PAUL KLEES »HONIGSCHRIFT«: ÜBERLEGUNGEN ZUM VERHÄLTNIS VON AUTOMATISMUS, AUTOMATISIERUNG, MASCHINEN UND MATHEMATIK MICHAEL ROTTMANN SUMMARY In dieser Studie wird Paul Klees Schaffen und sein künst- auf eine Verschränkung von Sujet und Methode abzielend, lerisches Denken erstmals gemeinsam über die Mathe- dass Klee nicht bloß das in den 1920er Jahren prekäre matik, Maschine, Automatisierung und den Automatis- Verhältnis von Mensch und Maschine thematisierte, son- mus in den Blick genommen, da diese Konzepte, wie zu dern auch in seiner künstlerischen Arbeit grafische Ma- zeigen sein wird, bei ihm in einem Beziehungsviereck schinen auf mathematischer Basis betrieb, mit denen er aufzufassen sind. eine gewisse Automatisierung des Schaffensprozesses Es ist bekannt, dass sich Klees künstlerische Arbeit im erzielte. Das damit auftretende Verhältnis von Automa- Spannungsverhältnis von Konstruktion und Intuition be- tismus und Automatisierung kann, so die Behauptung, wegte: Dem Mathematischen, wie darzulegen sein wird, als ein dialektisches bestimmt werden, in welchem wie- kam dabei eine erhebliche Rolle zu. Dementgegen prak- derum das Mathematische vermittelt. tizierte er einen Modus der Zeichnung, den er »Honig- In den Blick genommen werden Klees Zeichnungen sowie schrift« nannte, der mit dem surrealistischen Automa- seine schriftlichen und grafischen Äußerungen und dabei tismus in Verbindung gebracht wird – diesen gilt es Theorien des Entwurfs, der Notation, Diagrammatik und vorzustellen und abzugrenzen. Des Weiteren soll Klees Schriftbildlichkeit herangezogen. Die Studie soll der Interesse für Maschinen und sein Maschinendenken he- Theorie der Schaffensprozesse, der Medien sowie den rausgearbeitet werden. Geschichten von Kreativität und Maschinenkünsten zu- Unter diesen Vorzeichen soll nun argumentiert werden, spielen. Ich ahne, dass es auf ein Gesetzmässiges EINLEITUNG ankommen wird, nur darf ich nicht mit Hy- s mag für manche wie eine Entzau- pothesen beginnen, sondern beim Beispiel, berung klingen: Paul Klee (1879-1940) wenn auch im Kleinsten. Vermag ich dann Ewandte sich in seinem Schaffen der klar zu gliedern, so hab ich davon mehr, Mathematik zu. Er beschäftigte sich unter als von schwungvoller und imaginärer anderem mit der Perspektive, Arithmetik Konstruction. (Goldener Schnitt), Topologie und Kombina- Und aus Beispielen wird Typisches sich au- torik.2 In seinem Besitz befanden sich Bücher tomatisch ergeben.1 wie Mathematisches Unterrichtswerk für höhere Schulen (1929) von Reinhard Zeisberg, Le- Paul Klee (1902) bendige Mathematik (1929) von Felix Auerbach sowie Geometrisches Zeichnen (1920) von Hugo Becker; Letzteres diente, mit rosa No- tizen versehen, der Unterrichtsvorbereitung ZWITSCHER-MASCHINE.ORG NO. 9 / 2020 ROTTMANN / PAUL KLEES »HONIGSCHRIFT« 42 am Bauhaus.3 Wenn es angezeigt war, zum struktionszeichnungen sowie einschlägigen Beispiel zur Erlangung von »Objektivierung »Formungsbeispiele[n] und und äußerster Präzision«4 in »rein geome- Diagramme[n]«10. Hinsichtlich seiner um- trischen Konstruktionen«, so bediente sich fangreichen und vielseitigen grafischen Pra- der Künstler für seine Werke eines »techni- xis, sei daran erinnert: Klee war von Grund schen Instrumentarium[s]« wie »Reißfeder, auf Zeichner; schon als Kind praktizierte er Zirkel, Richtscheit, Winkelmaß [und] Schab- die Zeichnung, über sie kam er zur Malerei.11 Abb. 1 lonen« (ABB. 1). In Anbetracht »mathematisch- Während er als Schüler seine Mathematik- Atelier von Paul Klee im abstrahierender Ausdrucksmittel«5 und »geo- hefte mit gezeichneten Karikaturen anrei- Schlösschen Suresnes, Werneckstrasse 1, München, 1920 metrisch-konstruktive[r] Gestaltungsprinzi- cherte12, erweiterte er als Künstler sein Fotograf: Paul Klee pien« sprach Christian Geelhaar bezüglich Schaffen über das Mathematische. Im Spe- 12.5 x 17.3 cm Zentrum Paul Klee, Bern, der um 1930 entstandenen Zeichnungen gar ziellen beschrieb er Sachverhalte der Gestal- Schenkung Familie Klee von einer »Mathematisierung des Schaffens- tung durch numerische Ordnungen.13 Bei- © Zentrum Paul Klee, Bern, 6 Bildarchiv prozesses« – als Beispiel mag Spiegellauf spielsweise behandelte er auf einem Blatt eines Thema über 4 kubische Flächen (1931) seiner Bildnerischen Gestaltungslehre14 das Abb. 2 (ABB. 2) Paul Klee, Spiegellauf eines Thema dienen . Diese Vorgänge korrespon- Problem des Farbverlaufs mittels des Prin- über 4 kubische Flächen dierten mit der »technologisch-rationalisti- zips der sukzessiven Farbüberlagerung für (centralperspectivische sche[n] Zielsetzung«7 des Bauhauses, die die Übergänge von »Weiss« zu »Grau« bis Grundconstr.), 1931, 220 Feder auf Papier auf Karton mit dessen Übersiedelung 1925 von Weimar hin zu »Vollschwarz« nicht bloß grafisch mit 47,9 x 31,4 cm nach Dessau begann. Ein »naturwissenschaft- Schraffuren und diagrammatisch mit einer Zentrum Paul Klee, Bern 8 © Zentrum Paul Klee, Bern, lich-rationales Denken« herrschte besonders Art Tabelle, sondern auch numerisch über Bildarchiv seit dem Direktorat des Architekten Hannes eine geometrische »Progression« (ABB. 3, Meyer 1928 vor. RECHTS).15 Klees Beschreibung der numeri- Mit der Mathematik in Verbindung brachte Klee unter anderem für ihn bedeutsame schen Behandlung lässt ein Mittel der präzi- künstlerische Themen wie Dynamik, Bewe- sen Synthese erkennen: »[U]nd so könnte gung und Schwingung.9 So sind seine grafi- man jede Stufe auf ihr Mischungsverhältnis schen Blätter und Schriften – insbesondere hin berechnen, die Mischungen in elf Näpfen die Bauhaus-Unterrichtsnotizen – mit einer bereiten und jedes Resultat auf seine Stufe großen Anzahl mathematischer Inhalte hinstreichen, und das gäbe zum Schluss ein durchzogen: Tabellen mit numerischen Ein- [s]ehr exactes Bild einer Helldunkel Scala.«16 trägen, Zahlenreihen, geometrischen Kon- ZWITSCHER-MASCHINE.ORG NO. 9 / 2020 ROTTMANN / PAUL KLEES »HONIGSCHRIFT« 43 Abb. 3 Paul Klee Bildnerische Gestaltungslehre: I.2 Principielle Ordnung, undatiert Farbstift auf Papier (recto) 15/14,3 x 33 cm Zentrum Paul Klee, Bern, Inv.Nr. BG I.2/175 © Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv Das Aquarell Zwei Gänge (1932) ist ein Bei- verfasste Kritiken.22 Die Musik, erklärte Klee spiel dafür, wie Klee seine Überlegungen einmal, sei seine »Geliebte«23, die Malerei umsetzte (ABB. 4). Bereits in anderen »Schwar- hingegen eine »ölriechende Pinselgöttin«24, zaquarellen«17 wie Uhr auf der Kredenz, bei die er bloß umarme, weil sie eben