Matthias Glaubrecht, Berlin ~ Karl August Möbius: Von Lebensgemein- schaften zur Artenvielfalt Werk und Wirken eines außergewöhnlichen Zoologen Das Konzept der ,,Lebensgemeinschaft" oder Biozönose gehört zum wichtigsten Vermächtnis des Zoologen und Meeresbiologen Karl August Möbius (1825-1908). Weniger bekannt ist dagegen, dass Möbius auch ein einflussreicher Museumsreformer war, dem bedeutende Naturkundemuseen wie etwa das in Berlin ihre bis heute aktuelle Konzeption verdanken. Gänzlich in Vergessenheit geraten sind indes seine Verdienste um einheitliche Regeln der Nomenklatur sowie seine Diskussion zur Bedeutung des ,,Artbegriffs" im Lichte der Abstammungstheorie von Charles Darwin und zur Frage der Artenvielfalt in der Natur. Dabei war Möbius einer der ersten, der bereits am Ende des 19. Jahr- hunderts jene Frage nach Umfang und Erfassungsgrad der biologischen Vielfalt stellte und zu beantworten versuchte, der wir heute unter dem Schlagwort ,,BiodiversitätU große Bedeutung beimessen. Karl August Möbius, dessen Todestag sich am 26. April 2008 zum 100. Mal jährte, verkörpert mit seinem umfangreichen wissenschaftlichen Wirken mithin einen frühen Ansatz zur synthetischen Betrachtung von Zoosystematik, Evolutionstheorie und Ökologie. u den Kernaufgaben der modernen Biosystematik gehört zum einen, sämtliche auf der Erde lebende Organismen zu erfassen, zu beschreiben und zu benennen (Taxonomie) und sie zum anderen gemäß ihrer genealogischen Verwandtschaft einzuordnen (Phylogene- tik und Klassifikation) [l].So wünschenswert und letztlich unabdingbar dabei ein möglichst vollständiger Überblick über alle Arten ist, so sehr stehen die Bemühungen etwa um eine komplette Encyclopedia of Life - wie sie derzeit das amerikanische Konsortium gleichen Namens anstrebt [2] - oder auch nur derversuch einer Abschätzung der tatsäch- lichen Artenzahlen insbesondere bei den Tieren noch immer am Anfang. Zwar sind seit Carl von Linnes (1707-1778)Ver- such einer Inventur der ihm bekannten 4236 Tierarten im Rahmen seiner Systema Naturae 250 Jahre vergangen, doch weichen die derzeitigen Hochrechnungen der Biodiversität noch immer um Größenordnungen voneinander ab, zumal Abb. 1. Porträt von Karl August Möbius (1825-1908). Das Ölgemälde das AusmaI3 der Artenvielfalt insbesondere in den Welt- wurde 1895 von Ernst Hildebrand anlässlich von Möbius' 70. Geburtstag meeren nicht wirklich abschätzbar ist. So vermögen wir die angefertigt und befindet sich heute irr Berliner Museum für Naturkunde; Artenzahl derzeit kaum präziser anzugeben als mit groben eine Kopie besitzt das Zoologische Museum in Kiel. [Photo C. Radke] Schätzungen von fünf bis sieben oder gar 13 bis 30 Millio- nen Tierarten auf der Erde, von denen wir indes kaum mehr eine wichtige Erkenntnis der modernen Systematik gelten, als ein Zehntel wissenschaftlich erfasst haben dürften 131. dass die Zahl der Arten weitaus größer ist als man über Selbst für diese schätzungsweise 1,8 Millionen bekannten Jahrzehnte hinweg annahm und dass ihre Unterscheidung Tierarten ist es bislang nicht einmal im Ansatz gelungen, und Einordnung - auch im Zeitalter der Molekulargenetik ein zentrales Register zu schaffen. Immerhin darf es als - oftmals viel schwieriger sind als vermutet [I]. Naturwissenschaftliche Rundschau I 61. Jahrgang, Heft5,2008 Glaubrecht: Kart August Möbius: Von Lebensgemeinschaften zur Artenvieifalt In diesem Kontext soll an den Zoologen, Ökologen und Museumsdirektor Karl August Möbius (Abb. 1) erinnert wer- den. Denn neben seinen übrigen, im Folgenden ebenfalls zu würdigenden Verdiensten war Möbius meines Wissens nach der erste und einzige nach Linn6, der bereits 1898 den Versuch unternahm, den Umfang der biologischen Vielfalt zu ermitteln, wenngleich er diesen mit geschätzten 418 000 lebenden Tierarten noch um Größenordnungen zu niedrig ansetzte. Dieser Versuch steht unmittelbar im Zusammen- hang mit Möbius' Tätigkeit als erster Direktor des Berliner Museums für Naturkunde in dem 1889 eröffneten Museums- Neubau. Damals wurden die zu dieser Zeit bereits überbor- denden naturkundlichen Universitäts-Sammlungen, die seit wenigstens 1810 (dem Jahr der Universitätsgründung) dort existierten, unter einem gemeinsamen räumlichen und organisatorischen Dach zusammengefasst. Auf der Grundlage einer Bestandsaufnahme von Möbius' diversen zoologischen Aktivitäten [4] sei die These erlaubt, dass er den Versuch einer Gesamtschau der Artenvielfalt nur dank seines neuen Museumskonzepts und der damit verbundenen Neuaufstellung insbesondere der überaus reichen zoologischen Sammlungen in Berlin wagen konnte. Zugleich war dieser Versuch aber nur einem talentierten Forscher und Wissenschaftskommunikator möglich, der mit synthetischem Blick sowohl das Gebiet der Systematik wie Abb. 2. Reproduktion aus dem zweiten Band der Fauna der Kieler Bucht aus dem Jahr 1872 [8]. Dargestellt sind die Wellhornschnecke (Bucci- der Ökologie überschaute - und der sich zudem durch eine num undatum 1-7) und die Gemeine Spindelschnecke Neptunea antiqua ungewöhnliche Karriere auszeichnete. (9-10). 