Film des Monats November 2020 Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt? Berlin, während der Weltwirtschaftskrise: Verzwei- felt über die schier aussichtlose Jobsuche stürzt sich ein junger Arbeiter aus dem Fenster. Seine Familie verliert die Wohnung und zieht in eine Zelt- stadt am Rande der Metropole. Anlässlich der Ver- öffentlichung der restaurierten Fassung auf DVD widmen wir dem Klassiker des deutschen proleta- rischen Kinos unsere November-Ausgabe. Sie bietet eine Filmbesprechung und einen Hintergrundtext zu Brechts Kinoarbeiten sowie eine Videoanalyse. Zum Thema finden Sie darüber hinaus Unterricht- material ab der 9. Klasse. © picture-alliance/akg-images Film des Monats November 2020 Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt? Inhalt FILMBESPRECHUNG UNTERRICHTSMATERIAL 03 Kuhle Wampe oder: 13 Arbeitsblätter Wem gehört die Welt? Kuhle Wampe - DIDAKTISCH-METHODISCHE KOMMENTARE INTERVIEW – DREI AUFGABEN ZUM FILM AB KLASSE 9 05 „Der Film erlaubt einen Einblick in das, was 21 Filmglossar kurz danach nicht mehr 30 Links und Literatur denkbar war.“ 31 Impressum HINTERGRUND 07 Brecht und das Kino VIDEOANALYSE 09 Narrative und assoziative Montage am Beispiel von Kuhle Wampe ANREGUNGEN 11 Außerschulische Film- arbeit mit Kuhle Wampe www.kinofenster.de Film des Monats November 2020 Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt? Filmbesprechung: Kuhle Wampe (1/2) – Deutschland 1931/32 Drama, Propagandafilm Veröffentlichungstermin: 30.10.2020 Verfügbarkeit: DVD/Mediabook bei ATLAS Film GmbH Regie: Slatan Dudow Drehbuch: Bertolt Brecht, Ernst Ottwalt Darsteller/innen: Hertha Thie- le, Ernst Busch, Martha Wolter, Adolf Fischer, Lilli Schonborn, Max Sablotzki, Gerhard Bienert, Erwin Geschonneck u.a. © Praesens Film © Praesens Kamera: Günther Krampf Laufzeit: 75 min Format: 35 mm, Schwarzweiß, Kuhle Wampe oder: 1:1,33 ja Barrierefreie Fassung: 3 Wem gehört die Welt? FSK: ab 12 J. (31) Altersempfehlung: ab 14 J. Eine Arbeiterfamilie erlebt in Berlin das Elend der Weltwirtschaftskrise. Klassenstufen: ab 9. Klasse Der Film Kuhle Wampe des Regisseurs Slatan Dudow gilt als Klassiker des Themen: Filmgeschichte, proletarischen Films. Kommunismus, Musik, Arbeitslosigkeit, (Deutsche) Geschichte m Beispiel der Berliner Arbeiterfamilie gewillt, die Umstände tatenlos hinzuneh- Unterrichtsfächer: Deutsch, A Bönike schildert der Film Kuhle Wam- men, schließt sich Anni der sozialistischen Politik, Geschichte, Musik, pe oder: Wem gehört die Welt? das Prob- Agitprop-Gruppe ihrer Freundin Gerda an. Kunst lem der Arbeitslosigkeit zur Zeit der Welt- wirtschaftskrise. Auf der Arbeitssuche zum Ein Fall für die Zensurbehörde wiederholten Male erfolglos geblieben, Kuhle Wampe wurde bereits zur Premie- nimmt sich der junge Bönike das Leben. re 1932 als „erster proletarischer Tonfilm“ Für Trauer bleibt keine Zeit. Die ebenfalls bezeichnet. Als Urheber agierte ein un- arbeitslosen Eltern und die Schwester Anni abhängiges Künstlerkollektiv, das im We- sind aufgrund der zusehends schlechte- sentlichen aus dem bulgarischen Regisseur ren Lebensbedingungen nicht mehr in Slatan Dudow, den Drehbuchautoren Ber- der Lage, ihre Miete zu zahlen und ziehen tolt Brecht und Ernst Ottwalt sowie dem in die