
SWR2 Oper Peter Tschaikowski: „Eugen Onegin“ Sendung: Sonntag, 27. Dezember 2020, 20.03 Uhr Redaktion: Bernd Künzig SWR2 können Sie auch im SWR2 Webradio unter www.SWR2.de und auf Mobilgeräten in der SWR2 App oder als Podcast hören: Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Die SWR2 App für Android und iOS Hören Sie das SWR2 Programm, wann und wo Sie wollen. Jederzeit live oder zeitversetzt, online oder offline. 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Auch wünschte sich der Komponist junge Sängerinnen und Sänger, die auch dem Alter der von ihnen verkörperten Rollen entsprechen sollten. Tschaikowski setzte sich dabei mit seinen Wünschen durch. Am 17. März 1879 wird die Oper im Moskauer Maly-Theater gegeben. Der Name des Aufführungsortes als „Kleines Theater“ zeigt schon die Intimität der Angelegenheit. Die Sängerinnen und Sänger waren jung, sie waren allesamt Studenten des Moskauer Konservatoriums und wurden von Nikolai Rubinstein geleitet. Der Dirigent drängte Tschaikowski allerdings schon nach der erfolgreichen Uraufführung dazu, das Werk unbedingt an einem großen Haus heraus zu bringen. Erst zwei Jahre später findet am 11. Januar 1881 die offizielle Uraufführung am Moskauer Bolschoi-Theater statt. Und damit beginnen die Aufführungsprobleme des Stücks. Zwei Ballszenen mit Walzer und Polonaise verführten die Opernkonvention dazu, das Stück in Richtung Ausstattung zu verbiegen. Dazu wird das Orchester noch angeheizt und auf der Bühne versuchen die Sängerinnen und Sänger mit Stimmgewalt anzukommen. Davon ist in unserer Aufnahme nun nichts zu hören. In vielen Aufführungen verwandelt sich dagegen das intime Stück in eine große Oper. Und genau daran dachte Tschaikowski nicht. Im Gegenteil bekundete er im Vorfeld der Komposition und in Bezug auf Giuseppe Verdis „Aida“ und Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“, dessen Uraufführung er in Bayreuth 1876 beiwohnte, dass er mit ägyptischen Prinzessinnen und germanischen Göttern nun einmal nichts anzufangen wüsste. Er bräuchte Menschen aus Fleisch und Blut. Die fand Tschaikowsky nun ausgerechnet im vielleicht zentralen Werk des Dichters Alexander Puschkin. Sein „Eugen Onegin“ ist allerdings weder ein Theaterstück noch ein Roman, sondern ein Versepos. Ausgerechnet für seine durchaus mit Ironie durchzogene Lebensgeschichte seines titelgebenden, zur Emotionalität vollkommen unfähigen Lebensmannes, der von seiner eigenen Langeweile durch die Welt getrieben wird, wählte Puschkin eine dichterische Form, die wir eher aus Homers Heldenepos über Odysseus kennen. Aber Puschkins „Eugen Onegin“ ist ein ironisch gebrochener Odysseus auf einer vergeblichen Irrfahrt zu sich selbst. Er wird im Unterschied zum antiken Helden nie bei sich ankommen und mit einem verpfuschten Leben enden. Keine leichte Aufgabe, aus einem solch literarisch raffinierten Gebilde eine Oper zu formen. Eine Aufgabe, an der man nur scheitern kann, wenn man sie als „Eins zu Eins-Veroperung“ von Puschkins Text auffassen würde. Doch das tat Tschaikowsky beileibe nicht. Das Versepos ist Vorlage und Vorgabe, aber die Musik ist weder Umsetzung noch Illustration der Sprachkunst eines unerreichbaren Vorbildes. Und da es sich beim Original um ein Versepos handelt, setzt es auch eine episch breite Handlung voraus. Man könnte das auch als einen Roman in Versen bezeichnen. Und dessen Breite lässt sich natürlich kaum in einem Bühnenstück fassen, geschweige denn in einer Oper. Entsprechend wird die Angelegenheit und die Handlung im Libretto, das Tschaikowski zusammen mit Konstantin Schilowskij selbst erstellte, entsprechend gerafft. Auf Vollständigkeit gegenüber dem Original Puschkins wird hier dementsprechend wenig Wert gelegt. Wie mit einem Fernglas werden aus der epischen Breite bestimmte Momente nahe gerückt, anderes wird nur gestreift. Die Handlung schreitet bewusst mit Sprüngen voran. Eine Tragödie des Alltags ist Tschaikowskis „Eugen Onegin“ schon deshalb nicht, weil die drei Einheiten einer solchen von Ort, Zeit und Handlung bewusst verletzt werden. Der Untertitel der „lyrischen Szenen“ ist keineswegs eine Verlegenheitslösung, sondern