IVS GR 57 INVENTAR HISTORISCHER IVS Dokumentation Bedeutung National VERKEHRSWEGE Kanton Graubünden DER SCHWEIZ Seite 1

Strecke GR 57 (Landeck -) - La Punt-Chamues-ch (- Chiavennna) Landeskarte 1218, 1237, 1238

GESCHICHTE Stand November 1997 / Hj

Die Strecke Zernez - La Punt-Chamues-ch ist Teil der übergeordneten Verbindung von Landeck im Tirol bis Chiavenna oder – im grösseren Rahmen betrachtet – Teil der Route von der Lombardei nach Süddeutschland (vgl. auch GR 33, 59). Zernez liegt ausserdem am Fusse des Ofenpasses, einer bequemen und wirtschaftlich nicht zu unterschätzenden Verbindung ins Etschtal und ins Veneto. Der Endpunkt der Strecke, La Punt-Chamues-ch, befindet sich am Aufstieg zum Albulapass (GR 39) einer Passroute, die etwa seit dem 13. Jahrhundert allmählich als innerbündnerischer Transitpass wichtig wurde.

Zernez ist erstmals 1161 als "Zarnez", und zwar als Sitz eines Tarasper Hofes, der Herren von Tarsap, fassbar. 1332 wird es im Zusammenhang mit Erzgruben am Ofenpass (rom. Il Fuorn) erwähnt. Die Eisenschmelze gab dem Pass den Namen (Ofen, romanisch Il Fuorn). Berühmt waren die Wälder von Zernez, welche lange Zeit Holz für die Salzwerke Hall im Tirol lieferten (KDMGR 1940: III/538f.). Das Dorf wurde 1872 durch ein Grossfeuer praktisch zerstört.

In und um Zernez deuten prähistorische Funde auf seine frühe Verkehrsbedeutung hin – so in Muottas nordöstlich von Zernez oder auf Muottas da Clüs. "Es scheint aber, dass diese strategisch wichtige Talsperre schon in einer frühen Phase der jüngeren Eisenzeit eine bedeutende Rolle gespielt haben muss" (ZÜRCHER 1982: 49). Aus der Römerzeit gibt es nur einen Einzelfund, und zwar ein bronzenes Spiralarmband. Die Verbindung über den Ofenpass ist – wenigstens indirekt – auch urkundlich früh belegt: So sicherte Bischof Hartwig von Chur im Jahre 1219 den "Comasker Kaufleuten freien und sichern Durchzug nicht nur durch das ganze bis , sondern auch durch den Vintschgau bis Mals zu" (SCHNYDER 1973: 22). Seine Lage in einer Schlaufe der beiden Flüsse und Spöl zwang Zernez, "sechs kostbare Bruken über den Spoil und Oen zu erhalten" (SERERHARD 1994:108).

La Punt als Zielort der Strecke bildet mit Chamues-ch zusammen die Gemeinde La Punt-Chamues-ch. Der ursprüngliche Siedlungskern ist der heutige Dorfteil Chamues-ch am Eingang des Val Chamuera. Nach KDMGR kommt der Ort 1139 im Gamertingschen Verkauf vor, und zwar in der Form "Campolovasco". Daraus entwickelte sich das bereits 1293 belegte Camogask und im 18. Jahrhundert die italianisierte Form Campovasto (KDMGR 1940: III/343). Der Dorfteil Ponte oder La Punt (zu deutsch auch "Brücke") hat sich offensichtlich erst später, mit dem zunehmenden Verkehr über den Albula, entwickelt (KDMGR 1940: III/343; siehe auch PLANTA 1985: 54ff.; MATHIEU 1988: 71 und BUNDI 1993: 73). Zur Zeit CAMPELLS, also in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, existierte La Punt bereits als Dörfchen. Wie der Name sagt, führte hier eine Brücke über den Inn, bevor der Talweg oder die Landstrasse bei wieder auf die linke Talseite wechselte (CAMPELL 1851: 70). Zur Zeit von SERERHARD, in der Mitte des 18. Jahrhunderts, war La Punt eine IVS GR 57 INVENTAR HISTORISCHER IVS Dokumentation Bedeutung National VERKEHRSWEGE Kanton Graubünden DER SCHWEIZ Seite 2

