Samstag, 5. April 2014 Martinskirche Basel Neuer Basler Kammerchor Leitung: Florian Cramer Georg Friedrich Händel Brockes-Passion HWV 48 Sopran Heike Heilmann Veronika Lutz Altus Timo Klieber Tenor Michael Feyfar Hans Jörg Mammel Bass Johannes Held Ars Viva Ensemble www.nbk-basel.ch Programmheft Fr. 3.- 2 Liebe Konzertbesucherin, lieber Konzertbesucher Herzlich willkommen zum Konzert des Neuen Basler Kammerchors. Wir freuen uns, dass Sie heute Abend zu uns in die Martinskirche gekommen sind! Es erwartet Sie ein selten aufgeführtes Werk. Barthold Heinrich Brockes ver- fasste den Text zu dieser Passion und Händel vertonte ihn. Diese damals po- puläre Dichtung lehnt sich an die Passionsgeschichte an und erweitert sie in- sofern, als sie um zwei allegorische Figuren, die „Gläubige Seele“ und die „Tochter Zion“, ergänzt wurde. Diese kommen häufi g kommentierend zu Wort und bilden die Brücke zwischen historischem Geschehen und persönlichem Bezug für die Hörer – zu Händels Lebzeiten genauso wie heute. Neben einem Einführungstext von Andreas Traub und dem Passionstext stel- len wir Ihnen gerne die Künstler des heutigen Abends vor. Bedanken möchten wir uns bei allen, die diesen Abend ermöglicht haben: unseren Gönnern, Inserenten und Sponsoren, allen mitwirkenden Musikern und Sängern, sowie allen fl eissigen Helfern. Gerne weisen wir auch auf unser nächstes Konzert hin: Am Samstag, den 22. November um 19.30 Uhr erklingen in der Martinskirche Vokalwerke der Romantik von Johannes Brahms, Edward Elgar, Felix Men- delssohn Bartholdy und Robert Lucas Pearsall. Wir heissen Sie dazu herzlich willkommen und freuen uns auf Sie! Wir wünschen Ihnen einen schönen Konzertabend, der noch lange nachklin- gen möge. Ursula Refardt Florian Cramer Präsidentin Chorleiter 3 Die Brockes-Passion von GEORG FRIED- de Brockes Ratsherr, 1730 Kaiserlicher RICH HÄNDEL entstand vor dem Hinter- Pfalzgraf und Gekrönter Dichter, 1735 grund einer zu Beginn des 18. Jahrhun- Amtmann von Ritzebüttel und 1741 derts in Hamburg öffentlich geführten Landherr des Hamburger Berges. Diskussion: Darf man in der Karwoche eine Passionsmusik aufführen, deren Mit der Angabe aus den IV. Evangelien Text nicht einem der vier biblischen ... in gebundener Rede vorgestellt weist Passionsberichte entspricht? 1704 hat- Brockes seinen Text als Evangelien- te Christian Friedrich Hunold mit Der Harmonie aus. Er gestaltet ihn durchaus blutige und sterbende Jesus einen er- nach Art einer Passion. Es gibt einen sten solchen Text vorgelegt, der noch im Evangelisten (in herkömmlicher Wei- selben Jahr von Reinhard Keiser vertont se: Tenor), elf biblische Personen, die wurde. 1712 erschien Der für die Sünde Tochter Zion und die Gläubigen Seelen. der Welt gemarterte und sterbende Je- Brockes gliedert das Geschehen in acht sus von BARTHOLD HEINRICH BROCKES. Szenen, beginnend mit dem Abendmahl Keiser vertonte diesen Text 1712, Georg und schliessend mit Kreuzigung und Tod Philipp Telemann 1716, ebenfalls 1716 Jesu. Die in den Evangelien berichtete Händel und 1718 Johann Mattheson. Im Kreuzabnahme und Grablegung lässt April 1719 führte Mattheson in demons- er weg, fügt aber einen Dialog zwischen trativer Weise die vier Kompositionen Jesus und Maria auf dem Gang nach in der Hamburger Domkirche auf. Alle Golgatha ein (Nr. 40a, b). Beteiligten kannten sich seit langem. Brockes und Telemann hatte Händel Die Kreuzigung schliesst er mit einer 1702 in Halle kennengelernt, Mattheson dreistufi gen Steigerung: 1. Hierauf rief und Keiser 1703 in Hamburg. Später Jesus laut mit ganzer Macht: Es ist voll- wurde der Text noch von Gottfried Hein- bracht, mit der choralartigen Antwort: rich Stölzel und Johann Friedrich Fasch O Donnerwort! O schrecklichs Schrei- vertont, und noch nach der Mitte des en; 2. Drauf neigte er das Haupt, ver- Jahrhunderts bildete Johann Wendelin standen als Bejahung der Frage: Ist al- Glaser aus der Abendmahlsszene von ler Welt Erlösung nah?, und 3. Und er Brockes eine Gründonnerstagskantate. verschied, mit einer vier Nummern um- fassenden Darstellung des Erdbebens, DAS LIBRETTO das die Gläubige Seele geradezu in den Tod treibt: „Ersticke, Gott zu Ehren, in Brockes (1680–1747), von Haus aus deiner Sündfl ut bittrer Zähren“. Die fol- Jurist, war nach ausgiebigen Studien- gende Conclusio besteht aus der zwei- reisen 1708 nach Hamburg zurückge- ten und dritten Strophe von Wenn mein kehrt. 