit leiteten, in ihrer Dauer, wie, das zeigen die Diagramme. Links: Greifswalder Zeiten insgesamt, NS-Zeit-Anteile gepunktet, Zahlen = Monate. Rechts: NS-Zeit allein, Anteile in Prozent, Kriegszeit gepunktet. — Am 30. Januar 1933 war Meisner (●) bereits 102 Monate lang im Hause. 26 Monate später ging er nach Köln. Meisners Nachfolger, vom Hofe ( ●), blieb 39 Monate lang hier. Dessen Nachfolger, Velhagen ( ●), leitete die Klinik bis zum Frühjahr 1946. Im Mai 1945 hatte er 78 Dienstmonate als Klinikdirektor hinter sich. Zwischen vom Hofe und Velhagen, immerhin 4 Monate lang, leitete Matthias Glees, vom Hofes Oberarzt, die Klinik (weiße Lücken).

Karl vom Hofe, bislang Oberarzt unter Engelking in Köln, kam nach Greifswald, um Meisners Nachfolge anzutreten. Anfangs hatte er Mühe zurechtzukommen. Ärzte fehlten, nicht einmal Praktikanten waren im Hause. Doch schließlich gelang vom Hofe sogar die Einrichtung einer außerplanmäßigen Assistentenstelle, die er vom ersten Tag an besetzen ließ. Für die »ganz große« Wissenschaft hatte vom Hofe hier keine Zeit und, am Anfang wenigstens, wohl auch keine Gelegenheit. Ein Lehrbuch von seiner Hand lag bereits vor.a Nachdem im Herbst 1937 Meisner überraschend von Köln nach München gegangen war, wo seit der Entlassung Karl Wesselys, der Jude war, der Ordinarius gefehlt hatte, riefen die Kölner wieder, nun zum zweitenmal, den hiesigen Ordinarius zu sich, und vom Hofe nahm an. Mitte 1938 ging er, und Matthias Glees, der Oberarzt, mußte bis zur Ankunft des Nachfolgers bleiben.

a vom Hofe K: Einführung in die Augenheilkunde für Studierende und Ärzte. Urban & Schwarzenberg, Berlin, 1935 20 Abriß zur Geschichte der Klinik und zum Assistentenbetrieb ————————————————————————————————————————————————————— Glees, der weiter unter vom Hofe arbeiten wollte, mußte länger bleiben, als ihm lieb war, denn die Wiederbesetzung des Lehrstuhls verlief nicht ohne Reibungen. Erst Ende Oktober 1938 übernahm Karl Velhagen, bisher Oberarzt unter Wilhelm Clausen, Halle, die Klinik. Obwohl diese in den Jahren des Krieges Einschränkungen und Entbehrungen erfuhr, hauptsächlich in Gestalt einer verordneten Abgabe von Ärzten an zivile Stellen und an die Wehrmacht und in Gestalt einer Reservelazarettabteilung Augenheilkunde , die man aus der Substanz der Klinik schuf, hielt Velhagen diese am Laufen. Mehr noch: Sein Verdienst ist es, daß auf vielen Teilgebieten wissenschaftlich gearbeitet wurde, trotz des Krieges. Velhagens Lehrbuch Sehorgan und innere Sekretion ist nur ein Ergebnis dieses unermüdlichen Strebens. Ein anderes Ergebnis ist die Habilitation des Oberarztes Sophus Mielke. Vergleicht man die Amtsperioden von Meisner, vom Hofe und Velhagen mit dem Be- stand des Dritten Reiches, also mit dem Zeitraum zwischen Machtübernahme 1933 und Kapitulation 1945, so zeigt sich: Meisners Greifswalder NS-Zeit-Anteil, 26 Monate, fällt in etwa mit den Jahren zusammen, die das Regime zur Festigung seiner Macht benötigte; vom Hofes NS-Zeit-Anteil, 39 Monate, fällt mit jenem Zeitabschnitt zusammen, den die Mehrheit der Deutschen als verdienten Wiederaufstieg der Nation erlebte, trotz des Sich- Fügens, des Stillhaltens und der Unterordnung unter ein unerbittlich handelndes Regime. Velhagens Anteil, 78 Monate, umfaßt die letzten Monate vor Kriegsbeginn sowie die ge- samte Kriegszeit. Im Herbst 1945 wurde Velhagen entlassen. In Ermangelung eines geeigneten Ersatz- mannes bat man ihn jedoch, am Hause zu bleiben und weiterzumachen. Velhagen blieb, er machte weiter. 1946 kam das endgültige Aus. Velhagen wurde nicht mehr gebraucht, so dachte man, weil man glaubte, den geeigneten Ersatzmann gefunden zu haben. Walter Jahnke, praktischer Augenarzt aus Stralsund, vormals Stettin, wurde mit der Führung der Klinik beauftragt. Er hatte das zu bieten, was in der Frühzeit der Sowjetzone am ehesten zählte, eher als fachliches Können und Menschenkenntnis: Er war kein Nazi gewesen. Er war politisch unbelastet. Seine Berufung wurde durchgewinkt. Im Schnellverfahren, ohne Habilitation also, ging es nach oben. 1947 folgte die Ernennung zum Professor mit Lehr- auftrag. Doch es ging nicht gut, nicht lange. Jahnkes Charaktermängel ließen schon bald Reibungen in Klinik und Fakultät entstehen, Studentenproteste kamen hinzu. 1949, nach längerer, angeblich krankheitsbedingter Abwesenheit, trat Jahnke zurück, genauer gesagt, er fıoh aus dem Amt.a Jahnkes Nachfolger war Dieter Schulte, bis dahin Oberarzt bei Wilhelm Comberg in Rostock. Er machte es besser. Ihm gelang es, jene schwierige Personallage zu meistern, die zu Beginn der 50er Jahre herrschte, weil die Politik der Moskau-treuen SED-Führung viele Ärzte aus der jungen DDR vertrieb. Unter Schulte begann man mit dem seit Jahren anstehenden Erweiterungsbau am Westgiebel. Dann aber, 1953, noch vor dem 17. Juni, ging auch Schulte in den Westen. Er übernahm die Augenklinik in Mülheim an der Ruhr, die zuvor Walter Roggenkämper geleitet hatte. b Folge: Die Arbeiten am Erweiterungsbau schliefen ein.

