1 86 3. Juni 1964: Fraktionssitzung

1 86 3. Juni 1964: Fraktionssitzung

SPD – 04. WP Fraktionssitzung: 03. 06. 1964 86 3. Juni 1964: Fraktionssitzung AdsD, SPD-BT-Fraktion 4. WP, Ord. 8. 1. 1964 – 9. 6. 1964 (alt 1035, neu 14). Überschrift: »Protokoll der Fraktionssitzung am Mittwoch, d. 3. Juni 1964. Beginn: 15.15 Uhr«. An- wesend: 164 Abgeordnete; Fraktionsassistenten: Bartholomäi, E. Heinrich, Jäger, List, Niemeyer, Scheele, P. Schmidt, Schubart, Selbmann, Wedel, Winkel, Winninger; PV: Nelke, Ritter; Vorwärts: v. Puttkamer, Stallberg. Prot.: Laabs. Zeit: 15.15 – 18.20 Uhr. Tagesordnung: 1. Politischer Bericht 2. Vorbereitung der Plenarsitzungen am 4. und 5. Juni 3. Vorlagen aus den Arbeitskreisen 4. Die nächsten Termine 5. Verschiedenes Fritz Erler eröffnet die Sitzung und berichtet über ein Gespräch, das er am Vormittag mit dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Stammberger gehabt hat.1 Stammberger habe den Wunsch geäußert, Mitglied der SPD und ihrer Bundestagsfraktion zu werden. Die Motive, die er dabei genannt habe, seien einleuchtend und ehrenvoll gewesen. In diesem Zusammenhang müsse er sich gegen einen Angriff wenden, den die CSU heute gegen Stammberger geführt habe, indem sie behauptete, manchen FDP-Politikern gehe es nicht um die Durchsetzung sachlicher politischer Ziele, sondern sie strebten nach Äm- tern und Positionen. Fritz Erler weist darauf hin, daß Stammberger vor kurzem das Amt eines Geschäftsführers der Kernreaktor-Gesellschaft in Karlsruhe angeboten wor- den sei. Er habe dieses sehr lukrative Amt ausgeschlagen, weil er sich bereits mit dem Gedanken getragen habe, zur SPD überzutreten.2 Er stellt zur Entscheidung, daß Stammberger mit seinem Übertritt in die SPD zugleich Mitglied der Fraktion wird. Es wird einstimmig beschlossen, daß die SPD-Bundestagsfraktion Bundesminister a. D. Dr. Stammberger in ihren Reihen willkommen heißt.3 Fritz Erler berichtet über die Beratungen des Parteivorstandes im Anschluß an die Reise Willy Brandts nach Amerika.4 Er begründet, weshalb die Vereinigten Staaten die 1 Stammberger (1920-1982), MdB seit 1953 für die FDP, BMJ 1961-11. 12. 1962. Stammberger trat am 3. 6 aus der FDP-Fraktion aus. Vgl. BT Sten. Ber. 55, S. 6255. 2 In »Die SPD-Fraktion teilt mit« Nr. 178/64 vom 3. 6. 1964 heißt es ergänzend über Stammbergers Motive, er habe »nicht den Eindruck erwecken« wollen, »er lasse sich in eine solche Position von ei- ner Partei bringen, die er anschließend verlasse«. 3 Vgl. Nr. 87. 4 Brandt hatte vom 13.-21. 5. 1964 die USA besucht und am 15. 5. 1964 vor der »Foreign Policy Association« in New York eine Rede gehalten, in der er die Frage nach einem künftigen eigenständi- gen Kurs der Bundesrepublik aufwarf und die viel Aufsehen erregte. Voller Wortlaut der Rede in SPD-Pressemitteilungen Nr. 206/64 vom 19. 5. 1964; Auszüge in BRANDT, Wille zum Frieden, S. 112-114. Vgl. GRABBE, S. 565 f.; ferner die Erklärung Brandts vom 21. 5. und sein Rundfunkinter- view vom 25. 5. 1964 zu seiner USA-Reise in: DOKUMENTE ZUR DEUTSCHLANDPOLITIK IV/10, 1. Hbd., S. 585-587 und 588-593. In der Sitzung des Parteivorstandes am 29. 5. 