15 Erler Vatlin

15 Erler Vatlin

Peter Erler: Vor 75 Jahren endete der Große Terror in der Sowjetunion 137 Vor 75 Jahren endete der Große Terror in der Sowjetunion. Angehörige und Wissenschaftler erforschen die Biographien der Opfer. Ein Literaturüberblick. Peter Erler McLoughlin, Barry/Vogl, Josef: „… Ein Paragraf wird sich finden“. Gedenkbuch der österreichischen Stalin-Opfer (bis 1945). Wien: Dokumentationsarchiv des österrei- chischen Widerstandes 2013, 622 Seiten, 24,50 €. Vatlin, Alexander: „Was für ein Teufelspack“. Die Deutsche Operation des NKWD in Moskau und im Moskauer Gebiet 1936 bis 1941. Aus dem Russ. übers. v. Wladislaw Hedeler. Berlin: Metropol Verlag 2013, 359 Seiten, 24,– €. Hedeler, Wladislaw/Münz-Koenen, Inge (Hrsg.): „Ich kam als Gast in euer Land ge- reist …“. Deutsche Hitlergegner als Opfer des Stalinterrors. Familienschicksale 1933–1956. Berlin: Lukas Verlag 2013, 269 Seiten, 20,– €. Am 22. März 1938 verhaften Mitarbeiter der sowjetischen Geheimpolizei NKWD den Politemigranten und Angestellten des Moskauer Filmstudios „Mosfilm“ Wolfgang Duncker. Nach vier Monaten Untersuchungshaft im hauptstädtischen Taganka-Gefäng- nis ist der Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre als Filmkritiker KPD-naher Zei- tungen wirkende Sohn des prominenten Vertreters der deutschen Arbeiterbewegung Hermann Duncker ein gebrochener Mann. Tagtäglich sieht er in dem Kerkerbau aus der Zarenzeit blutig geschlagene und gequälte Leidensgenossen. Die brutalen Vernehmer drohen ihm Gewalt an und behaupten, seine Frau entführen zu wollen, wenn er nicht zugibt, als Spion der deutschen Botschaft im Einsatz gewesen zu sein. Duncker hält dem Druck nicht stand und bezichtigt sich schließlich selbst. Die Sonderberatung (OSO) des NKWD verurteilt ihn daraufhin zu acht Jahren „Besserungsarbeit“. Als menschliches Wrack stirbt er am 26. Oktober 1942 in einem Lagerpunkt der Gulag-Filiale LoktschimLag in der Republik Komi. Das tragische Schicksal von Wolfgang Duncker thematisiert 1983 der eigenwillige Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski in seinem für DDR-Verhältnisse aufse- henerregenden Buch „Dialog mit meinem Urenkel“1 und machte es erstmals einer brei- ten Öffentlichkeit bekannt. Duncker gehört zu den mehr als 2,5 Millionen Frauen und Männern, die zwischen 1936/37 und Anfang 1953 aus poltischen Motiven vorwiegend von außergerichtlichen Strafverfolgungsorganen (OSO, Dreier- bzw. Zweierkommissionen) in der Sowjetunion repressiert worden sind. Für die einzelnen Verfolgungsphasen und „Operationen“ liegen mittlerweile konkrete Zahlenangaben vor. 2 Offen ist dagegen immer noch die Frage, in welchem Ausmaß aus Deutschland kom- mende ehemalige Kriegsgefangene, Wirtschafts- und Politemigranten, kommandierte 1 Kuczynski, Jürgen: Dialog mit meinem Urenkel – Neunzehn Briefe und ein Tagebuch. 8. Auflage 1987, Berlin/Weimar 1983, S. 77–81. 2 Siehe zum Beispiel: Petrov, Nikita: Stalins Plan zur Vernichtung eines Volkes. In: Berliner Debatte Initial, Heft 1, 2012, S. 77–85. Zur Repressionstätigkeit der Tscheka und der OGPU von 1921 bis 1934 siehe detailliert: Mosochin, Oleg/Gladkow, Teodor: Menshinskij der Intellektuelle aus der Lubjanka. Moskau 2005 (russisch), S. 359 ff. 138 ZdF 34/2013 KPD-Mitglieder, rassisch Verfolgte sowie Kontraktarbeiter und vertraglich gebundene Hochschulspezialisten vom stalinistischen Massenterror betroffen waren. Der Autor dieser Zeilen schätzte die Zahl der Verhafteten, die diesem Personenkreis zuzurechnen sind, für die Jahre 1936 bis 1938 auf mindestens 1 500. 