![WILHELM SCHLINK Verletzliche Gesichter Bildnisse Deutscher](https://data.docslib.org/img/3a60ab92a6e30910dab9bd827208bcff-1.webp)
Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg WILHELM SCHLINK Verletzliche Gesichter Bildnisse deutscher Künstler im 19. Jahrhundert Originalbeitrag erschienen in: Freiburger Universitätsblätter H. 132 (1996), S. 131-151 Wilhelm Schlink Verletzliche Gesichter Bildnisse deutscher Künstler im 19. Jahrhundert Zu neuen Gattungen des Bildnisses hat die Malerei des 19. Jhdts. nicht gefunden. Alle hatte es schon vorher gegeben: das Familienbildnis, das Kinderbildnis, das Künstler- und Künstlerinnen- selbstbildnis, das Herrscherbildnis, das Ehegattenbildnis, das Freundschaftsbildnis, das Amtsträgerbildnis usw. Die Kunst des ausgehenden 18. Jhdts. hatte mit großartigen Leistungen – besonders in England (Gainsborough) und Frankreich (Houdon und David) – um die Anerkennung und den Rang der Portraitkunst gekämpft. Den Künstlern des 19. Jhdts. hingegen war das Portrait zumeist eine Last, – als typische Auftragskunst fragwürdig, allenfalls der sicheren und prompten Bezahlung wegen geschätzt. Das abnehmende Interesse der Künstler am Portrait spiegelt sich in der Kunsttheorie. Noch 1774 hatte Johann Georg Sulzer in seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste „die Würde und den Rang, der dem Portrait unter den Werken der Mahlerey gebühret“, als „unmittelbar neben der Historie stehend“ bestimmt: „Ein jedes vollkommene Portrait ist ein wichtiges Gemählde, weil es uns eine menschliche Seele von eigenem persönlichem Charakter zu erkennen giebt. Wir sehen in demselben ein Wesen, in welchem Verstand, Neigungen, Gesinnungen, Leidenschaften, gute und schlimme Eigenschaften des Geistes und des Herzens auf eine ihm eigene und besondere Art gemischt sind. Dieses sehen wir sogar im Portrait meistentheils besser, als in der Natur selbst; weil hier nichts beständig, sondern schnell vorübergehend und abwechselnd ist: Zu geschweigen, daß wir selten in der Natur die Gesichter in dem vortheilhaften Lichte sehen, in welches der geschickte Mahler es gestellt hat.“1 Es war diese idealistische, gleichwohl die Individualität achtende Auffassung der physiognomischen Erscheingung des Menschen, die Anton Graff (1736-1813) – den Schwiegersohn Joh. Caspar Lavaters – und Angelika Kauffmann (1741-1807) ihre beseelten und belebten Portraits malen ließ. Um die Mitte des 19. Jhdts. ist von Sulzers emphatischem Lob der Portraitkunst nichts mehr übriggeblieben. Friedrich Theodor Vischer, der Tübinger Philosoph, vermerkt in seiner ‘Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen’, die Portraitmalerei sei ein „zwischen echter, freier Kunst und unfreiem Dienst schwankendes Gebiet“. Nur im Sinne des aufkommenden Denkmalkultes mag er dem Portrait eine höhere Geltung zukommen lassen: „Die Geschichte ersetzt, soweit sie kann, den Mythos, der geschichtliche Held des sagenhaften, die Fülle großer Menschen den Gott, der seinen Geist über sie ausgegossen.