Die Deutschsprachige Schweizer Literatur in China

Die Deutschsprachige Schweizer Literatur in China

Jahrbuch für Internationale Germanistik pen Jahrgang LI – Heft 2 | Peter Lang, Bern | S. 179–190 Die deutschsprachige Schweizer Literatur in China Von Chen Zhuangying, Shanghai International Studies University Shanghai Die Schweiz ist ein Alpenland mit direkter Demokratie und vier Amtssprachen, was sich in einer vielfältigen Kultur und Literatur widerspiegelt. Zwar sind China und die Schweiz geographisch mehr als zehntausend Kilometer vonein­ ander entfernt, aber die Beziehungen zwischen beiden Ländern und Völkern reichen in das 18. Jahrhundert zurück, als die ersten Schweizer Geschäftsleute nach Shanghai und Suzhou kamen, um Handel mit Seide, Tee und Porzellan zu treiben. Als 1949 die Volksrepublik China gegründet wurde, erkannte die © 2019 Schweiz als erstes westliches Land die neue Republik an und nahm im Jahr 1950 diplomatische Beziehungen mit China auf. Seitdem genießen die Schweiz sowie ihre Kultur und Literatur in China besondere Wertschätzung, die auch von den chinesisch-deutschen und chinesisch-französischen Beziehungen beeinflusst ist. Die chinesische Regierung legt großen Wert auf eine intensive bilaterale Beziehung zur Schweiz. Das chinesische Volk interessiert sich für die Heimat von Heidi, für Schokolade und Uhren. Die Schweizer Literatur, vor allem die deutschsprachige, wurde und wird regelmäßig ins Chinesische übersetzt und gelesen, zwar nicht in der Intensität der deutschen oder französischen Literatur, aber doch dem Umfang angemessen. Vorliegender Beitrag konzentriert sich auf die deutschsprachige Literatur der Schweiz, da im Vergleich zu den übrigen drei Amtssprachen die deutsch­ sprachige Schweizer Literatur am meisten ins Chinesische übersetzt wird und am stärksten wirkt. Der Beitrag geht diachron vor und fasst die jeweilige über­ setzerische, publizistische und germanistische Rezeption der schweizerischen Literatur in China nach Jahrzehnten gegliedert zusammen. Die chinesische Germanistik, einst als ein Orchideenfach erachtet, hat mittlerweile Konjunktur. Mehr als 140 Hochschulen in China verfügen über Deutschabteilungen bzw. deutsche Fakultäten, und auch an vielen Fachhoch­ schulen und Mittelschulen wird Deutsch unterrichtet. Immer mehr deutsch­ sprachige Literaturwerke rücken ins Blickfeld der chinesischen Leserschaft, darunter auch die Schweizer Literatur, die mit breiter Aufmerksamkeit und großem Respekt registriert wird. Man verfolgt in China nicht nur die Ver­ gabe des Nobelpreises für Literatur, sondern interessiert sich auch für den Schweizer Buchpreis und die vorgängige Nominierung der ‚Shortlist‘. Und die chinesischen Verlage bemühen sich, die prämierten und bekannten Werke © 2019 Chen Zhuangying - doi http://doi.org/10.3726/JA512_179 - Except where otherwise noted, content can be used under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 International license. For details go to http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ 180 | Chen Zhuangying: Die deutschsprachige Schweizer Literatur in China der zeitgenössischen Autoren ins Chinesische zu übersetzen und auf den Buchmarkt zu bringen. 1930 bis 1950: Frühes Rezeptionsinteresse Der historischen Statistik zufolge wurde die Schweizer Literatur in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal nach China vermittelt. Die chine­ sische Version von Gottfrieds Kellers Drei gerechten Kammmachern wurde 1935 durch den Verlag Zhong Hua Book Company herausgegeben; im Jahr 1940 folgte sogar eine zweite Auflage, die dem liberalen gesellschaftlichen Kontext zu verdanken ist. Unter dem Einfluss der westlichen Kultur und Philo­ sophie erlebte die chinesische Gesellschaft eine blühende Zeit der Koexistenz von Radikalismus, Konservatismus und Liberalismus. Vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zum Ausbruch des Anti­Japan­Krieges blieb die chinesische Gesellschaft recht stabil. Die Bürgergesellschaft und nationale Industrie erleb­ ten eine Hochkonjunktur. Verschiedene Gedankenströmungen aus dem Westen fanden ein starkes Echo unter den emanzipierten chinesischen Intellektuellen, und immer mehr westliche Literaturwerke, einschließlich Romane, Novellen, Kurzgeschichten, Dramen und philosophische Texte wurden ins Chinesische übersetzt und publiziert. Zwischen 1911 und 1949 (Republik China) erschienen insgesamt 3994 ausländische Buchpublikationen (einschließlich Zweitauflagen) auf dem Buchmarkt.1 Zu jener Zeit spielte die Schweiz im Vergleich zu Japan, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA, die in die politische und militärische Lage Chinas eingriffen, eine unbedeutende Rolle, was wohl auch für die Vermittlung der Schweizer Literatur galt. Zudem gab es so gut wie keine Chinesen, die des Deutschen, Französischen oder Italienischen mächtig waren und sich für Schweizer Literatur interessierten. 