Vor 75 Jahren Novemberpogrom 1938

Vor 75 Jahren Novemberpogrom 1938

DÖW DOKUMENTATIONSARCHIV DES ÖSTERREICHISCHEN WIDERSTANDES FOLGE 213 Mitteilungen OKTOBER 2013 VOR 75 JAHREN NOVEMBERPOGROM 1938 Nach dem „Anschluss“-Pogrom im März/April 1938 waren die Ereignisse rund um den 9. November 1938 ein erster Höhepunkt der antisemitischen Maßnahmen des NS-Regimes, der der jüdischen Bevölkerung in einschnei- dender Weise ihre Rechtlosigkeit demonstrierte. Anlässlich des Gedenkens an den Novemberpogrom 1938 finden heuer in Österreich über 130 Veran- staltungen statt. Die auf Einladung von Nationalratspräsidentin Barbara Prammer gemeldeten Aktivitäten wurden in einer Broschüre zusammenge- fasst und sind auf der Website des Parlaments www.parlament.gv.at abruf- bar. Auch das DÖW ist dort mit Veranstaltungen – einmal in Kooperation mit dem Psychosozialen Zentrum ESRA – vertreten (siehe dazu Seite 3 f.) Ab Mitte Oktober 2013 stehen im Rahmen eines Themenschwerpunkts auf der Website des DÖW www.doew.at Fotos, ZeitzeugInnenberichte und Do- kumente – darunter mehrere Berichte des Polizeipräsidenten in Wien an den Wiener Gauleiter Bürckel über „Vorfälle gegen Juden“ im November 1938 – sowie die entsprechenden Abschnitte aus der DÖW-Publikationsreihe „Wi- derstand und Verfolgung in den österreichischen Bundesländern“ zur Ver- fügung. Die Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung setzten in Österreich unmit- telbar nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ein. Jüdinnen und Juden waren Misshandlungen, Demüti- gungen, Diskriminierung, Entrechtung und Beraubungen nicht nur seitens Partei- stellen, sondern auch durch Privatperso- nen oder Bekannte ausgesetzt. Als am 7. November 1938 der 17-jährige Herschel Grynszpan in Paris als Protest gegen die Verfolgung der deutschen Juden auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath schoss – der später seinen Verletzun- gen erlag –, war dies für Reichspropa- gandaminister Joseph Goebbels der for- male Vorwand, in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 einen angeblich spon- tanen reichsweiten Pogrom zu inszenie- ren. Goebbels war es auch, der (mit Bezug auf die angeblich wie Kristalle schim- mernden Scherben der zerschlagenen Novemberpogrom in Wien-Leopoldstadt Fenster und Auslagen) den verharmlosen- Von oben nach unten: den Begriff „Reichskristallnacht“ prägte – ein Begriff, der die tatsächlichen Ereignis- Brennende Synagoge in der Großen Schiffgasse se, die Zerstörung von Synagogen und Zerstörte Synagoge in der Tempelgasse Tempeln, Plünderungen, Beschlagnah- 2 Mitteilungen 213 men, „Hausdurchsuchungen“ sowie die Misshandlungen, Demütigungen und Ver- haftungen von Jüdinnen und Juden, nicht einmal ansatzweise erfasst. Im Zuge des Pogroms wurden in Österreich – in Wien und in Innsbruck – auch mehrere Men- schen getötet. In Wien, wo der Pogrom mehrere Tage an- dauerte, wurden 42 Synagogen und Bet- häuser in Brand gesteckt und verwüstet. Jüdische Geschäfte und Wohnungen wur- den geplündert. 