1964, AdsD, Parteivor- stand, Parteirat vom 28. Aug. 1963-6. Juni 1964, wurde unter dem TOP »außenpolitische Fragen« darüber debattiert. Brandt berichtete einleitend über seine Eindrücke aus den Gesprächen mit Rusk, Bundy, Rostow und Präsident Johnson, der »als brennendste Frage z. Z. die Südost-Asien-Politik an- Copyright © 2017 KGParl Berlin 1 SPD – 04. WP Fraktionssitzung: 03. 06. 1964 Zeit für eine weltpolitische Offensive in der deutschen Frage im Augenblick nicht für gekommen halten. Das liege in erster Linie an der größeren Bewertung der amerikani- schen Innenpolitik durch Johnson5 und in zweiter Linie an der amerikanischen Außen- politik, die nicht Europa, sondern Südostasien in den Vordergrund stelle. Die USA sei bemüht, das Verhältnis zur Sowjetunion zu entspannen und zu spektakulären Unter- nehmungen in der deutschen Frage nicht bereit. Das bedeute kein Einfrieren der deut- schen Frage auf der Basis des status quo, sondern eine Politik langfristiger Hoffnungen. Diese Linie sei jedoch nur durchzuhalten, wenn die Deutschen sich nicht selbst entmu- tigen ließen. Deshalb müsse alles getan werden, um die menschlichen Probleme, die durch die Spaltung aufgeworfen seien, etwas zu lindern. Fritz Erler verliest dann einige Kernpunkte der Rede, die Willy Brandt in Amerika gehalten hat. Er stellt fest, daß die Absätze über [die] Politik des französischen Staats- präsidenten de Gaulle eine »respectful warning«, nicht aber eine Aufforderung zur Nachahmung gewesen sei. Die Interpretationen der Presse würden weder durch den Text gedeckt, noch lägen sie im Sinne des Vorsitzenden Willy Brandt.6 Fritz Erler befaßte sich dann mit den gestrigen Beschlüssen des Aktionskomitees für die Vereinigten Staaten von Europa.7 Er berichtete, daß alle Beteiligten sich für ein neues Gespräch mit Großbritannien und für ein faires Verhältnis der Zusammenarbeit mit den europäischen neutralen Staaten ausgesprochen haben. Hinsichtlich der atoma- sehe«. Er faßte seine Eindrücke dahin zusammen, daß »1. Die Aufmerksamkeit ihm gegenüber nicht geringer gewesen sei als bei der früheren Administration; vielleicht sogar noch einen Grad herzlicher als bei Kennedy. 2. Für Berlin bestehe nach wie vor großes Interesse, vor allem in Fragen der Erleich- terungen, so daß auch die Passierscheinfrage eine große Rolle gespielt habe«. 5 Lyndon Baines Johnson (1908-1973), 1961-63 Vizepräsident, 1963-69 Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. – Zu Erlers Reaktion auf Brandts New Yorker Rede vgl. »Süddeutsche Zei- tung« vom 1. 6. 1964: »Erler über Brandt verstimmt«. 6 Brandt hatte u. a. über de Gaulle gesagt, »manche seiner ›Entscheidungen‹ seien nicht leicht zu ver- stehen«, aber »wir« hätten auch Grund, uns »bewußt zu werden, daß de Gaulle mit Kühnheit und Eigenwilligkeit auf seine Weise das Undenkbare denkt und begonnen hat, daraus Schlußfolgerungen zu ziehen. Das Gleichgewicht des Schreckens, ausbalanciert von den beiden Supermächten, gibt ei- nen Spielraum, die starren Fronten in Bewegung zu setzen. Der französische Präsident macht hier- von auf seine Weise Gebrauch. Und manchmal frage ich mich als Deutscher: warum eigentlich nur er?