1950 bis 1960: Rezeptionsreserven im Kalten Krieg Erst in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden drei Werke schweize­ rischer Schriftsteller übersetzt und veröffentlicht: Gottfried Kellers Novel­ len Romeo und Julia auf dem Dorfe und Sieben Legenden sowie Friedrich Dürrenmatts Drama Der Besuch der alten Dame. 1955 erschien die Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe gleichzeitig im Schriftsteller Verlag und in der Zhong Hua Book Company mit einer Gesamtverkaufsbilanz von mehr 1 Wang Qi Shang: Geschichte der chinesischen Studenten im Ausland. Wuhan 1992, S. 180. Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jahrgang LI – Heft 2 (2019) Peter Lang Chen Zhuangying: Die deutschsprachige Schweizer Literatur in China | 181 als 10.000 Exemplaren. 1956 wurde das Drama Der Besuch der alten Dame durch The Central Academy of Drama übersetzt und auf die Bühne gebracht. Kellers Novellenzyklus Sieben Legenden wurde 1958 übersetzt und erreichte eine Erstauflage von 11.500 Exemplaren. Diese Zahlen sind umso bedeut­ samer, als während dieser Phase in den 50er Jahren kaum ausländische Lite­ ratur von China importiert wurde; eine Ausnahme bildeten die sowjetische Literatur und die Werken von Karl Marx, da in der Gründungsphase der Volksrepublik China die kommunistische Regierung auf die Unterstützung der Sowjetunion angewiesen war. Dagegen befand sich China seit dem 1951 ausgebrochenen Koreakrieg mit dem Westen unter Führung der USA im Konflikt. Die damalige Kulturpolitik Chinas legte vor allem Wert auf die Stärkung und Wiederbelebung der nationalen Wirtschaft und Kultur und nicht auf den Import ausländischer Literatur. Da die Schweiz bereits als erstes westliches Land schon 1950 diplomatische Beziehungen mit China aufnahm und somit die neue Volksrepublik offiziell anerkannte, öffnete China einen Spalt des Eisernen Vorhangs und führte die Werke zweier repräsentativer schweizerischer Autoren ein, die in der deutschsprachigen Literatur einen großen Namen haben. 1960 bis 1970: Unter dem Verdikt der Kulturrevolution In den 60er Jahren geriet China unglücklicherweise in die Kulturrevolution, die mit Wucht und Gewalt alle Traditionen und das kulturelle Erbe zerstörte. Unerlaubte westliche Literatur zu lesen bzw. westliche Rundfunksender zu hören galt als konterrevolutionäres Verbrechen, was einem zum Verhängnis werden konnte, wenn man entsprechend beschuldigt wurde. Deshalb ge­ langte in dieser Zeit fast keine neue Schweizer Literatur nach China. Ins­ gesamt erschienen lediglich zwei Werke: ein Novellenband von Gottfried Keller und Dürrenmatts Drama Der Besuch der alten Dame. Beide Werke waren keine Neuausgaben, sondern nur revidierte Neuauflagen der alten Übersetzungen aus den 50er Jahren. Die Verkaufszahlen blieben wegen der miserablen sozialen Lage in China gering, insgesamt nur 7.000 Stück. In dem ganzen Jahrzehnt findet sich keine einzige neue Übersetzung. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Erstens gab es in jener Zeit nur fünf Deutschabteilungen an den Hochschulen und zu wenige Leute konnten Deutsch, zweitens fürchteten die Verlage, ausländische Literatur, insbe­ sondere zeitgenössische Texte, zu veröffentlichen, zumal die Schweiz als ein Mitglied des westlichen Lagers wahrgenommen wurde. Die damalige drückende politische Atmosphäre erwürgte das Interesse der Chinesen an der westlichen Literatur. Peter Lang Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jahrgang LI – Heft 2 (2019) 182 | Chen Zhuangying: Die deutschsprachige Schweizer Literatur in China 1970 bis 1980: Neues Interesse im Zuge der Reform und Öffnung Chinas In den 70er Jahren kamen zwei neuübersetzte Werke Schweizer Schriftsteller auf den chinesischen Buchmarkt. Zum einen Gottfried Kellers autobiographi­ scher Bildungsroman Der grüne Heinrich (1978) und zum andern Friedrich Dürrenmatts spannender Kriminalroman Der Richter und sein Henker (1979). Was auffällt, ist der enorme Erfolg der Erstauflage von Der Richter und sein Henker: Mehr als 150.000 Exemplare wurden verkauft, die höchste Verkaufs­ zahl schweizerischer Literatur bis dahin. Zwar setzten die chinesischen Ver­ lage weiterhin auf die prominenten Schriftsteller, aber die alten Übersetzer wurden durch die neue chinesische Germanistengeneration abgelöst, was zu einer deutlichen Qualitätsverbesserung der Übertragungen führte. Daher kam Dürrenmatts Kriminalroman bei den chinesischen Lesern nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich sehr gut an. Hier darf nicht unerwähnt bleiben, dass das Jahr 1978 einen epochalen Wendepunkt für das Schicksal des chinesischen Volkes und die politische Entwicklung Chinas darstellt. In diesem Jahr befestigte Deng Xiao Ping seinen politischen Status als Parteiführer und legte auf der 3. Plenartagung des 11. Parteikongresses den politischen Kurs Reform und Öffnung fest. Noch im glei­ chen Jahr fand die erste nationale Aufnahmeprüfung

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