5 und 9 zeigen das jeweilige Operculum, ein aus Protein bestehen- der Deckel zum Verschließen des Gehäuses, 7 und 10 die Radulazähne Kurzbiographie einer ungewöhnlichen Karriere und 6 das Gelege der Wellhornschnecke. Obgleich Karl August Möbius wohi einer der wichtigsten und einflussreichsten Zoologen seiner Zeit in Deutschland larisierer naturkundlicher Inhalte in der stark kommerziell gewesen war, gibt es nur verstreute biographische Skizzen ausgerichteten bürgerlichen Gesellschaft der damals noch und Notizen, die erst vor kurzem zusammengefasst wurden freien Kaufmanns- und Handelsstadt Harnburg [5]. Bereits [4]; auch hier muss ein kurzer biographischer Abriss genü- Möbius' erste wissenschaftliche Studie zur Naturgeschichte gen. limnischer wie mariner Perlen, nach seiner Promotion zum Karl August Möbius wurde am 7. Februar 1825 in Eilen- Dr. phil. durch die Universität Halle (Saale) im Dezember burg in Sachsen als Sohn eines Stellmachers und Kutschen- 1853, ist in diesem Kontext einer angewandten Zoologie zu bauers in vergleichsweise einfachen Verhältnissen geboren. sehen. Er untersuchte nicht nur Dünnschliffe von Perlen, Da ihm dadurch der Besuch einer Universität zuerst nicht sondern sezierte auch die perlenproduzierenden Muscheln. möglich war, wurde er nach der Schulausbildung Grund- 1855 heiratete Möbius Helene Pauline Meyer, mit der er schullehrer in Seesen im Harz. Schon bald drängte es ihn drei Kinder hatte. Trotz seiner nicht eben geringen Unter- allerdings nach einer Universitätsausbildung, für die er sich richtsverpflichtung (immerhin 22 bis 26 Stunden pro Woche) ab 1849 in Berlin einschrieb, um Vorlesungen bei Johannes am Johanneum widmete sich Möbius zudem während sei- Müller, Christian Gottlieb Ehrenberg und vor allem Martin ner insgesamt 15 Jahre in Hamburg nicht nur den beiden Hinrich Carl Lichtenstein zu hören, sämtlich Professoren am (mitunter konkurrierenden) naturkundlichenvereinigungen dortigen Museum für Naturkunde. der Hansestadt und dem Aufbau eines zoologischen Gartens und des ersten Seewasser-Aquariums, sondern bemühte Die Hamburger Jahre: 1853-1868 sich auch um die Popularisierung naturkundlicher Themen Bei Lichtenstein war er auch Assistent, bevor er durch des- durch Zeitungsberichte undvorträge. Nyhart hat Karl Möbi- sen Vermittlung als Oberlehrer für Mathematik und Natur- us dabei als einen Wissenschaftskommunikator der ersten kunde im Frühjahr 1853 an die renommierte Gelehrten- und Stunde porträtiert, bei dem das Publizieren für ein spezielles Realschule Johanneum nach Hamburg ging. Dies war Möbi- Fachpublikum einerseits und für eine interessierte breite us' erster von drei außergewöhnlichen Karrieresprüngen, wie Öffentlichkeit andererseits stets Hand in Hand ging [5]. die amerikanische Wissenschaftshistorikerin Lynn Nyhart Für seinen wissenschaftlichen Werdegang sicherlich am bemerkte. Sie hat Möbius' Rolle insbesondere als „ciuic zoo- wichtigsten war 1857 die Begegnung mit dem Fabrikan- logist" untersuchte, also sein Wirken als Zoologe und Popu- ten und naturforschenden Autodidakten Heinrich Adolph Naturwissenschaftliche Rundschau I 61. Jahrgang, Heft 5,2008 Konzepte und Geschichte Meyer (1822-1889), aus der sich eine höchst fruchtbare missarische Leitung des Zoologischen Museums in Berlin Zusammenarbeit und lebenslange Freundschaft entwi- anbot. Im März 1888 wurde Möbius zum Professor für ckelten [6, 71. Ab Sommer 1859 studierten Möbius und Systematik und Zoogeographie der königlichen Friedrich Meyer gemeinsam die Lebensweise der marinen Fauna in Wilhelms-Universität zu Berlin berufen [ll] und machte der Kieler Förde, wo sie bald mehr Arten beobachteten als in damit, im Alter von 62 Jahren, seinen dritten und wich- der gesamten Ostsee bis dahin bekannt waren. Auf Meyers tigsten Karriereschritt, „reuehing the pinnacle of German Segelyacht Marie gelang es ihnen über Jahre, den schmalen natural history", der größten und bedeutendsten natur- Fjord systematisch hinsichtlich der abiotischen und bio- kundlichen Sammlung in Deutschland 151. Angesichts des tischen Komponenten zu untersuchen und diese in einem bis dahin erworbenen Renommees als respektierter Zoolo- zweibändigen Werk unter dem Titel Fauna der Kieler Bucht ge und Museumsfachmann war diese Berufung durchaus zu dokumentieren (Abb. 2,4; 181). Vor dem die Einleitungs- angemessen und für uns heute weniger überraschend als kapitel, in denen das Interagieren von Organismen mit ihrer damals für Möbius selbst. jeweiligen Umwelt beschrieben wird, lassen sich als
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