ein bewusstes Konzept des Komponisten, damit eine völlig neue Struktur einer Oper zu erzeugen, die es so bislang noch nicht gegeben hat. Das Ergebnis wirkt dann erstaunlicherweise auch weniger wie eine Vertonung des Puschkinschen Epos, sondern wie eine Vorwegnahme von etwas Zukünftigem. Man könnte 2 3 hier den Eindruck gewinnen, als finde die Aufführung eines Stückes von Anton Tschechow auf der Opernbühne statt. Tschechows erstes Stück „Platonow“ war allerdings erst im Jahr vor der Uraufführung von Tschaikowskis lyrischen Szenen entstanden. Den lakonischen und melancholischen Realismus dieses großen Theaterdichters konnte Tschaikowski also gar nicht gekannt haben, als er seine Oper komponierte. Aber seine Oper atmet einiges vom Geist dieses großen „Theatererneuerers“ auf der Opernbühne. Wir befinden uns im ersten Akt der Oper auf einem russischen Landgut. Dort wohnt die verwitwete Gutsbesitzerin Larina mit ihren beiden Töchtern Tatjana und Olga. Während Tatjana noch von einem Märchenprinzen träumt, hat sich Olga in den schwärmerischen Nachbarn und Poeten Lenskij verliebt. Zu Beginn macht die Dorfbevölkerung mit Folklore ihre Aufwartung. Während Tatjana von den Liedern bezaubert ist, belustigt sich die realistische Olga darüber. Lenski, der nun auch Olga seine Aufwartung macht, hat heute einen Freund aus Moskau mitgebracht, der sich seit kurzem auf dem Land niedergelassen hat. Dieser Eugen Onegin erscheint wie ein Großstadtdandy, dessen Auftreten Tatjana sofort an den romantischen Dichter Lord Byron erinnert, einen ihrer literarischen Heroen. Es kommt, wie es kommen muss: während Lenski mal wieder seine schwärmerische Liebe zu Olga bekennt, verliebt sich Tatjana auf den ersten Blick in den lässig-zynischen Onegin. Im zweiten Bild befinden wir uns im Zimmer Tatjanas. Sie hat beschlossen, ihrem Gefühlssturm Ausdruck zu verleihen. Sie will Onegin einen Bekenntnisbrief schreiben. Was in dieser Szene passiert? Nichts, außer dem Verfassen dieses Briefes. Und dieser grandiose Monolog einer gewaltigen Fieberkurve des inneren Gefühlswirrwarrs ist keine gewöhnliche Arie mehr. Es ist, um mit Heinrich von Kleist zu sprechen, die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Sprechen. Wir erleben hier in einer organisch wuchernden Form geradezu naturalistisch auskomponiert, wie ein solcher Brief geschrieben wird. Hier lässt Tschaikowski alle Opernformen und -konventionen weit hinter sich und komponiert das Protokoll einer weiblichen Gefühlslandschaft. Es ist die Kernszene der ganzen Modernität dieser Partitur, die endgültig aus dem Melodramatischen der Oper des 19. Jahrhunderts in den musikalischen Realismus der Moderne ausbricht. Die letzte kurze Szene des ersten Aktes gehört dem nächsten Tag. Onegin hat Tatjanas Brief erhalten. Freundlich, aber kalt bestimmt erklärt er ihr, dass er sie nicht liebe und er eine mögliche Ehe als äußerste Qual empfinde. Die Mitwirkenden im ersten Akt von Peter Tschaikowskis lyrischen Szenen des „Eugen Onegin“: Eugen Onegin: Bernd Weikl Lenski: Stuart Burrows Larina: Anna Reynolds Tatjana: Teresa Kubiak Olga: Julia Hamari Filipjewna: Enid Hartle Wir hören den John Alldis Chor und das Orchester des Royal Opera House Covent Garden unter der Leitung von Georg Solti. Musik: Peter Tschaikowski: „Eugen Onegin“, 1. Akt (70:44) Im SWR2 Opernabend heute Peter Tschaikwoskjs lyrische Szenen nach Alexander Puschkins gleichnamigen Versroman „Eugen Onegin“. 3 4 Tschaikowskis Meisterwerk ist als ein solches mittlerweile anerkannt. Erstaunlicherweise war das zur Entstehungszeit in Russland nicht ganz so einhellig. In Tschaikowskis Realismus können wir heute eine Revolution der Oper erkennen, vor allem der russischen, die nur der Großtat von Modest Mussorgskis „Boris Godunow“ gleichkommt. Wenngleich Mussorgski einen Stoff aus der russischen Vergangenheit wählte und Tschaikowski sich um einen Gegenwartsstoff bemühte: beide hatten sich mit Alexander Puschkin auf den gleichen Dichter ihrer Vorlagen bezogen. Nun standen sich der Kreis um Mussorgskj, das sogenannte „mächtige Häuflein“ mit Nikolai
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