VIERTELJAHRSHEFTE FÜR ZEITGESCHICHTE 23. Jahrgang 1975 Nr. 2 ROBERT F. WHEELER DIE „21 BEDINGUNGEN" UND DIE SPALTUNG DER USPD IM HERBST 1920 Zur Meinungsbildung der Basis Da Historiker, bewußt oder unbewußt, dazu neigen, die Vergangenheit aus der Sicht der Gegenwart oder der jüngsten Vergangenheit zu betrachten, besteht die Gefahr, daß die Geschichte eine Art Wissenschaft von den Siegern wird. Oft scheint es geradezu, als würde die Geschichte vor allem geschrieben, um historische Ent­ wicklungen zu rechtfertigen — post hoc, ergo propter hoc — statt sie zu verstehen. Der historische „Verlierer" wird größtenteils ignoriert bzw. aus der Sicht der „Sieger" analysiert1. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD)2. Man könnte den Eindruck gewinnen, die Spaltung dieser Partei 1920 sei letzten Endes übereinstimmend beurteilt worden; jedenfalls betrachten Kommunisten wie Sozialdemokraten den Zerfall der USPD als eine Selbstverständlichkeit3. Aus angeblich unüberbrück- 1 Auf dem internationalen Symposium in Bochum im Juni 1973 (vgl. Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, hrsg. von Hans Mommsen, Dietmar Petzina, Bernd Weisbrod, Düsseldorf 1974, S. 618 ff.) stellte Gerald D. Feldman den Wert solcher „Verlierer-Forschung" besonders in bezug auf die deutsche Novemberrevolution in- frage und plädierte dafür, den Akzent auf die Frage „How the victors won" zu legen. 2 Der Verfasser ist Hans Mommsen für die Überarbeitung des Manuskripts, sowie Prof. Reinhard Rürup und Dr. Hermann Rupieper für Hinweise und Hilfestellungen dankbar. Dank schuldet er ferner der Alexander von Humboldt-Stiftung für die Unterstützung seiner Forschung. 3 Arthur Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, Neuausg. Frankfurt/M. 1969; bes. S. 24 f. und 117 ff., wo er von der „notwendigen" bzw. „längst fälligen Spaltung der USPD" spricht; einen ähnlichen Standpunkt vertritt Erich Matthias in: Die Regierung der Volks­ beauftragten 1918/19, Bd. I S. LXXVII, Düsseldorf 1969. Ein Übertritt Hugo Haases und Wilhelm Dittmanns (d. h. des sogenannten „rechten Flügels" der USPD) zur SPD hätte im November/Dezember 1918 den „Klärungsprozeß in der Arbeiterbewegung" gefördert. Für DDR-Wissenschaftler, wie Arnold Reisberg (Lenins Beziehungen zur deutschen Arbeiter­ bewegung, Berlin 1970, S. 395), ist die USPD „vom Anfang an keine einheitliche Partei ge­ wesen, in ihr gab es einen auf die Dauer unüberwindlichen Gegensatz zwischen den rechten Führern und dem linken Flügel". Eberhard Schultz (Rolle und Anteil des linken Flügels der USPD im ehemaligen Regierungsbezirk Halle-Merseburg bei der Herausbildung und 118 Robert F. Wheeler baren Gegensätzen innerhalb der USPD wird geschlossen, die Partei sei von An­ fang an lebensunfähig gewesen. Als Beweise dafür werden die stürmischen Aus­ einandersetzungen auf den USPD-Parteitagen, die Ende 1920 vollzogene Ver­ einigung des „linken" Flügels mit der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) sowie die Verschmelzung des „rechten" Flügels mit der Mehrheitssozial­ demokratie 1922 angeführt. Unbeachtet bleibt dabei, daß „stürmische Ausein­ andersetzungen" auch ein Zeichen besonderer Lebenskraft sein können, zumal wenn man in Betracht zieht, daß die USPD im allgemeinen in der Lage war, von den heftigen innerparteilichen Diskussionen doch zu verbindlichen Ergebnissen zu gelangen4, und daß die Spaltung der USPD von 1920 sowie deren endgültiger Zerfall zwei Jahre später auf äußere Faktoren zurückzuführen sind. Ebenso wird häufig die Tatsache übersehen, daß die USPD 1920 immerhin fast 900 000 Mit­ glieder zählte und bei den Reichstagswahlen etwa fünf Millionen Stimmen erhielt, so daß der Eindruck entstehen konnte, es sei nur eine Frage der Zeit, bis die Unabhängigen die Führung der deutschen Arbeiterbewegung übernehmen wür­ den5. Zudem besaß die USPD Ende 1919 bestimmenden Einfluß in der größ­ ten Industriegewerkschaft Deutschlands, dem Deutschen Metallarbeiterverband (DMV). Warum dennoch gerade die dynamischste Arbeiterpartei dieser Periode, die USPD, zerfallen mußte, anstelle der sektiererischen KPD8 oder der „verkalk­ ten" SPD7, ist eine bis heute weitgehend vernachlässigte Frage. Verglichen mit dem Zeitpunkt ihrer Gründung im April 1917 oder ihrer Teil­ nahme an der Regierung der Volksbeauftragten im Winter 1918/19, bot die USPD im Frühsommer 1920 ein relativ geschlossenes Bild8. Die inneren Mei­ nungsverschiedenheiten über das Räteproblem, den Parlamentarismus, die Dik- Entwicklung der KPD zur revolutionären Massenpartei [1917-1920], Phil. Diss. Halle 1969, S. 6) behauptet, daß die USPD „schon bei ihrer Gründung den Keim ihres Untergangs ent­ hielt". 