a Jahnke hat noch einmal versucht, als Kliniker Karriere zu machen. In einer Jahnke-Arbeit von 1957 – Atropinvergiftungen im heißen Klima. Tox 16 (1957) 243 – stößt man auf die Angaben »Aus der Staatlichen Augenklinik Bagdad-Karkh « und »Chef- Ophthalmologe Prof. Dr. W. Jahnke « sowie auf »Hannover, Gellertstraße 27, z.Zt. Kabul, University Eye Hospital in Kabul- Alliabad « (Adresse des Verfassers). In einer Arbeit von 1959 – Trachomerfahrungen im Orient. ZA 138 (1959) 422 – heißt es, »Prof. Dr. Walter Jahnke« sei Direktor der Universitätsaugenklinik in Kabul. b Ein besonders seltenes Jubiläum: Am 8. Januar 2013 ist Dieter Schulte 100 Jahre alt geworden. Gebäude und Ordinarien 1873 – 2004 21 —————————————————————————————————————————————————————

Bild .5 (oben )―Der Operationssaal der Klinik befand sich im Obergeschoß des (östlichen, damals einzigen) Anbaus. An der Wand steht der große Riesenmagnet, der zur Entfernung eisenhaltiger intraokularer Fremdkörper verwendet wurde. Im Hintergrund erkennt man die Fassade der (alten) Universitätsbibliothek. — Bild .6 (unten) ―Am Fenster, hier links, befinden sich die Arbeitsplätze für die Ärzte. Die Schreibmaschinen und das Telefon sind zu erkennen. Auf dem Tisch rechts, in einem Holzgestell, stehen die verschiedenen Augentropfen bereit. Letztere wurden in Pipetten- flaschen aufbewahrt. Man beachte den geschwungenen Untersuchungs- und Behandlungsstuhl. Fotos: Mielke mmmmm 22 Abriß zur Geschichte der Klinik und zum Assistentenbetrieb ————————————————————————————————————————————————————— Georg Günther war der Hoffnungsträger. Er hatte in Berlin die Klinik in der Ziegel- straße kommissarisch geleitet; Löhlein hatte die Leitung niedergelegt. Gleichzeitig hatte Günther die Gründung der Augenklinik in Berlin-Buch vorbereitet und dann (auch) diese Einrichtung geleitet. Günther war der richtige. Er gab der Klinik das zurück, was ihr seit Velhagens Entlassung gefehlt hatte: Kontinuität. Unter Günther wurde der Westanbau vollendet. Zwei neue Stationen, darunter eine Kinderstation, zusammen 40 Betten, und ein neuer Hörsaal entstanden. Außerdem rief Günther eine Pleoptik-Orthoptik-Abteilung ins Leben, die erste in der DDR. Zwei größere Untersuchungs- und Behandlungsräume sowie 4 Krankenzimmer mit insgesamt 15 Betten ließ er im Trachomhaus einrichten. Später, als er Dekan war, trug Günther wesentlich dazu bei, den großen Widerstand der Studenten gegen die neugegründete Sektion Militärmedizin abzubauen. a Bereits in Berlin hatte sein wissenschaftliches Interesse hauptsächlich der Keratoplastik und der Methodik der ob- jektiven Sehschärfebestimmung gegolten.b An diesen Schwerpunkten hielt Günther fest. Zwei seiner Schüler, nämlich Karl-Ernst