"ansehnliche Nachbarschaft" von Camogask, "ein mittelmässig, doch wohl erbautes Ort an der Landstrass. Der Innfluss theilets, etliche Häusser stehen diesseits, etliche jenseits der Bruk. Hier ist auch ein Niederlag derienigen, die über den Albula Berg auf Bergünn reisen" (SERERHARD 1742: 105).

Die Transitlinie durchs Engadin wird schon früh erwähnt: "Andererseits diente der Weg über den Maloja nicht nur als Vorstufe zum Julier. Über ihn wickelte sich aber auch der Verkehr von Italien durch das Ober- und Unterengadin ab, der in Finstermünz seit 45 nach Christus Anschluss an die bekannte Via Claudia erhielt, die von Verona über Bozen, Meran, die Reschenscheideck (1510 m.ü.M.) und den Fernpass (1210 m.ü.M.) nach Füssen führte. Zahlreiche urgeschichtliche Funde, besonders aber Römer Münzen, untermauern die frühe Begehung dieses Engadiner Weges, der keine besondern Schwierigkeiten bot" (SCHNYDER 1973: 6). Im 9. Jahrhundert liefert das Urbar des Reichsgutes den Hinweis für eine Handelsroute durch das Engadin, indem es die Zinsen von den Herbergen und erwähnt (CD: I/298, SCHNYDER 1973: 11; siehe auch PAULI 1980: 219- 266). Annamarie Schwarzenbach schrieb zu den Susten im Engadin: "Die Sust der oberen Pleif befand sich in , dem Ausgangsort des Julierverkehrs, die der mittleren Pleif in , in Suot-Fontauna Merla gab es Herbergen in Las Agnas, in Campovasto und später auch in Zuoz. Da der Verkehr im Oberengadin von den Gemeinden organisiert wurde, waren auch die Herbergen Angelegenheit der öffentlichen Verwaltung und dienten meistens zugleich als Gemeindehaus" (SCHWARZENBACH 1931: 127).

Allzu intensiv darf man sich den frühen Warenverkehr aber kaum vorstellen. BUNDI kommt in seiner Besiedlungs- und Wirtschaftsgeschichte Graubündens im Mittelalter zum Schluss, das Oberengadin sei "im 9. Jahrhundert eine eher dünn besiedelte Landschaft" gewesen; dies änderte sich erst mit dem Beginn des 14. Jahrhunderts, und zwar besonders im Gebiet von Silvaplana und Sils (BUNDI 1989: 171ff.). Seit Mitte des 14. Jahrhunderts weiss man, dass der Engadiner Weg insbesondere von der Nürnberger Kaufmannsfamilie Stromer oder Stromeir aus Nürnberg begangen wurde (SCHNYDER 1973: 21f.). Der Warenverkehr ist auch in den Gemeindeurkunden belegt: 1408 erhalten Sils und Silvaplana vom Gericht Zuoz die "Fürleite" zugesprochen, was vermutlich das Recht, Waren zu transportieren, bedeutete (GA Sils, 1.Febr.1408, Nr.6). Die erste bekannte Portordnung stammt von 1471, in welcher der Warentransport und die Erhebung von Weggeldern und Brückenzöllen geregelt wird (MARGADANT/MAIER 1993: 91).1586 geht es um den Warentransport vom tirolischen Hall über den Maloja nach Chiavenna: Christoffel von Schuls und Jan Wursin von Martinsbruck führen Klage gegen Ochsenfuhrhalter und Säumer von Sils und Silvaplana, weil sie für ihr Salz und anderen Fuhren nach Chiavenna nicht zum abgemachten Preis von Silvaplana nach Casaccia führen wollen. Überdies sei der Weg in schlechtem Zustand (GA Sils, 15. 12. 1586). Über die folgenden Jahrhunderte liegen zur Verkehrsentwicklung kaum Angaben vor. Nach 1700 stellte sich offenbar ein Frequenzrückgang ein: Trotz Bemühungen, die Strassen zu verbessern, habe sich der Warenverkehr im Engadin nach Lorsa nach 1700 verringert. Die Abnahme sei vor allem auf die Steigerung der Zölle in Tirol und Bayern zurückzuführen (LORSA 1807: 248). Neben dem Albula-Bernina-Verkehr beginnt auch ein lokaler IVS GR 57 INVENTAR HISTORISCHER IVS Dokumentation Bedeutung National VERKEHRSWEGE Kanton Graubünden DER SCHWEIZ Seite 3

