DIE SPRENGKRAFT DER MENSCHENRECHTE Von Ulrich Schwarz

DIE SPRENGKRAFT DER MENSCHENRECHTE Von Ulrich Schwarz

DAS STREBEN NACH AUSGLEICH Die KSZE-Schlussakte von Helsinki sollte im Kalkül der Kommunisten die Teilung Europas betonieren. Doch sie unterschätzten die Brisanz der dort verbrieften Garantien. DIE SPRENGKRAFT DER MENSCHENRECHTE Von Ulrich Schwarz as Foto schmückt Geschichtsbücher und können. Denn zum einen war die Schlussakte kein Lexika: Erich Honecker, strahlend zwi- völkerrechtlich verbindlicher Vertrag. Zum anderen schen Helmut Schmidt und Gerald Ford, hatten sie nach ihrer Überzeugung ihre Gesellschaf- Dplaudert entspannt mit dem neben dem ten fest genug im Griff, um mit aufmüpfigen Indivi- US-Präsidenten sitzenden österreichischen Kanzler duen oder Gruppen geräuschlos fertig zu werden. Bruno Kreisky. Angesichts der Ergebnisse der KSZE-Schlussakte, Aufgenommen wurde das Bild am 1. August 1975 schreibt der spätere polnische Partei- und Staatschef auf der Abschlusstagung der Konferenz für Sicher- General Wojciech Jaruzelski in seinen Erinnerun- heit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in der gen, „schien der berühmte Korb III in den Köpfen finnischen Hauptstadt Helsinki. Der SED-Chef glaub- der Führer der östlichen Staaten nicht sehr schwer zu FRIEDE, FREUDE, FREIHEIT te, er habe allen Grund zum Strahlen, denn der Ost- wiegen und wurde eher als geringfügige Konzession Bei der KSZE-Abschluss- block wähnte sich in Helsinki als Sieger der Ge- betrachtet“. tagung am 1. August 1975 schichte. 33 europäische Staaten aus Ost und West, Die Aufstände in Ost-Berlin 1953 und in Budapest fühlt sich SED-Chef Erich assistiert von den USA und Kanada, hatten soeben in 1956 sowie der Prager Frühling von 1968 schienen Honecker (2. v. l., zwischen der KSZE-Schlussakte die Teilung des alten Konti- vergessen. Ein folgenschwerer Irrtum: 14 Jahre nach Bundeskanzler Helmut nents festgeschrieben. Helsinki brach der Kommunismus in Osteuropa zu- Schmidt und US-Präsident Dafür hatten die Ostblock-Führungen allerdings sammen – nicht zuletzt, weil die Regime die Spreng- Gerald Ford), als Sieger der eine Kröte geschluckt, die sich als unverdaulich erwei- kraft der Menschenrechte unterschätzt hatten. Geschichte und plaudert sen sollte: Im „Korb III“ der Schlussakte sicherten sie Dabei hätten sie gewarnt sein können. Die sieb- entspannt mit Österreichs feierlich zu, „die Menschenrechte und Grundfrei- ziger Jahre waren unruhige Jahre für die Ost-Re- Kanzler Bruno Kreisky (r.). heiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, genten. Fast überall in den kommunistischen Staaten Die KSZE-Schlussakte gab Religions- oder Überzeugungsfreiheit für alle ohne erwachten Intellektuelle, Künstler und Wissen- jedoch DDR-Dissidenten wie Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache schaftler aus einem politischen Dornröschenschlaf Robert Havemann (vorn) oder der Religion“ zu achten. Und ausdrücklich be- und begannen, in losen Zirkeln und Gruppen über oder Wolf Biermann (mit teuerten sie, sie würden „die wirksame Ausübung mehr Mitbestimmung beim Aufbau des Sozialismus Gitarre, um 1966), enor- der zivilen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen, und mehr Freiheit zu diskutieren. Die Bewegung er- men