27. Juli 2020 Links zu weiteren Vorlesungen von Frau von Dechend und Infos: www.per-aspera-ad-astra.net www.frobenius-institut.de/sammlungen/nachlaesse Dechend Gilgamesh WS 1968/69 Inhalt der Abschnitte: Großer Enthusiasmus bei Auffindung der Gilgamesh-Keilschrifttafeln. Im Rahmen eines Wintersemesters von Gilgamesh zu handeln, mag dem Eingeweihten als Arroganz erscheinen, dem Fernerstehenden als unangemessene Zeitverschwendung. Da ich - obgleich der einschlägigen Sprachen unkundig - ausreichend initiiert bin, stimme ich für die Eingeweihten, wennschon aus anderen Gründen als diese: das Vorhaben ist weit eher eine Vermessenheit denn "tant de bruit pour une omelette". Sintemalen es jedoch in diesem Semester wie in früheren und wie ganz generell darum geht, ein paar richtige Fragen zu stellen, anstatt voreilig tellerhafte Interpretationen anzubieten, geschweige denn ein gegebenes Thema "erschöpfend" zu behandeln, ist die Vermessen- heit so arg nicht. Aber fassen wir das präziser: es kann nicht davon die Rede sein, dass hier dem Gilgamesh inadaequat Maß genommen wird, indem man ihn augenscheinlich nur so beiläufig in einigen Stunden abtut, obschon er Jahre verdiente: der sogenannte Heros wird sich über Mangel an Respekt nicht zu beklagen haben. Wer sich beschweren könnte, sind die schriftgelehrten Experten, die sich in einer wahren Sintflut von Publikationen unaufhörlich an dem Epos und seinen 'Helden' ver-messen haben und fortfahren, solches zu tun in dem Wahn "the general trend of the story is quite clear" (Heidel, p.2). Wohingegen ich behaupten möchte, dass wir vorläufig von dem Gilgamesh Epos schlechterdings nichts verstehen. (Zur Ehre von Benno Landsberger sei vermerkt, dass er wenigstens so viel zugibt - in: Gilgamesh et sa legende, p.32 -: "Trotz des Fortschrittes in der Kenntnis von Grammatik und Lexikon des Akkadischen, die man bisher gemacht hat, ist uns.... der wirkliche Sinn mancher Stellen des Epos noch unbekannt"). Die Leistung der Assyriologen soll nicht gering geschätzt werden: Keilschrifttexte zu 'lesen', wäre eine ausreichend beschwerliche Arbeit, selbst wenn die Tafeln heil wären, was sie, wie Sie wissen, beinahe niemals sind; zur Hälfte oder zu drei Vierteln zerstörte Tafeln zu entziffern, ist eine wahre Sisyphos- Aufgabe. Und das Zusammenfügen der zahlreichen fragmentarischen Tafeln, die in ebenso zahlreichen Museen aufbewahrt werden, war auch beileibe kein Kinderspiel. Kurzum, ungeachtet häufiger Schmähungen, deren ich mich schwerlich werde enthalten können, ziehen wir erst einmal den Hut vor diesen - heutzutage als Fach-Idioten bezeichneten - gelahrten Entzifferern, die mit unübertrefflicher Emsigkeit ihr sogenanntes 'Bestes' getan haben. Aber auch der kleine Kai aus Andersens Märchen von der Schneekönigin tat sein Bestes, die aus Eis gehauenen Buchstaben zu Worten zu fügen: er kam damit nicht zu Rande, weil ein kleines Stückchen Glas von des Teufels zerbrochenem Spiegel in seinem Auge steckte. Und ein solcher Teufels-Splitter sitzt eben im Auge eines jeden unserer heutigen Schriftgelehrten und Archäologen. p02 Wenn Ihnen der Teufel nicht behagt, halten Sie sich an ein anderes Beispiel: Sie alle kennen Geschichten von wohlerzogenen, noch sehr kleinen Buben und Maidlein, die häufig nicht imstande sind anzugeben, mit welcher Art von Nackedeis sie im Planschbecken gespielt haben, weil Bub oder Mädchen nur an ihrer Kleidung erkannt werden - jedenfalls war das früher so, heute kann man das 1 Geschlecht der winzigen, hübsch ausstaffierten Herrschaften nicht mehr auf den ersten Blick erkennen, weder an der Kleidung noch am Haarschnitt. M.a. W., ein normales kleines Kind verständiger Eltern nimmt Geschlechtunterschiede nicht wahr, wenn sein Augenmerk nicht nachdrücklich darauf gelenkt wird, weil sie für das Kind ganz und gar irrelevant sind (trotz Freud). Gemeinsam sind dem 'unschuldigen' Auge des kleinen Kindes und dem Auge, worinnen ein teuflischer Spiegelsplitter steckt, die drastisch reduzierte Wahrnehmungsfähigkeit die, wie gesagt, auch unsere Experten auszeichnet. Ob man ihnen das als "Schuld" ankreiden soll oder nicht, sei dahingestellt.Was betont werden muss, ist das generell gültige Phänomen, dass die Wahrnehmung eine Funktion der Erwartung ist, d.h. dass man sieht und hört, was man zu sehen und zu hören gewärtigt. Genauer: der kleine Max, alias Otto Normalverbraucher verhält sich so; es sind in der Regel nur erstrangige Naturwissenschaftler, die sich von der grausamen Diktatur der zu ihrer Zeit gültigen 'Perspektive' zu befreien und neue Zusammenhänge und Strukturen wahr-zu-nehmen vermögen. (Ich erinnere an Pascal's unheimlich einsichtige Formulierungen:"Qu'est-ce que nos principes naturels si non nos principes accoutumes... Une differente coutume en donnera d'autres principes naturels." Und:"La coutume est une