Geschichte Der Pharmazie

Geschichte Der Pharmazie

ISSN 0939 - 334X | 69. Jahrgang | November 2017 | 4 Geschichte der Pharmazie DAZ Beilage | Redaktion Prof. Dr. Wolf-Dieter Müller-Jahncke | Prof. Dr. Christoph Friedrich EDITORIAL Xyla et Lineamenta Im Frühjahr 2018 veranstaltet die Deut- sche Gesellschaft für Geschichte der Phar- mazie e. V. ihre pharmaziehistorische Bi- ennale vom 6. bis 8. April in der über tau- medicamentosa send Jahre alten, geschichtsträchtigen, einstigen Reichsstadt Lindau (Bodensee). Imprägnierte oder präparierte Verbandstoffe Aus einem Frauenkloster auf der „Insel der Linden“ hervorgegangen, fügt sich Lindau mit der Klosterinsel Reichenau und dem Kloster Sankt Gallen in den Ka- Ursula Lang | Die neunte Auflage der 1870er-Jahren richtungsweisend non der Formierung europäischer Kultur Vorschriftensammlung Hagers zur Entwicklung, Herstellung, Prü- und akademischer Bildung im mittelalter- Pharmazeutisch-technisches Manu- fung und dem Vertrieb antisepti- lichen Bodenseeraum. Lindau bietet damit aus dem Jahr 1931 bietet Ein- scher Verbandstoffe bei, bearbeite- den idealen Ort, um sich der Entwicklung ale der Pharmazie vom Handwerk zur Wis- blick in die heute überholte Herstel- ten chemische, technologische und senschaft zu widmen, gleichsam flankiert lung von Verbandstoffpräparaten in analytische Fragenstellungen und von Zeugnissen abendländischer Pharma- öffentlichen und klinischen Apothe- setzten sich dafür ein, Patienten mit zie wie dem rekonstruierten Gärtlein des Walahfried Strabo (um 808–849), des ken. Der Abschnitt „Verbandstoffe“ qualitativ hochwertigen Verband- Lieblingsschülers von Hrabanus Maurus präsentiert eine Zusammenstellung stoffpräparaten zu versorgen. Noch (780–856), auf der Insel Reichenau und von mit Arzneistoffen imprägnier- heute werden antiseptische Wund- dem Sankt Gallener Klosterplan mit der wohl am frühsten dokumentierten Form ten Wundauflagen aus Mull oder verbände angewendet, die inzwi- einer Klosterapotheke. Watte, die weniger zur Aufnahme schen jedoch ausschließlich aus in- Gerade die grenzüberschreitende Dimen- von Blut oder Wundsekreten als dustrieller Fertigung stammen.2 sion des Themas bietet die Gelegenheit, die Biennale zusammen mit der Schweize- vielmehr zur lokalen Behandlung rischen Gesellschaft für Geschichte der von Wunden dienen sollten, bei- Der Listerverband: Pharmazie zu gestalten und in insgesamt spielsweise zur Blutstillung mit Ei- acht Vorträgen namhafter ReferentInnen, Auftakt zur antiseptischen senchlorid oder zur Verhütung für die Entwicklung der Pharmazie gleich- Wundbehandlung sam exemplarisch, repräsentative Themen einer Wundinfektion mit antisepti- vorzustellen und zu diskutieren, sodass schen Wirkstoffen. Weiterhin fin- Nachdem der schottische Chirurg Jo- wir uns auf viele anregende und weiter- den sich Vorschriften zur Impräg- seph Lister (1827–1912) im Jahr 1867 führende wissenschaftliche Erkenntnisse freuen dürfen. nierung von Jute und Catgut sowie darüber berichtet hatte, dass ein kar- Die neu hergerichtete Inselhalle in Lindau von Sand, Torfmull oder Verbandpa- bolsäurehaltiger, luftdicht abgeschlos- bietet einen idealen Ort der wissenschaft- pieren. Einleitend wird erläutert, sener Okklusionsverband