Krüger und Hans Gliem, müssen hier erwähnt werden, denn beide erhielten später Lehrstühle, Krüger in Halle – Nachfolge von Günter Badtke – und Gliem hier.c Gliem folgte Günther, seinem Lehrer, als dieser 1972 in den Ruhestand ging. Gliem baute Günthers Forschungsschwerpunkte aus. Er machte die Klinik zum Keratoplastik- zentrum der DDR, und er rief eine Abteilung für Elektrophysiologie ins Leben. Letztere benötigte er für einen ganz neuen, von ihm selbst gesetzten Schwerpunkt, nämlich für die Elektrookulographie. Zudem festigte Gliem die Zusammenarbeit mit dem Karlsburger Diabetes-Institut. Dies bot sich an, weil Fluoreszenzangiographie und Laser Einzug in die Klinik gehalten hatten. Die Behandlung von Diabetikern umfaßte nun auch die Netzhaut- photokoagulation. 1977 ging Gliem als Nachfolger von Günter Hager, der die DDR ver- ließ, an die Charité. Günter Franke, Gliems Nachfolger, kam aus Magdeburg. Er baute die Kinderstation aus, und er leitete die Einrichtung einer Hornhautbank in die Wege. Letztere wurde 1992 eröffnet. Franke, der vor kurzem verstorben ist, hatte großen Anteil daran, daß die Klinik die schwierige Zeit zwischen der politisch-gesellschaftlichen Wende in der DDR und der Wiedervereinigung ohne elementare Schäden überstanden hat. Im Nachgang der Wieder- vereinigung wurde Franke, da politisch belastet, entlassen. Er blieb in Greifswald, um als praktischer Augenarzt weiterzuarbeiten. Der jetzige Direktor der Klinik, Stefan Clemens, Frankes Nachfolger, war 1994, als er auf den hiesigen Lehrstuhl berufen wurde, leitender Oberarzt der Universitätsaugenklinik Münster.

a Hierzu: Der Aufstand von Greifswald. Der Spiegel 1955, 17, 24 — Studentisches Aufbegehren in der frühen DDR: Der Wider- stand gegen die Umwandlung der Greifswalder Medizinischen Fakultät in eine militärmedizinische Ausbildungsstätte im Jahr 1955. Hrsg: HP Schmiedebach, KH Spieß. Steiner, Stuttgart, 2001 b Günther G: Klinische und experimentelle Studien und Erfahrungen bei der objektiven Sehschärfenbestimmung auf der Grund- lage des optokinetischen Nystagmus mit eigenen Geräten. Marhold, Halle, 1950 · Über das Auge und seine Schädigungen. Ein Hilfsbuch für Sehschwachen- und Blindenlehrer sowie für Studenten der Sehgeschädigtenpädagogik. Marhold, Halle, 1954. c Gliem H: Die Belichtungsreaktion des Bestandspotentials bei gesunden und kranken Augen. Untersuchungen zum klinischen Elektrookulogramm. Habilitationsschrift, Greifswald, 1968 — Krüger KE: Zur Problematik des Strabismus, unter besonderer Berücksichtigung der Amblyopie. Ergebnisse klinischer und experimenteller Untersuchungen der motorischen und sensorischen Störungen des Sehorgans und deren Behandlung. Habilitationsschrift, Greifswald, 1961