seconde nature qui détruit la premiere. Mais qu'est-ce que nature? pourquoi la coutume n'est-elle pas naturelle? J'ai grand peur que cette nature ne soit elle-meme qu'une premiere coutume, comme la coutume est une seconde nature." Ed.du Seuil, p.514) Was hat nun aber der Umstand, dass die Wahrnehmung eine Funktion der Erwartung sei, mit dem Verständnis des Gilgamesh-Epos zu tun, oder ganz allgemein mit dem aller altorientalischen und ägyptischen Texte? Schlechterdings alles: diese Texte werden nämlich insgesamt 1) ergänzt, 2) wieder und wieder und noch einmal übersetzt, und die ergänzenden und übersetzenden Schriftgelehrten nehmen in den Texten nicht mehr und nicht weniger wahr, als was 'la coutume' sie zu erwarten gelehrt hat. Und was 'la coutume' sie gelehrt hat zu gewärtigen ist ein Konglomerat haarsträubenden Unfugs; es gibt nichts, was stumpfsinnig und pervers genug wäre, um Assyriologen und Ägyptologen davon abzuhalten, es den Mesopotamien und Ägyptern als deren "Gedankengut" in die Schuhe zu schieben - oder die Altphilologen den Vorsokratikern. Das macht: der blinde Glaube an 'Evolution' - das ist der Teufelssplitter – nötigt sie zu erwarten, dass die alten Orientalen und frühen Griechen unterentwickelte Deppen oder Halbwilde waren. p03 La coutume est une seconde nature qui détruit la premiere: jeder weiß (oder müßte wissen), dass es innerhalb einer species keine Evolution gibt - die Definition von 'Spezies' allein verbietet das -, und dass der species homo sapiens ein unverändertes und vorerst unveränderliches Gehirn zukommt (wennschon ein relativ leicht zu ruinierendes), ein gleiches Gehirn also den Sumerern, Ägyptern und uns. Und wenn nicht tatsächlich die seconde nature, c'est à dire la coutume, die primäre Wahrnehmungsfähigkeit radikal zerstören könnte, so hätte es einen gigantischen Aufstand, nebst "teach-ins" und was nicht noch alles, setzen müssen, als vor rund 150 Jahren Kulturhistoriker und Philologen den Geologen und Biolegen die Schau stahlen, und das ausschließlich für die "Natural History" geprägte Schema von der Evolution auf die Geschichte der Kultur der Gattung homo sapiens anwandten. Seit diesem 'Sündenfall' erwartet ein Philologe von alten Texten alles und jedes, ist auf 'das Ärgste' gefasst, ausgenommen nur Sinn und Verstand. Da Sumerer und Ägypter, dem Evolutions-Schema gemäß, bestenfalls als auf der Stufe von Menschenaffen stehend vorausgesetzt werden , macht man nicht viel Federlesens mit ihren simpel-primitiven und blutdrünstig-wilden Verlautbarungen. Versetzen Sie sich nur einmal in die Lage eines Entzifferers von unbekannten Texten, die häufig aus mehr Lücken bestehen denn aus Worten: Sie werden an Ergänzung und Übersetzung ungleich ängstlicher und behutsamer herangehen, wenn Sie mutmaßen, Sie hätten Bruchstücke eines verloren gegangenen Meisterwerkes von Archimedes, oder Kepler, oder Einstein vor sich, als wenn Sie davon 2 überzeugt sind, es handle sich um, nun, sagen wir, um die Liturgie der Weihnachtsfeier der Mormonen, oder um Predigten der Widertäufer. Im ersten Falle gewärtigen Sie "Sinn" - hoffentlich mehr Sinn als von Ihren eigenen Produktionen -, im zweiten dürfen Sie, rechtens, mit Ungereimt- heiten rechnen. Nun, der Teufelssplitter - das heißt die Gewohnheit,der Kulturgeschichte des homo sapiens das Schema der Evolution aufzuoktroieren - reduziert die Wahrnehmungsfähigkeit der Schriftgelehrten zu einem solchen Minimum, dass sie in aller (subjektiver) Unschuld ein Mysterium Cosmographicum oder einen "Sandrechner" als Weihnachtsritual oder dergleichen frommer Sektierer acceptieren und gemäß dieser high expectations" übersetzen. Was dabei notwendiger Weise herauskommt, klingt - mit Verlaub - wie Variationen zu dem Thema "Das Sonnendach des Strickbeutels war die Lehrerin des fünfzehnten Zuhälters" (La Marquise de Pompadour etait la maitresse de Louis quinze) oder wenn Ihnen diese Geschichte fremd sein sollte, Variationen zu dem Thema "Equal goes it lose". p04 Um Ihnen geschwind nur ein einziges winziges Beispiel dafür zu geben, wie es um die Sinn- Erwartung der Philologen bestellt ist: in einer Besprechung zweier neuerer Übersetzungen des Gilgamesh Epos --ins Holländische von Böhl, ins Tschechische von Matous - vermerkt der russische Rezensent Diakanoff (notabene ein recht vernünftiger Knabe): "Böhl shares the opinion of A(lbert) Schott that the problem of human mortality was originally raized in the reign of Shulgi". Das wäre in der dritten Periode von Ur, zwischen 2400 und 2350 v.Chr., und bis dahin musste sich der unterentwickelte homo sapiens gedulden, bis er seiner Sterblichkeit endlich inne wurde. Wundern Sie sich nicht: zahlreiche Ethnologen versteifen sich allen Ernstes darauf, den Australiern sei der Zusammenhang zwischen coitus, Empfängnis
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