Auftrieb. kulturellen sowie der anderen Rechte und Freiheiten, fasste treue Marxisten ebenso wie Regimekritiker. die sich alle aus der dem Menschen innewohnenden In der Sowjetunion existierte schon seit Ende der Würde ergeben und für seine freie und volle Entfal- sechziger Jahre eine Menschenrechtsbewegung, die tung wesentlich sind, fördern und ermutigen“. vom KGB mit aller Härte bekämpft wurde. In Polen Harter Tobak für kommunistische Diktatoren. bildete sich nach den von Preiserhöhungen ausgelös- Doch sie glaubten, sich die hehren Worte leisten zu ten Arbeiterunruhen von 1976 das Komitee zur Ver- PICTURE-ALLIANCE / DPA (L.); / DPA PICTURE-ALLIANCE 106 spiegel special geschichte 3 | 2008 teidigung der Arbeiter (KOR), in Prag wenige Monate Nur wenige Monate nach der „Alternative“ später die Bewegung Charta 77, in der sich ebenso druckte der SPIEGEL das „Manifest“ einer anony- Zum ersten wie beim KOR nicht nur Intellektuelle, sondern auch men Gruppe von mittleren und höheren SED-Funk- Arbeiter engagierten. „Arbeiter“, verkündete der tionären, die ebenso wie Bahro die Politik der SED- Mal hatten Mitbegründer der tschechoslowakischen Bürger- Führung, von der Sozial- bis zur Deutschlandpolitik, rechtsbewegung, Václav Havel, stolz, „machen bei anprangerte. Millionen uns mit und viele Leute, die von den Ereignissen Die Aufbrüche der siebziger Jahre waren keine di- Menschen im des Jahres 1968 gar nicht betroffen waren.“ rekte Folge des KSZE-Prozesses. Aber die Schluss- Auch im SED-Staat DDR, dessen Partei als be- akte von Helsinki hat den Menschen- und Bürger- Sozialismus ein sonders linientreu galt, rührte sich Unruhe unter auf- rechtsbewegungen im Ostblock enormen Auftrieb rechten Genossen. In Grünheide bei Berlin stellte gegeben. Alle großen Zeitungen des Warschauer Dokument in die Staatssicherheit Ende 1976 den wegen ideologi- Pakts, das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ scher Abweichungen von der Ost-Berliner Hum- eingeschlossen, veröffentlichten den gesamten Wort- der Hand, das boldt-Universität geschassten Chemie-Professor laut der Schlussakte, wie in Helsinki zugesagt. Zum Robert Havemann unter scharfen Hausarrest. Er so- ersten Mal hatten Millionen Menschen im real exis- ihnen ihre wie sein junger Freund, der Sänger und Liederma- tierenden Sozialismus schwarz auf weiß ein Doku- cher Wolf Biermann, auch er ein strammer Kommu- ment in der Hand, das ihnen ihre verbrieften Rech- Rechte nist, avancierten in der zweiten Hälfte der siebziger te bescheinigte und auf das sie sich fürderhin gegen Jahre zu Galionsfiguren rebellischer Intellektueller. ihre Oberen berufen konnten. bescheinigte. Die Ausbürgerung Biermanns wurde durch ein In der Wirkung der Schlussakte von Helsinki auf Konzert des Liedermachers in einer Prenzlauer Kir- die Entwicklung in den kommunistischen Gesell- che im Herbst 1976 ausgelöst. Die Kirchen waren die schaften sind sich Bürgerrechtler von einst und Poli- einzigen gesellschaftlichen Institutionen in der DDR, tiker ziemlich einig. auf die das Regime keinen (direkten) Zugriff hatte „Wir hatten das Gefühl, nicht mehr allein zu sein“, und die sich seinem Einfluss in weiten Teilen entzo- sagt der ehemalige tschechische Außenminister Jirºí gen. Die Begeisterung in dem überfüllten Gottes- Dienstbier, einer