Biografische Prägungen der politischen Elite in den Arbeiter bewegungen der Nachkriegszeit 205 Jürgen Mittag/Diana Wendland Jürgen Mittag/Diana Wendland Zwischen Individuum Zwischen Individuum und Typus: Die deutschen sozial- und Typus demokratischen Abgeordneten des Europäischen Parlaments (1952–2011) in kollektivbiografischer Perspektive Die europäische Integration hat die bisher bekannten Formen von Staatlichkeit grundlegend verändert.1 Die Ebene des souveränen Nationalstaates ist seit der Gründung der Europä- ischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) im Jahr 1952 um eine staatsähnliche Kon- struktion auf europäischer Ebene ergänzt worden, deren Kompetenzen seit den 1950er Jah- ren nicht nur in erheblichem Maße ausgeweitet wurden, sondern die sich mittlerweile auch über 27 Staaten des europäischen Kontinents erstreckt. Das, was heute mit dem bewusst mehrdeutigen Begriff „Integrationsprozess“ umschrieben wird,2 ist jedoch sowohl mit Blick auf die „janusköpfige Doppelnatur des transnationalen Gemeinwesens aus Supranationalität und Intergouvernementalität“3 als auch hinsichtlich des Doppelcharakters der heutigen Europäischen Union (EU) als „Bürgerunion und Staatenunion“4 bisher nur unzureichend terminologisch und staatsrechtlich erfasst worden. Zugleich sind – ungeachtet der mittlerweile überaus aktiven Forschung zur europäischen Integration – einige Problemkreise bislang kaum bearbeitet worden, zu denen auch die Trä- ger und Protagonisten des europäischen Einigungsprozesses zu zählen sind.5 Während die 1 Vgl. stellvertretend für viele Stefano Bartolini: Restructuring Europe. Centre Formation, System Buil- ding and Political Structuring between the Nation State and the EU, Oxford 2005. 2 Vgl. grundlegend zum Begriff und Konzept der europäischen Integration Heinrich Schneider: Leit- bilder der Europapolitik 1. Der Weg zur Integration, Bonn 1977 und ders.: Die neu verfasste Europä- ische Union: noch immer „das unbekannte Wesen“?, in: Mathias Jopp/Saskia Matl (Hg.): Der Vertrag über eine Verfassung für Europa. Analysen zur Konstitutionalisierung der EU, Baden-Baden 2005, S. 109–132. 3 So Peter-Christian Müller-Graf: Strukturmerkmale des neuen Verfassungsvertrages für Europa im Ent- wicklungsgang des Primärrechts, in: integration 3 (2004), S. 186–201, hier S. 193. 4 Siehe Thomas Läufer (Hg.): Verfassung der Europäischen Union, Verfassungsvertrag vom 29. Oktober 2004, Protokolle und Erklärungen zum Vertragswerk, Bonn 2005, S. 15 und Stefan Marschall: Zwi- schen Völker- und Bürgervertretung: Das EP und die Europawahlen im Spannungsfeld repräsentativer Demokratie jenseits des Nationalstaates, in: Jürgen Mittag (Hg.): 30 Jahre Direktwahlen zum EP (1979–2009). Europawahlen und Europäisches Parlament in der Analyse, Baden-Baden 2011, S. 33–50. 5 Vgl. grundlegend aus deutschsprachiger Perspektive zum politikwissenschaftlichen Forschungsstand der europäischen Integration Wolfgang Wessels: Die Europapolitik in der politikwissenschaftlichen Debatte, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hg.): Jahrbuch der Europäischen Integration 1980 ff., Bonn bzw. Baden-Baden 1981 ff. sowie zum historiografischen Forschungsstand die Literatur- berichte von Hartmut Kaelble: Europabewusstsein, Gesellschaft und Geschichte. Forschungsstand und Forschungschancen, in: Rainer Hudemann/Hartmut Kaelble/Klaus Schwabe (Hg.): Europa im Blick der Historiker, München 1995, S. 1–29; Wilfried Loth: Beiträge der Geschichtswissenschaft, in: Wilfried Loth/Wolfgang Wessels (Hg.): Theorien europäischer Integration, Opladen 2001, S. 87–106; Jost Dülffer: Europäische Integration zwischen integrativer und dialektischer Betrachtungsweise, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen / Heft 45 (2011) S. 205–245 206 Jürgen Mittag/Diana Wendland Bedeutung von Institutionen, die Entwicklung von Netzwerken oder die Diskurse über Leitbilder und Theorien der europäischen Integration erhebliches Interesse in der Wissen- schaft geweckt haben, sind die Repräsentanten der Bürgerinnen und Bürger auf europä- ischer Ebene bis heute erst in Ansätzen näher ins Blickfeld der Forschung geraten.6 Vor allem die Europaabgeordneten – jene Akteure, die als Repräsentanten der Wähler auf europäischer Ebene agieren und seit 1979 das einzig direkt legitimierte Personenkollektiv von E(W)G bzw. EU bilden – sind bislang völlig unzureichend berücksichtigt worden.7 Obwohl wiederholt gefordert wurde, nicht nur einige prominente Gründungsväter der Inte- grationsgeschichte biografisch in den Mittelpunkt zu rücken,8 sondern auch die Rolle derje- nigen Persönlichkeiten zu untersuchen, die bislang zwar nicht im Fokus der historischen Aufmerksamkeit standen, zugleich aber als Repräsentanten der Bürger eine demokratiethe- oretisch wichtige Rolle wahrnehmen,9 liegen kaum biografische Arbeiten zu Europaabge- ordneten vor.10 Selbst an entsprechenden lexikalischen Überblicken mangelt es. Es existieren Archiv für Sozialgeschichte 42 (2002), S. 521–543; ders.: Europa – aber wo liegt es? Zur Zeitgeschichte des Kontinents, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 524–564; Wolfram Kaiser: Vom Staat zur Gesellschaft? Zur Historiographie der europäischen Integration, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 11 (2004), S. 663–679; Wilfried Loth: Europa im Rückblick. 