Wundinfek- lichen Diskussion, und die Stadt Lindau grüßt vorab mit bayerischer Kultur und welchen Zweck das ausführliche tionen und septische Komplikationen Gastfreundlichkeit. Ein attraktives Be- Kapitel „Verbandstoffe“ erfüllen nach operativen Eingriffen zurück- gleitprogramm lässt bereits jetzt Vorfreu- sollte, obwohl diese „in jetziger Zeit drängte, erhielten imprägnierte Ver- de auf die Besuche der kulturellen und nahezu ausschließlich“ in Fabriken bandstoffe eine völlig neuartige Be- landschaftlichen Höhepunkte aufkommen. Ich lade Sie herzlich zur pharmaziehistori- 3 hergestellt würden. Die Nebenbe- deutung. Sie erfüllten nun einen the- schen Biennale 2018 in Lindau ein und schäftigung des Apothekers sollte rapeutischen Zweck und Verbandmit- freue mich sehr auf ein baldiges Wiederse- angeregt und die „Fachgenossen in tel dienten als Trägerstoffe für hen, viele schöne Begegnungen und einen regen wissenschaftlichen Austausch in den Stand gesetzt werden“, einen Wirkstoffe und damit als Ausgangs- der schönen Stadt am Bodensee! nicht vorrätigen Verbandstoff in material zur Herstellung von Verband- Notfällen schnell und sicher herzu- stoffpräparaten. Über lange Zeit hin- Prof. Dr. Sabine Anagnostou, Präsidentin der DGGP stellen.1 Apotheker trugen ab den weg hatten Ärzte und Pflegepersonal Nr.4 | November 2017 | 69. Jahrgang | Geschichte der Pharmazie | 53 https://dx.doi.org/10.24355/dbbs.084-201801121409 Geschichte der Pharmazie nen Zusätzen von Carbolsäure, Eisen- chlorid etc. meiner Ansicht nach sich nicht halten wird, zumal da jeder Arzt diese carbolisierte etc. Baumwolle je- den Augenblick sich selbst nach Wunsch und Bedarf bereiten kann, in- dem er entfettete Baumwolle mit Car- bolsäure-Spiritus etc. tränkt und die überschüssige Flüssigkeit durch Aus- drücken entfernt“.9 Gründung einer Verbandstoff- Fabrik in Schaffhausen (IVF) Victor von Bruns hatte bereits am 2. August 1870, kurz nach Ausbruch des Krieges mit Frankreich, eine Leser- anfrage zur Verwendbarkeit von Baumwolle als Verbandmaterial im Abb. 1: Lister introduces Antisepsis, from „The History of Medicine” Schwäbischen Merkur beantwortet und dadurch auf das große Potential entfet- teter Baumwolle hingewiesen. Dieser Verbandmittel als Hilfsmittel betrach- fahrens durch den Apotheker Johan- Beitrag erregte die Aufmerksamkeit tet, die dem Aufsaugen von Körper- nes Schmid (1842–1923) unterstützt, des jungen Schweizers Heinrich Theo- flüssigkeiten, dem Schutz der Wunde der 1868 die „Johnsche Apotheke“ phil Baeschlin (1845–1887), der in vor Außeneinflüssen oder der Fixie- (heute „Trappsche Apotheke“) in Tü- Schaffhausen eine – von seinem Vater rung von verletzten Gliedmaßen dien- bingen übernommen hatte.7 Dass Apo- am 1. Juli 1870 aus einer Konkursmas- ten. Saugfähige, weiche, faserige Ver- theker sich nicht nur mit Arzneipflan- se erworbene – „Mechanische Wollen- bandmittel verwendete man zur Auf- zen, sondern auch mit gewerblich und Baumwollwatten-Fabrik“ betrei- nahme von Blut, Wundsekreten oder nutzbaren „Fabrik-Pflanzen“ beschäf- ben wollte. Baeschlin entsandte einen Eiter und dicht gewebte Verbandstoffe tigten, die der Erzeugung von Ölen Mitarbeiter nach Tübingen, um Einzel- zum Aufstreichen von Salben und