Dieter Hölsken Die V-Waffen Entwicklung und Einsatzgrundsätze Bei seinem ersten öffentlichen Auftritt nach der Katastrophe von Stalingrad versprach Hider Anfang 1943 einer gespannt wartenden Bevölkerung, daß in absehbarer Zeit »unbekannte, einzigartig dastehende Waffen« zum Einsatz kommen und das Kriegs- glück zugunsten des Deutschen Reiches wenden würden ^ Diese Ankündigungen bezogen sich auf die Entwicklung unbemannter, automatisch gesteuerter Flugkörper: der düsengetriebenen Flugbombe und der überschallschnellen Flüssigkeitsrakete. In der Folgezeit verstand es die Goebbelssche Propaganda, die Ängste vor dem sich abzeichnenden Zusammenbruch auszunutzen, indem sie suggerierte, der Krieg könne durch die »Vergeltungswaffen« noch in letzter Stunde gewonnen werden. Mit dem Einsatz der V-Waffen ab Juni 1944 begann dann in der Kriegsgeschichte das Zeitalter der Waffensysteme, die sich selbsttätig über große Entfernungen in ihr Ziel steuern. Flugbombe und Rakete wurden so zum Ausgangspunkt einer Entwicklung, an deren Ende heute Marschflugkörper und Interkontinentalraketen stehen. Die Ursprünge der Waffen, die Hitler Anfang 1943 ankündigte, lagen im Deutsch- land der zwanziger Jahre. Hier war es die Rakete, die auf ein breites Interesse in der Öffentlichkeit stieß. Amateurforscher wie Tieling, Winkler, Sanders und Valier wa- ren in aller Munde. Sie konstruierten mit viel Begeisterung und wenig Geld kleine Pulverraketen, die sie dann dem Publikum vorführten. Gleichzeitig malte eine Viel- zahl von Publikationen mit Titeln wie »Vorstoß in den Weltraum« die Zukunftsmög- lichkeiten der Raketenentwicklung in den leuchtendsten Farben aus. Hier war der Traum vom Flug zu fernen Planeten bereits Wirklichkeit geworden. In der Praxis war man von diesem Ziel jedoch noch weit entfernt. Aus der Masse all dieser Phantasie- produkte stach 1922 ein Buch mit dem Titel »Die Rakete zu den Planetenräumen« klar hervor. Sein Autor war der am 25. Juni 1894 in Hermannstadt in Siebenbürgen geborene Hermann Oberth. Oberth wies in seinem Werk den Weg zur Flüssigkeits- rakete, mit deren Hilfe es nach seiner Meinung allein möglich war, den Anziehungs- bereich der Erde zu verlassen. War diese Idee an sich zwar nicht neu, so war Oberth jedoch der erste, der diesen Gedanken mathematisch exakt untermauerte und damit die theoretischen Grundlagen für die spätere Raketenentwicklung schuft. Zu den Lesern dieses Buches gehörte auch der Regisseur Fritz Lang. Er gab Oberth 1928 die Chance, seine Ideen in die Tat umzusetzen, indem er ihn mit der Entwick- lung einer fünfzehn Meter langen Flüssigkeitsrakete betraute. Diese Rakete sollte am Tag der Premiere seines Filmes »Frau im Mond« als Reklamegag aufsteigen. Dement- sprechend wurden die für die Arbeiten notwendigen Geldmittel aus dem Reklame- konto der Universum Film AG (UFA) zur Verfügung gestellt. Als Mitarbeiter gesell- ten sich zu Oberth Rudolph Nebel, Klaus Riedel und Rolf Engel. In der Schlosserei der UFA entstand so innerhalb von sechs Wochen eine Raketenbrennkammer für flüssige Treibstoffe, die als Kegeldüse in die Geschichte einging. Wie nicht anders zu erwarten, wurde die bestellte Reklamerakete nicht bis zur Film- premiere fertig. Danach war es der Direktor der Chemisch-Technischen Reichsanstalt in Plötzensee, Dr. Ritter, der den Forschern eine Chance zum Abschluß der Arbeiten an der Brennkammer gab. In dieser Zeit stieß zur kleinen Gruppe um Oberth der Ab- 95 MGM 2/85 iturient Wernher Freiherr v. Braun, dessen Begabung für den Fortgang der gesamten Raketenentwicklung noch von entscheidender Bedeutung sein sollte. Bereits im Som- mer 1930 assistierte er bei der ersten erfolgreichen Vorführung der Kegeldüse, die bei einer Laufzeit von über 90 Sekunden 4,9 kg flüssigen Sauerstoff und Benzin bei ei- nem Schub von 7,0 Kilopond (kp) verbrannte. Die Zündung der Treibstoffe erfolgte mit einem brennenden Lappen! Mit dem erfolgreichen Abschluß dieser Entwicklung fand auch die finanzielle Unterstützung durch die Chemisch-Technische Reichsan- stalt ihr Ende. Danach arbeiteten lediglich Rudolph Nebel und Klaus Riedel weiter an dem Projekt der Flüssigkeitsrakete. Unter ihrer Leitung kam erst im September 1930 wieder eine Gruppe von etwa fünfzehn Raketenenthusiasten — unter ihnen auch Wernher v. Braun — zusammen, um auf einem ehemaligen Schießplatz der Reichs- wehr im Nordwesten Berlins die Forschungen fortzuführen. Auf dem »Raketenflug- platz« gelang dann 1931 der Start der ersten deutschen Flüssigkeitsrakete, eines von Riedel konstruierten »Repulsors«. Flog diese Rakete, die im wesentlichen aus zwei Rohren bestand, zwischen deren oberen Enden (!) die Brennkammer saß, in ihrer er- sten Version lediglich 20 m hoch, so wurden im Verlauf des Jahres Höhen von annä- hernd 1500 m erreicht^. