Jahrbuch Für Philologie

Jahrbuch Für Philologie

Biblioteka U.M. K. Torun / JAHRBUCH FÜR PHILOLOGIE UNTER MITWIRKUNG VON 0. BERTONI, TURIN / W. BLUMENFELD, DRESDEN / W. FISCHER, DRESDEN / H. HATZFELD, FRANKFURT A. M. / V. KLEMPERER, DRESDEN / W. KÜCHLER, WIEN / E. LERCH, MÜNCHEN / E. LOMMATZSCH, GREIFSWALD / E. LORK, KÖLN / H. NAUMANN, FRANKFURT A. M. / F. NEUBERT, LEIPZIG / L. PFANDL, MÜNCHEN O. SCHÜRER, PRAG / L. SPITZER, BONN, / J. STENZEL, BRESLAU K. VOSSLER, MÜNCHEN / O. WALZEL, BONN HERAUSGEGEBEN VON VICTOR KLEMPERER/ DRESDEN UND EUGEN LERCH/MÜNCHEN I. BAND 1925 VERLAG DER HOCHSCHULBUCHHANDLUNG MAX HUEBER MÜNCHEN 'öGoO ÖA 'X . Copyright 1925 by Verlag der Hochschulbuchhandlung Max Hueber/München Gedruckt von Dr. F. P. Datterer & Cie,, Freising-München. Printed in Qermany. Inhalt. Seite Vorwort .............................................................................................................. IV Karl Voßler, München, Die Nationalsprachen als S t ile ......................... i Etienne Lork, Köln, Die Sprachseelenforschung und die französischen M o d i ......................................................................................................... 24 Hans Naumann, Frankfurt a. M., Ueber das sprachliche Verhältnis von Ober- zu U nterschicht........................................................................... 55 Eugen Lerch, München, Ueber das sprachliche Verhältnis von Ober- zu Unterschicht mit bes. Berücksichtigung der Lautgesetzfrage . 70 Giulio Bertoni, Turin, Che cosa sia l'etimologia idealistica .... 125 Leo Spitzer, Bonn, Aus der Werkstatt des Etymologen ......................... 129 Julius Stenzel, Breslau, Sinn, Bedeutung, Begriff, Definition. Ein Bei­ trag zur Sprache der Sprachmelodie............................................. ..... 160 Erhard Lommatzsch, Ghreifswald, Deiktische Elemente im Altfranzö­ sischen. II..................................................................................................202 Viktor Klemperer, Dresden, Positivismus und Idealismus des Literatur­ historikers ............................................................................................... 245 W. Blumenfeld, Dresden, Historische Wissenschaft und Psychologie . 269 Fritz Neubert, Leipzig, Antikes Geistesgut in der französischen Literatur seit der Renaissance ........................................................................... 300 Walther Küchler, TVien, Esther bei Calderon, Racine und Grillparzer . 333 Helmut Hatzfeld, Frankfurt, Künstlerische Berührungspunkte zwischen Cervantes und R a b e la i s ...................................................................... 355 Ludwig Pfandl, München, Cervantes und der spanische Renaissance- Roman ....................................................................................................... 373 Walther Fischer, Dresden, Joseph Hergesheimer, Ein Beitrag zur neuesten Amerikanischen L iteratu rgesch ich te.............................. 393 Oskar Walzel, Bonn, Farin ellis deutsche A u f s ä t z e ....................................413 Oskar Schürer, Frag, Der Neoklassizismus in der jüngsten französischen M a l e r e i .................................................................................................... 427 Viktor Klemperer, Dresden, Der Begriff R o k o k o ........................................ 444 Nachträge und B erich tigu n gen ......................................................................468 R e g i s t e r .............................................................................................................. 47° Vorwort. D er Titel, den dieses Jahrbuch tragen sollte, hat uns einiges Kopfzerbrechen gemacht. Wir wollten es zuerst „Idealistische Neu­ philologie“ nennen, und so ist es bereits gelegentlich vorwegnehmend zitiert worden. Damit sollte ausgedrückt werden, daß unser Jahr­ buch den Weg fortsetze, den unsere gleichnamige Voßler-Festschrift (Heidelberg 1922, Carl Winter) betreten hat. Doch kam uns das Bedenken, daß der festliche Titel einer Geburtstagsgabe für den Alltag eines Jahrbuches unpassend sein und hier falsche Ausdeutung finden möchte. Danach erwogen wir den Titel „Jahrbuch für Sprach- kritik“, der gleichfalls (in einem ersten Prospekt) an die Öffentlichkeit gelangte. Aber auch dieser Titel wäre Mißverständnissen ausgesetzt gewesen, wenn nicht besondere Erläuterung ihm Weitmaschigkeit und Biegsamkeit verliehen hätte. Nun haben wir uns, ebenso bescheiden wie unbescheiden, zu dem scheinbar nichtssagenden Titel „Jahrbuch für Philologie“ ent­ schlossen. Der Begriff „Philologie“ ist heute doppelt anrüchig: einmal riecht er nach Schulmeisterei, zum ändern nach jener posi­ tivistischen Sprach- und Literaturwissenschaft, die uns zwar als unentbehrliche Grundlage gilt, keineswegs aber als Ziel. Wir möchten das Wort in dem alten, großen und geistigen Sinn nehmen, den es bei den Humanisten hatte, als sie in die „Philologia sacra et profana“ die gesamten geistigen Inhalte der Vergangenheit gossen. Victor Klemperer. Eugen Lerch. Die Nationalsprachen als Stile Von Karl Vossler Die erste Wirkung, wenn wir eine fremde Sprache hören, pflegt abstoßend oder komisch zu sein. „Wie kann man anders als ich, als wir. mit seinen Sprach Werkzeugen umgehen!