und Farbstoffen oder der Gewinnung heiten des Baumwoll-Entfettungsver- Pflastermassen oder zum Bandagieren von Fasern dienten, die nach dem Blei- fahrens bei von Bruns und Apotheker verletzter Körperteile.4 Eine wichtige chen in Spinnereien und Webereien Johannes Schmid in Erfahrung zu Rolle bei der Einführung von entfette- weiterverarbeitet wurden, zeigt ein bringen. Kurz danach begann er in ter Baumwolle als Verbandmaterial Blick in Sigismund Friedrich Hermb- der „Fabrik medizinischer Verband- spielte Victor von Bruns (1812–1883), staedts (1760–1833) Grundriß der theo- stoffe von H. Th. Baeschlin in Schaff- der 1843 einem Ruf als ordentlicher retischen und experimentellen Pharma- hausen“ entfettete, saugfähige Baum- Professor und Direktor an die Chirur- cie zum Gebrauch bei Vorlesungen. Er wolle zu produzieren. Ende Dezember gische Klinik der Universität Tübin- beschrieb darin ausführlich „bastarti- 1870 gab von Bruns die schriftliche gen gefolgt war.5 Bruns erläuterte im ge oder basttragende Spinn- und We- Erlaubnis, den in Schaffhausen gefer- ersten Band seines Lehrbuchs Hand- berpflanzen“ wie Hanf, Flachs oder tigten Charpie-Ersatz unter seinem buch der Chirurgischen Praxis, dass Brennnesseln und „wollenartige Namen in den Handel zu bringen, riet Baumwolle an Stelle von Charpie, die Spinnpflanzen“ wie Baumwolle, Wei- Baeschlin jedoch „zur größeren Ver- man durch Auszupfen von Fäden aus denröschen oder Wollweide.8 Im zwei- breitung seines Fabrikates“ den Preis gebrauchten Leinengeweben gewann, ten Band seines Handbuchs der Chirur- herabzusetzen. 1874 wandelte sehr gut verwendbar sei. Die von den gischen Praxis ging von Bruns noch- Baeschlin sein Unternehmen in eine Medizinern beklagte, unzureichende mals auf die Bedeutung der Baumwol- Aktiengesellschaft um und änderte Aufnahme von Wundsekreten durch le als Wundverband ein: „Die weite den Namen in „Internationale Ver- Rohbaumwolle könne deutlich verbes- Verbreitung, welche der Baumwolle- bandstoff-Fabrik in Schaffhausen sert werden, wenn die wachsartige Verband während des Krieges 1870– (vorm. H. Th. Baeschlin)“. Victor von Substanz, mit denen die Baumwollfa- 71 gefunden hat, sichert der reinen Bruns, der inzwischen das ehrenvolle sern überzogen waren, durch Ausko- entfetteten Baumwolle einen dauern- Amt als stellvertretender Vorsitzender chen mit 4%-iger Soda-Lösung entfernt den Platz in dem Verbandmaterial, der 1872 gegründeten „Deutschen Ge- würde.6 Victor von Bruns wurde bei während die fabrikmäßige Darstel- sellschaft für Chirurgie“ innehatte, der Entwicklung des Entfettungsver- lung dieser Baumwolle mit verschiede- übernahm den Vorsitz des Verwal- 54 | Geschichte der Pharmazie | 69. Jahrgang | November 2017 | Nr.4 https://dx.doi.org/10.24355/dbbs.084-201801121409 Geschichte der Pharmazie tungsrates, dem zahlreiche weitere, braucht wird, und bin damit sehr zu- eine Apotheke als Verteilungsstelle zu hoch anerkannte Chirurgen aus frieden. […] Freilich kosten die weni- schaffen. Paulcke war Inhaber der Deutschland, Österreich und der gen Verbände, die wir brauchen (die Leipziger Engel-Apotheke und eröffne- Schweiz beitraten.10 Die über Kongres- Operateure haben kaum noch

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