HURRA!HURRA!HURRA!HURRA! LITERATUR POLITISCHES BUCH 12 m2 Spielwiese Pfleger des eigenen Hasses Aufbruch – wohin? Das Konzept der Entwicklungsredaktion Von nun an werden alte Bücher neu gele- Wie viele Spaltungen hätten S’ denn gern? taz war: kein Konzept. Ins taz.mag sollten sen. Detlef Kuhlbrodt macht den Anfang Die Sozialwissenschaftler Stephan Lessenich Texte, die woanders nicht reinpassten. mit Dostojewskis „Dämonen“ – übrigens und Frank Nullmeier kennen im zerfallenden mag Ein Hoch auf die Freiheit SEITE IV & V auch etwas für die RAF-Debatte SEITE VI Land mehr, als einem lieb ist SEITE VII DAS WOCHENENDMAGAZIN DER TAGESZEITUNG I SONNABEND/SONNTAG, 12./13. MAI 2007 19. WOCHE NR. 500 Das Porträt von Stephan Kaufmann hat sein Freund Sven gemalt. Bei der Beerdi- gung stellte Annelie Kaufmann das Bild neben den Sarg FOTO: JULIA BAIER Warum? Ein Fassadenkletterer und Stuntman stürzt am 23. Oktober 2006 vom Dach eines „Selbstmörderhochhauses“ in Berlin. Einen Abschiedsbrief hinterlässt er nicht. Aber eine Mutter mit vielen Fragen mehr als sonst freut, sie zu sehen. Aber Sportclubs, der eine besondere Förde- eine Zeugenaussage verpasst und sollte Boxkampf als Parabel auf das Leben. An AUS FREDERSDORF er wirkt auch bedrückt, abwesend. rung durch den Chef der Staatssicher- nun vorgeführt werden. diesem Tag im Mai, als die Polizei vor BARBARA BOLLWAHN Sie gehen auf dem Klinikgelände heit, Erich Mielke, genossen hat. Er ge- Stephan Kaufmann, der gelernte seiner Wohnungstür in Berlin stand, spazieren, essen Eis, sprechen mitein- hörte der Hooliganszene an. Ein harter Stahlbetonbauer, hatte sich nach seiner wollte er nach Wien fliegen. Um bei ei- ander. Sie will wissen, was mit ihm los Kerl, der austeilt und einsteckt. Haft aus der Türsteher- und Hooligan- ner Aufführung von „Adam Schaf hat Am 20. Oktober 2006 besucht Annelie ist. „Du kannst mir alles sagen. Du Im Krankenhaus weint er. Die Mutter szene zurückgezogen, einen Höhen- Angst“ zu boxen. Als ihn die Polizei mit- Kaufmann ihren Sohn Stephan im Un- musst mich nicht schonen.“ Wirklich will wissen, was ihn bedrückt. Ihr Sohn arbeiterschein erworben und als selbst- nehmen wollte, rastete er aus. fallkrankenhaus Berlin-Marzahn. Der schockieren kann sie nichts. Ihr Sohn erzählt ihr schließlich von einer Ge- ständiger Industriekletterer gearbeitet. Die Mutter spürt, dass ihn noch et- 33-Jährige hat sich als Stuntman in der ist ein trainierter Kickboxer mit Täto- fängnisstrafe, die er ihr bisher ver- was anderes belastet als das Gefängnis. Westernstadt „El Dorado“ in Templin wierungen von einem roten Fisch, ei- schwiegen hat. Bis zum März 2003 saß er gut aussehende junge Mann „Du musst mir nichts verheimlichen“, verletzt. Bei einer Cowboy-und-India- nem Teufel, einem Drachenkopf, einer er wegen gefährlicher Körperverlet- spielte als Statist im Film „Stalin- drängt sie. Aber er hat ihr nichts weiter ner-Show verpasste er den Absprung Frau und Blumen und einem Kapuzen- zung acht Monate in Haft. Unter Tränen grad“ mit, wurde für eine Werbe- zu sagen. Nach drei Stunden verab- von einem Saloondach. Er ist auf eine kopf auf Ober- und Unterarmen und spricht er über seine Angst vor einem Daktion „Die Stadt bin ich“ des schieden sie sich. Sobald er aus dem Gewehrattrappe gefallen und hat sich Brust. Mit 16 Jahren wurde er das erste bevorstehenden zweiten Gefängnisauf- Berliner Stadtmagazins zitty fotogra- Krankenhaus entlassen