Begegnung Mit Dem Nachbarn (IV.): Schweizer Gegenwartsliteratur

Begegnung Mit Dem Nachbarn (IV.): Schweizer Gegenwartsliteratur

Michael Braun / Birgit Lermen (Hrsg.) Begegnung mit dem Nachbarn (IV.): Schweizer Gegenwartsliteratur Eine Veröffentlichung der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Inhalt Vorwort 9 Michael Braun / Birgit Lermen Grußwort 13 Christoph Kannengießer Das Kreuz mit dem „Kreuz“. Grußwort 17 Schutzgebühr: 5,- EURO Bestelladresse: Konrad-Adenauer-Stiftung Norbert Bärlocher Rathausallee 12, 53757 St. Augustin Tel.: 02241 / 246-2299 (9-12 Uhr) E-Mail: [email protected] Schweizerdeutsch, Schriftdeutsch und Schweizer Deutsch 25 Erica Benz-Steffen / Martin Zingg Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Umschlag nach einem Entwurf der Druckerei Paffenholz, Bornheim. Paradoxie und Paratopie. Titelbild: Menschen im Gespräch (1986) von Margot Jolanthe Hemberger (Lossburg), mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin. Der Ort der Schweizer Literatur 31 Redaktion: Michael Braun und Birgit Lermen. © 2005, Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Sankt Augustin Alle Rechte Vorbehalten. Michael Böhler Nachdruck - auch auszugsweise - allein mit Zustimmung der Konrad-Adenauer- Stiftung. Printed in Germany. ISBN 3-937731-66-0 Zum Diskurs „Schweizer Literatur“ Die Welt als Wille zur Vorstellung. in der Gegenwart Über Adolf Muschg Corina Caduff Martin Zingg Zeitheimat Schweiz. Über eine „kleine Literatur“ Was ist europäisch? in der Wissensgesellschaft Europas Adolf Muschg Gerhard Lauer A uswahlbibliographie „Wir brauchen eine Vergangenheit, an die wir glauben können. (Er lächelt müde.)“ Autoren und Herausgeber Thomas Hürlimann und die Auseinandersetzung mit der Zeit von 1933 bis 1945 in der Bildliche Impressionen deutschsprachigen Schweizer Gegenwartsliteratur Hans-Rüdiger Schwab „Mit dem reinen Strahl der Gerechtigkeit“. Wertekritik und Poetik bei Frisch und Dürrenmatt Franziska Schößler Zum Diskurs „Schweizer Literatur“ in der Gegenwart Corina Caduff Die internationale Forschung zur Geschichte von Nation, Nationalstaat und Nationalismus hat, als Folge der post-kommunistischen Reorganisation von Nationalstaaten sowie im Kontext der Globalisierungsprozesse, seit den 1990er Jahren Konjunktur. Dabei steht auch der Terminus der ,Nationalli­ teratur4 noch einmal neu auf dem Prüfstand: Entstehungsgeschichtlich an die Bildung von Nationalstaaten bzw. an die Ausprägung von Nationalbe­ wusstsein in und durch Literatur gebunden, ist der Prozess der Nationallite­ ratur in diesem Sinne in Westeuropa längst abgeschlossen, während er zur Zeit eine heftige Aktualisierung in Ost- und Südosteuropa erfährt. So kann man heute nicht eigentlich davon sprechen, dass das Konzept einer Natio­ nalliteratur ausgedient habe; vielmehr gilt es festzustellen, dass es sich um 65 Zum Diskurs „Schweizer Literatur“ in der Gegenwart Corina Caduff ein Konzept handelt, welches an verschiedenen Orten zu verschiedenen fer, Jakob Bächtold und Adolf Frey erschienen zwischen 1860 und 1914 Zeiten wieder aufgerufen werden kann. Zugleich geraten heute ,das Euro­ und waren geprägt vom Bemühen, Schweizer Literatur unter Beibehaltung päische4 und mit diesem auch globalisierende Literarisierungsprozesse4 nationaler Eigenheiten in den deutschen Literaturraum zu integrieren.1 mehr und mehr in den Fokus literaturwissenschaftlicher Fragestellungen, 1933 folgte Ermatingers Entwurf eines literarischen Identitätskonzepts im womit man politisch diskutierten Grenzaufweichungen nachfolgt. Sinne der Geistigen Landesverteidigung,2 und nach 1945 machte Emil Staigers Stilkritik in der deutschen Germanistik Karriere, welche nationale, In dieser Situation versuche ich am Diskurs „Schweizer Literatur44 zu zei­ gesellschaftspolitische und historische Kontexte von Literatur außer Acht gen, wie sich das nationalliterarische Konzept in der Schweiz realisiert hat ließ; stattdessen wurde eine überzeitliche, allgemeingültige Bedeutung der und was es heute noch für Auswirkungen auf das literarische Kräftever­ Literatur betont. Zugleich fanden Frisch und Dürrenmatt in der Nach­ hältnis im gesamt-deutschsprachigen Raum zeitigt. Vorauszuschicken sind kriegszeit mit ihren Parabelstücken - d.h. mit der Aufhebung konkreter his­ dabei einige Bemerkungen zur Geschichte dieses Diskurses, der in der Lite­ torischer Konstellationen in eine typisierende Darstellung des allgemein raturgeschichtsschreibung seinen Ausgangspunkt findet. Die schweizeri­ Menschlichen - weltweite Beachtung.3 sche sowie auch die österreichische Literaturgeschichtsschreibung begrün­ deten sich Mitte des 19. Jahrhunderts gleichermaßen in der Unzufriedenheit In den 60er Jahren dann trat die zweite (Nachkriegs)Schriftsteller-Gene- über die als hegemonial erfahrenen deutschen Kulturansprüche. In der ration auf den Plan (u. a. Kurt Marti, Otto F. Walter, Hugo Loetscher, Peter deutschen Kultumation diente das Konzept