4. Untergang Und Identität: Einsichten Und Handlungsmuster 1944/45

4. Untergang Und Identität: Einsichten Und Handlungsmuster 1944/45

4. Untergang und Identität: Einsichten und Handlungsmuster 1944/45 4.1. „Choreographie des Untergangs“ und „Politik der Selbstzerstörung“ – Paradigmenwechsel vom Sieg zur Niederlage? Wohin die katastrophale militärische Entwicklung führen würde, erkannten 1944/45 auch viele Nationalsozialisten. Im Mittelpunkt der Betrachtungen stand bisher vor allem strukturelle Maßnahmen und ideologische Bewältigungsstrategi- en, mit denen das NS-Regime auf die inneren und äußeren Krisen reagierte. Sie folgten ebenso wie die daraus resultierenden Gewalttaten, die in den folgenden Kapiteln noch stärker in den Mittelpunkt rücken werden, der Richtschnur des Volksgemeinschaftsentwurfs. Hinter beidem, den politischen Maßnahmen ebenso wie hinter der Gewaltausübung, standen Individuen, die die vorgegebenen Inter- pretations- und Analysemuster sowie die darauf basierenden Sinnstiftungsan- gebote internalisiert hatten – deren Identität maßgeblich davon geprägt war. Die Frage nach der Bedeutung dieser Identität ist umso wichtiger, als die Volksge- meinschaftsutopie an ihre Anhänger, an die Parteigenossen und vor allem an die Amtsträger, erhebliche Anforderungen stellte, denen zu entsprechen zu einem wichtigen Teil des eigenen Selbstbildes werden konnte. Inwiefern waren diese Identitäten für das Handeln in der Kriegsendphase relevant, welche Sinnstif- tungsmodelle wurden zu ihrer Stabilisierung angeboten und wie weit konnten diese adaptiert werden? Es lohnt sich, zur Beantwortung dieser Frage an der Spitze des Regimes anzu- setzen – bei Hitler selbst. Dass auch der Diktator keineswegs blind war für die Realitäten, hat Bernd Wegner pointiert dargelegt. Das lange Zeit vorherrschende Bild, das Hitler als völlig „realitätsfernen und endsiegtrunkenen Strategen“ zeich- net, muss ad acta gelegt werden; die Vorstellung eines „lediglich fanatischen, mili- tärisch jedoch inkompetenten Diktators“ geht fehl. Bereits seit dem Spätsommer 1942 – also seit dem Scheitern des zweiten deutschen Ostfeldzuges – sei sich Hitler, so Wegner, „der Nichtgewinnbarkeit ‚seines‘ Krieges definitiv bewußt ge- wesen“. In die Irre führe das Bild eines Diktators, der „bis zuletzt an seinen ur- sprünglichen Kriegszielen geradezu obsessiv festgehalten und allen Rückschlägen zum Trotz nie den Glauben verloren habe, ‚der Endsieg könne noch errungen werden, wenn man nur den Kampf nicht aufgebe‘“.1 Hitler habe, entgegen sei- ner eigenen und der propagandistischen Außendarstellung des Regimes, nicht mehr auf den „Endsieg, sondern [die] Gestaltung des eigenen Untergangs“ hinge- 1 Wegner, Hitler, der Zweite Weltkrieg und die Choreographie des Unterganges, S. 496 f.; Zitat im Zitat: Bullock, Hitler und Stalin, S. 1105; vgl. zur älteren Sicht Hillgruber, Der Zweite Welt- krieg 1939–1945, S. 128 f. 192 4. Untergang und Identität arbeitet; diesen suchte er „unter Rückgriff auf eine seit der Romantik virulente Tradition heroischer Selbstaufopferung als geschichtsmächtiges Ereignis zu cho- reographieren“, um so „die Niederlage in einen – aus den Augen der Nachwelt gesehen – moralischen Sieg verwandeln zu können“.2 Ähnlich argumentiert Michael Geyer, wenn