1715 gründete er die literarisch Stündlein vorhanden ist von Nikolaus tätige Teutschübende Gesellschaft und Hermann, die eine Arie der Tochter Zion 1724 die Patriotische Gesellschaft, die umschliessen, in der die Gläubige See- nach englischem Vorbild die Wochen- le getröstet wird: „Wisch ab der Tränen schrift Der Patriot herausgab. 1720 wur- scharfe Lauge“ (Nr. 53). Der Conclusio 4 Ihr Partner für Höchstnoten. 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Nur so waren die gewünsch- der Kreuzigung erklingt die dritte Stro- ten Emotionen zu erregen, und Händel phe von O Traurigkeit, o Herzeleid von hat genau diesen Text in allen seinen Johann Rist. Es hat sich aus Hamburg Einzelheiten vertont. Er hat keine frei ein Textbuch zur Brockes-Passion von verfügbare „Andachtsmusik“ geschaf- ungefähr 1720 erhalten, in dem an for- fen. mal markanten Punkten acht zusätzliche Kirchenliedstrophen eingefügt sind. Die HÄNDELS VERTONUNG, heutige Aufführung folgt dieser Traditi- BACHS ABSCHRIFT on; die Lieder erklingen in Sätzen von Johann Sebastian Bach. Händel, der seit 1713 in England lebte, kehrte Ende 1716 von einer Reise durch Von den 36 Arien und Ariosi gehen 15 Deutschland nach London zurück und an die vom Sopran verkörperte Tochter folgte dann einer Einladung von James Zion, die das Geschehen nicht nur be- Brydges, Earl of Carnarvon, für den er gleitet, sondern in es einbezogen wird; die Chandos Anthems komponierte. sie führt ein Gespräch mit Jesus (Nr. Mit der kurz zuvor abgeschlossenen 28b) und weist die Gläubigen Seelen Brockes-Passion wollte sich Händel auf den Weg nach Golgatha (Nr. 39b). vielleicht um das Kantorat in Hamburg Händel skizziert mit der heftigen Arie Nr. und die Direktion der dortigen Oper am 17b Was Bärentatzen, Löwenklauen, Gänsemarkt bewerben. dem Adagio Nr. 26 Die ihr Gottes Gnad versäumet und dem Siciliano Nr. 33b Die Die autographe Partitur des Werkes Rosen krönen die Spannweite der Aus- schickte Händel an Mattheson; sie ging drucksmöglichkeiten dieser Figur. Auch verloren. Unter den Abschriften des 18. Petrus wird in der Rachearie Nr. 14b Gift Jahrhunderts ist eine von besondere Be- und Glut und dem Klagegesang Nr. 19b deutung: 1746 -1747 stellte JOHANN SE- Heul du Schaum der Menschenkinder BASTIAN BACH eine Abschrift des Werkes deutlich charakterisiert. Solche auf die her; die ersten 47 Seiten der Partitur Oper weisenden Beobachtungen gehö- schrieb er eigenhändig; dann setzte sein ren durchaus zur Sache; das Passions- Kopist Johann Nathanael Bammler die geschehen war „dramatisch“ und löste Arbeit fort. Bach hatte die Brockes-Pas- die stärksten Emotionen aus. sion schon früher kennengelernt, denn 6 Barthold Heinrich Brockes (Portrait von Domenicus van der Smissen) er übernahm nach 1743 sieben Arien den Text: „Mich vom Stricke meiner Sün- aus ihr in eine Passionsmusik, die er den zu entbinden, wird mein Heil gebun- nach der Markus-Passion von Reinhard den“. Bach übernimmt ihn in seine Jo- Keiser zusammengestellt hatte. Nun fer- hannes-Passion und ersetzt ihn durch tigt er eine vollständige Partitur an, und „Kommet, ihr verworfnen Sünder“, was diese Partitur ist die Grundlage der heu- an das „Kommt, ihr Töchter, helft mir tigen Aufführung des Werkes. Sie weist klagen“ der Matthäus-Passion erinnert. einige bemerkenswerte Abweichungen Vielleicht hat der Dichter der Matthäus- von den anderen Quellen auf, die man, Passion, Picander, diese Verse für Bach zumal wenn Bach sie selber notiert hat, gedichtet. Damit wird die Ich-Perspek- als bewusste kompositorische Eingriffe tive von Brockes zu einer Einladung zu verstehen hat. Man sollte diese Stel- an alle Sünder verwandelt. Das ganze len also genau so musizieren, wie Bach Werk wird neu ‚adressiert‘: Alle sollen sie aufgeschrieben hat. Sind die Abwei- hinzukommen und die Passion erleben. chungen von Bammler notiert, muss man jedoch sorgfältig prüfen, ob viel- Andere Abweichungen sind weniger auf- leicht Schreibfehler vorliegen. fällig. Zweimal gibt Bach einem Rezitativ einen veränderten Klanggrund, das üb- Die gewichtigste Änderung betrifft das rige sind Details. Es ist aber durchweg Exordium. Der Chorsatz hat bei Brockes faszinierend zu beobachten, wie Bach 7 sich in der Zeit des Musikalischen Op- Einzelstücke aufeinanderfolgen, ent- fers und der Kunst der Fuge, aber auch steht aus der Anordnung der Tonarten. der Überarbeitung der Johannes-Pas- Händel wählt als Grundtonart die Ver- sion
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