Eine Legende im Wandel der Zeit Die Hochschule für Gestaltung in Ulm Seit ihrer Gründung zählt die Hochschule für Gestaltung in Ulm (HfG) zu den bedeutendsten und wegweisendsten Bildungseinrichtungen für Design und Umweltgestaltung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die zwischen 1953 und 1968 entwickelten Gestaltungsmaximen markieren den Ausgangspunkt einer bundesdeutschen Designentwicklung, die den wissenschaftlichen Diskurs und die Auffassung von Design bis heute maßgeblich prägt und große inter - nationale Anerkennung fand. Nach dem Auszug der Universität Ulm aus dem Gebäudekomplex der HfG und einer umfassenden Sanierung soll die ehema- lige HfG nun aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt und durch die Nutzung als Zentrum für Gestaltung HfG Ulm neu belebt werden. Der vorliegende Beitrag über das Nutzungskonzept und die geplanten Maßnahmen basiert auf einer Magisterarbeit, die 2009 an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg ange- nommen wurde. Marie Schneider Das kulturelle Erbe der HfG seinem Einfluss ein entscheidender programmati- scher Wandel in der Zielsetzung. Die ursprünglich Die Geschichte der HfG war geprägt von Innova- politisch-geisteswissenschaftlichen Schwerpunkte ti onen und Veränderungen, wurde nach ihrem der Lehre wurden zunehmend von gestalterisch- Ende zum Mythos und soll nun mit einer neuen architektonischen Inhalten verdrängt. Nutzung in dem Schulgebäude auf dem Ulmer Kuhberg wiederbelebt werden. Die kulturellen Das gestalterische Erbe der HfG Verdienste der HfG sind komplex und vielschich- tig. Nachhaltige Bedeutung erlangte sie etwa Der Einfluss der HfG auf spätere Gestalterpersön- durch ihren Gründungskontext, der eng mit der lichkeiten ist ebenso unbestritten wie ihre Impulse demokratischen Neuordnung im Nachkriegs- auf die internationale Designentwicklung. Die deutsch land verbunden ist. Die maßgeblichen Be- Hochschule nahm eine Pionierstellung beim Auf- gründer der Schule, Inge Scholl und Otl Aicher, be- bau der Designstudiengänge ein und arbeitete ak- absichtigten mit ihrem Konzept für eine politisch- tiv an der Entwicklung eines zeitgemäßen Berufs- geisteswissenschaftlich ausgerichtete Hochschule, bildes für Designer mit. Neben Max Bill, der bis zu an die Werte der Widerstandsgruppe der „Weißen seinem Abschied 1957 der erste Direktor an der Rose“ gegen den Nationalsozialismus anzuknüp- HfG war, unterrichteten dort zahlreiche aner- fen. Diese studentische Protestbewegung nahm kannte Persönlichkeiten wie Max Bense, Hans Gu- ihren Ausgangspunkt in Ulm. Als ihre beiden Grün- gelot oder Tomás Maldonado sowie Gastdozenten dungsmitglieder Hans und Sophie Scholl 1943 in aus der ganzen Welt. Durch den hervorragenden München von der Gestapo inhaftiert, zum Tode internationalen Ruf konnten auch ehemalige Bau- verurteilt und hingerichtet wurden, war der Wider- haus-Meister wie Josef Albers oder Johannes Itten stand der „Weißen Rose“ gewaltsam gebrochen. für die Hochschule gewonnen werden. Ihre Verantwortung aus der unmittelbaren Vergan - Nach der einjährigen Grundlehre verteilten sich die genheit des Nationalsozialismus sahen Inge Scholl Studenten auf die Abteilungen Visuelle Gestal- und Otl Aicher darin, das politische Erbe ihrer Ge- tung, Produktform, Architektur und Information. schwister beziehungsweise Freunde anzutreten Später wurde das Lehrangebot noch durch die und der Gesellschaft ihr demokratisches Werte- Filmabteilung erweitert. Während der dreijährigen system zu vermitteln. Fachausbildung in einer dieser Abteilungen sollten Mit dem Eintritt des Schweizer Architekten Max die Studenten neue Wege bei der Lösung von Bill (1908–1994) in den Gründerkreis der HfG be- Gestaltungsfragen beschreiten. Aufgrund einer gann ab 1950 die konkrete Planungsphase des gleichzeitigen Berücksichtigung von ästhetischen, Schulkomplexes und gleichzeitig vollzog sich unter ökonomischen und funktionalen Aspekten gelang Denkmalpflege in Baden-Württemberg 1 | 2011 29 1 Stapelgeschirr TC 100 besonderer Bedeutung im Sinne von §12 sowie ei- von Nick Roericht. ner Gesamtanlage im Sinne von § 19 des Denk- malschutzgesetzes Baden-Württemberg – gehö- ren neben dem Schulgebäude die Studenten- wohnhäuser und das Pförtnerhaus sowie die Dozentenhäuser von Max Bill und Hans Gugelot. Nach einer etwa zweijährigen Planungsphase wurde der Stahlbeton-Skelettbau mit Flachdächern zwischen 1953 und 1955 von Max Bill errichtet. Ein charakteristisches Merkmal des Schulkomple- xes ist seine behutsame Einbettung in die Land- schaft. Durch die gestaffelte Abstufung der ein- zelnen Baukörper folgt die Architektur der terras- es, den Fragen der Produktgestaltung zu einem sen förmigen Topografie des Oberen Kuhbergs – neuen, gesellschaftlich relevanten Stellenwert zu außer dem Studentenwohnturm ist keines der Ge- verhelfen. So prägten das Design der