Zeltstadt „Kuhle Wampe“ am Stadt- Filmkomponisten Hanns Eisler bestand. rand Berlins. Dass Anni, die als einzige Ar- Die Finanzierung durch die politisch lin- beit in einer Fabrik hat, schwanger wird, ke Produktionsgesellschaft Prometheus macht die Situation für die Familie nicht Film gestaltete sich überaus schwierig und einfacher. Die Verlobung mit ihrem unwil- stand zeitweilig auf der Kippe. Ein anfängli- ligen Freund Fritz („Ich will meine Freiheit ches Verbot durch die Zensurbehörde, die behalten“) gerät zum Reinfall. Nicht mehr den „kommunistischen Tendenzfilm“ www.kinofenster.de Film des Monats November 2020 Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt? Filmbesprechung: Kuhle Wampe (2/2) als scharfen Angriff auf staatliche Rechts- der kontrapunktisch verwendeten Musik sucht nach revolutionären Lösungen in der grundlagen und insbesondere die Politik Hanns Eislers und der typisierten Darstellung Bevölkerung weit verbreitet war. Der längst der regierenden Sozialdemokaten einstuf- von Problemen wandte Brecht sich auch ge- aufstrebende Nationalsozialismus – unter te, konnte nach einigen Schnittauflagen gen frühere „proletarische Filme“ wie Mut- dessen Herrschaft der Film umgehend ver- abgewendet werden. Der Schere zum Op- ter Krausens Fahrt ins Glück (1929). Deren boten wurde – bildet eine bemerkenswerte fer fielen etwa sämtliche Hinweise auf das weiterhin klassische Formensprache, die Leerstelle. Beeindrucken kann die Gemein- Thema Abtreibung, was in der schließlich durch psychologische Einfühlung und me- schaftsarbeit bis heute durch viele einpräg- zugelassenen Fassung des Films für einige lodramatische Spannung den Mustern des same, durchaus unterhaltsame Szenen. Verständnisschwierigkeiten sorgt. kommerziellen Films folgte, sollte vermie- Dazu gehört der berühmte Schlussdialog in Der agitatorische Charakter von Kuh- den werden. der S-Bahn auf der Heimfahrt nach einem le Wampe – sowie sein historischer Rang Ein Beispiel für die von der Zensur er- Fest der Arbeitersportverbände. Über das – verdankt sich der avantgardistischen staunlich scharf bemängelte „Typisierung Thema künstlich hochgehaltener Kaffee- Mischung aus Spiel-, Dokumentar- und dieser Einzelschicksale“ ist die der Arbeits- preise geraten die jungen Arbeitersportler/- Musikfilm. Der Film beginnt mit einer suche folgende Familienszene. Der junge innen in Streit mit einer Handvoll ste- Montagesequenz, in der auf eine Aufnah- Bönike – er hat nicht einmal einen Namen reotypisierter Bürgerlicher. Wer ist dafür me des Brandenburger Tors Bilder von In- – bekommt von seinen Eltern Vorhaltun- verantwortlich? Wer profitiert davon? Und dustrieanlagen, trostlosen Mietskasernen gen gemacht: Wer sich bemühe, bekomme wer eigentlich soll diese Welt ändern? „Die, und schließlich Titelseiten von Zeitungen auch Arbeit. Die Darsteller/-innen sprechen denen sie nicht gefällt“, lautet die pro- folgen, deren Schlagzeilen ständig stei- bewusst tonlos, ihre Sätze entlarven sich grammatische Antwort. Und das bereits gende Arbeitslosenzahlen verkünden. Im als bloße Worthülsen – ein markanter „Ver- mehrfach angedeutete „Solidaritätslied“ Stil eines Stummfilms, begleitet von einer fremdungseffekt“ im Sinne Brechts, ebenso („Vorwärts, und nicht