wird, haben sie das rechte Handgelenk gebrochen. Sei- Mal wegen gefährlichen Körperverlet- enthalt. Weil er gegen vier Polizeibeam- fiert und fand Zugang zum Theater. In beschlossen, wollen sie zusammen Ord- ne Mutter weiß, dass er Angst hat, dass zung verwarnt. Es folgten Wiedergut- te, die am 18. Mai 2003 morgens um dem Musical „Adam Schaf hat Angst nung in seine Papiere und in sein Leben die Hand vielleicht nicht wieder hun- machungsauflagen, Geld- und Bewäh- fünf einen Vorführungsbefehl der oder Das Lied vom Ende“ von Georg bringen, bevor er ins Gefängnis muss. dertprozentig einsatzfähig sein wird. rungsstrafen und weitere Vergehen. Ei- Amtsanwaltschaft vollstrecken wollten, Kreisler, das am Berliner Ensemble auf- Zum Abschied sagt sie, dass sie stolz auf Die Ärzte sagen, dass die Chancen gut nige Jahre hat er als Türsteher gearbei- Widerstand geleistet hatte, muss er sie- geführt wurde, stand er mit einem an- ihn ist. stehen. Der Sohn freut sich über ihren tet und war Anhänger des BFC Berlin, ben Monate ins Gefängnis. Wegen einer deren Boxer auf der Bühne. In den Ge- Besuch. Der Mutter fällt auf, dass er sich des früheren Ostberliner Dynamo- Theaterprobe hatte er einen Termin für sangspausen lieferten sie sich einen Fortsetzung auf Seite 2 ®® II SONNABEND/SONNTAG, 12./13. MAI 2007 warum? TAZ MAG Annelie Kaufmann führt ein Wollgeschäft. „Stephan hatte viele, viele Freunde“, sagt sie. Der Sohn war Boxer, das Stadtmagazin „zitty“ fotografierte ihn für eine Werbekampagne FOTOS: JULIA BAIER (RECHTS); PROMO ® Fortsetzung von Seite 1 1,3 Prozent aller Todesfälle. Dazu Das Wort „Selbstmord“ umgeht sie. Gemeint ist Felix S., dem die Journa- fängnis gemusst. Nach einer Revision kommt eine Dunkelziffer sogenannter Sie sagt „es“ oder „das“. Sie ist hin- und listin Jana Simon mit ihrem Buch der Staatsanwaltschaft war die Bewäh- Es ist dunkel, als sie die etwa 30 Kilo- versteckter Selbstmorde: Menschen, hergerissen zwischen Verzweiflung, „Denn wir sind anders“ eine Art Denk- rung für die Haftstrafe aufgehoben meter nach Hause fährt, nach Freders- die in der Absicht, ihrem Leben ein Ohnmacht, Schuldgefühlen, Verdächti- mal gesetzt hat. Darin beschreibt sie ei- worden. In dem Urteil des Landgerichts dorf. Ein kleiner Ort mit 12.000 Einwoh- Ende zu bereiten, in ihren Wagen stei- gungen und Wut. Ihr Sohn hat keinen nen einerseits gewalttätigen und ande- heißt es, dass allein der Ausstieg aus sei- nern in Märkisch-Oderland östlich von gen oder eine Überdosis Drogen neh- Abschiedsbrief hinterlassen. Das macht rerseits liebenswerten jungen Mann, nem früheren Umfeld noch nicht die Berlin, wo sie mit ihrem Mann in einem men. Nach Angaben des Statistischen die Suche nach einer Erklärung so der in der DDR geboren ist und im wie- Erwartung zulasse, dass er künftig kei- Einfamilienhaus lebt, in dem sie ein Bundesamtes wählt etwa die Hälfte der schwer. Hat sie ihren Sohn wirklich ge- dervereinigten Deutschland nirgendwo ne neuen Gewalttaten begehen werde. Wollgeschäft betreibt. Während der Selbstmörder den Tod durch Erhängen kannt oder nur einen Teil von ihm? Ist seinen Platz findet. Es gibt viele Paralle- Auch die Tatsache, dass er die letzten Fahrt macht sich ein seltsames Gefühl oder Ersticken. Zehn Prozent springen er vielleicht nicht von dem Hochhaus len zwischen Felix S. und Stephan Kauf- drei Jahre nicht straffällig geworden ist, im Auto breit. „Das war es jetzt?