er den kollektiven Tod im fanati- schen Endkampf als ultima ratio der Überlebenssicherung interpretiert: „Collec- tive death as a deliberate gambit to ascertain immortality was at the heart of the Nazi politics of self-destruction“. Diese „policy of the funeral pyre“ sollte sicherstel- len, dass die Todfeinde des Nationalsozialismus „would go down with the defeat in a cataclysm of destruction – not as an end, but as a beginning of future war“. Der Kollektivtod der Nation sei, so Geyer, die Rückversicherung gewesen, das eigene Gedenken dem Vergessen der Niederlage zu entreißen und zukünftige Generatio- nen zur Rache zu verpflichten.3 Auf den heutigen Betrachter mag dieser „Rekurs auf das Kämpfen als Selbst- zweck“ und auf den Tod als erstrebenswertes Ideal zynisch wirken; indes: für Hit- ler selbst und nicht wenige seiner Zeitgenossen handelte es sich um „einen durch- aus geläufigen Topos“, der „in quasi-romantischer Tradition“ den „Krieg an sich als belebendes und verjüngendes Element im Leben der Völker, als Vehikel sittli- chen Fortschritts und nationaler Integration“ verklärte und „gerade auch die Nie- derlage – mehr noch als den Sieg – zur Stunde der Helden“ glorifizierte.4 Männ- liche „Freiheit“ fand ihre höchste und reinste Manifestation in der freien Willens- entscheidung, auch einem widrigen Schicksal zu trotzen und die eigene Existenz für ein höheres Ziel „auf dem Altar des Vaterlandes“5 zu opfern. Derart selbst- zerstörerischer Idealismus war schon 1914 unter den Kriegsbegeisterten virulent gewesen; bezeichnenderweise schien ihnen der Geist der Freiheitskriege, der „Ideen von 1813“, als die „eigentlich kongeniale Parallele“6 – nicht etwa die Eini- gungskriege der Reichsgründungsphase. Ganz in dieser Tradition war vor 1914 unter deutschen Verbindungsstudenten – also in nationalistisch denkenden Kreisen – der „Rekurs auf den Opfertod als gemeinschaftsstiftendes Element“7 weit verbreitet; dies war Grundlage und Symptom einer im Kaiserreich zuneh- mend virulenten Heldenverehrung, in der vor allem „Opferhelden“ besondere 2 Wegner, Hitler, der Zweite Weltkrieg und die Choreographie des Unterganges, S. 501. 3 Geyer, Endkampf 1918 and 1945, S. 53–55. 4 Vgl. Wegner, Hitler, der Zweite Weltkrieg und die Choreographie des Unterganges, S. 510–517, Zitate S. 510 f.; vgl. Schilling, „Kriegshelden“. 5 Zimmer, Auf dem Altar des Vaterlandes; Stolpe, Wilde Freude, fürchterliche Schönheit; vgl. zur zu Grunde liegenden Konstruktion von Männlichkeit (und Weiblichkeit) sowie zum Zu- sammenhang zwischen Nation, Militär und Krieg Hagemann, „Mannlicher Muth und Teut- sche Ehre“; außerdem: Echternkamp, „Teutschland, des Soldaten Vaterland“. 6 Burkhardt, Kriegsgrund Geschichte?, S. 37. 7 Levsen, „Heilig wird uns Euer Vermächtnis sein!“, S. 148; das vorherrschende Männlichkeits- ideal definierte sich „über soldatische Qualitäten und die Unterordnung des Individuums un- ter die Gemeinschaft“. Die Bezugsgröße war die Nation. In „letzter Opferbereitschaft“ für sie zu sterben, war das Emblem idealer Gesinnung und führte dazu, dass sich Studenten in gro- ßer Zahl freiwillig an die Front meldeten (Zitate ebd); vgl. auch Levsen, Männlichkeit als Studienziel. 