Saumverkehr vom Raum Davos her über den Scalettapass (2606 m) in die Val Susauna (= Zuozertal) eine Rolle zu spielen. Am Ausgang dieses Seitentales, nordöstlich von S-chanf, entstand um 1200 eine St. Nikolauskapelle, welcher kurz darauf ein Hospiz angegliedert wurde... Das Hospiz von Chapella ist seit 1259 nachgewiesen. Es erfüllte eine wichtige Funktion am Kreuzpunkt mehrerer Wege, wovon einer möglicherweise schon damals über den Casannapass oder Pass Chaschauna (2694 m, vgl. GR 414) ins -Tal nach Bormio im Veltlin führte und dem Vieh- und Weintransport diente (BUNDI 1989: 174f.).

Historisch lassen sich auf dieser Teilstrecke vereinfachend drei Weggenerationen unterscheiden:

-Die „Via Imperiela“ oder „Reichsstrasse“ (vgl. GR 59.1)

-Die Strasse von 1776 von Punt Ota bis Maloja (vgl. GR 59.2)

-Die Engadinerstrasse von 1854/56 (vgl. GR 59.10)

GELÄNDE Aufnahme 18. September 1997 / Hj

Die Linienführungen der oben genannten drei Weggenerationen lassen sich nicht immer klar voneinander trennen. Dies betrifft vor allem die beiden ersten, welche morphologisch grundsätzlich dem gleichen Typus angehören. Anders verhält es sich mit der Kunststrasse, deren Neuanlage klar aus den Strassenplänen (LA NICCA/SALVETTI 1835 - 41) bzw. aus dem Topographischen Atlas hervorgeht (TA 424 Zernez 1877 und TA 427 Bevers 1878).

Hervorzuheben ist auf dieser Strecke zum einen der Abschnitt von Zernez bis kurz vor Brail, wo die Kunststrasse mehrheitlich auf die rechte Talseite verlegt wurde, zum andern das Teilstück zwischen Brail und Chapella, wo für die Kunststrasse ein neues Trassee angelegt wurde. Bemerkenswert ist auch der Abschnitt von Zuoz bis La Punt-Chamues-ch, da hier die Neuanlage von 1776 mit ziemlicher Gewissheit kartographisch nachzuweisen ist.

Wo GR 57.1, also die ehemalige „Via Imperiela“, in ihrem Verlauf noch erhalten ist, handelt es sich mehrheitlich um einen geschotterten oder geteerten Flurweg. (Mehr dazu auch in GR 57.1 und in den Abschnittsbeschrieben GR 57.1.4 und 57.1.5.) Auch die Relikte von GR 57.2 sind als geschotterter Flurweg (GR 57.2.1) vorhanden. Die Kunststrasse (GR 57.10) verfügt nur noch über sehr wenige traditionelle Elemente. Als Ausnahmen wären generell die Dorfdurchfahrten zu nennen oder die Brücke über den Vallember zwischen Cinuos-chel und Chapella. –––– Ende des Beschriebs ––––