“, so denken die Kinder, die Völker, die Ursprünglichen. Sie höhnen den Ausländer und haben irgend ein Kennzeichen seiner Sprechweise, zumeist etwas Äußerliches, auch bald heraus, das sie äffend übertreiben. Dieses Auffallende, das, wie ein Helmbusch, uns aus der Ferne schon herausfordert oder anzieht, nenne ich das Ornament der Sprache. Es kann allerhand sein: Klangfarbe, Stimmeinsatz, Betonung, Melodie, Rhythmus, oder irgend eine I^autgruppe, deren Wiederkehr ins Ohr sticht, etwas Zufälliges so gut wie etwas Wesent­ liches. Denn alles, was wir an einer Sprache nicht verstehen, berührt uns abweisend als Fratze oder, bei freundlicherer Betrachtung, an­ ziehend als Schmuck. Kurz, was man nicht erklären kann, sieht man als schön und hässlich an. Darum wird von der grammatischen Forschung alle ästhetische Beurteilung der einzelnen Sprachen als L,aiengerede abgelehnt. Ob das Italienische „schöner“ sei als das Französische oder das Englische gilt ihr als gegenstandslose Frage. Auch ist sie mißtrauisch mit gutem Rechte gegen jede Erklärung von sprachlichen Erscheinungen aus Schönheitsbedürfnis, aus euphonischen, eurhythmischen oder ähn­ lichen Neigungen. Da sie den Bau der Sprachen als ein zweck­ mäßiges System oder gar als einen Mechanismus von Ausdrucks­ mitteln verstehen will, darf sie den L,aunen des Geschmacks auch nicht den kleinsten Spielraum lassen. Das sprachliche Ornament ist ihr ein Trugbild. In der Tat verblaßt für jeden, der sich um eine Fremdsprache bemüht, in dem Masse wie er sie verstehen und sprechen lernt, dieses häßlich-schöne Scheinwesen. Der Reiz klingt ab, der Helmbusch verschwindet, weil der Sprachbeflissene ihn nun selber trägt und nicht mehr sehen kann. Eine Sprache, die mein eigenes Angesicht wird, meine eigenen Gefühle und Gedanken zeigt, hat für mich kein Aussehen mehr — es sei denn, daß ich vor den Spiegel trete und durch Reflexion sie mir noch einmal fremd mache. Dann freilich sehe ich den Helmbusch wieder, aber mit anderen, mit verstehenden und kritischen Augen als ein Ding, das an mir und außer mir ist, mein eigen und dennoch veräußerlich. Ich kann ihn tragen wie mir beliebt: schief oder gerade. Ich probe seine Wirkung aus und kämme und bürste ihn. Was die wissenschaft­ liche Grammatik leugnete, ist nun doch wieder da und wird sogar unter den Händen von akademischen Grammatikern, Rednerschulen, Diktionskünstlern und Puristen zum Gegenstand einer bewußten Pflege. Was ist aber dieses ornamentale Aussehen einer Sprache, dieses Doppelwesen, das, sichtbar und scheinhaft, den Fremden reizt, dem Ein­ geborenen entschwindet, vom Sprachkenner bezweifelt und verneint und vom Liebhaber bejaht und gepflegt wird ? Es ist das jeweils Be­ sondere, Charakteristische, Individuelle, Nationale, Mundartliche, Idio­ matische usw., im Unterschied vom Allgemeinen und Persönlichen. A ll­ gemein und persönlich ist die Sprache in ihrem Streben nach Einheit­ lichkeit und Sachlichkeit, individuell aber in ihrem Drang nach Mannig­ faltigkeit und Schmuck. Die sog. Sach- und Fachsprachen, die Welt- und Einheitssprachen zielen auf das Zweckmäßige, Konventionelle und Künstliche, fliehen das Künstlerische und vernachlässigen das Orna­ ment. Ihnen ist es gleichgültig, wie sie aussehen, wofern sie nur ver­ standen werden. Sie wollen lieber gelten und herrschen als gefallen. Sie sind „interessiert“. Die individuellen und nationalen Sprachen da­ gegen halten auf ihr Aussehen, trachten nach Stil und Schein. Sie pflegen bewußt und unbewußt das Ornament, das jene verschmähen. Wer weiß nicht, wie geschmacklos, wie undeutsch oft die Fach­ sprache der Kauf leute, der Ärzte, der Richter, der Techniker ist, und wie fade und ledern das Esperanto samt seinen Rivalen. Sonach fällt auf dem Gebiet der Sprache das spezifisch Nationale unter den Begriff des Ornamentalen. Das Deutsche oder das Ita­ lienische ist als eine besondere national-individuelle Instrumen­ tierung des sprachlichen Denkens gleichbedeutend mit deutscher oder italienischer Sprachornamentik. 2 Nun haben wir aber bei unserer Analyse des Individualitäts­ begriffs1) in Abrede gestellt, dass Individuen, reine Individualitäten, wie doch ein Volk kraft seines Nationalgefühls eine sein möchte, ausschließliche Träger der Sprache sein können. Um an der Sprache teilzuhaben, sagten wir, müsse man vor allem eine Person sein, d. h. die Gabe haben, sich in die verschiedenen

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