“2 Die Galerie der großen, von Gott gesandten Zeigenossen wird zur Aufgabe des kaiserzeitlichen Bildungsbürgertums an die Maler. Franz Lenbach vor allem hat diese Aufgabe erfüllt: im original großen 1 Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, 2. Auflage, Leipzig 1792-99, Band 3, S. 718ff. 2 Friedrich Theodor Vischer, Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, 2. Auflage, hrsg. von Robert Vischer, München 1923, Band 4, S. 391 ff. (§ 708) 132 Vierfarbendruck des Seemann-Verlags hingen binnen kurzem Bildnisse von Richard Wagner, Fürst Bismarck, Graf Moltke und Kaiser Wilhelm I in jedem deutschen Herrenzimmer. Lenbach war kein schlechter Portraitist, auch wenn er regelmäßig nach Photographien arbeitete; seine Anleihen bei der Portraitkunst Rembrandts und Frans Hals’ verschafften seinem Bismarck-Portraits eine Aura, die allen Deutschen das Herz höher schlagen ließ. Aber ebenso sicher ist, daß sein Bismarck jede Unmittelbarkeit des Ausdrucks verloren hat; „eine menschliche Seele von eigenem persönlichen Charakter“, wie Sulzer es gefordert hatte, geben Lenbachs Bismarck-Bildnisse nicht zu erkennen, – ebensowenig wie die zahlreichen Schiller- und Goethedenkmäler, die im ausgehenden 19. Jhdt. errichtet wurden. In einem Vortrag des Jahres 1885 sagte Jacob Burckhardt über die Portraitmalerei: „Sie ist ein Zweig der Malerei, der im Absterben begriffen ist. Wir stehen der Portraitmalerei im Grunde schon wie einem historisch abgeschlossenen Ganzen gegenüber.“3 Burckhardt sollte nicht recht behalten. Das Aufkommen der Photographie hatte ihn voreilig zu Kassandrarufen verführt. Die Portraitkunst des 20. Jhdts. – Ernst Ludwig Kirchner, Otto Dix und Arnulf Rainer seien nur stellvertretend für viele genannt – fand zu einer neuen, angriffigen, ätzenden, ja verzweifelten Auseinandersetzung mit dem fremd gewordenen Menschenantlitz, – und sei es das eigene. Aber für die Bildnismalerei des 19. Jhdts. traf Burckhardts Urteil zu. Das Portrait war genauso in den Strudel historistischer Tendenzen und Moden gezogen worden, wie andere Kunstgattungen auch. Für neue Typen des Portraits, – für die Entdeckung neuer physiognomischer Charaktere gab es da keinen Raum. Es ist daher wenig sinnvoll, die Geschichte des Portraits im 19. Jhdt. darzustellen. Es gibt ausgesprochen schöne und eindrückliche Bildnisse von Philipp Otto Runge, von Wilhelm Schadow, von Philipp Veit (Marie Freifrau von Bernus im Frankfurter Städel), von Max Liebermann und vielen anderen, und doch sind dies 3 Jacob Burckhardt, Die Anfänge der neueren Portraitmalerei, Vortrag vom 10. März 1885, in; J.B., Vorträge 1844-1887, hrsg. von Emil Dürr, 2. Auflage, Basel 1918, S. 266. 133 vereinzelte Glücksfälle, die uns nie darüber hinwegtäuschen, daß der Maler nur mit Mühe in eine ihm grundsätzlich fremd gewordene Aufgabe sich zu fügen suchte. So will ich denn nur von zwei Künstlern und von zwei Bildnisgruppen sprechen, bei denen ich den Eindruck habe, daß mit ihnen etwas Neues, auf jeden Fall etwas Irritierendes geschaffen worden sei: den Bildniszeichnungen Karl Philipp Fohrs zum ‘Café Greco’ und den Selbstbildnissen Hans von Marées’. * * * Der 1795 in Heidelberg geborene Karl Philipp Fohr kam 1816 nach Rom, um sich als Landschaftsmaler auszubilden. Zwei Jahre später, am 29. Juni 1818, ertrank er beim Baden im Tiber.4 Wie nahezu alle Deutschrömer war er in ständiger Geldverlegenheit. Um diesem Übel abzuhelfen, faßte er den Entschluß, die deutsche Künstlerkolonie in einem großen Stich wiederzugeben und diesen an Reisende und Kunstfreunde