3 Eine quellenge- stützte Aufstellung des Fachspezialisten Wladislaw Hedeler, die sich bis auf wenige Ausnahmen auf die 1930er und den Anfang der 1940er Jahre bezieht, enthält mittler- weile etwa 3 000 Namen und zum Teil auch ausführliche biographische Angaben. 4 Ein ähnlich strukturiertes, langwieriges Forschungsprojekt österreichischer Kollegen – die Recherchen für das Vorhaben dauerten über sieben Jahre – konnte unlängst abge- schlossen werden. Das als biographisches Lexikon angelegte Gedenkbuch enthält die Lebens- und Sterbe- daten von 796 Staatsbürgern Österreichs oder von Personen, die in diesem Alpenland gelebt haben und zwischen 1920 und dem 9. Mai 1945 in der UdSSR verhaftet wurden. Bei den 731 Männern und 65 Frauen handelte es sich um diverse Auswanderer, Wirt- schaftsemigranten, in ihre Heimat nicht zurückgekehrte Teilnehmer des Ersten Welt- krieges sowie um politische Flüchtlinge aus dem Umfeld der KPÖ und des sozialdemo- kratischen Schutzbundes. Die Dokumentation der Historiker McLoughlin und Vogl fußt auf verschiedenen Vor- arbeiten – so zum Beispiel von Hans Schafranek – und umfangreichen zusätzlichen Ma- terialrecherchen. Dabei dürften die wichtigsten Quellenfunde aus dem Österreichischen Staatsarchiv sowie aus dem Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF) und dem Russischen Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte (RGASP) stammen. In einer kurzen Einleitung zeichnen die Autoren ein mit statistischen Angaben angerei- chertes Gruppenporträt der österreichischen Stalin-Opfer. Unter anderem zeigt es, daß 27 Prozent der Betroffenen vor ihrer Verhaftung in den beiden Metropolen Moskau und Leningrad lebten. Weitere lokale Schwerpunkte der österreichischen Emigranten bilde- ten sich in den Wirtschaftszentren Charkow, Gorki, Rostov am Don und Tscheljabinsk heraus. Hinsichtlich des zeitlichen Spektrums der Verhaftungen ist bemerkenswert, daß bereits zwischen 1920 und 1935 71 Einlieferungen in die Gefängnisse der Geheimpolizei Tscheka bzw. OGPU zu verzeichnen sind. Mehr als ein Drittel der Inhaftierten (237) wurden wegen Spionage und Sabotage zum Tode durch Erschießen verurteilt. 83 Öster- reicher verstarben während des Strafvollzugs in einem Arbeitslager. In 187 Fällen en- dete die Untersuchungs- oder Lagerhaft mit der Ausweisung aus dem Gastland. Ein weiterer mit „Geschichtlicher Überblick“ betitelter Erläuterungstext widmet sich akzentuiert der Genese und den Mechanismen des Großen Terrors 1937/38. Kennzeich- nend für diese beiden Exzeßjahre waren verschiedene Massenoperationen. Ausgelöst durch eine pathologische Angst vor einer Fünften Kolonne im eigenen Land, stand die Durchführung dieser geheimdienstlichen Aktionen unter permanenter Kontrolle von Stalin und seiner engsten Umgebung. Da das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (NKWD) die Zahl der betroffe- nen Österreicher nicht speziell registriert hat, muß allerdings offen bleiben, wie viele 3 Erler, Peter: Terror gegen deutsche Polit- und Wirtschaftsemigranten. In: Hedeler, Wladislaw (Hrsg.): Stalinscher Terror 1943–1941. Eine Forschungsbilanz. Berlin 2002, S. 248. 