4.1. „Choreographie des Untergangs“ und „Politik der Selbstzerstörung“ 193 Popularität erlangten. Diese Tendenz zur Mythisierung und Überhöhung des national bedeutungsvollen Sterbens erreichte im und nach dem Ersten Weltkrieg einen Höhepunkt und spielte in der Erinnerung an den Weltkrieg eine zentrale Rolle.8 Das Ideal enthusiastischer Selbstaufopferung für Nation und Volk erlaubte es also, Niederlage und Untergang positiv umzudeuten und mit einem Sinn zu ver- sehen; damit verbundene und auf dieser Grundlage eingeforderte individuelle wie kollektive Opfer wurden zu einer Verpflichtung zukünftiger Generationen, zu Wechseln auf eine Zukunft späterer Größe.9 Nach der unerwarteten Niederlage von 1918 war dieses Modell in nationalistischen ebenso wie in völkischen Kreisen ein Weg, die Folgen und Implikationen der nicht vorgesehenen, ja undenkbaren nationalen Katastrophe zu rationalisieren; erst dadurch, dass sich die ihrer Bedeu- tung beraubten, der nationalen Größe dargebrachten Opfer mit einem höheren Sinn versehen ließen, konnte das nationale Welt- und Selbstbild ohne fundamen- talen Bruch aufrechterhalten werden; mehr noch: dass die Toten mahnten, ver- stärkte radikalisierende Tendenzen.10 Den gleichen Mustern folgte der nationalso- zialistische „Kult um die toten Helden“, der die Getöteten der NS-Bewegung wäh- rend der „Kampfzeit“ heroisierte und zu Vorbildern und Mahngestalten gleichermaßen stilisierte – eine Instrumentalisierung, die im Kriegsverlauf auch auf die Gefallenen im Felde und die Opfer des Luftkrieges an der „Heimatfront“ ausgedehnt wurde und ebenso innerhalb der nationalsozialistischen Wehrmacht virulent war. 11 Als sich das NS-Regime vor allem seit „Stalingrad“ vor die Notwendigkeit ge- stellt sah, eine Vielzahl militärischer Rückschläge rationalisieren zu müssen, griff es auf eben diese Topoi der Selbstaufopferung zurück. Die immer offensichtlicher werdende Unausweichlichkeit einer Niederlage war geeignet, auf fundamentale Weise eine Weltsicht in Frage zu stellen, in deren Zentrum der Krieg stand und deren Paradigma und raison d’être die erfolgreiche Bewährung im Kampf war. Um dem zu begegnen, wurde der Fluchtpunkt der „Volksgemeinschaft“ flexibili- siert, die damit in ihren ideologischen Grundlagen und in ihrer inneren Logik unangetastet bleiben konnte: An die Stelle des Endsieges der überlegenen Rasse 8 Vgl. Brandt, Vom Kriegsschauplatz zum Gedächtnisraum; die Mythisierung ist verknüpft mit Namen und Ereignissen wie dem Sturmangriff der das Deutschlandlied singenden „jungen Regimenter“ von Langemarck, dem „Roten Baron“ Manfred von Richthofen oder auch dem im besetzten Rheinland als Saboteur hingerichteten Albert Leo Schlageter; vgl. Schilling, „Kriegshelden“; Hüppauf, Schlachtenmythen und die Konstruktion des „Neuen Menschen“; Krumeich, Langemarck; Zwicker, „Nationale Märtyrer“: Albert Leo Schlageter und Julius Fucík. 9 Vgl. zu einem weiteren historischen Vorbild des heroischen Opfertodes Albertz, Exemplari- sches Heldentum, S. 225–329. 10 Vgl. zur Notwendigkeit dieser Form der Sinnstiftung Mosse, Gefallen für das Vaterland, S. 13. 11 Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden; vgl. zum Heldenkult im NS-Staat außerdem Schilling, Die „Helden der Wehrmacht“; Baird, To die for Germany; zur Geschichte

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