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Arbeiten alle aus eigenen Mitteln und Spenden finanziert worden. Bei der Suche nach neuen Geldgebern war Nebel im Frühjahr 1932 beim Heereswaffenamt angekommen, wo er auf die Ver- wendbarkeit der Rakete für militärische Zwecke hinwies. Es kam zu einer Demon- stration der Rakete auf dem Schießplatz Kummersdorf, der etwa vierzig Kilometer südlich von Berlin lag. Der Testflug mißlang zur Enttäuschung aller Beteiligten''. Nichtsdestotrotz war man im Reichswehrministerium an der Raketenentwicklung sehr interessiert. Hier hatte sich nämlich seit 1930 eine Gruppe um Oberst Karl Bek- ker, den Chef der Abteilung für Ballistik und Munition gebildet, der Major v. Hor- stig, sein Munitionsexperte, und Hauptmann Walter Dornberger angehörten. Ihr Ziel war die Entwicklung einer modernen Kriegsrakete. Diese Idee war durch den Um- stand gefördert worden, daß Deutschland durch die Bestimmungen des Versailler Vertrages im Bereich der herkömmlichen Rüstung engste Grenzen auferlegt worden waren Interessanterweise war es ursprünglich aber nicht eine Rakete als Träger eines hoch- explosiven Sprengkopfes, die im Mittelpunkt des Interesses stand, sondern eine Ra- kete, die Giftgas auf große Entfernungen verschießen sollte. Dieser Gedanke basierte auf den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, die gezeigt hatten, daß die herkömmli- che Methode im Umgang mit Giftgas die eigenen Soldaten gefährdete, da die Wurf- weiten relativ gering waren. Eine Rakete mit großer Reichweite hätte hier Abhilfe schaffen können^. Obwohl Oberst Becker und Major v. Horstig zunächst nur die Pulverrakete für reali- sierbar hielten, setzte sich schließlich Dornberger durch, der die leistungsfähigere Flüssigkeitsrakete bevorzugte. Die heereseigene Raketenforschung kam in der Folge- zeit aufgrund technischer Schwierigkeiten nicht voran. In dieser Situation richtete sich das Interesse der Abteilung unter Becker auf die privaten Amateurforscher, die zu diesem Zeitpunkt, im Frühjahr 1932, beneidenswerten Erfolg hatten. Es kam zu der bereits geschilderten Raketenvorführung durch Nebel und seine Mitarbeiter auf dem Schießplatz in Kummersdorf Danach machte Becker den Forschern klar, daß sie nur dann finanzielle Unterstüt- zung erhalten sollten, wenn sie sich unter militärische Obhut begeben und unter sei- nem Befehl arbeiten würden. Verständlicherweise waren die Männer um Nebel nicht bereit, ihre bisherige Unabhängigkeit zu opfern. Wernher v. Braun erkannte jedoch, daß sich nur bei der Reichswehr die Möglichkeit bot, über die Stufe der momentanen Entwicklung hinauszukommen. Er ging deshalb auf ein Forschungsangebot Beckers 96 ein und war vom 1. Oktober 1932 an Zivilangestellter der Reichswehr. Er studierte in der Folgezeit Physik an der Universität Berlin, wo er schließlich an der Wehrwissen- schaftlichen Fakultät mit einer Arbeit über Probleme der Flüssigkeitsrakete promo- vierte. Für den praktischen Teil dieser Forschungen wurde dem gerade Zwanzigjähri- gen die Leitung der neueingerichteten Heeresversuchsstelle für Flüssigkeitsraketen in Kummersdorf übertragen. Mit Hitlers Machtergreifung brachte das Jahr 1933 das Ende für die privaten Raketenforscher. Unter dem Hinweis auf Geheimhaltungsbe- stimmungen gab es fortan nur die Alternative, entweder für das Heereswaffenamt zu arbeiten oder aber die Forschungen einzustellen. Unter diesen Umständen entschie- den sich die meisten Privatforscher für die erste Lösung, so daß Wernher v. Brauns Arbeitsgruppe bald mehr als fünfzig Mitarbeiter umfaßteAls erste vollständige Flüs- sigkeitsrakete hatte man in Kummersdorf das »Aggregat 1« (AI), einen 140 Zentime- ter langen und 30 Zentimeter starken Flugkörper von 150 kg Gewicht geplant. Das Triebwerk sollte einen Schub von 300 kp leisten. Sein erster Probelauf am 21. Septem- ber 1932 hatte mit einer Explosion geendet. Erst nach einem Jahr härtester Entwick- lungsarbeit hielt der Raketenofen drei bis vier Brennversuche aus, ohne durchzubren- nen. Die ersten Flugversuche der AI ergaben dann, daß die Rakete in dieser Form kopflastig war. Sie wurde fortan nur noch zu Standversuchen verwendet. Im Jahr 1934 folgte auf sie die A2, die sich von ihrer Vorgängerin nur dadurch unter- schied, daß die Kreisel-Stabilisierungsanlage aus der Raketenspitze in die Mitte des Körpers verlegt worden war. Anfang Dezember 1934 wurden auf der Nordseeinsel Borkum zwei Starts mit der A2 durchgeführt, bei denen die Raketen auf eine Höhe von 2200 m stiegen. Ein erster Durchbruch war geschafft'. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Oberst Becker, der mittlerweile Chef der Amtsgruppe für Entwicklung im Heereswaffenamt geworden war, die für die Versuche notwen- digen finanziellen Mittel dadurch beschafft, daß die übrigen Entwicklungsabteilungen alle einen kleinen Prozentsatz ihres Etats für Kummersdorf abzweigen mußtenMit
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