vergessen“) schwillt 4 irritierend aufputschenden Musik, geht es wie auch der Blick des Sohns in die Kame- zur unüberhörbaren Fanfare an. Eigens für (31) weiter: Der junge Bönike begibt sich auf Ar- ra. Während dieser keine andere Lösung als den Film komponiert, wurde es zu einem beitssuche. Er ist ein Mensch in der Masse, den Freitod sieht, beginnt Anni, den Grund musikalischen Klassiker der internationa- der mit unzähligen anderen an einer Litfaß- des Elends zu durchschauen: Es gibt keine len Arbeiterbewegung. säule auf die eintreffenden Stellengesuche Arbeit. Zu ihrer Bewusstwerdung trägt auch wartet und sich anschließend aufs Rad ihre Verlobungsfeier bei. Das anfängliche Autor: schwingt. Die Jagd nach Arbeit zeigt der Bemühen um kleinbürgerliche Feierlichkeit Philipp Bühler, freier Filmjournalist Film als Wettkampf unter erbarmungslo- steigert sich – in einer brillanten Schnittfol- und Redakteur, 26.11.2020 sem Druck. Die rastlose Montage radelnder ge – zu einer wilden Sauf- und Fressorgie. Arbeiter und bitterer Absagen („Arbeiter An einer sentimentalen Idealisierung des werden nicht eingestellt“) bewegt sich äs- Proletariats hatte Brecht kein Interesse. Im thetisch auf dem damaligen Stand der Zeit: Gegenteil werden insbesondere die älteren Vorbild war das sowjetische Revolutionski- Arbeiter/-innen, die ihre Situation wider- no („Russenfilme“), das auch in Deutsch- spruchslos hinnehmen, satirisch aufs Korn land aufmerksam registriert wurde. genommen. Das Publikum soll hingegen Annis Wendung zum Klassenbewusstsein Filmemachen als nachvollziehen, indem es die „Kunstwirk- politische Praxis lichkeit“ (Brecht) des Films erkennt und Für den Drehbuchautor Brecht war Filme- somit auch die eigene Situation als verän- machen wie jede künstlerische Tätigkeit Teil derbar begreift. der politischen Praxis – und Parteilichkeit oberstes Gebot. Die ungewöhnliche Machart Zum Finale erklingt das von Kuhle Wampe folgte seinen Maßgaben „Solidaritätslied“ des „epischen Theaters“, das Widersprüche Kuhle Wampe ist ohne Zweifel ein Propa- aufdecken soll und das Publikum so zum Mit- gandafilm, klar verortet in der Endphase denken aktiviert. Mit assoziativen Montagen, der Weimarer Republik, in der die Sehn- www.kinofenster.de Film des Monats November 2020 Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt? Interview: Martin Koerber (1/2) rüber, ob es jetzt passieren soll und wer das „Der Film erlaubt einen Einblick bezahlt, war in Original etwas expliziter. in das, was kurz danach nicht Wie waren die Reaktionen auf die mehr denkbar war.“ Zensur des Filmes und wie wurde die gekürzte Fassung vom Publikum aufge- Martin Koerber, Leiter des Filmarchivs der Deutschen Kinemathek, nommen? über die Restaurierung von Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?, Aufgrund der bekannten Beteiligten – wie die Zensurgeschichte und die Bedeutung des Films. Bertolt Brecht, Ernst Ottwalt und Hanns Eisler – war die Fachwelt schon vor Erschei- nen des Films sehr interessiert, was bei die- Wenn wir heute Kuhle Wampe anschau- sem gemeinsamen Filmprojekt entsteht. en, sehen wir nicht die ursprüngliche, Im Laufe des Zensurverfahrens hat sich sondern die zensierte Fassung. Die
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