« BRANDT, Wille zum Frieden, S. 113 f. – Über Erlers Ausführungen zu diesem Punkt heißt es in »Die SPD-Fraktion teilt mit« – vgl. Anm. 2 – noch: »Die Verfolgung nationaler Sonderinteressen im Rahmen der westlichen Bündnissysteme sei nicht der richtige Weg. Was die SPD in der Europapoli- tik erarbeitet habe, sei in den USA vom Parteivorsitzenden vertreten worden. Andere Interpretatio- nen, die in der Vergangenheit zu lesen waren, würden weder durch den Text gedeckt, noch lägen sie im Sinne des Vorsitzenden Willy Brandt.« In der Parteivorstandssitzung vom 29. 5. 1964 – vgl. Anm. 4 – hatten vor allem Brauer und Metzger kritisiert, daß Brandt in der Rede »de Gaulle so gelobt« und »aufgewertet« habe und unterstellten ihm, gestützt vor allem auf Veröffentlichungen der »Stutt- garter Zeitung« eine »Änderung der Politik«. Gegen den Vorwurf, Brandt habe vor der Rede die »Zustimmung der Vorstandsgremien herbeiführen müssen, verwahrte sich dieser. Ein solches Ver- fahren sei »grotesk«; er halte sich »bei seinen Reden im Rahmen der allgemeinen vom Vorstand fest- gelegten Politik«. Im übrigen habe Wehner sein Redekonzept, wenn auch nicht die Endfassung, ge- kannt, allerdings nicht Erler, der zur Kur gewesen sei. 7 Die Vier-Punkte-Erklärung des Aktionskomitees vom 1. 6. 1964 – u. a. abgedr. in AdG 1964, S. 11248-11250 – befaßte sich mit: »I. Fortsetzung der Einigung Europas«, »II. Schrittweise Verwirkli- chung einer Partnerschaft zwischen dem Vereinigten Europa und den Vereinigten Staaten von Ame- rika auf der Grundlage der Gleichberechtigung«, »III. Beginn einer gemeinschaftlichen Politik auf dem Gebiet der atomaren Probleme« und »IV. Schrittweiser Abschluß einer Reihe von Abkommen zur Entwicklung einer friedlichen Koexistenz zwischen dem Westen und der Sowjetunion, durch die die europäischen Probleme und insbesondere die Vereinigung der heute getrennten Deutschen in der europäischen Gemeinschaft geregelt wird.« Copyright © 2017 KGParl Berlin 2 SPD – 04. WP Fraktionssitzung: 03. 06. 1964 ren Zusammenarbeit hätten sich zwei Alternativen herausgestellt: Entweder komme es zu einer Zusammenarbeit zwischen Europa und USA oder zu einem nationalen bzw. europäischen Alleingang. Gegen einen solchen Alleingang habe sich das Komitee mit großer Mehrheit ausgesprochen.8 Fritz Erler berichtet über die Vorbesprechungen zur Wahl des Bundespräsidenten, die er zusammen mit Willy Brandt, Herbert Wehner und Adenauer sowie Abgeordneten aus dem FDP-Vorstand geführt habe.9 Bei diesen Besprechungen sei eindeutig darauf hingewiesen worden, daß dem Beschluß des Parteirates nicht vorgegriffen werden kön- ne.10 Aus der von der FDP abgegebenen Erklärung zur Präsidentenwahl gehe hervor, daß die FDP nicht bereit sei, einen SPD-Kandidaten zu unterstützen, wohl aber jeden anderen CDU/CSU-Kandidaten zu akzeptieren.11 In einem persönlichen Brief sei klargestellt worden, daß Weizsäcker es abgelehnt habe, eine Kandidatur anzunehmen.12 Fritz Erler berichtet über die Besprechung über das Notstandsproblem, die er beim Bundeskanzler unter Anwesenheit von Höcherl, Westrick, Krone und Hopf13 geführt habe und in der klargestellt worden sei, daß die SPD keinen Blankoscheck nach Art des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung ausstellen könne.14 Die SPD bestehe aber auf einer Gesetzgebung durch den Bundestag ebenso wie auf den anderen Punkten der 8 Bezieht sich auf Punkt III. der Erklärung, in der sich das Komitee

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