6547 Wiener Juden kamen in Haft, knapp unter 4000 davon wurden in das KZ Dachau überstellt. „Die Be- handlung der Juden war zum Großteil eine sehr harte und artete meistens in brutale Züchtigungen aus“, heißt es in einem SD- Bericht, in dem auch zahlreiche Plünde- rungen und „sinnlose“ Zerstörungen – von Einrichtungsgegenständen etc. – beklagt Oben: Brennende Synagoge in Klosterneuburg werden. Während der Völkische Beobach- ter den „Volkszorn“ für die Ausschreitun- Unten: Auch auf dem Wiener Zentralfriedhof, 1. Tor sowie 4. Tor (Neuer Israelitischer Friedhof), kam es zu Zerstörungen. gen verantwortlich machte, waren in Wahrheit SS- und SA-Einheiten in Zivil zu den Brandlegungen befohlen worden. Das Einschreiten der Wiener Feuerwehr beschränkte sich befehlsgemäß auf den Schutz der an die Tempel angrenzenden Gebäude. In Niederösterreich kam es zu Massenver- haftungen von Juden, noch intakte Syna- gogen und Bethäuser wurden zerstört, Waren und Gelder aus jüdischen Geschäf- ten beschlagnahmt, Fensterscheiben an den von Juden bewohnten Häusern einge- schlagen. Die in den Zeitungen ausge- drückte Haltung zur „Judenfrage“ war ein- deutig: „Entweder gehen sie [...] oder sie werden den letzten Rest des jüdischen Vermögens, den sie in Deutschland besit- zen, auffressen und dann verrecken. [...] Mit Stumpf und Stiel die Juden ausrotten, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa.“ (Land-Zeitung, Krems, 30. No- vember 1938) Zerstörungen und Misshandlungen sind auch in Oberösterreich dokumentiert. SA- Angehörige suchten in Gruppen von zwei bis drei Mann die in Linz wohnhaften Ju- den auf und forderten sie auf, „binnen 3 Tagen Linz zu verlassen“. Im Zusam- menhang mit diesen Aktionen ist auch ein Fall sexueller Gewalt belegt, nach dessen Bekanntwerden zwei beteiligte SA-Män- ner „im Interesse der Bewegung“ in Gestapohaft genommen und in das KZ Dachau abgegeben wurden. In Tirol hatten SS-Angehörige den Ein- druck, „dass mit den Anweisungen des Gauleiters eine ‚Nacht der langen Messer‘ freigegeben werden sollte“ und ermorde- ten in der Nacht vom 9. auf den 10. No- vember 1938 in Innsbruck drei Menschen, Oktober 2013 3 ein Vierter wurde schwer verletzt und Zahlung einer „Sühneleistung“ von einer Werte vernichtet“ – was Göring in der starb zwei Monate später. „Falls Juden bei Milliarde Reichsmark für das Pariser At- weiter oben angeführten Sitzung im dieser Aktion keinen Schaden erlitten ha- tentat auferlegt sowie die Verpflichtung, Reichsluftfahrtministerium so drastisch ben, dürfte dies darauf zurückzuführen für alle während des Pogroms entstande- äußerte, brachte die (wenn überhaupt vor- sein, dass sie übersehen wurden“, heißt es nen Schäden aufzukommen. handene) Kritik an den Ausschreitungen in einem Bericht des SD-Unterabschnitts Proteste aus der nichtjüdischen Bevölke- im Zuge des Novemberpogroms 1938 auf Tirol lakonisch. rung gegen Misshandlungen und Massen- den Punkt: Empörung löste in erster Linie In Salzburg brachen SA-Angehörige noch verhaftungen der Juden gab es nur wenige. die Zerstörung von Sachwerten aus, die nicht „arisierte“ Geschäfte auf, demolier- „Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet 200 damit der deutschen Volkswirtschaft ver- ten das Inventar und zerstörten die Ein- Juden erschlagen und hättet nicht solche loren gingen. richtung der Synagoge. Ein SD-Bericht re- gistriert Belustigung unter der Salzburger Bevölkerung, „wenn in den Zeitungen von einer spontanen Volksbewegung gespro- Der Novemberpogrom: chen wird“, ortet aber gleichzeitig Ver- ständnis für „die vorgenommenen Verhaf- ZeitzeugInnen erinnern sich tungen in weiten, auch NS-gegnerischen Kreisen“. Ähnlich verlief der Pogrom in der Steier- mark – die Synagoge in Graz und die Ze- Begrüßung und Moderation: remonienhalle auf dem jüdischen Friedhof gingen in Flammen auf, rund 350 Juden Brigitte Bailer, wissenschaftliche Leiterin des DÖW wurden verhaftet und am 11. November in ein Konzentrationslager überstellt – und in Kärnten. Lesung aus Texten und