zu verkaufen. Ein eigentümliches Unter- fangen, denn Fohr war dem Fach nach weder Historienmaler noch Genremaler oder Portraitist, sondern – wie gesagt – Landschaftsmaler. Als solcher hatte er mit seinen Neckartallandschaften debutiert, und sein letztes, nicht ganz vollendetes Bild von 1818 war eine ‘italienische Landschaft mit Hirten’ (im Besitz des Prinzen von Hessen). Fohrs erster erhaltener Entwurf (Abb. 1) zeigt die deutschen Künstler in Rom in ihrem Stammlokal, dem Café Greco an der via Condotti nahe der Piazza di Spagna, wo man sich bis zu drei mal am Tag traf. Der Blick ist aus der Tiefe des Cafés gegen den Vorraum und die via Condotti gewählt. Es handelt sich um eine bloße Kompositionsskizze ohne beigefügte Namen der Dargestellten und ohne erkennbare Physiognomien. Den Zeichner intessiert die Verteilung der Gruppen und die Unterbringung der hohen Personenzahl. Aus den Jahreslisten ‘Deutscher Künstler in Rom’, die der Bayerische Bildhauer und Kunstagent Johann Martin 4 Zu Fohr zuletzt: Sigrid Dirkmann, Carl Philipp Fohr (1795-1818), Studien zu den Landschaften, Frankfurt u.a.O. (Monographien zur Bildenden Kunst, hrsg. von Jürg Meyer zur Capellen, Band 1) 1993. Wichtig nach wie vor die ältere Literatur: Das Leben des Malers Karl Fohr, geschrieben von Prof. Ph. Dieffenbach, erstmalig gedruckt 1823, neuherausgegeben von Rudolf Schrey, Frankfurt a.M. 1918; Kuno Graf von Hardenberg und Edmund Schilling, Karl Philipp Fohr; Leben und Werk eines deutschen Malers der Romantik, Freiburg i.B. 1925. 134 von Wagner führte,5 wissen wir, daß sich im Jahre 1817 82 deutsche Künstler in Rom aufhielten; Fohr konnte aber bestenfalls 52 Köpfe in seinem Gruppenbildnis unterbringen. Er skizziert die Figuren unbekleidet; darin waren ihm Raphael und Poussin vorausgegangen. Im Zentrum der Komposition steht der Zeichner selbst – mitsamt dem Hund Grimsel, der mit ihm die Alpen überquert hatte. Aus Detailzeichnungen zur Mittelgruppe wissen wir, daß Fohr sich mit den Lukasbrüdern Overbeck, Cornelius und Rehbenitz unterhält. Der zweite Entwurf aus dem Jahre 1817 stellt die Komposition um. Fohr und die Lukasbrüder stehen nun nicht mehr im Zentrum des Bildes, während die anderen seitlich sitzen, in den Raum hineindrängen oder mit einer bloßen Gruppensilhouette im Hintergrund vorlieb nehmen müssen. Fohr entwickelt die Komposition nun bipolar: links die alteingesessenen Deutschrömer um den Maler Joseph Anton Koch bei Konservation und Pfeifenrauchen, rechts die Neudeutschen, die Nazarener, mit ihren Freunden, eher schweigend ins Schachspiel vertieft (Abb. 2). Die Zahl der skizzenmäßig Dargestellten erreicht – wie beim ersten Entwurf – um die fünfzig. Ein paar der Dargestellten müssen namentlich hervorgehoben werden. Ganz links sitzt Ernst Zacharias Platner, seit 1804 als wenig erfolgreicher, unglücklicher Historienmaler in Rom ansässig. 1818 gab er die Malerei auf und trieb geschichtliche und antiquarische Studien, die schließlich 1830 in seiner dreibändigen ‘Beschreibung der Stadt Rom’, einer der meistgelesenen Rombeschreibungen des 19. Jhdts., niedergelegt wurden. Zwischen ihm und Koch, etwas zusammengesunken, der damals 55-jährige bayerische Bildhauer und Kunstagent Konrad Eberhard,
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