“, fragt in die Tiefe, so wie Stephan Kaufmann. gesprungen, sondern wurde von je- mann. Beide sind in der DDR aufge- lasse „eine günstige Legalprognose sie sich immer wieder. Sicher ist sie in Hinterlassen sie kein Wort der Erklä- mandem hinuntergestoßen? Hat er wachsen. Beide trainierten im „Box- nicht nachvollziehbar erscheinen“. ihrer Unsicherheit nur in einem Punkt: rung, kommt zum schmerzvollen Ver- nicht wenige Tage vor seinem Tod die- tempel“ in Berlin-Weißensee, wo sie „Er hat mir etwas vorenthalten.“ Nur: lust eine quälende Ungewissheit. sen seltsamen Satz gesagt „Die wollen sich gegenseitig abgeklatscht haben. nnelie Kaufmann will Klarheit Was? Am liebsten wäre sie umgekehrt. Zwei Tage nach dem Tod von Stephan uns fertigmachen“? Haben Polizei und Beide waren Kickboxmeister und in der über die Umstände des Todes Aber sie sitzt nur ungern im Dunkeln Kaufmann wird seine Leiche zur Beer- Staatsanwaltschaft wirklich gründlich Berliner Kampfsportszene bekannt. ihres Sohnes. Sie legt Beschwer- am Steuer. Außerdem muss sie am digung freigegeben. Zur gleichen Zeit genug ermittelt, um ein Fremdver- Beide sahen in Bruce Lee ihr Vorbild. A de gegen die Einstellung der Er- nächsten Morgen ausgeschlafen sein. werden auch die Ermittlungen einge- schulden auszuschließen? Bei ihren te- Beide verdienten ihr Geld als Türsteher, mittlungen ein. Für sie gibt es zu viele Für die Steuererklärung, die sie für ihr stellt. Für die Behörden gibt es keinen lefonischen und schriftlichen Nachfra- drifteten in die Hooliganszene ab, wa- Widersprüche. Zum Beispiel der Leder- Wollgeschäft machen muss. Für ihren Zweifel an dem Selbstmord. Auf dem gen bei den Behörden fühlt sie sich „wie ren immer wieder in Schlägereien ver- gürtel, den der Sohn trug. Nach Anga- Mann, der an Alzheimer leidet. Friedhof in Fredersdorf erinnert ein ein lästiges Übel“,das man abwimmelt. wickelt und wurden verurteilt. Beide ben des Kriminalkommissars, der vor Drei Tage später ist Stephan Kauf- Grabstein mit fünf Buchstaben und Beruhigend ist das nicht. hatten Probleme mit einer gebroche- Ort war, ist der Gürtel am achten Loch mann tot. Am Montag, dem 23. Oktober zwei Jahreszahlen an ihn: „Kaufi 1973 – Sie fährt in die Westernstadt „El Do- nen Hand und immer wieder mit Geld. abgerissen. Der Notarzt dagegen proto- 2006, liegt er mit einem Schädelbruch, 2006“. Zur Beerdigung kommen etwa rado“ und spricht mit Kollegen und Eine weitere Gemeinsamkeit der bei- kolliert, dass der Gürtel neben der einem gebrochenen Fußgelenk, Rip- hundert Freunde – Stephan war beliebt, Freunden. Doch Antworten findet sie den, die keine Freunde, aber miteinan- Schnalle „sauber durchgetrennt“ ist. Er penbrüchen und einem Beckenbruch stand oft im Mittelpunkt. Die Mutter nicht. Sie macht sich auf den Weg zu der bekannt waren, ist ihr Ende: Felix S. weist in seinem Bericht auf ein Häma- vor einem 18-stöckigen Hochhaus in hat ein Lied ausgewählt, das ihm viel dem Hochhaus nach Lichtenberg und erhängte sich 2001 im Alter von 31 Jah- tom hin, auf das in der Leichenbesichti- der Dolgenseestraße in Berlin-Lichten- bedeutete. „Dieser Weg“ von Xavier Nai- verfasst ein Flugblatt. „Zeugen gesucht“ ren in der Untersuchungshaft in Berlin. gung der Polizei nicht eingegangen berg. Stephan Kaufmann, der seinen Le- doo, mit dem sich die deutsche Fußball- steht neben einem Foto ihres Sohnes, Stephan Kaufmann sprang mit 33 Jah- wird.
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