Interviews: Am 12. November 1938 wurde in einer Judith Gruber-Rizy, Autorin, Erstes Wiener Lesetheater Sitzung im Reichsluftfahrtministerium un- www.judith-gruber-rizy.com/ ter dem Vorsitz Hermann Görings, des Beauftragten für den Vierjahresplan, die Verordnung zur Ausschaltung der Juden Bericht von ZeitzeugInnen: aus dem deutschen Wirtschaftsleben be- schlossen. Diese verbot Juden ein selb- Vilma Neuwirth und Walter Fantl-Brumlik ständiges kaufmännisches Unternehmen bzw. Handwerk zu betreiben. Außerdem wurde der jüdischen Bevölkerung die Im Anschluss: Brot und Wein Vilma Neuwirth, geboren 1928, überlebte die NS-Herrschaft als Sternträgerin in der Wiener Glockengasse. Sie veröffentlichte ihre Erinnerungen 2008: Glockengasse 29. Eine jüdische Arbeiterfamilie in Wien. Viele Jahre arbeitete sie ehrenamtlich im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Walter Fantl-Brumlik, geboren 1924 in Loosdorf, lebte bis 1938 mit seinen Eltern im niederösterreichischen Bischofstetten. 1942 wurde er mit seiner Familie von Wien nach Theresienstadt, später nach Auschwitz deportiert. Seine Eltern Arthur und Hilda wurden 1944 in Auschwitz ermordet, seine Schwester Gertrude kam 1945 im KZ Bergen-Belsen um. Heute lebt Walter Fantl-Brumlik in Wien. Zeit Donnerstag, 7. November 2013, 18 Uhr Ort Veranstaltungsraum Ausstellung Dokumentationsarchiv Wipplingerstraße 6–8 (Eingang im Hof) 1010 Wien Auch die Synagoge in der Pazmanitengasse im zweiten Wiener Eine Veranstaltung des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes Gemeindebezirk wurde im Zuge des Novemberpogroms 1938 zerstört. Rückfragen: [email protected] 4 Mitteilungen 213 WIR GRATULIEREN 75 Jahre Novemberpogrom DÖW-Vorstandsmitglied Prof. Rudolf Sarközi, Vorsitzender des Volksgruppen- Gedenken am Ort des ehemaligen beirates der Roma, wurde mit dem Ka- valierskreuz des Verdienstordens der Re- Leopoldstädter Tempels publik Polen ausgezeichnet. Univ.-Prof. Dr. Peter Gstettner (Maut- Eine Ausstellung informiert über die Verfolgung der hausen Komitee Kärnten/Koroška und Jüdinnen und Juden in der NS-Zeit Verein Memorial Kärnten Koroška) erhielt das Große Ehrenzeichen für Verdienste Kostenloses Vermittlungsprogramm für Schulen: um die Republik Österreich sowie das Ka- 11. November, 9 bis 13 Uhr valierskreuz des Verdienstordens der Re- Kostenlose Führungen für alle Interessierten: publik Polen. 11. November, 14, 15, 17 und 18 Uhr Das Mauthausen Komitee Österreich wurde 2013 mit dem von der Stadt Wien Gedenken an die Opfer der Shoah: 16 Uhr, Vorplatz ESRA gestifteten Karl-Renner-Preis ausgezeich- mit net. Peter Schwarz, Geschäftsführer von ESRA Mit dem diesjährigen Theodor Kramer Brigitte Bailer, Preis für

View Full Text

Details

  • File Type
    pdf
  • Upload Time
    -
  • Content Languages
    English
  • Upload User
    Anonymous/Not logged-in
  • File Pages
    12 Page
  • File Size
    -

Download

Channel Download Status
Express Download Enable

Copyright

We respect the copyrights and intellectual property rights of all users. All uploaded documents are either original works of the uploader or authorized works of the rightful owners.

  • Not to be reproduced or distributed without explicit permission.
  • Not used for commercial purposes outside of approved use cases.
  • Not used to infringe on the rights of the original creators.
  • If you believe any content infringes your copyright, please contact us immediately.

Support

For help with questions, suggestions, or problems, please contact us