seine Frau Kerzenlicht (1908) und Blick in eine Schlaf- sei. kammer (1908) (ABB. 5) »summierte er«, wie Die Musik kann jedenfalls erklären, weshalb Abb. 4 Paul Klee Christian Geelhaar erläuterte, »Lage um Klee auch in der bildenden Kunst mit Nota- zwei Gänge, 1932, 236 Lage verdünnter schwarzer Aquarellfarbe, tionen arbeitete25, worüber noch genauer zu Aquarell und Bleistift auf Papier auf Karton um stufenweise in die schattige Dunkelheit sprechen sein wird, und sie stellt als zeitba- 31,3 x 48,4 cm zu rücken.«18 Wenn er dabei »die Tonschritte sierte Kunst eine Referenz für die für ihn so Solomon R. Guggenheim Museum, von Weiß nach Schwarz rein«19 hielt, so sei wichtigen Problemstellungen »Bewegung«26 New York, Estate of Karl Nierendorf, By purchase eine »mathematische Hell-Dunkel-Propor- sowie »Raum und Zeit« dar. Klee war der © 2020 Solomon R. Guggenheim tion« entstanden, wobei Klee geäußert habe, Auffassung, dass bildende Künste wie die Museum dass die »gegliederte Einteilung« an »Ton- Malerei zeitbezogen seien, weshalb er Les- Abb. 5 leitern« und »musikalische[n] Skalen« erin- sings Laokoon kritisierte.27 Die Vermittlung Paul Klee blick in e. Schlafkammer, 1908, 70 nere. Es ist zudem die Rede von einem »Hell- von Bewegung mit dem statischen Bild, stellte Aquarell auf Papier auf Karton dunkel-Zeitmeßverfahren«20. Musik spielte für ihn eine zentrale Problemstellung dar.28 30 x 23,6 cm für Klee zeitlebens eine große Rolle. Sein Eine Lösung waren Farbverläufe. Sie lenken Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett Vater war Musiklehrer, die Mutter Sängerin.21 wie in Scheidung abends (1922) oder Sta- © Kunstmuseum Basel Er selbst spielte hervorragend Geige und tisch-Dynamische Steigerung (1923) den Blick ZWITSCHER-MASCHINE.ORG NO. 9 / 2020 ROTTMANN / PAUL KLEES »HONIGSCHRIFT« 44 Abb. 6 Paul Klee Scheidung Abends, 1922, 79 Aquarell und Bleistift auf Papier auf Karton 33,5 x 23,2 cm Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Livia Klee © Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv Abb. 7 Paul Klee Statisch-Dynamische Steigerung, 1923, 67 Ölfarbe und Gouache auf Papier auf Karton 38,1 x 26,1 cm The Metropolitan Museum of Art, New York, The Berggruen Klee Collection © 2020 Image copyright The Metropolitan Museum of Art/Art Resource/Scala, Florence des Betrachters – hier in vertikaler bzw. spi- »künstlerischen Selbstfindung« von Klee dar- ralförmiger Weise – und erzeugen im Re- stellte, aber vor den Surrealisten und in einer zeptionsprozess Dynamik im Bild (ABB. 6, 7).29 individuellen Weise bei ihm einsetzte; bereits Schon dieser – zugegeben skizzenhafte – 1908 hatte er Zeichnen als »Urgebiet der Einblick in das Schaffen von Paul Klee lässt psychischen Improvisation«36 beschrieben, folgende Einordnung von Michael Baumgart- die zugehörigen Zeichnungen als »Psycho- ner gut nachvollziehen: Es handele sich um gramme«37. Christian Geelhaar sah in solchen eine »hoch reflektierte, technisch subtile Zeichnungen, »in denen innere Regungen Kunst«30. Wir hatten gesehen, Klees Werke und Unbewußtes sich unvermittelt der seis- sind theoretisch fundiert und können präzise mographisch registrierenden Hand mittei- konstruiert
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