4 Analyse des Bildes der bösartigen alten Frauen in der Edo- zeitlichen Trivialkultur 4.1 Allgemeine Charakteristika der trivialen Kulturproduktion 4.1.1 Inhalte und Darstellungsweisen: Fantastik, Zerstückelung, Sensa- tionslust, und ihr problematischer Realitätsbezug Kehren wir nun zu den Edo-zeitlichen Abwandlungen des Themas zurück, so muss zunächst gesagt werden, dass jene Genres der bürgerli- chen Kultur, der die in Kapitel 2 beschriebenen Werke mit ihren Figu- ren bösartiger, mörderischer alter Frauen zuzurechnen sind – sei es das weite Feld der Holzschnitte, die Heftchen-Literatur oder das Kabuki- und Puppentheater –, von der Forschung bislang nur unzureichend be- rücksichtigt worden sind, zumal was ihre Inhalte und Bezüge zur sozia- len Realität betrifft. Zwar sind Kabuki und Bunraku als Theaterformen Teil der Weltkultur geworden und haben, was Darstellungstechniken betrifft, westliche Theatermacher auf der Suche nach Auswegen aus einer gewissen Sackgasse beeinflusst, in die zu viel Realismus und Sachlichkeit das europäische Theater geführt zu haben schienen. Doch richtet sich dieses Interesse auf Aufführungspraxis und Ästhetik beider unterschiedlicher, wenn auch einander nahe stehender Gattungen. Inhaltliche Untersuchungen waren und bleiben eher selten, denn, wie es Faubion Bowers 1956 formulierte, kursieren vorwiegend zwei Mei- nungen über das Kabuki: „die eine, die der westlichen Besucher, lautet, dass der Inhalt nicht wichtig ist, weil Kabuki vor allem ein Spektakel ist; die andere, meist von Japanern geäußerte, besagt, dass der Inhalt nonsense, unlogisch und unzusammenhängend, ist“ (in Halford und Halford 1956:xi). Eine Beschäftigung mit den Inhalten des Kabuki ist so vielfach nicht wesentlich über eine Einordnung bestimmter Topoi hinausgegangen. So ist die Bedeutung des giri-ninjō-Konfliktes, den die Helden zu bestehen haben zwischen ihren gesellschaftlichen Verpflich- tungen und ihren emotionalen Bedürfnissen, für Bunraku wie Kabuki immer wieder betont und als Ausdruck dessen bewertet worden, dass in der japanischen Gesellschaft zumal der Edo-Zeit das Individuum kaum je nach seiner gefühlsmäßigen Neigung, sondern in Übereinstimmung mit einem Kanon von Normen handeln muss, die ihm wenig Spielraum zu persönlicher Entfaltung lassen: Die Loyalität gegenüber dem Herrn, der Gehorsam gegenüber den Eltern, die Unterordnung der Frau unter den Mann, wie sie auf den Bühnen so häufig dargestellt wurden, all dies 180 Kapitel 4 sind Normen, wie sie auch im gewöhnlichen Leben Bestand hatten. In der Populärkultur wurde dieser durchaus reale Konflikt zwischen Pflicht und Neigung umso ergreifender, wenn die Heldinnen und Hel- den erkennen müssen, dass die gesellschaftlichen Normen ihnen bei- spielsweise für immer verbieten, mit ihrem oder ihrer Geliebten leben zu können, oder gar in Situationen geraten, in denen zwei oder mehrere dieser Normen einander widersprechende Handlungsweisen verlangen, und es entsprechend kein ehrenhaftes Entkommen gibt. Als Ausweg bleibt auf Bühnen wie in Romanheftchen oft nur der Selbstmord, der auch im „wirklichen“ Leben vorkommen konnte. So haben viele Dop- pelselbstmord-Stücke ihren Ursprung in einer „wahren Begebenheit“, so viel Freiheiten die Autoren sich mitunter auch für ihre Zwecke mit Motivation der Protagonisten und Hergang der Ereignisse nahmen. 1 Mord und Totschlag standen zwar im gewöhnlichen Leben nicht auf der Tagesordnung, doch entsprach auch die Blutrache, die so häufig Thema von Kabuki-Stücken ist, durchaus einer institutionalisierten gesell- schaftlichen Praxis, die Rache für einen Mord, etwa an einem Elternteil oder dem Ehemann, unter Einhaltung bestimmter Konventionen erlaub- te oder sogar forderte (Halford und Halford 1956:469–470). Auch die Entstehung gewisser Subgenres des Kabuki ist in Zusam- menhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen gesehen worden. Das Aufkommen der sogenannten kizewamono seit dem 19. Jahrhundert, die Randgruppen der Gesellschaft – Spieler, kleine Verbrecher, Prostitu- ierte, herrenlose Samurai, Bandenchefs und ähnliche Figuren – ins Zen- trum des Geschehens rückten, gilt so als Ausdruck der sozialen Span- nungen der Zeit und der Hand in Hand mit diesen fortschreitenden Aus- höhlung der feudalen Werte. Verarmte Samurai oder rōnin und in ihrer Nachfolge andere Gruppen, die ihr Auslangen auf krummen Wegen fanden und nun als streitsüchtig-prahlerische Kleinkriminelle die Büh- nen des Kabuki bevölkerten, ebenso wie die Tatsache, dass das demi- monde der Vergnügungsviertel dort nun als ganz unglamurös elend ent- larvt wurde, spiegeln die Verelendung breiter Volksschichten und die Zunahme der mushukusha, der „Heimatlosen“, in den städtischen Un- terschichten wider, denen wegen ihrer „illegalen“ Lage gar nicht viel anderes übrig blieb, als sich auf nicht geradlinigen Bahnen