4 Von den drei Namen, die die „unüberbrückbaren Gegensätze" innerhalb der USPD bei ihrer Gründung personifizierten, Eduard Bernstein, Karl Kautsky und Rosa Luxemburg hatten sich Bernstein und Luxemburg' freiwillig von der USPD getrennt. Kautsky blieb nach 1919 ohne nennenswerten Einfluß und war de facto ausgeschieden. 5 Trotz der Unterdrückung der USPD durch die Militärbehörden in und nach dem Kriege und der Schwierigkeit, ihre Organisation binnen kurzer Zeit aufzubauen, war die USPD, wie die Reichstagswahlergebnisse vom 6. Juni 1920 zeigen, schon im Sommer 1920 in meh­ reren Großstädten und Industriebezirken Deutschlands die führende Arbeiterpartei; vgl. Statistik des Deutschen Reiches Bd. 291, I/II. 6 Ossip K. Flechtheim, Die KPD in der Weimarer Republik, Neuausg. Frankfurt/M. 1969, beschreibt die KPD von 1920 als „nicht viel mehr als eine revolutionäre Sekte" (S. 154), bezeichnet die USPD hingegen als „Massenpartei" und mächtige Organisation (S. 154 und 156). 7 Siehe Richard N. Hunt, German Social Democracy 1918-1933, Chicago 1970, S. 244 ff. 8 Im Gegensatz zu KPD und SPD war der USPD dieser Klärungsprozeß ohne Mitglieder-, bzw. Wählerverluste gelungen, ja sie wuchs weiter an. Vgl. die Untersuchung des Verfas­ sers : The Independent Social Democratic Party and the Internationais, An Examination of Socialist Internationalism in Germany 1915-1923, phil. Diss., Pittsburgh 1970, die dem­ nächst in überarbeiteter Form im Propyläen-Verlag, Berlin, erscheinen wird. Die „21 Bedingungen" und die Spaltung der USPD im Herbst 1920 119 tatur des Proletariats, die Frage der Anwendung putschistischer Taktiken konn­ ten durch freie Diskussion größtenteils überwunden werden. Das einzige Problem, das immer wieder Schwierigkeiten schuf, war die seit Jahren heftig erörterte Frage einer neuen militanten Internationale. Doch auch in dieser Beziehung schien eine einvernehmliche Lösung möglich: Anfang Juli 1920 fuhr eine Dele­ gation nach Rußland, um mit dem Exekutiv-Komitee der Kommunistischen In­ ternationale (EKKI) zu verhandeln. Dadurch würde, so meinte man, eine wesent­ liche organisatorische Voraussetzung für die seit langem in der Partei geforderte „Internationale der Tat" geschaffen werden. Stattdessen kehrte Ende August eine gespaltene USPD-Delegation mit dem Programm einer Bolschewisierung der Internationale nach Deutschland zurück, den 21 Bedingungen" zur Aufnahme in die Dritte Internationale. Die Bedingungen bewirkten, wie Lenin und die EKKI- Führung es vorausgesehen hatten, die Spaltung der USPD. Doch trug dieser „Dif­ ferenzierungsprozeß" keineswegs zu jener Klärung und Stärkung der revolutionä­ ren Linken bei, die Lenin beabsichtigt hatte; er führte vielmehr zu einer anhalten­ den Verwirrung und permanenten Schwächung des linken Flügels der Arbeiter­ bewegung. Der Glaube, die „revolutionäre Massenpartei"9, die aus der Vereini­ gung eines großen Teils der USPD mit der Rest-KPD entstehen sollte, würde ein gleichwertiger Ersatz für die alte USPD sein, erwies sich im Laufe der Weimarer Republik als Illusion. Die Reaktion der Unabhängigen Sozialdemokraten auf die „21 Bedingungen", die die unmittelbare Ursache ihrer Spaltung wurden, steht im Vordergrund der folgenden Analyse. Fast alle bisherigen Arbeiten, die diese Themen behandeln10, 9 Vgl. Arnold Reisberg, a. a. O., S. 417. „Mit der Vereinigung der USPD und der KPD hatte das deutsche Proletariat zum erstenmal wieder [Hervorhebung vom Verf.] eine revolutio­ näre Massenpartei." 10 Außer den schon erwähnten Arbeiten von Reisberg und Schultz vgl. James W. Hulse, The Forming of the Communist International, Stanford 1964; Branko Lazitch and Milorad M. Drachkovitch, Lenin and the Comintern, Stanford 1972; Peter Lösche, Der Bolschewis­ mus im Urteil der Deutschen Sozialdemokratie 1903-1920, Berlin 1967; David Morgan, The German Independent Social Democratic Party 1918-1922, Phil. Diss., Oxford 1969; Dan L. Morrill, The Comintern and the German Independent Social Democratic Party, in: Historian 1970, H. 2, S. 191-209; Horst Naumann, Die Bedeutung des II. Weltkongresses der Kommunistischen Internationalen für die Vereinigung des revolutionären Flügels der USPD mit der KPD, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 1960, H. 3, S. 466-487; A. J. Ryder, The Independent Social Democratic Party and the German Revo­ lution, 1917-1920, Phil. Diss. London 19'58; Albert Shirk-Lindemann, The Problem of the Communist International for French and German Socialism 1919-1920, Phil. Diss. Harvard 1968. Vgl. dagegen Naumann, Der Kampf des revolutionären Flügels der USPD für den An­ schluß an die Kommunistische Internationale und die Vereinigung mit der KPD, Phil. Diss. Berlin-(Ost) 1961; und die regionalen Untersuchungen von Heinz Meirritz, Die Herausbil­ dung einer revolutionären Massenpartei im ehemaligen Land Mecklenburg-Schwerin unter besonderer Berücksichtigung der Vereinigung
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