
274 MEDIENwissenschaft 3/2012 Perspektiven Thomas Klein Outlaws, Sozialbanditen und der Western: Zur Interkulturalität eines generischen Figurenstereo- typs am Beispiel ausgesuchter filmischer Repräsentatio- nen des mexikanischen Charros Der Sozialbandit of liberation, and in any case as men to be admired, helped and supported” Die Figur des Outlaws nimmt in den (Hobsbawm 2000: 20). Als internatio- Mythen vom Wilden Westen einen nales Paradigma des Sozialbanditen- wichtigen Rang ein. Bereits von Out- tums führt Hobsbawm Robin Hood an, laws handelnde ‚Dime Novels’ etablier- den Inbegriff des ‚edlen Räubers‘ (vgl. ten ab etwa 1865 ein neues Paradigma Hobsbawm 2000: 22). Zusätzlich zu der mythologischen Frontier-Erzäh- den genannten Eigenschaften des Sozi- lung (vgl. Slotkin 1992: 125-155). Mit albanditen zeichnet sich der edle Räuber Henry Kings Jesse James (1939) setzte unter anderem dadurch aus, dass er zum im Filmgenre des Westerns ein regel- Banditen wird, weil ihm Unrecht wider- rechter „cult of the outlaw” ein (Slotkin fährt; dass er von den Reichen nimmt 1992: 293-303). Charakteristisch für und den Armen gibt und nur in Selbst- die Outlaw-Figuren, so Slotkin, sei verteidigung oder aus Rache tötet (vgl. ihr Status als Sozialbanditen, „whose Hobsbawm 2000: 47f). outlawry was a response to injustices perpetrated by corrupt officials act- Im Unterschied zu traditionellen ing at the behest of powerful moneyed Sozialbanditen wie Robin Hood, deren interests“ (Slotkin 1992: 127f). Mythen vor allem im Rahmen der Folk- lore entwickelt und tradiert wurden, Der Begriff ‚Sozialbandit’ wurde zeichneten sich die Mythen von Jesse von Eric Hobsbawm geprägt, der ihn James und anderen amerikanischen wie folgt definiert: „outlaws whom the Outlaws, so Slotkin, mehr dadurch aus, lord and state regard as criminals, but dass sie hauptsächlich durch die Mas- who remain within peasant society, senmedien zum Mythos wurden, einem and are considered by their people as Mythos, der zudem keine fundierte heroes, as champions, avengers, fight- historische Grundlage besessen habe, ers for justice, perhaps even leaders Perspektiven 275 sondern als „pseudo-history“ zu bewer- und im 20. Jahrhundert in mehreren ten sei (Slotkin 1992: 128). Auch wenn Filmen erzählte Mythos des Banditen die mediale Konstruktion des Mythos Captain Starlight.4 Ebenfalls kann der vom Sozialbanditen im Falle US-ame- sich auf den historischen Bushranger rikanischer Outlaws stärker ausgeprägt Dan Morgan beziehende Film Mad Dog gewesen sein könnte1, so soll im Folgen- Morgan (1976) von Philippe Mora dem den dennoch gezeigt werden, dass die Outlaw-Komplex zugerechnet werden. aus Hobsbawms Studie hervorgehende Das jüngste Beispiel ist John Hillcoats globale Verbreitung von Sozialbandi- The Proposition (2005), dessen Burns ten in filmischen Repräsentationen ihre Gang indes rein fiktiv ist. Im brasilia- Entsprechung findet. Und diese können, nischen Kino sind es die so genannten sofern sie in dem Zeitraum zwischen Cangaceiro-Filme, die die Banditen der etwa 1850 und 1910 spielen, auffällig nordwestlichen Region des Sertão, die oft im Kontext des Western verortet Cangaceiros, zum Mythos machten. werden. Lima Barretos O‘Cangaceiro begründete 1953 dieses Genre im engeren Sinne und machte das brasilianische Kino Outlaws im internationalen Kino: ein und die Cangaceiro-Kultur internatio- selektiver Überblick nal bekannt. Ausschlaggebend hierfür war das Filmfestival in Cannes 1953, Sehr frühe Beispiele für filmische Reprä- wo O’Cangaceiro als bester Abenteu- sentationen von Outlaw-Figuren jenseits erfilm ausgezeichnet wurde. Sowohl der Historie der Vereinigten Staaten in Barretos Film als auch im späteren finden sich im australischen Kino, im für das Genre ebenfalls richtungwei- so genannten Bushranger-Film.2 Insbe- senden A Morte Comanda o Cangaço sondere die Figur des Ned Kelly hat in (1961) von Carlos Coimbra werden die diesem Zusammenhang zu dem gewiss Cangaceiros im Unterschied zu anderen wirkmächtigsten australischen Mythos nationalen Outlaw-Repräsentationen geführt, wobei The Story of the Kelly Gang in keiner Weise als edle Räuber insze- aus dem Jahre 1906 einen interessanten niert, sondern vielmehr als unerbittlich Fall darstellt, da er nicht nur als erster und mitunter fast barbarisch agierende Feature-Film überhaupt gilt, sondern Banditen. Dennoch kommt den Cang- bereits vor der globalen Verbreitung des aceiros, angeführt von ihrem berühm- Western Elemente des Genres aufweist.3 testen historischen Vertreter Lampião, Darüber hinaus finden sich in Australien der Ruf zu, Sozialbanditen gewesen weitere Outlaw-Mythen, wie etwa der 5 zu sein. Auch die argentinische Figur mit Rolf Boldrewoods Roman Robbery Under Arms 1882 literarisch etablierte 4 Der Stoff wurde insgesamt fünfmal mit australischer Beteiligung verfilmt: 1907, 1 Vgl. dazu auch Seal 2011. 