HfG formale bäudeteile höher als zwei Stockwerke. Eine wei- und konstruktive Merkmale. Vor allem in den Klas- tere Besonderheit ist die geschwungene Anord- sen der Visuellen Gestaltung und der Produktform nung der Baukörper. Sie scheinen willkürlich über entstanden hierbei zum Teil legendäre Erzeugnisse den Hügel verstreut und stoßen meist in stumpfen wie das Stapelgeschirr TC 100 von Nick Roericht, Winkeln aneinander (Abb. 4). Einen starken Ge- der Ulmer Hocker oder das Corporate Design der gen satz zu dieser lockeren Abfolge bildet die streng Lufthansa von Otl Aicher, das in einer leichten Mo- orthogonal gegliederte Fassade in Sichtbeton difikation noch heute gültig ist. In Erinnerung blei- (Abb. 5). Ebenso wie der gesamten Baukonstruk- ben sicher auch einige Produkte der Firma Braun tion liegt ihr ein strenges 3-Meter-Rastermaß zu- wie beispielsweise die Rasierapparate oder das Ra- grunde. Die Bereiche zwischen den Stahlbeton - dio-Phonogerät, der so genannte Schneewitt- stützen bilden in variierender Gestaltung und Aus- chensarg, von Dieter Rams (Abb. 1–3). fachung ein maßgebliches Gestaltungsmerkmal Das Ende der HfG vollzog sich über mehrere Jahre der Fassade. Mal ausgeführt als reines Wandstück, und wurde von zahlreichen Protestaktionen und teilweise in Kombination mit einem Oberlicht, mal etlichen Rettungsversuchen begleitet. Schließlich ausgestattet mit großem Fenster und kleinerem war es die Streichung der Zuschüsse des Landes Brüstungsfeld, oder als Durchgang belassen, tra- und der Stadt, die die Mitglieder der HfG zwang, gen die Felder zu einer dynamischen Wechselwir- in einer Resolution ihre Selbstauflösung für den kung bei. Alle Fassadenteile schließen bündig mit- September 1968 anzukündigen. einander ab und bilden so eine plane Fläche für die grafische Zeichnung der einzelnen Elemente und Der Schulgebäudekomplex – das der durch die abgefasten Kanten betonten Fugen. architektonische Vermächtnis der HfG Auf Anregung des Kultusministeriums wurden schon ab dem Sommer 1972, also bald nach der Neben den bleibenden Leistungen im Bereich De- Gründung des Landesdenkmalamtes Baden-Würt- sign und Umweltgestaltung ist es der Gebäude- temberg, Überlegungen angestellt, die HfG als komplex selbst, der ein besonders bedeutungs- Denkmal einzutragen. Weil es sich bei dem Bau um volles architektonisches Erbe der HfG darstellt. ein Objekt der jüngeren Architekturgeschichte Zum Denkmalkomplex – einer Sachgesamtheit von handelte, wurde der Denkmalrat zur Abstimmung 2 Corporate Design der Lufthansa von Otl Aicher. 3 Radio-Phonogerät, der so genannte Schnee- wittchensarg, von Dieter Rams. 30 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 1 | 2011 über die Eintragung einberufen. Zwar stimmte der Pläne für den neuen Gestaltungscampus auf dem 4 Historische Ansicht von Rat mit einer Stimme Mehrheit zu, die Eintragung Ulmer Kuhberg beruhen vor allem auf einem Drei- Südwesten: Studenten- in das Denkmalbuch erfolgte jedoch erst 1979. Da- Säulen-Modell, das die drei Etappen Vergangen- wohnturm und Wohnate- mit war die HfG im Regierungsbezirk Tübingen das heit, Gegenwart und Zukunft reflektieren soll. liers, Gemeinschaftstrakt erste Baudenkmal eines noch lebenden Architek- Als erste Säule bietet sich für das HfG-Archiv die mit Küche und Terrasse, Hausmeisterhaus, Aula, ten. Im Zuge einer Nachverdichtung wurde im Jahr einmalige historische Chance, von seinem jetzigen Eingang, Verwaltung, 1983 auf Initiative der Stadt Ulm das gesamte Ge- Standort in der ehemaligen Pionierkaserne Ulm in Lehrgebäude und Werk- lände der HfG, einschließlich aller Neubauten und das Hochschulgebäude auf dem Kuhberg zu zie- stätten (von rechts nach der noch unbebauten Grundstücke, als Gesamt- hen und die Vergangenheit der HfG so an Ort und links). anlage ausgewiesen. Damit gilt für das Gelände Stelle in einem Dokumentationszentrum zu erhal- und die HfG der größtmögliche Schutz nach dem ten und zu beleben. Seit seiner Gründung 1987 baden-württembergischen Denkmalschutzgesetz. leistet das Archiv eine wertvolle Arbeit im Bereich Sammeln, Bewahren und Dokumentieren der Das Zukunftsmodell: Hinterlassenschaften der HfG und hat sich in der 5 Zentraler Eingangs - Zentrum für Gestaltung HfG Ulm Forschung, der Öffentlichkeitsarbeit und mit erfol- bereich von der Terrasse g reichen Ausstellungen verdient gemacht. Vor aus, im Vordergrund Mit der Wiederbelebung des Gebäudekomplexes dem Hintergrund des Platzmangels in der Pionier- rechts die Aula. unter dem Namen „Zentrum für Gestaltung HfG Ulm“ beabsichtigen der Stiftungsrat und der Vor- stand der Stiftung HfG Ulm als Eigentümer, an die Traditionen der HfG anzuknüpfen. So sollen die Räume der ehemaligen HfG zukünftig Designern, Künstlern, Architekten, Fotografen und Agentu- ren sowie kulturellen und wissenschaftlichen
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