durchs Le- ben zu schlagen (Halford und Halford 1956:431). Besondere Aufmerk- samkeit ist in den letzten Jahren einem weiteren Genre zugekommen, das auch als Untergruppe dieser kizewamono verstanden werden kann, 1 Vgl. dazu etwa unten zu dem Stück Shinjū yoi kōshin, S. 430. Die Analyse 181 den dokufumono oder akubamono, den „Giftweiber-Stücken“, die Abenteuer und Umtriebe verbrecherischer Frauen zum Inhalt haben. Zum Teil als „weibliche“ Versionen von populären Stücken entstanden, waren auch diese zunächst ganz im Sinn der These vom Kabuki als rei- nem Spektakel einfach als gelungener Kunstgriff gedeutet worden, be- liebten Stücken durch das leicht veränderte Setting – den auf weiblich umgeschriebenen Rollen beliebter Antihelden – den Reiz unerwarteter Neuheit zu verleihen (Noguchi 1980:173); erst aus dem verstärkten In- teresse der jüngeren Zeit ist es hervorgegangen als Spiegelbild verän- derter gesellschaftlicher Bedingungen gegen Ende der Edo-Zeit, unter denen die sich ausweitenden Erwerbsmöglichkeiten für Frauen zu einer Aushöhlung des Prinzips der Unterordnung der Frau unter den Mann führten, die diese literarischen Figuren auf der Bühne nachvollziehen (Noguchi 1980:198–200; Seki 1980:57–75; Wakita, Hayashi und Naga- hara 1988:179–182) (s.S. 335ff.). Eine nähere, über die Feststellung dieser Topoi hinausgehende Be- schäftigung mit den Inhalten des Kabuki stößt auf eine Reihe von Schwierigkeiten. Zum einen bildet die Handlung zumeist nur einen losen Rahmen, der die einzelnen effektvollen Szenen, die eigentlichen Höhepunkte der Aufführungen, oft nach heutigem Geschmack nur un- zureichend verbindet. Inhaltsangaben von Kabuki-Stücken wirken meist nicht nur umständlich, sondern sind auch schwer verständlich, ist es doch für den Neophyten kaum möglich, sich die Vielzahl der vorkom- menden Personen, geschweige denn ihren Platz im Stück zu merken. Viele Figuren tauchen in der kaleidoskopartigen Aneinanderreihung der Szenen nur einmal kurz auf, andere erscheinen in verschiedenen Szenen unter anderem Namen, spielen ein Stück im Stück oder eine Rolle in der Rolle, und geben ihre wahre Identität erst am Ende preis. In Anbetracht der oft viele Stunden dauernden Aufführungen war es üblich, sich nicht das ganze Stück anzusehen, sondern nur die wichtigsten Szenen, und sich unterdessen mit Bekannten zu unterhalten oder ein gutes Essen zu genießen. Oft wurden die Stücke ja auch nicht in ihrer gesamten Länge zur Aufführung gebracht, sondern jeweils einzelne wichtige Szenen aus verschiedenen Stücken aneinandergereiht. Die Heftchen-Literatur teilt diesen ausgesprochenen Bilderbogencha- rakter mit Kabuki und Puppenspiel, von denen sie auch viele inhaltliche Vorgaben übernimmt, und reiht wie sie eindrucksvolle Szene an ein- drucksvolle Szene in einem oft nur losen Zusammenhalt. In den breit ausladenden yomihon und gōkan, deren Publikation in Fortsetzungs- bändchen sich über Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte erstrecken konn- 182 Kapitel 4 te, geht der Gesamtzusammenhang nicht selten verloren oder bleibt sei- ne Rezeption bruchstückhaft.2 So musste die jeweilige „Portion“ des Werks, die der Käufer in Händen hielt, für sich genommen befriedigend sein, wiewohl es verkaufsfördernd war und infolgedessen auch geschah, den oder die Folgebände mit Ausblicken auf seinen Inhalt anzukündi- gen, die Lust aufs Weiterlesen machen sollten. Das Bewusstsein einer unter Umständen nur bruchstückhaften Rezeption trägt zu einer gewis- sen Redundanz bei und verstärkt die allgemeine Tendenz zu stereotypen Formulierungen, die das einmal Gesagte ständig weiter bekräftigen. Eine intensivere Beschäftigung mit den Inhalten dieser Kulturpro- duktion wurde auch durch die allgemeine Verachtung erschwert, die ihr von den Meiji-zeitlichen Reformern – und in ihrer Nachfolge lange Zeit auch von der (westlichen) Japanforschung – entgegengebracht wurde, die bemüht waren, dem als überlegen gesehenen Westen gegenüber den Eindruck eines „zivilisierten“ Landes zu machen und alles Vulgäre, Obszöne oder auch nur Amoralische aus der Öffentlichkeit zu verban- nen,3 von dem Theater, Heftchen-Literatur und selbstverständlich auch die Farbholzschnitte, insbesondere der späten Meister, sehr wesentlich lebten. In noch stärkerem Maße als beim Kabuki, das immerhin den Vorteil genoss, als traditionelle japanische Theaterform in Ehren gehal- ten zu werden, galten die Inhalte der massenhaft produzierten und auf raschen Konsum gerichteten Heftchen-Literatur, deren Produktion zwar nicht sofort mit der Meiji-Restauration, jedoch bald danach endete, als purer nonsense. Eine solche Auffassung konnte sich umso leichter hal- ten, als die Autoren selbst diesen Werken kritisch gegenüberstanden. In ihren eigenen Augen war, was sie schufen, keine hohe Literatur, son-
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