1911, 1920, 1957 und 1985. 2 Zum Bushranger-Film siehe Routt 2002. 5 Zum Cangaceiro-Mythos und zum 3 Zu The Story of the Kelly Gang siehe Ber- bekanntesten Banditen Lampião siehe trand 2007. Zum Ned Kelly-Mythos siehe Chandler 2000. Einen ersten Überblick Zimmermann 2012. über die Cangaceiro-Filme bietet Schulze 276 MEDIENwissenschaft 3/2012 des Gaucho trägt deutliche Züge des gerechte Sache kämpfen, weisen starke Outlaws6, wie nicht zuletzt auch dem Berührungspunkte mit Elementen auf, argentinischen National-Epos Martín die auch im Outlaw-Western Verwen- Fierro (Bogota 1972 [1872]) zu ent- dung finden.10 Im europäischen western nehmen ist, wenn immer wieder das all’italiana verweisen Outlaw-Figuren Opponieren des Titelhelden gegen die zwar weniger auf europäische Mythen, Obrigkeit und die Anteilnahme an doch sind sie in spezifischen Ausprä- den Problemen der armen Landbevöl- gungen – etwa in Form des außerhalb kerung thematisiert wird (vgl. Hern- der Gesellschaft und Gemeinschaft andez 1972).7 und stets an der Grenze zur Legalität Auch der japanische Samurai ist in agierenden bounty hunters – omnipräsent. vielen Filmen als Outlaw konzipiert, Als Sozialbanditen angelegte Figuren weshalb die Berührungspunkte des finden sich vor allem im Subgenre des Samurai-Films mit dem Western über Revolutionswestern (vgl. Fridlund 2006: die bislang hauptsächlich untersuchten 173-285). Remakes von Akira Kurosawas Die sie- ben Samurai (1954) in The Magnificent Seven / Die glorreichen Sieben (1960) Filmtheoretische Untersuchungs- und Kurosawas Yojimbo (1961) in Per grundlage: Genre und Stereotyp un pugno di dollari / Für eine Handvoll In einer neueren Publikation zum Gen- Dollar (1964) weit hinausgehen.8 Auch 9 rekino weist Barry Langford darauf hin, die Zatoichi-Kinoserie oder Sanbiki dass der Western-Diskurs von zwei weit- no Samurai / Three Outlaw Samurai gehend strukturalistisch und narratolo- (1964) können im Kontext des Out- gisch operierenden Studien dominiert law-Mythos behandelt werden. Vor wurde, in denen André Bazins These allem Erzählungen von rōnin, her- vom Western als „amerikanisches Kino renlosen, oft verwahrlosten Samurai, par excellence“ hinsichtlich der Arbeit die außerhalb der Gesellschaft, aber am Mythos der Frontier intensiviert nichtsdestotrotz für tradierte gesell- wurde: Jim Kitses Horizons West (1969) schaftliche Werte stehen und für die und Will Wrights Sixguns & Society 2012. (1975) (vgl. Langford 2006: 62). In sei- 6 Zum Gaucho im Allgemeinen siehe nem Artikel „The Idea of Genre in the Slatta 1992. American Cinema” stellte Edward Bus- 7 Der Stoff wurde mehrfach in Argenti- nien verfilmt:Martin Fierro (1968, Regie: combe indes bereits 1970 die Bedeutung Leopoldo Torre Nilsson), La Vuelta de der amerikanischen Historie für den Martín Fierro (1974, Regie: Enrique Western in Frage. Buscombe betonte die Dawi), Martin Fierro (1989, Regie: Fernando Laverde) Martín Fierro, el ave „outer forms” als prägend für das Genre: solitaria (2006, Regie: Gerardo Vallejo) 10 ‚Sanbiki no Samurai’ bedeutet ‚three out- 8 Zum Vergleich des Samurai mit dem cast’. Alain Silver weist zudem auf die Western-Helden siehe Anderson 1973. Bedeutung der Figur des ‚ronin’ für den 9 Zwischen 1962 und 1989 wurden 26 Samurai-Film hin und darauf, dass sie als Kinofilme mit der Hauptfigur, dem blin- Outlaws bezeichnet werden können (vgl. den Samurai Zatoichi, gedreht. Silver 2005: 18f.). Perspektiven 277 das Setting, die Kostüme und die Waf- der Konventionalisierung entstehen fen (Buscombe 2003: 15). Gewinnbrin- und danach auch dem Stereotypwan- gend zusammengeführt worden sind del und Stereotypwechsel unterliegen. diese unterschiedlichen Ansätze bisher Genres beruhen, so lässt sich auf dieser noch nicht. Dies soll hier geleistet wer- Grundlage formulieren, im intertextu- den, indem auf Rick Altmans ‚syntactic/ ellen Raum auf ganzen Netzwerken von semantic approach’ und Jörg Schweinitz‘ Stereotypen der unterschiedlichsten Ansatz zum Stereotyp Bezug genom- Art: Figurenstereotype, Handlungss- men wird. Jörg Schweinitz weist darauf tereotype, ja konventionelle Storymus- hin, dass die genannten Hauptströ- ter oder auch Stereotype der visuellen mungen im genretheoretischen Diskurs resp. auditiven Inszenierung. Sie bil- zum US-Western einer steten Wand- den offene Netzwerke, die keine starren lung unterzogen und daher die sowohl Raster sind und selbst – so wie auch die von Wright als auch die von Buscombe einzelnen Stereotype – der fortgesetz- genannten Faktoren zu eng gedacht ten Evolution unterliegen“ (Schweinitz seien. Das Problem diesen generischen 2006: 83f, Herv. i. Orig.). Wandlungsprozessen gerecht zu werden, Wenn Schweinitz die Brauchbar- lässt sich mit Schweinitz
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