25 Jahre europäische Integra- tion in historischer Perspektive, in: Weidenfeld/Wessels: Jahrbuch 2004/2005, S. 45–54; Jost Dülffer: The History of European Integration: From Integration to the History of Integrated Europe, in: Wil- fried Loth (Hg.): Experiencing Europe. 50 years of European construction 1957–2007, Baden-Baden 2008 und Kiran Patel: Europäische Integrationsgeschichte auf dem Weg zur doppelten Neuorientie- rung. Ein Forschungsbericht, in: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), S. 595–642. 6 Die fehlende Auseinandersetzung mit europäischen Persönlichkeiten im zeitgeschichtlichen Kontext erscheint auch deswegen überraschend, da sie einen Beitrag dazu leisten kann, dem Bürger Europa näherzubringen, manifestiert sich die Identifikation eines Gemeinwesens doch nicht zuletzt auch in Personen. Bestätigt wird diese Einschätzung auch durch das in diesem Heft eingehender thematisierte öffentliche Interesse an politischer Memoirenliteratur, Autobiografien oder populär verfassten Lebens- beschreibungen zeitgenössischer Persönlichkeiten. 7 Vgl. für einen aktuellen Forschungsüberblick zu den Abgeordneten des Europäischen Parlaments Jür- gen Mittag: Europaabgeordnete zwischen transnationaler Repräsentation und politischem Abstellgleis: Zuschreibungen, Selbstverständnis und Biografien der MdEP im Lichte historiografischer Forschungs- perspektiven, in: HMRG. Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft 23 (2010), S. 64–86. 8 Siehe hierzu Thomas Jansen/Dieter Mahncke (Hg.): Persönlichkeiten der Europäischen Integration, Bonn 1981 und Heinz Duchhardt (Hg.): Europäer des 20. Jahrhunderts. Wegbereiter und Gründer des „modernen“ Europa, Mainz 2002. 9 Vgl. aus historischer Perpektive Loth: Beiträge der Geschichtswissenschaft, hier S. 104–105 und aus sozialwissenschaftlicher Sicht zuletzt Robert Rohrschneider/Nick Clark: Second-order elections versus first-order thinking: How voters perceive the representation process in a multi-layered system of gover- nance, in: Journal of European Integration 5 (2009), S. 645–664. 10 Siehe exemplarisch für die Zugänge der wenigen Ausnahmen Karlheinz Reif/Hermann Schmitt/Klaus Schubert: Wer sind und was wollen die Deutschen im Europäischen Parlament? Sozialprofil, poli- tischer Rückhalt und Zielvorstellungen der deutschen Kandidaten zum Europäischen Parlament, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 3 (1979), S. 332–354; Eva M. Thöne: Das direkt gewählte Europäische Parlament. Ein Beitrag zur Abgeordnetensoziologie, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 2 (1982), S. 149–180; Claudia Strohbecke: Die Arbeit der F. D. P.-Abgeordneten im Europäischen Parlament seit der ersten Direktwahl 1979, Bochum 1993. In der Forschung dominierte in der letzten Dekade die Frage, inwieweit die Europaabgeordneten im Rahmen ihrer Tätigkeit im EP sozialisiert wurden. Vgl. Zwischen Individuum und Typus 207 zwar – aus zeitgeschichtlicher Perspektive Deutschlands betrachtet – biografische Lexika zur Weimarer Republik,11 zum Dritten Reich,12 zur Bundesrepublik,13 zur DDR14 und grund- sätzlich zu Deutschland,15 aber es gibt kein modernes biografisch-lexikalisches Nachschlage- werk zur europäischen Integration – weder im deutschen Sprachraum noch im europäischen Ausland.16 Sekundäranalytische Studien zu Europaabgeordneten sind bislang weder aus dem Blick- winkel der Parlamentarismus- und Parteienforschung noch aus der Perspektive der politi- schen Eliten- und Biografieforschung – sei sie sozialwissenschaftlicher oder historiografischer Provenienz – angestellt worden.17 Nicht einmal die exakte Anzahl aller bisherigen Europa- parlamentarier, einschließlich der Nachrücker und der Beobachter, ist bekannt.18 Diesem hierzu Susan E. Scarrow: Political Career Paths and the European Parliament, in: Legislative Studies Quarterly 2 (1997), S. 253–263; Roger Scully: Becoming Europeans? Attitudes, Behaviour and Sociali- zation in the European Parliament, New York 2005; Luca Verzichelli/Michael Edinger: A Critical Juncture? The 2004 European Elections and the Making of a Supranational Elite, in: The Journal of Legislative Studies 2 (2005), S. 254–274; Tim Bale/Paul Taggart: First-Timers Yes, Virgins No: The Roles and Backgrounds of New Members of the European Parliament, Sussex European Institute, Working Paper No. 89 (2006). Vgl. als eine der wenigen
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