der Nationalliteratur der politi­ Bichsei, Paul Nizon), die sich auch mit der Schweiz im 2. Weltkrieg, mit schen Willensbildung zum Nationalstaat und ging in dieser Funktion der dem Arbeiteralltag und dem Kapitalismus auseinandersetzte und die anläss­ Reichsgründung von 1871 voraus. In der Schweiz dagegen resultierte die lich des Literaturstreits 1966/67 zusammen mit Frisch und Dürrenmatt ge­ nationalliterarische Idee aus der Bundesstaatsgründung von 1848 und trug gen Staigers Ablehnung der Gegenwartsliteratur antrat.4 In den 70ern und dementsprechend nach dieser Staatsgründung, die nicht von einem bereits 80ern folgte die sogenannte dritte und vierte Generation, wobei sich die bestehenden Nationalbewusstsein getragen war, zu einer nationalen Identi­ generation4 nicht am Autorenalter, sondern am Zeitpunkt der ersten Ver­ tätsbildung bei. Eine vergleichbare Situation präsentierte sich in der zwei­ öffentlichungen bemisst; mit dem Tod von Frisch und Dürrenmatt Anfang ten Republik Österreich: nach dem Zusammenbruch der deutsch-nationalen der 1990er Jahre hört diese Generationenzählung auf. Ausrichtung war hier nach 1945 die Neu-Bildung eines Nationalgefühls Die deutsche Germanistik nun scheint mit dem Ende der DDR-Literatur gefragt, welche von der Literatur in ihrer Möglichkeit als Integrationsme­ das Interesse an einer Literaturen-Teilung im deutschen Sprachraum verlo­ dium unterstützt wurde. ren zu haben. Die österreichische Germanistik ihrerseits diskutiert seit 1995 Die Anfänge einer schweizerischen Literaturgeschichtsschreibung um 1860 verstärkt die Frage einer österreichischen Literatur und Literaturgeschichts­ waren hauptsächlich von universitären Lehrstuhl-Inhabern betrieben wor­ schreibung, wobei die Traditionsbildung eines einheitsstiftenden Begriffes den; sie dienten dementsprechend auch der wissenschaftlichen Identitäts­ dessen, was das Österreichische sei, eher im Vordergrund steht als diffe­ bildung und gingen mit der Etablierung der institutionellen Germanistik in renztheoretische Aspekte, die sich auf Unterschiede im deutschsprachigen der Schweiz einher. Erste Literaturgeschichten von Johann Caspar Möriko- Literaturraum beziehen.5 In der Schweiz ist eine entsprechende Diskussion 66 67 Zum Diskurs „Schweizer Literatur“ in der Gegenwart Corina Caduff ebenfalls aufgekommen.6 Sowohl diese schweizerische als auch die öster­ tatsächlich zum Medium eines Diskurses wird, der sie in eine bestimmte reichische Diskussion zeichnen sich dabei in hohem Grade als Binnendis- Ordnung bringt. Sofern sich Anthologien an nationalen Grenzen ausrichten, kurse aus: Schweizer sprechen über schweizerische und Österreicher über sind sie Konstituenten des entsprechenden Literaturbetriebs; als Teil der österreichische Literatur, wobei der Blick vorwiegend der ,eigenen* Litera­ literarischen Traditionsbildung sind sie Indiz für dessen Selbstverständnis tur im ,Innern* der Nation gilt; eine vergleichende Perspektivierung, die und Selbstinszenierung. Literaturen anderer Länder und Sprachen einbeziehen würde, bleibt weit­ gehend aus.7 Anlässlich der Nationalausstellung Expo 1964 erscheint im selben Jahr die 900-seitige viersprachige Anthologie Bestand und Versuch. Schweizer Ich beschäftige mich hier im Weiteren mit der Frage, wie sich der Diskurs Schrifttum der Gegenwart. Nachdem in den 30er Jahren etliche Antholo­ „Schweizer Literatur** im Kontext derjenigen Autorinnen und Autoren prä­ gien erschienen sind, denen in den 40ern und 50em lediglich vereinzelte sentiert, die nach Frisch und Dürrenmatt an die Öffentlichkeit getreten Textsammlungen folgten, bildet diese Anthologie den Auftakt einer bis sind. Den diskursiven Praktiken, die verantwortlich sind für die Produktion heute kontinuierlich anhaltenden nationalen Anthologie-Produktion, die und Organisation von Wissen über „Schweizer Literatur**, sind bestimmte sich vorwiegend der Gegenwartsliteratur annimmt. Formationsprinzipien inhärent, die ich zu rekonstruieren suche anhand der Schweizer Anthologie-Produktion und Literaturgeschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte, anhand der Diskursfigur der nationalen Selbstreferenz Der Titel „ Schweiz “ sowie schließlich anhand der internationalen akademischen Rezeption des Diskurses „Schweizer Literatur**. Dabei wird sich zeigen, dass die Literatur Erster Index für die konzeptuelle Ausrichtung einer Anthologie ist der selbst oszilliert zwischen Gegenstand, Produkt und Produzentin dieses Dis­ Titel. Wie die folgende Liste deutschsprachiger Anthologie-Titel der letz­ kurses. ten Jahrzehnte zeigt (bei den kursiv gesetzten Titeln handelt es sich um Produktionen der deutschen sowie der Auslandsgermanistik), fungiert das Wort „Schweiz** kontinuierlich als Leitmotiv, als zielgerichtete Hauptaus­ Anthologie-Produktion und Literaturgeschichtsschreibung sage: Die Gattung der Anthologie ist deshalb so aufschlussreich,

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