4 Berücksichtigt man neben Untersuchungshaft und Verurteilung (Lagerhaft, Todesstrafe, Auswei- sung) auch Entscheidungen administrativer Organe wie Verbannung und die Deportation 1941, so waren nachweislich über 6 000 namentlich bekannte deutsche Emigranten von den stalinistischen Verfolgungen in der Sowjetunion ausgesetzt. Hedeler, Wladislaw: Archivforschungen zum „Großen Terror“. Ein Literaturbericht. In: Berliner Debatte Initial, Heft 1, 2012, S. 100. Peter Erler: Vor 75 Jahren endete der Große Terror in der Sowjetunion 139 von ihnen von den sogenannten nationalen Operationen und speziell der Deutschen Operation,5 die im Sommer 1937 die „Tschistka“ einleitete, erfaßt wurden. Besonders bedrückend ist die Lektüre ausgewählter Gruppenporträts. Unter gebühren- der Berücksichtigung der Rolle von KPÖ-Parteiapparat und Komintern schildern McLoughlin und Vogl in diesem Buchteil minutiös die Verfolgungsschicksale einzelner Verhafteter, ihrer Arbeitskollegen und Familienmitglieder. Durch die Kombination von GARF-Akten und Erinnerungsberichten gelingt es ihnen wie selten zuvor, die Absurdi- tät der konstruierten Haftvorwürfe und die von Folter und Entbehrungen geprägte men- schenverachtende Situation in den NKWD-Gefängnissen zu verdeutlichen. Ein längerer Erzählstrang beleuchtet die Odyssee dreier Männer und einer Frau, die im Auftrag des NKWD von Großbritannien aus mit dem Fallschirm in Hitlerdeutschland abgesetzt werden sollten. Wegen der schlechten Vorbereitung und der mangelhaften Qualität der gefälschten Personaldokumente verweigerten sie die Teilnahme an dem Himmelfahrtskommando. Deshalb wurden sie gegen ihren Willen über Kanada in die Sowjetunion zurückgebracht und unter dem Vorwurf der Spionage von der OSO mit mehreren Jahren Lagerhaft bestraft. Die Verhaftungsorgie der Massenoperationen erfaßte unabhängig von ihren ethnischen Wurzeln viele ehemalige Angehörige der k. u. k. Armee, welche nach ihrer Kriegsge- fangenschaft nicht in ihre Heimat zurückgekehrt waren. Dem Offizier a. D. Victor von Marchesetti und seiner Lebensgefährtin Dora Lejchtenberg unterstellte das NKWD ge- heimdienstliche Aktivitäten und die Vorbereitung eines Bombenattentats auf den Lenin- grader Parteisekretär A. Shdanow im Auftrag des deutschen Konsulats. Laut erpreßter Aussagen gehörten zu seiner „faschistisch-trotzkistischen Terrorgruppe“ auch die aus Deutschland kommenden Politemigranten Rudolf Tieke und Samuel Glesel. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß es zwischen der österreichischen und der deutschen Exilgruppe in der Sowjetunion natürlich viele persönliche Kontakte gab. Darüber hinaus lebten einige der im Lexikonteil des Gedenkbuches verzeichneten Personen jahrelang in Deutschland und waren Mitglieder der KPD. Zu den prominen- testen Vertretern dieser Gruppe dürfte der aus Galizien stammende KPD-Funktionär und langjährige Chefredakteur des Parteiorgans Rote Fahne Heinrich Süßkind gehört haben. Drei Stalinismusopfer aus Österreich Hedwig Gutmann, Arnold Reisberger

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