der Mitbegründer der Prager Bür- haus meldeten die anwesenden Stasi-Spitzel prompt gerrechtsbewegung Charta 77. Der Wittenberger nach Berlin. Daraufhin beschlossen die verschreck- Pfarrer Friedrich Schorlemmer, in den achtziger Jah- FLUCHT UND ten Obergenossen im SED-Politbüro, den renitenten ren einer der Anführer des zivilen Widerstands in der ABSCHIEBUNG Barden möglichst schnell loszuwerden. DDR, ist überzeugt: „1989 wäre nicht passiert, wenn Im September 1989 stür- Als die SED Biermann im November 1976 nach ei- es 1975 nicht gegeben hätte.“ Helsinki habe den men DDR-Flüchtlinge über nem Konzert in Köln nicht wieder ins Land ließ, Mächtigen Angst gemacht. Und Ex-Außenminister die Grenze zwischen Ungarn brach im deutschen Osten eine Kulturrevolte aus. Hans-Dietrich Genscher resümierte zum 25. Jahres- und Österreich in den Bis dato regimetreue Staatskünstler wie der Dichter tag von Helsinki: Die KSZE habe die östlichen Län- Westen. Der Kommunist Stephan Hermlin oder der Bildhauer Fritz Cremer der grundlegend verändert und die Umwälzungen und DDR-Kritiker Rudolf forderten gemeinsam mit elf weiteren Kollegen in des Jahres 1989 möglich gemacht. Bahro, der in seinem Buch einer harschen öffentlichen Petition vom SED-Polit- Am deutlichsten schlug der KSZE-Prozess in der „Die Alternative“ mit dem büro die Rücknahme von Biermanns Ausbürgerung. Sowjetunion und in der Tschechoslowakei durch. real existierenden Sozialis- Der Bazillus Aufmüpfigkeit erfasste auch die Arbei- In Moskau gründete der Atomphysiker Jurij Or- mus gnadenlos abgerech- terschaft. low im Mai 1976 die erste von zahlreichen „Helsin- net hatte und zu acht Selbst in der Kerntruppe der Partei, unter den ki-Gruppen“, die sich über das ganze Imperium ver- Jahren Gefängnis verurteilt Funktionären, begann es zu rumoren. Im Sommer breiteten. Ihr Ziel: die Behörden zur Einhaltung der worden war, reist im Okto- 1977 veröffentlichte der Ost-Berliner Wirtschafts- Helsinki-Beschlüsse und der Uno-Konvention für ber 1979 mit dem Zug in funktionär und strenggläubige Kommunist Rudolf Menschenrechte zu bewegen. die Bundesrepublik aus. Bahro im westdeutschen DGB-Verlag sein Buch „Die Das Regime ging gegen die Helsinki-Aktivisten Alternative“, eine gnadenlose Abrechnung mit dem mit brutaler Härte vor. Orlow wurde zu sieben Jah- real existierenden Sozialismus in seinem Land. Bahro ren strenger Lagerhaft und fünf Jahren Verbannung wurde zu acht Jahren Knast verurteilt und fand sich verurteilt, andere wurden in psychiatrische Kliniken 1979 im Westen wieder. eingewiesen, der prominenteste Dissident, der Phy- RINGIER / ACTION PRESS (L.);RINGIER / ACTION (R.) DPA spiegel special geschichte 3 | 2008 107 DAS STREBEN NACH AUSGLEICH siker Andrej Sacharow, nach Gorki (heute wieder bekanntesten gründete der Pfarrer der Ost-Berliner Nischni Nowgorod) verbannt. Samaritergemeinde, Rainer Eppelmann. Der Pastor In der Tschechoslowakei traten Oppositionelle, hielt auch Kontakt zum kommunistischen Dissiden- ebenfalls unter Berufung auf die KSZE-Schlussakte, ten Robert Havemann. Gemeinsam verfassten sie im am 1. Januar 1977 mit der Charta 77 an die Öffent- Januar 1982 einen Abrüstungsvorschlag, den „Berli- lichkeit. Den Gründungsaufruf

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